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War er tot? –

O, wenn Armin dieser Frage hätte entrinnen können, wenn er wüßte, ob jener tot! – Und doch, war es nicht sündhaft, seinen Tod zu wünschen? – Und wiederum, sein, Armins ganzes Lebensglück beruhte darauf, daß jener nicht mehr unter den Lebenden weilte. Aber in streng christlichen Grundsätzen erzogen, sträubte sich sein Gewissen, den Tod des anderen zu wünschen.

Armins Blick versuchte vergeblich, das finstere Dunkel dieses Geheimnisses zu durchdringen. Einen Augenblick fiel ein Lichtstrahl, als man einen Diebstahl zu bemerken glaubte; aber das war jemand anders gewesen, jenes blonde Mädchen an der Kasse, welches er eigentlich noch nicht gesehen und an deren Schicksal er kein Interesse nahm, denn er sah nur Josepha. Das Mädchen mit dem schönen, blassen Gesicht, den dunklen Augen, dem jungfräulich keuschen und doch hingebenden Wesen hatte seine ganze Seele gefangen genommen.

Jener Augenblick, da sie, wenn auch durch einen Irrtum, an seiner Brust lag, war entscheidend gewesen für seine ganze Existenz. Eine überirdische Seligkeit, ein Fortgerissenwerden, eine glühende Hingebung, wie er sie bisher nicht kannte, ein einziger Wunsch, eine einzige lodernde Flamme erfüllte ihn: Josepha nahe zu sein.

Am Morgen nach jenem Abende, da er Josepha gesehen, hatte er sich zu dem großen Gange gerüstet. Nie sonst in seinem Leben hatte er Aehnliches gewagt: Die Erbschaft eines Mannes anzutreten, der vielleicht nicht tot war, seiner Braut sich zu nähern, ihre Liebe zu begehren. Aber er konnte nicht anders, denn er mußte in Josephas Nähe bleiben, er mußte tun, was sie wünschte: und so suchte er seinen schwarzen Anzug, seine Papiere hervor, und machte sich auf den Weg zu Hilmar.

Es war ihm elend zu Mute, und doch war er voll überseliger Hoffnungen für die Zukunft; er zitterte und bebte – und doch, er stand vor dem Hause, wo sie wohnte, vor dem Hause ihrer Eltern. Welch' beglückende Vorstellung!

Herr Hilmar nahm ihn für nichts als einen Stellensucher. Er fand sein Erscheinen durchaus natürlich; der Unfall war von den Zeitungen gemeldet, auch wohl in den beteiligten Kreisen bekannt geworden: Vielleicht schmeichelte es ihm sogar, daß man sich, noch bevor er jemanden suchte, an ihn wandte.

Auf die korrekt vorgetragene Bewerbung Armins antwortete er:

»Sie kommen eigentlich zu früh. Noch habe ich keine offizielle Nachricht von dem Tode meines Neffen, noch hoffen wir. Vielleicht hat nur ein Zufall ihn verhindert, zurückzukehren.«

»Selbstverständlich würde ich zurücktreten,« beeilte sich Armin zu versichern, »wenn Ihr Herr Neffe wiederkäme. Ich würde es mit Freuden tun, wenn ich sähe, daß ein schweres Unglück von einer ehrenwerten Familie abgewendet wird.«

Das war freilich eine Phrase, aber sie gefiel dem alten Herrn.

»Ich könnte Ihnen allerdings,« entschied er, »für heute keinen dauernden Vertrag anbieten; wollen Sie es mit einer Probe versuchen und auf die Eventualität, auf welche ich noch immer hoffe, gefaßt sein, so steht dem nichts im Wege. Mir fehlt eine tüchtige Arbeitskraft, ich bin jetzt ganz gebrochen, die Bücher sind in Unordnung geraten, und da harrt Ihrer ein großes Stück Arbeit. Wie ich aber aus Ihren Papieren ersehe, kann in an Ihnen ein solches wohl zumuten. Also meinetwegen!«

Armin erklärte sich mit Vergnügen zu jedem Versuche bereit; mit einigen Worten war die Gehaltsfrage erledigt handelte es sich doch für Armin um nichts als einen Anfang – und Armin Bode wurde engagiert. Morgen früh sollte er in die Stellung des Verschollenen eintreten.

