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Pauline Norden hatte traurige Tage verlebt seit ihrem Austritt aus dem Hilmarschen Geschäft. Sie arbeitete jetzt zu Hause, und zwar verfertigte sie seine Kunststickereien, was sie als junges Mädchen erlernt hatte. Dennoch war ihre Existenz eine sehr trübe, denn ihre Mutter konnte es durchaus nicht verwinden, daß Pauline so Knall und Fall davongelaufen oder gar entlassen worden sei. Frau Norden war um so unzufriedener und verdrossener, als sie nicht herausbringen konnte, was eigentlich damals geschehen war. Sie konnte durchaus nicht aufhören, sich darüber zu ärgern, daß Pauline so wenig aufrichtig gegen ihre leibliche Mutter sei.

Das Mädchen aber schwieg aus guten Gründen; denn was hätte sie ihrer Mutter sagen können? Wie konnte sie ihr das Geschehene begreiflich machen? –

Ihr Blick hing manchmal voll sehnsüchtiger Wehmut an einer kleinen Porträtbüste, die dort auf der Kommode stand. Es war der Kopf eines hübschen jungen Mädchens mit einem Blumenkranz im Haar. Das Mädchen trug ihre Züge; Karl Hilmar hatte die Büste modelliert, aus dem Gedächtnis zur Erinnerung an jene Ballnacht, da sie einander kennen lernten. Die Entstehung der Büste, fiel natürlich in die schöne Zeit, bevor Josepha kam. Das kleine Werk war die einzige lebendige Erinnerung an jene schönste Zeit in Paulinens Leben, die sie nie wieder vergessen konnte. Diese Büste hatte ihr Mut gegeben, immer wieder zu hoffen und heldenmütig auszuharren, während sie sich in heimlicher Sehnsucht verzehrte. – Nein, die Mutter durfte das alles nicht erfahren.

Die letztere aber konnte sich nun einmal nicht zufrieden geben; sie nörgelte über jenen dunklen Punkt in Paulinens Existenz sozusagen Tag und Nacht. So lange die Tante lebte, deren Liebling Pauline gewesen war, hatte diese eine Beschützerin und Verteidigerin an ihr gehabt, nun aber war die alte Frau ja tot. Die Brüder waren noch viel zu jung und viel zu kindisch, um ihrer älteren Schwester ernstlich etwas zu sein.

Nun saß das junge Mädchen Tag um Tag an ihrem Arbeitstisch, ihre Tränen verschluckend und mit ihrem heftig pochenden Herzen kämpfend.

Die Stube der verstorbenen Tante war an einen Herrn vermietet worden; dieser Mieter aber zahlte schlecht, und als eines Tages der Hilmarsche Kommis Herr von Waldenburg erschien, auf den neuen Buchhalter schimpfte und erklärte, im Geschäft sei es nunmehr unerträglich, seit Fräulein Pauline nicht mehr da sei, zugleich aber der Mutter eine sehr anständige Miete bot, wenn sie ihm das Zimmer abgeben wollte, so nahm Frau Norden ihn gern auf und kündigte dem bisherigen Mieter.

Pauline war, als die Mutter sich mit Herrn von Waldenburg einigte, gerade abwesend; nachträglich war sie sehr erschrocken über das neue Abkommen, vermochte aber nicht mehr, es rückgängig zu machen. Sie wollte Waldenburg nicht im Hause haben, denn sie hatte ihm ja damals in ihrer törichten Aufregung verraten, woher ihr Bruch mit den Hilmars rührte. Von ihrem Wunsche, Waldenburg nicht als Mieter aufzunehmen, ließ sich die Mutter jedoch nicht bestimmen, und so verblieb es bei dem getroffenen Uebereinkommen. So mußte das arme Mädchen es sich gefallen lassen, einen Mitwisser ihres Geheimnisses in der Nähe zu haben, der sich möglicherweise allerlei Anspielungen erlaubte.

Das düstere Geheimnis, welches sie in ihrem Herzen trug, lauerte jetzt gleichsam auf sie wie ein Todfeind, und verbitterte ihr in Gestalt Waldenburgs auf Schritt und Tritt ihre Tage.

Der kleine Kommis hatte sich heftig geärgert, daß der Platz neben Josepha so rasch besetzt worden war. Er wollte wieder ein wenig lieben und tändeln. Auch hatte ihm Pauline immer sehr gefallen, mehr als die unzugängliche und scheue Josepha. So versuchte er denn, sich ihr wieder zu nähern. Immer wieder versicherte er dem hübschen Mädchen, daß es sich nur um die Zustimmung seines Onkels handle, der ihm durch seine gesellschaftlichen Beziehungen einen standesgemäßen Posten verschaffen wolle. Sobald er dieser Zustimmung gewiß sei, würde er sofort bei Frau Norden um Paulinens Hand werben. Vergebens versicherte ihm diese, daß ja sie selbst noch gar nicht ihr Jawort gegeben habe; er glaubte nicht im Ernst an ihren Widerstand, wenn er nur selbst Ernst machte.

