Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Tal der Selke

Der gefeierte Emile Souvestre sagt in seinen tristen Lebensgemälden: »Glücklich sind die Eunuchen des Geistes und des Herzens; sie können ohne Wünsche und Verlangen durch die Lebensfreuden hindurchgehen.«

Bedauerungswürdiger Mann, wenn dieser Gedanke mehr als Phrase ist und ihn als eine Überzeugung die verfinsterte Seele erzeugte! – Wir fühlten den Gegensatz im Wehen der frischen Morgenluft, auf dem wohlgebahnten Weg, der in einer langen Schlucht zwischen grünen Waldwänden, von einem rieselnden Bach durchschnitten, uns dann zum Ramberg brachte. Die unermüdlichen, kleinen gefiederten Sänger, die den jungen Tag begrüßten und nie heiser werden, die fleißigen Holzfäller und Steinbrecher, die mit ihrem Arbeitszeug, wohlgemut in der Aussicht auf den Feierabend, dem Tagewerk zuschritten, regten auch uns Lebensmut, Hoffnung und Traumbilder auf, und die große Versöhnerin Natur, die für jeden Kranken Balsam hat, wenn er nur Vertrauen mitbringt, besänftigte und glättete die stürmischen Bewegungen, die von dem jüngsten Ereignis in unserer Brust nachgeblieben sind.

Der Ramberg bildet eine der bedeutendsten Höhen des Unterharzes. Er ist gleichsam ein kleiner Brocken, denn der Granitkern springt hier nochmals völlig an das Licht; wie dort ist er mit mächtigen Trümmern des Urgesteins bedeckt, die aus dem Buchenwald abenteuerlich hervorzuwachsen scheinen, und auch auf ihm öffnet sich dem Auge ein herrliches Panorama, wenn dies auch beschränkter ist und seine Endpunkte näher bringt, weshalb gerade manche, und nicht zu Unrecht, diese Aussicht selbst jener auf dem Brocken vorziehen. Um dieses Panorama in seiner ganzen Fülle zu entschleiern, ist durch die Fürsorge des Landesherrn auf des Berges Spitze ein Balkenturm von mehreren Stockwerken errichtet worden, und man hat den Platz seitdem Viktorshöhe getauft. Man übersieht von hier aus hundert Quadratmeilen des Landes; jede Mannigfaltigkeit, die ein Landschaftsbild darbieten kann, ist aufzufinden; Städte und Dörfer, Schlösser und Burgruinen, Villen und Jagdhäuser, Tal und Berg, Wald und Wiese, Felszacken und Fruchtäcker wechseln rundum, und nirgends trifft man eine vollkommenere Ansicht des ganzen Harzwalds. Auch hier lädt ein wirtliches Forsthaus den Wanderer ein, und das Stammbuch dort bezeugt, daß im Durchschnitt an 1800 Fremde jährlich diese Höhe besuchten, auf der man freilich manche Unbequemlichkeit der Brockenfahrt nicht fürchten darf.

Der Platz dort oben hieß einst im Volk die Teufelsmühle, und zwei Granitblöcke von ausgezeichnetem Umfang und famoser Dicke, wie absichtlich aufeinandergelegt, tragen den Namen noch zur Zeit, und eine alte Mär haftet an dem Namen:

Unten am Berg besaß vorzeiten ein Müller eine Windmühle. Aber die Mühle, ein Erbstück vom Urgroßvater, war baufällig, und wenn der Wind aus Norden oder Westen blies, standen die Flügel unbeweglich, denn Berg und Wald fingen und hielten den Gotteshauch. So konnte der Mann nimmer auf einen grünen Zweig gelangen, verarmte mehr und mehr, und auch das Gottvertrauen, die beste Stütze der Armut, wich von ihm. Oft saß er oben auf dem Berggipfel und träumte, wie schön es sein müßte, wenn hier im freien Luftzug die Mühle stände, ein fester Turm, erbaut von dem Material, das überflüssig in der Nähe umherlag; und er schalt auf die Großeltern, daß sie nicht diesen Platz erwählt hatten, bedachte jedoch nicht, wie es auch ihnen wohl gemangelt hätte an Geld und helfenden Armen, das Werk dort oben in die Wildnis zu stellen.