Es war, als träumte er. Nicht seine kühnsten Träume hatten ihm so schnelle Erfüllung seiner Wünsche vorgespiegelt. Nicht nur eine Stellung war gefunden, nein, auch Josepha lächelte ihm zu.

Da trat sie eben in das Comptoir, und ihr Blick begegnete verständnisinnig dem seinen. Sie frug ohne Worte, ob der Vater einverstanden, und er zwinkerte mit den Augen: Ja! – und in diesem Augenblicke schwanden alle seine Bedenken.

Aber schon in der nächsten Minute kamen sie wieder. Weshalb log er? – Josepha war freilich ängstlich, ihren Eltern zu verraten, daß sie abends mit einem Fremden zusammengetroffen. Aber es war doch zu einem guten Zwecke geschehen.

In ihrer Abwesenheit nahm er sich vor, dem Vater die Sache zu erklären. Warum tat er es nicht? – Weil er dadurch die Basis zu seiner Existenz im Hause zerstört hätte. Man hätte dem Verschwundenen von neuem nachgeforscht, auf neuer Grundlage. Auch Josepha wußte ja nicht die ganze Wahrheit. In der ersten Aufregung hatte er ihr verschwiegen, daß er noch einmal umgekehrt war, und den Schwerverwundeten nicht mehr gefunden hatte.

Josepha zweifelte nicht daran, daß er tot war. Es waren seine letzten Worte gewesen, die Armin ihr hinterbrachte, und weil sie diese für die letzten hielt, waren sie ihr heilig wie ein Schicksal. Karl selbst hatte sie an den Mann gewiesen, den sie zu lieben bereit und im Begriffe war. Ihrem zur Romantik geneigten Sinn war er wie ein Bote aus einer andern Welt erschienen. Allerdings, auch sie hatte den Eltern nicht gesagt, daß Karl sich erschossen. Es sollte erst Armin festen Fuß im Hause fassen, dann würden sie die traurige Gewißheit leichter tragen.

So hatten sie sich fast ohne Worte verständigt und bauten eine unbestimmte, aber deutliche Hoffnung auf Liebesglück auf das dunkle Geheimnis, das Karls Verschwinden verhüllte.

Josepha tat es mit ruhiger Seele, nur daß sie Karl warm und innig beklagte, aber ihr Gewissen war rein, sie hatte nichts getan, um ihn in den Tod zu treiben; im Gegenteil, ihr sanfter Einfluß hatte ihn zu einer geregelten Lebensweise vermocht. Wenn er ihr entglitten war in das undurchdringliche Dunkel des Todes, so war es, weil er ihr gar nicht so ganz gehört hatte. Es war noch etwas in seinem Leben, worauf sie keinen Einfluß besaß, und dieses unbekannte Etwas entriß ihn ihr. Sie fühlte nur noch die Pflicht, ihn zu betrauern, aber sie war ergeben in das Schicksal, das sie um ihn betrogen.

Er war tot; ohne Zweifel war er als nicht rekognoszierter Selbstmörder irgendwo begraben worden. Aber auch das war noch gut zu machen, man würde ihm auch noch sein anständiges Familiengrab sichern können, dem armen, einst so heiteren, lebenslustigen Karl.

Josepha flüsterte jetzt dem Vater etwas zu, und dieser wandte sich wieder an den jungen Mann.

»Sie sind ja, wie ich höre, ganz fremd hier; vielleicht beliebt es Ihnen, heute mit uns zu speisen und meine Familie kennen zu lernen. Bei mir herrscht noch ein altfränkisches, patriarchalisches Verhältnis; ich mag mich in die neue Zeit nicht finden, in welcher Herr und Diener einander fremd geworden sind.«

Armin Bode nahm vor Freude errötend an. Zwar der alte Hilmar sagte sich, es sei zu viel Entgegenkommen; aber Josepha hatte den Wunsch geäußert, und er legte sich gar nicht Rechenschaft ab, warum dies geschehen. Das arme Mädchen brauchte eben Zerstreuung.