So vergingen einige Wochen; Pauline arbeitete bis zum Aeußersten.

Ihr Kopf brannte, wenn sie so in der kahlen, kleinen Wohnung der Mutter über ihre Arbeit gebeugt saß und tagelang grübelte.

Waldenburg pflegte die Abende sehr häufig bei Frau Norden zuzubringen, indem er sein einfaches Abendbrot sich von ihr besorgen ließ. Frau Norden ließ sich das gerne gefallen, denn sie dachte echt mütterlich: »Am Ende ist es doch eine Partie für Pauline!«

Eines Abends kam Waldenburg ganz außer sich mit einer großen Neuigkeit. Frau Norden und ihre Tochter hatten den Tisch bereits gedeckt, man hatte nur seine Ankunft erwartet, um mit dem Abendbrot zu beginnen.

»Das große Rätsel ist gelöst!« rief der kleine Kommis.

»Welches Rätsel denn?« fragte Frau Norden neugierig.

»Das große Rätsel, welches das Verschwinden Karl Hilmars umgab,« erzählte Waldenburg selbstgefällig. »Er hat sich im Tiergarten erschossen, das ist nun festgestellt worden. Nächstens erfolgt die amtliche Todeserklärung. – Mein Gott, Fräulein Pauline, was ist Ihnen denn?«

Pauline war totenbleich geworden und schien einer Ohnmacht nahe. Aengstlich bemühte sich die Mutter um die Tochter, die sie jedoch mit den Worten abwehrte: »Beruhige Dich, Mutter, es ist nichts! – Weshalb müssen Sie auch so schreckliche Dinge erzählen!« stammelte sie mit bleichen Lippen nur so hinwerfend, als handle es sich um etwas ihr sonst ganz Gleichgiltiges.

Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes wurde von Paulinen abgelenkt durch Frau Nordens brennende Neugier, welche über das schreckliche Ereignis Näheres wissen wollte.

Waldenburg gefiel sich in der Rolle eines Erzählers großer Neuigkeiten und berichtete nun, was man heute erfahren habe.

Herr Bode, der neue Buchhalter, sei nämlich Zeuge gewesen, wie Karl Hilmar im Tiergarten seinen letzten Seufzer aushauchte. Er habe damals die Sache verschwiegen aus Rücksicht auf die Familie und sei erst jetzt endlich mit der Wahrheit herausgerückt.

Waldenburg und Frau Norden waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie Paulinens kaum verhehlte Verzweiflung nicht bemerkten. Das junge Mädchen war gänzlich gebrochen – Karl war also doch tot! Alle ihre Ahnungen hatten sie betrogen, und das furchtbare Opfer, welches sie gebracht hatte, war umsonst gewesen!

Nur ganz mühsam hielt sie sich aufrecht, um sich Waldenburg und ihrer Mutter nicht zu verraten.

Als der Mieter sich in seine Stube zurückgezogen hatte, und die Mutter eingeschlafen war, überließ sie sich ihrem grenzenlosen Jammer. Sie weinte ihre Kissen naß, raufte sich die Haare, biß sich fast die Lippen wund, um nicht laut aufzuschreien.

Was hatte sie verbrochen, um so unsäglich elend zu werden? Warum gerade ihr ein so schreckliches Schicksal? Erst hatte sie zusehen müssen, wie der heimlich Geliebte sich einer anderen zuwandte, sich mit einer anderen verlobte; dann war er eines Tages verschollen. Josepha erwies sich als treulos und knüpfte sofort eine neue Beziehung mit einem anderen an. Pauline hoffte hingegen, sie hoffte ohne eigentlichen zwingenden Grund. Sie handelte so, als wüßte sie ganz bestimmt, daß Karl lebe, und nach seiner Rückkehr bereit sein würde, sie für alle gebrachten Opfer zu entschädigen. In ihrem exaltiert-gläubigen Herzen war sie wohl überzeugt, daß er erscheinen müsse, wie einst der Messias der gottverlassenen Menschheit. Aber sie hatte sich geirrt; er kam nicht. Nimmer würde er wiederkehren. Er war tot! Ach, sie hätte sterben können, gleich auf der Stelle! Denn was stand ihr bevor? Ein elendes, freudloses Leben ohne Glück, ohne Liebe; entweder schlecht bezahlte Arbeit oder die Ehe mit irgend einem Ungeliebten.