Da trat einst im Dämmerlicht, als die Fledermäuse und Eulen ihren Flug begannen, ein stämmiger Werkmeister ihm entgegen in schlichter Handwerkstracht, doch mit schwarzgelbem Angesicht und hinkendem Fuß. Verwundert vernahm der Müller, wie der Fremde sein Trachten kannte und ihm seinen Dienst anbot, ja sich vermaß, zwischen Mitternacht und Hahnschrei die schönste Mühle hinzustellen, sobald der Müller durch einen Blutschein verspräche, sich ihm leibeigen und seeleneigen zu geben nach dreißig Jahren. Not, Habsucht und Eitelkeit, drei der schlimmsten Zwingherren der Menschen, verführten den Müller, und der böse Pakt wurde abgeschlossen.

Da sah der Entsetzte in einer Mitternacht, in der ihn der finstere Architekt auf den Berg bestellt hatte, plötzlich die Einsamkeit mit grauenhaftem Leben erfüllt. Eine Schar schwarzer Gesellen tauchte mit dem zwölften Glockenschlag des nächsten Kirchturms aus der Nacht. Sie fegten den Raum kahl im Augenblick; kräftige Beilschläge schallten im Wald; zahllos klangen Meißel und Hammer am Gestein, und das Werk wuchs in Windeseile; aber der Mut sank dem Zuschauer, je mehr es aus der Nacht sich erhob. Seine Angst stieg zuletzt zur Verzweiflung, und als schon das Dach mit den riesigen Flügeln fertig gezimmert zur Seite stand, nur noch der letzte Mühlstein eingesetzt werden sollte, faßte er diesen mit der Kraft, die Todesangst weckt, und stieß ihn von den Rollhölzern hinab, daß der runde Stein den Berghang hinuntertanzte. Mit wüstem Zorngekreisch stürzte der höllische Werkmeister ihm nach, lange vergebens. Jetzt faßte er ihn, da – krähte ein munterer Hahn unten im Gehöft des Müllers. Grimmig hob der Höllische den ungeheuren Stein, seine Kleider fielen von ihm wie verbrannter Zunder, seine schwarzen Fittiche entfalteten sich, er schwang sich hoch in die Lüfte und ließ den Mühlstein fallen und begrub unter ihm sein nächtiges Werk und den, für den er es gebaut hatte und der noch heute darunter verschüttet liegt. –

Von der Viktorshöhe kommt man auf dem Fürstenweg durch den Waldgarten nach dem Jagdhof Sternhaus, der seinen Namen von den sternförmig durch den Wald gehauenen Alleen erhielt, deren Mittelpunkt er ist. Nicht weit davon steht noch ein anderes Jagdhaus, Spiegelhaus, nach dem kunstliebenden Domdechanten von Spiegel zu Halberstadt getauft, der neben dem Apoll auch der Diana nicht abhold war und gern im ritterlichen Jägerkostüm der Sauhatz beiwohnte.

Zur Zeit der schönen Straße – und das ganze obere Bernburgsche, einem großen Garten ähnlich, zeichnet sich durch die Trefflichkeit seiner Kunststraßen aus – erheben sich, vom giftigen Kellerhals umwachsen, die Ruinen der Heinrichsburg, einst ein Lehen der Stolberge und von den Hohensteinern im vierzehnten Jahrhundert zerstört. Ein mächtiger, kegelförmiger Grünsteinfels trägt die Trümmer, und in der Nähe umschließt der Tonschiefer Asbest und Strahlstein von seltener Schönheit. Eine kurze Strecke von da auf beständig im Holz bergab laufender Chaussee, und man ist am

Mägdesprung

und steht am Rande des reizenden Selketals. Das schönste Harztal nennen es die Bernburger; der Fremde gibt nicht viel darauf, denn er ist schon gewöhnt, von den Anwohnern immer das Nächste als das Preiswürdigste ausposaunt zu hören; nach der Rückkehr aus diesem Tal stimmen die meisten jedoch ein in den Lobgesang und meinen, das Selketal hätte jedem der Schwestertäler sein Eigentümlichstes abgeborgt und in sein Reich zusammengetragen und in dieser Vermählung des Verschiedenartigsten, in der Verschmelzung des Wilden zum Milden, des Zarten zum Harten das große Zaubermittel gefunden, allen zu gefallen. Dazu ist die Selke eine der sanfteren und schmächtigeren Undinen des Harzes; nicht aus geborstenem Klippenwall bricht sie ans Licht der Sonne; ein stiller Teich in der Nähe des Städtchens Güntersberg ist ihre Wiege, weicher Marmor bekleidet ihr Vaterhaus, durch stillen Wald und grüne Wiese schlängelt sie sich fort; selbst da, wo sie über einen Felsdamm sich hinabwirft, tut sie es anständig, züchtig und mit der Grazie einer gewandten Tänzerin und macht einen weiten Bogen durch das flache Land, ehe sie, die Scheu vor der wilden Schwester überwindend, fern im Halberstädtischen sich mit der Bode vereinigt. Schade, daß es mit ihr ist wie mit den gebildeteren, städtischen Mädchen; ihr fehlt die kalte Frische, und ihr Wasser ist trüb und ungenießbar.