So erschien Armin Bode also wieder zu Tisch; wieder musterhaft gekleidet, doch anders als Karl. Denn dieser war immer gerne Großstädter gewesen, Armin sah man den wohlhabenden Provinzler deutlich an. Er kontrastierte in seiner Erscheinung wirkungsvoll mit Josepha, sie gaben gleich auf den ersten Blick ein sogenanntes passendes Paar. Josepha war eine sehr schlanke Brünette mit schönem, blassem, ruhigem Gesicht, mit sanftem, schüchternem Wesen, überaus zärtlich gegen ihre Eltern, eine rechte Schlingpflanzennatur. In Herrengesellschaft war sie scheu und dafür wenig empfänglich, daher hatte sie sich so leicht von ihren Eltern bewegen lassen, sich mit Karl zu verloben, weil ihr Herz noch so ganz unberührt war. Wer er hatte sie doch erschreckt mit seinem ungleichen, excentrischen Wesen, seinen Ausfällen gegen Welt und Menschen, seinen fortwährend wechselnden Stimmungen. Armin Bode dagegen verstand es sofort, ihr Vertrauen zu gewinnen, so abenteuerlich ihre Bekanntschaft auch geschlossen war. Er hatte den Typus des deutschen Landwehrmanns: groß, stark, blondbärtig, mit treuherzigen blauen Augen, mit sonorer Stimme, ruhig, würdevoll, gemessen, voll Ehrfurcht gegen Damen, loyal gegen seinesgleichen, und im ersten Augenblicke, da sie seine Stimme gehört, glaubte sie ihm, glaubte mit jener instinktiven Eingebung, welche meist der Anfang der Liebe ist. In den Schauern, welche ihr das geheimnisvolle Verschwinden Karls verursachte, in der dumpfen Trauer ihrer gegenwärtigen Existenz, verlieh ihr das Erscheinen Armins Trost und Zuversicht.

Das Mädchen hatte gedeckt wie gewöhnlich. Die drei anderen nahmen ihre gewohnten Plätze ein, ohne weiter nachzudenken, und so kam Armin, ohne es zu wissen, auf den Platz, welchen bis dahin Karl eingenommen hatte.

Als er nun hier saß, sahen die andern einander unwillkürlich an; Karls Platz war besetzt. Aber Armin vermied es, von dem Verschollenen zu sprechen. Er stellte Fragen über das Geschäft und die Beziehungen der Firma, soweit ihm solche Fragen zustanden; leise wagte er es auch, von den Gewohnheiten der Familie zu sprechen.

Aber sie waren alle ernst gestimmt, und bei der Suppe – es gab vortreffliche Mocturtle – rief Frau Hilmar:

»Es war Karls Lieblingssuppe!«

Eine tiefe Stille trat in dem kleinen Kreise ein, dann sagte Armin:

»Vielleicht ist sie es noch, wird es immer sein.«

Josepha senkte den Blick. Sie nahm nur eine wohlgemeinte, freundliche Lüge an und ging nicht darauf ein.

Alle Speisen waren gleich vortrefflich. So sehr aber Armin bemüht war, das Gespräch abzulenken, er konnte Frau Hilmar nicht abbringen von ihren Erinnerungen. Bei jedem Gange erzählte sie etwas von Karl. Bald sagte sie:

»Es ist noch nicht vierzehn Tage her, daß mich Karl um Rebhuhn gebeten« – bald wiederum, als Armin sich Kompott auftat, bemerkte sie:

»Karl mochte kein Kompott zum Braten; er pflegte es später zu essen.«

Und Armin, der mit Appetit sich zu Tische gesetzt hatte und schließlich ja mit Freuden gekommen war, konnte kaum mehr essen. Er sah das blasse Gesicht des Verschollenen an dem Tische mit überwältigender Deutlichkeit, wie seine Mienen sich verzerrten, seine Augen sich verdrehten, wie er ächzte, wie er mühselig die Worte hauchte, – mit erschreckender Deutlichkeit stand das alles vor ihm. Bisweilen spiegelte ihm seine gehetzte Phantasie vor, daß er, Armin, der Mörder sei; er hätte doch bei ihm bleiben, sich überzeugen sollen, ob er tot, ob nicht nur eine Ohnmacht ihn angewandelt hatte.

»Nach Tische spielten sie immer vierhändig,« sagte Frau Hilmar.

»Ich spiele auch,« antwortete der Gast schwer atmend. »Wenn das Fräulein befehlen?«

»Ach, das ist schön!« rief Josepha aus. »So wollen wir spielen; Mama fehlt es immer. Sie schlief nach Tische darüber ein.«

Natürlich waren nur die Noten zur Hand, welche die jungen Leute damals gespielt hatten. Nun saßen sie zusammen am Klavier. Er fand sich wundervoll in ihre Weise, spielte vom Blatt, fügte sich ihr mit gutem Verständnis.