Wie hatte er sich auch nur so wegstehlen können, ohne ihr ein einziges Wort zu gönnen! Es war zu schrecklich, es war kaum zu überleben!

*

»Fräulein Pauline sieht so blaß aus,« sagte Herr von Waldenburg am nächsten Abend. »Nicht wahr, Sie sind zu sehr erschrocken über den Tod Hilmars? Ja, das war ein Tausendsassa, er gefiel den Damen! Er maß ja auch seine sechs Fuß! Nun, Sie werden den Schreck doch verwinden, Fräulein Pauline. Wollen wir nicht am Sonntag irgend wohin auf das Land gehen? Ich habe Sie schon lange darum gebeten, und eine Zerstreuung würde Ihnen wohltun.«

Pauline widersprach nicht, vielleicht weil sie zu apathisch war, vielleicht weil sie es selbst in der engen Stube kaum mehr aushielt mit ihren schrecklichen, dem Wahnsinn nahekommenden Gedanken. Sie mußte ihnen und sich selbst entrinnen.

»Meinetwegen denn,« sagte sie. –

Der Sonntag war wunderschön, so ganz gemacht, ein trübes Gemüt auszuheilen; Frau Norden war auch ganz bei der Sache, kramte allen Putz aus und packte Butterbrote ein. War Herr von Waldenburg auch nur ein Kommis, so war er doch immerhin leidlich gut situiert, überaus nett, zudem aus sehr guter, adliger Familie; Frau Norden wäre über einen solchen Schwiegersohn sehr vergnügt gewesen.

»Du mußt Dich schön machen, Paulinchen,« ermahnte sie die Tochter, »wer weiß, was geschehen wird! Das blaue Kleid mußt Du anziehen, es kleidet Dich prächtig.«

In dem blauen Kleide sah sie wirklich sehr gut aus. Allerdings war sie im Gegensatz zu dem fröhlichen Sonntagstreiben stumm wie ein Opferlamm.

Die drei Knaben hatte man zu ihrem Vormund geschickt, der sich bereit erklärt hatte, mit ihnen auszugehen. So fuhren die drei, Frau Norden, ihre Tochter und Herr von Waldenburg, mit der Dampfstraßenbahn hinaus ins Grüne, nach einem sehr eleganten Gartenlokal, wo ein Konzert stattfand.

Paulinens Mutter fühlte sich ungemein vergnügt und angeregt. Und Paulinens Stimmung schlug unter den vielen fröhlichen Menschen doch auch um. Es widersprach ihrem Wesen, diese stumme, dumpfe Verzweiflung lange zu ertragen. Sie brach in eine laute, krampfhafte Lustigkeit aus, mit welcher sie sich selbst zu übertäuben versuchte. Sie lachte und schwatzte mit Herrn von Waldenburg, als wäre auch sie ganz bei der Sache. Sie nahm seinen Arm an und promenierte mit ihm in dem eleganten Park unter den zahlreichen Berliner Sonntagsausflüglern. Die Mutter war ganz glücklich. Freilich, Pauline war einen Kopf größer als ihr Begleiter, aber das schadete sicher nicht; so etwas kann einer guten Ehe keinen Eintrag tun. Ach, und Herr von Waldenburg war ein gar zu netter Mensch!

Zum großen Staunen der Mutter, die am Kaffeetisch zurückgeblieben war, kam Pauline, die mit ihrem Ritter spazieren gegangen war, jetzt von zwei Herren begleitet, zurück: auf der einen Seite hatte sie den Kommis, auf der anderen einen älteren, sehr stramm gehenden, vornehm aussehenden Herrn, der mit sichtlichem Wohlgefallen auf das hübsche Mädchen blickte. Dagegen machte Waldenburg eine etwas sauersüße Miene. Er stellte jetzt vor: »Mein Onkel, Herr von Waldenburg, Major außer Dienst; ganz zufällig habe ich ihn hier getroffen; – Frau Norden, Beamtenwitwe, und Fräulein Tochter – doch Fräulein Pauline habe ich Dir ja schon vorgestellt, lieber Onkel.«

Der Major a. D. war ein sehr wohlerhaltener Herr, ungefähr Anfang der vierziger Jahre. Waldenburg der Jüngere hatte schon oft von ihm gesprochen; es war der Onkel, der ihn protegierte. Er war gerade nicht vermögend, hatte aber ein reichliches Auskommen, war Junggeselle, gänzlich alleinstehend, und besaß vielfach verzweigte gesellschaftliche Beziehungen; schon immer hatte er versprochen, seinen Neffen standesgemäß zu versorgen; bis jetzt freilich hatte er nicht Wort gehalten, aber Oskar, so hieß der Neffe, war bei allen erdenklichen standesgemäßen Stellungen vorgemerkt. Der eifrige Onkel hielt ab und zu einmal Nachfrage nach seinen Aussichten, und einmal mußte sich ja etwas finden. Das war bisher freilich alles, was er für den Neffen getan hatte.