siehe Bildunterschrift

Mägdesprung

Nur aus weitgedehnten und großartigen Hüttenwerken mit den Wohnungen der Offizianten und Arbeiter gemischt besteht der Ort Mägdesprung, doch hat er eine neue, niedliche Kirche und ein gentiles Gasthaus. Von hier die Selke hinauf und hinab begleiten den Wanderer die weitschallenden Töne der schweren Arbeit und des Fleißes; aus schwarzen Dächern wälzen sich dichte Dampfsäulen; glühende Funken sprühen durch die grünen Baumkuppeln; geblendet fährt das Auge zurück von der offenen Werkstatt, die, gefüllt mit rotglühenden Feuermassen, einem vulkanischen Krater gleicht, worin sich zyklopische Gestalten bewegen, und die einförmige Melodie der Hämmer weckt überall den Widerhall.

Mägdesprung umschließt einen Hochofen, den man morgens oder abends besuchen muß, um den Sturz der geschmolzenen Massen in die Formen zu sehen, drei Schmieden, ein paar Kugelöfen, Walz-, Dreh- und Bohrwerke, Werkstätten für Schlosser und Modellierer, Laboratorien und Magazingebäude. Aufwärts vom Ort trifft man auf einen Frischhammer und einen Drahtzug; abwärts berührt man zuerst das Karlswerk, Hammer- und Drahtwalzwerk nach englischer Manier, und dann die vier Friedrichshämmer, von denen der eine eine Schwarzblechhütte mit einem Ringgebläse ist. Der Umfang dieser Werke geht aus der Aufzählung hervor, das gewonnene Eisen soll von vorzüglicher Güte sein, die Einrichtungen sind vortrefflich, und die feineren Gußwaren lassen an Schönheit und Ausführung der Gegenstände nichts zu wünschen übrig, werden aber auch im Preis gehalten. – Ein in die Augen fallendes Zeugnis der Meisterschaft, die in diesen Werkstätten waltet, ist ein gegossener eiserner Obelisk von 58 Fuß Höhe, 1812 errichtet und das erste und damals einzige deutsche Kunstwerk dieser Art. Die Pietät des kürzlich verstorbenen Herzogs Alexius setzte es zum Gedächtnis seines Vaters, des Stifters dieser imposanten Hüttenwerke. Auf einer Felsplatte, die den Ort beherrscht, deren abschüssiger Rand nach der Straße zu mit Kettensteinen eingefaßt ist, steht dieser Obelisk und gibt dem ganzen Platz ein feierliches Ansehen und eine Art von mysteriöser Weihe. – Das Material der dortigen Arbeiten liefert größtenteils der Bergbau der Umgegend.

In der nahe liegenden Stadt Harzgerode, die auf einer bedeutenden Gebirgsplane liegt, leitete eine herzogliche Kommission den Bergbau. Die Ganggebirge des Unterharzes sind unmittelbare Fortsetzungen der oberharzischen, nur sind sie von vielen Flözgebirgen begleitet und durchschoben. Sie sind gleichsam die äußersten Aderzweige des großen Steinkörpers, in denen das edle Blut verdünnter fließt, indes droben, wo alle Adern im Herzen sich vereinen, die reichste Produktion statthat. Der größte Teil der unterharzischen Ganggebirge besteht aus Schiefer, doch sind sie, was man stücklige Gebirge nennt, darum ungeschickt zur Erzeugung edler Metalle, und deshalb gibt es wenige ergiebige Silbergruben im Unterharz; selbst die Kupfergänge liefern nur unvollkommene Ausbeute, und die Erze lagern nesterweise darin. Ein daraus hervorgehender Unterschied ist der, daß im Oberharz die Anbrüche sich mächtiger, die Erze sich reichhaltiger gestalten, je tiefer man baut; hingegen im Unterharz die Gänge je tiefer, je schmaler und unedler sich finden lassen; dafür ist der untere Teil des Harzes an Eisen fast unermeßlich reich. –