Frau Hilmar sah mit großen Augen drein. Sollte das ein Wink des Himmels sein, der ihnen diesen jungen Mann schickte? – Oder war es nicht Sünde, daß man ihn aufnahm, während man noch gar nicht wußte, ob Karl tot war oder nicht? – Sie liebte die Musik, freute sich der schönen Klänge, aber ihr Herz preßte sich zusammen, sie konnte heute nicht einduseln. –

Vier Wochen waren vergangen; noch immer keine Kunde von Karl, keine Spur, kein Lebenszeichen. Jeden Tag sah man spannungsvoll in die Zeitungen und in die eingelaufene Post, frug auch einmal bei der Polizei nach, aber Karl war spurlos verschollen.

Indessen war die Probezeit für Armin abgelaufen, der Quartalsbeginn stand vor der Tür, es war der normale Zeitpunkt für einen festen Kontrakt. Noch immer empfand der alte Hilmar etwas wie Verlegenheit. Sein pedantisches Gewissen sträubte sich dagegen. Sein Neffe konnte doch noch leben, wer wußte es? – Noch immer war er nicht amtlich tot erklärt, ja es war noch nicht einmal ein darauf hinzielender Antrag möglich geworden, weil ja jeder Anhalt, jede Spur fehlte. Andererseits gefiel ihm der junge Mann, denn Armin verstand sein Geschäft. Vielleicht war er nicht so vielseitig begabt wie Karl, aber er war stetiger, fleißiger, verläßlicher. Ueberraschend schnell hatte er sich in alles gefunden, war stets mit ganzer Seele der Arbeit hingegeben; mit einer Art von Spürsinn hatte er die Tätigkeit seines Vorgängers erfaßt, es war, als wäre er unter der Leitung Hilmars groß geworden, sozusagen Geist von seinem Geiste. Vor allem war Armin Bode, was Karl niemals gewesen, die Pünktlichkeit selbst. Ruhig erschien er, mit bescheidenem Gruß, und setzte sich an die Arbeit. Man hätte aus seiner gemessenen Haltung schließen können, daß ihm diese Arbeit sehr gleichgiltig; aber bei jedem Anlaß verriet er, wie sehr er innerlich bei der Sache war; ja, er sorgte und dachte an Stelle des Chefs, und dieser konnte nicht umhin auszurufen:

»Nein, wenn man solchen Buchhalter hat, so ist es leicht, Chef zu sein.«

Armin Bode errötete vor Vergnügen.

»Ich stehe ja ganz allein in der Welt und habe kein Ziel als Ihre Zufriedenheit.«

Es schien wirklich, daß er die Wahrheit sprach. Die Großstadt schien keine Verlockungen zu haben für den jungen Mann, und die Alten sagten sich:

»Wir haben einen Treffer gemacht.«

Und Josepha durfte behaupten:

»Er ist ein Ideal,« ohne daß die Eltern widersprachen.

Warum Armin Bode so ganz blind war für die Reize der Großstadt? – Es ahnte niemand, was der wahre Grund. Es war die Erinnerung an den Sterbenden, die ihm unaufhörlich vorschwebte.

Mit Josepha hatte er kaum wieder allein gesprochen, nur ab und zu war ein verstohlenes Wort gewechselt worden. Aber sie verstanden sich durch Blicke, hatten sie doch ein gemeinsames Geheimnis. Höchstens, daß sie sich etwas von ihm zuflüsterten oder von den Eltern:

»Wenn sie wüßten!« – oder: »Sie müssen es aber nun erfahren.«

Nicht viel mehr. Dennoch flogen ihre Herzen einander zu. Josepha lebte infolge der unausgesprochenen Trauer gänzlich zurückgezogen; so war es ihr ein Trost, Armin zu sehen. Sein Anblick, sein ruhiges Wesen, seine Pflichterfüllung flößten ihr inneres Vertrauen ein. Wenn sie bei flüchtigen Begegnungen einmal ein Wörtchen mit ihm sprach, schwand die düstere Beklemmung, die Erinnerung an Karl, die ihr jede Jugendlust benahm.

Und er? – Josephas Gesicht war die Sonne in seinem Leben, war seine Gegenwart, seine Zukunft, sein alles. Er liebte sie mit jener stillen, nachhaltigen Innigkeit, der nur Gemüter dieser Art fähig sind. Kein Laut kam über seine Lippen, – das glaubte er dem Toten schuldig zu sein.