Oskar stammte aus sehr armer Familie; er hatte seine Studien nicht vollenden können und war in ein seiner Mutter befreundetes Handelshaus in die Lehre gegeben worden. Dann kam er zu Hilmar. Trotz seines Geckentums und seines Großtuns war er im Grunde ein guter Mensch und tüchtiger Arbeiter; er hätte gewiß eine ganz einträgliche kaufmännische Lausbahn machen können, würde ihn nicht immer der Ehrgeiz gestachelt haben, eine »standesgemäße« Existenz anzustreben.

Der Major begann sofort Paulinen den Hof zu machen. Zu seinem Neffen gewendet, sagte er: »Alle Wetter, Junge, Du hast einen guten Geschmack! – Das ist ja eine reizende Kollegin, die Du da hast. Wenn man eine solche Kassiererin neben sich hat, da ist es freilich leicht, hinter dem Ladentisch zu stehen. Wer möchte da nicht an Deiner Stelle sein?«

»Ich bin nicht mehr an der Kasse, Herr Major,« versetzte Pauline.

»Da haben Sie recht, Fräulein,« entgegnete der galante Major. »Sie sind auch viel zu hübsch für eine exponierte Stellung. Ihre Mama hätte das niemals dulden sollen.«

»Nun, so gefährlich ist's ja nicht,« entgegnete Frau Norden selbstgefällig. »Aber wie Sie sehen, ich habe es auch vorgezogen, meine Tochter zu Hause zu behalten.«

Frau Norden machte nämlich aus der Not eine Tugend. Sie fuhr fort: »Meine Tochter, das arme Kind, muß freilich ihr Brot verdienen, plagen muß sie sich auch zu Hause, aber sie bleibt doch unter meinen Augen.«

Pauline lachte ausgelassen.

In einer Anwandlung von Mutwillen erzählte sie:

»Ich möchte am liebsten nach Amerika auswandern; ich suche nur nach einer anständigen, passenden Gesellschaft. Ich habe mir auch schon ein Buch zum Selbstunterricht im Englischen gekauft.«

Natürlich versetzte der Major sofort mit seiner seichten Galanterie: »Wollen Sie mich zum Ritter, Fräulein Norden? Ich gehe mit Ihnen, wohin Sie wollen.«

Pauline ging auf die ziemlich geschmacklosen und gewagten Neckereien ein. Oskar von Waldenburg bemühte sich seinerseits, neben dem Onkel sich geltend zu machen. Auf einmal war Pauline von zwei Seiten umworben, gefeiert wie eine Schönheit der großen Welt. Schließlich ging man auch in den Tanzsaal, obgleich die Gesellschaft dort nicht so gewählt war, als im Gartenparterre: aber es war ja Sonntag und auf dem Lande, und so durfte man ein Tänzchen wohl riskieren.

Pauline ließ sich alles gefallen. Der Major tanzte mit ihr eine Quadrille, Oskar von Waldenburg einige Rundtänze. Sie tanzte wie eine Wilde und suchte zu vergessen.

Aber ach, sie kam nicht darüber hinweg! Karl war tot! – und zwischen all ihrem tollen Gebaren zuckte ihr Herz in nagendem unbezwinglichen Weh.

An diesem Tage wurde sie sich klar darüber: sie würde zuletzt irgend etwas Verzweifeltes begehen, wie nach Amerika auswandern oder einen ungeliebten Mann heiraten, oder aber ins Wasser springen, ohne Rücksicht auf ihre Familie – irgend etwas davon mußte geschehen.

Der Major schien ganz entzückt von Pauline und erzählte ihr allerlei vom Johannistrieb.

Inzwischen war der junge Waldenburg an Frau Nordens Seite geblieben und hatte sehr ernsthaft mit ihr gesprochen. Er hätte die ernstesten Absichten bezüglich Paulinens, und die Mutter solle ihre Tochter doch bestimmen, keine törichte und aussichtslose Liebelei einzugehen. Der Major würde sie sicher nicht heiraten, Wohl aber er, Oskar von Waldenburg.

*


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