Als er wenige Tage vor Ablauf seiner provisorischen Dienstzeit nachmittags nach der Mittagspause das Kontor betrat, fand er Josepha sehr erregt seiner wartend. Sie flüsterte ihm zu:

»Ich habe den Eltern gesagt, daß er tot ist. Sie mußten es erfahren.«

Gleich darauf trat Hilmar ein, ebenfalls sehr bewegt, mit feuchten Augen.

»Sie taten unrecht, Herr Bode,« begann er, »so lange zu schweigen, sehr unrecht. Aber Sie glaubten ja das Ihre getan zu haben, indem Sie unserer Tochter die traurige Wahrheit mitteilten. Sie waren Zeuge der letzten Augenblicke unseres Karl, Josepha hat uns alles erzahlt; er starb sozusagen in Ihren Armen.«

Armin drückte zaghaft sein Mitgefühl aus, er entschuldigte etwas verworren sein Schweigen. Die Alten selbst waren zu sehr erregt, um seine tiefe Erschütterung zu bemerken.

»Ach, es ist doch im Grunde eine Erlösung für uns,« sagte Hilmar, »wir hatten ja doch keine Hoffnung mehr. Es war eine schreckliche Existenz in dieser Ungewißheit, Tag und Nacht keine ruhige Minute: Was ist aus ihm geworden? – Sie wollten uns das bißchen Hoffnung nicht rauben, aber es ist besser, daß wir die Wahrheit wissen. Meine Frau freilich ist in Tränen aufgelöst: sie mag sich ausweinen. Zwar ist mir noch immer unerfindlich, was den armen Jungen in den Tod getrieben. Denken Sie sich nur, meine Frau glaubt an ein sogenanntes amerikanisches Duell, denn ein freiwilliger Selbstmord scheint uns ausgeschlossen; dafür ist absolut kein Motiv vorhanden.«

»Ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben,« erklärte Bode; »ich kam ganz zufällig dazu, hatte den Schuß gehört und war in das Gebüsch eingedrungen. Er flüsterte mir den Namen seiner Braut zu, gab mir einen Ring und dann schwand ihm das Bewußtsein. Ich habe Fräulein Josepha eruiert und ihr den Ring überbringen wollen.«

Armin verschwieg seinem Versprechen gemäß sein Begegnen am Luisendenkmal, was ja auch an der Sachlage nichts änderte.

»Sie werden verzeihen, daß ich mich um den Posten bewarb, aber ich war fremd in Berlin, ich suchte Arbeit und hörte nur Vorteilhaftes von Ihrem Hause.«

Herr Hilmar nickte zustimmend.

»Und Sie wußten ja auch genau, daß Karl nicht wiederkäme; gerade Sie waren darüber genau unterrichtet, deshalb ist Ihre Handlungsweise vollständig korrekt.«

Inzwischen war auch Frau Hilmar dazwischen gekommen. Ihre Tränen strömten noch immer, sie konnte sich nicht beruhigen. Dennoch wollte sie Näheres wissen über Karls letzte Augenblicke, wie alles gekommen, was er gesagt, wo Bode ihn getroffen. Aber Hilmar trat dazwischen und verbot ein- für allemal, dieses aufregende Gespräch weiterzuführen, es wäre eine unnütze Qual.

»Wenigstens jetzt kein Wort mehr darüber! – Meine Frau hat sehr schwache Nerven,« sagte er, zu Bode gewendet, »man muß sie schonen. Es wird Ihnen vielleicht herzlos scheinen, aber wir wollen über dieses schreckliche Ereignis möglichst einen Schleier sinken lassen.«

Frau Hilmar war nicht gleich von dem Thema abzubringen.

»Was ist aus seiner Leiche geworden?« fragte sie weiter. »Wir müssen doch wenigstens sein Grab wissen, ihm einen Stein setzen, den Hügel schmücken.«

Herr Hilmar seufzte schwer auf.

»Dieser Wunsch wird Dir vielleicht mit der Zeit zu erfüllen sein, aber ganz leicht kann es nicht werden. Der Aermste ist da begraben worden, wo die unbekannten, nicht rekognoszierten Selbstmörder bestattet werden. Ich kann Dir nicht sagen, wo das ist, aber festzustellen wird es wohl sein. Laß uns nur erst zu Atem kommen; vorläufig lassen wir ihn ruhen. Er hat die Ruhe gewünscht, hat sie gesucht, er wollte ferne von uns sterben, ich glaube, wir erfüllen seinen letzten Willen, wenn wir dieses traurige Ereignis so wenig als möglich publik werden lassen.«

Zu Bode gewendet, fuhr er wehklagend fort:

»Es war ein hoffnungsvolles Leben, das so geendet hat, aber wir haben uns keine Schuld beizumessen. Wir haben den Jungen wie ein eigenes Kind gehalten, ihm keinen billigen Wunsch versagt; zuletzt gaben wir ihm unser Kostbarstes, unsere einzige Tochter zur Braut. Wahrlich, uns trifft kein Vorwurf, wie es jedem Fernstehenden scheinen könnte. So bleibt uns nichts übrig, als uns mit Ergebung in das Unvermeidliche zu fügen.«

Noch eine Weile sprach Herr Hilmar so fort. Es schien sein Herz zu erleichtern, daß er in dieser salbungsvollen Weise weiter sprach, während seine Frau immer und immer wieder schluchzte und in allerlei Klagerufe ausbrach.

Noch am selben Tage unterzeichnete Armin Bode seinen Kontrakt, der ihn unter den günstigsten und vorteilhaftesten Bedingungen als Buchhalter der Firma Hilmar für Jahre hinaus verpflichtete.

»Es ist wirklich eine Schickung des Himmels,« sagte der alte Herr. »Sie, im Alter und der Bildung Karl gleich, ebenso vortrefflich qualifiziert wie er, dabei fremd, eine Stellung in Berlin suchend, Sie gerade mußten den Unglücklichen finden, Sie, gerade Sie mußte er in unser Haus senden; Sie überbrachten uns sein letztes Vermächtnis, so kommen Sie in mein Haus und gewinnen Sie mein ganzes Vertrauen. Es konnte sich nicht besser wenden, nachdem das Fürchterliche einmal geschehen. So hoffe ich, daß wir lange und zum gegenseitigen Wohle nebeneinander wirken werden, Herr Bode.«

Sie wechselten einen männlichen Händedruck, Armin gelobte tief ergriffen, hingebendste Pflichterfüllung. Die Worte der Treue und Hingebung, die er sprach, kamen ihm aus tiefstem Herzen, ja sie entsprangen einem Empfinden, von dem die anderen keine Ahnung hatten; bedrückte es den gewissenhaften jungen Mann doch unaufhörlich, daß er den Angehörigen Karls einen Umstand verschwiegen hatte: Karls Verschwinden im letzten Augenblicke.

Und warum schwieg er? – Wiederholt hatte er die Lippen geöffnet, um sich auch das vom Herzen zu sprechen: aber er schwieg immer wieder, ein unbestimmtes Etwas hielt ihn zurück. Warum die Alten neuerdings in Unruhe stürzen? – Warum die eben erst geklärte Situation von neuem trüben? – Warum seine eigene Stellung untergraben? – Zweifellos war Karl ja doch tot, wahrscheinlich schon damals tot, als er ihn verließ, denn weshalb hatte er sich bis heute nicht gemeldet?

Wenn Karl tot war, durfte er seinen Platz einnehmen, durfte er seine Augen zu Josepha erheben; das schöne Mädchen war frei. Ja, um Josepha willen mußte er den Umstand, der ja doch tatsächlich nichts änderte, verschweigen; denn schon liebte er sie, darüber war er sich ja längst klar; und er glaubte sich auch von ihr geliebt. Aber jener war ihr Bräutigam gewesen, war erst drei Wochen tot, es wäre Sünde gewesen, jetzt von Liebe zu sprechen. Allerdings, so viel durchschaute er schon längst: Karl war Josepha mehr ein Freund als ein Geliebter gewesen. Aber verlobt war sie ihm immerhin, also Geduld, so schwer es ihm auch ankommen mochte, seine Liebe zu verhehlen, sein Herz zum Schweigen zu bringen.

Erweckte er aber jetzt noch einen Zweifel an Karls Ende, so begann man von neuem zu suchen, zu forschen, sich mit Zweifeln zu quälen und alles, was er bis heute errungen, geriet ins Wanken. Darunter würde nicht nur er, würden alle leiden. –

*


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