Die Gänge um Harzgerode, die in Grauwackengebirge aufsetzen, liefern silberhaltigen Bleiglanz, den nett gestalteten, lichtbraunen Eisenspat, Kupferkies, Schwefelkies und den vielfarbigen Flußspat. Schön kristallisiert zeigen sich Zinkblende, Wolfram, Fahlerz und daumendicker, spiegelblanker Bleiglanz besonders am Meiseberg und zu Neudorf; weiter nach Westen gräbt man in den Tilkeroder Eisensteingruben auch das seltenere Selenblei, das zuweilen Gold umschließt. An Silber werden jährlich an 1600 Mark produziert. Dampfmaschinen, die ersten im Harz, heben das Wasser aus den drei Bernburgschen Gruben.

Nachdem wir unsere Wißbegierde vollauf befriedigt hatten – und überall im Harz trifft der Fremde auf gefällige Bergoffiziere, die, enthusiasmiert für ihr Geschäft, die größte Freude in der Entfaltung desselben suchen und mit Erlaubnisscheinen nicht geizen–, säumten wir nicht, auch der Natur unsere Huldigung darzubringen.

Die rechte Wand des Selketals, die sich zwar abschüssig und in mancherlei pittoresken Formen gespalten herabsenkt, aber sich fern von allem Grausigen und Abschreckenden hält, trägt die Hauptmerkwürdigkeit der Gegend, von der sie auch den Namen bekam. Es ist die Mädchentrappe, die Eindrücke von einem Paar riesenhafter Menschenfüße enthält. Das sonderbare Naturschauspiel bleibt jedenfalls sehenswert, und das Volk hing eine Romanze daran:

Eine Hünentochter, die als unerschrockene Jägerin mit Speer und Bogen das Tal durchstrich, vernahm ein fernes Angstgewinsel. Aus dem Waldgebüsch schwingt die Mutige sich rasch zu der nächsten Felshöhe hinan. Sie erkennt die Stimme, die um Hilfe ruft, ihr Falkenauge sieht jenseits eine junge Freundin von ein paar schmutzigen, entmenschten Höllenbewohnern angefallen, ergriffen, mißhandelt, fortgeschleppt. Ihr Blut kocht, ihre Seele zürnt, denn es ist ihr Liebling, der gefährdet ist, die zarteste, sanfteste Tochter des Tales. Ohne Besinnen wagt sie den ungeheuren Salto mortale über die weite Bergspalte, wie ein vom Himmel gefallener Würgeengel stürzt sie zwischen die zähnefletschenden Troglodyten, deren borstiges Haar im Entsetzen sich sträubt wie der Nackenkamm des verwundeten Ebers; zwei Stöße mit dem Jagdspeer durchbohren das Bärenfell und die rauhe Brust und das Herz darunter, und im Triumph führt sie die schöne Freundin zurück in das Elternhaus und zu den Gespielen. – Die Muskelkraft, welche Fersen und Sohlen so in den Stein gedrückt hat, gehört in die Zeiten, wo die Mammuts und Mastodonten und Megalosauren auf Erden weideten; doch fallen die Zweifel täglich mehr an solcher Möglichkeit, seitdem die fabelhaften Drachen und Lindwürmer in maßlosen Skeletten aus tausendjährigen Gräbern auferstehen. –

Nicht weit von der Mädchentrappe blickt ein schön gearbeitetes, zehnfüßiges Eisenkreuz, mit einem Gitter umschlossen, nieder in das Tal wie ein priesterlicher Schirm gegen den heidnischen Spuk. Die Prinzessin von Anhalt, an den Prinzen Friedrich von Preußen vermählt, ließ es 1819 ihrem geliebten Vater zu Ehren errichten. Stiller und einsamer wird nun das Tal, der Lärm der Werkleute verhallt nach und nach, je weiter man am linken Ufer des Flüßchens fortschreitet; nur das einförmige Rauschen der Mühlräder unterbricht die sinnigen Betrachtungen des Pilgers, und die Singvögel, die sich scharenweise in dieses Asyl heruntergeflüchtet haben, konzertieren in den mannigfachsten Sangweisen.

Anderthalb Stunden vom Mägdesprung schaut links vom Meiseberg ein freundliches Jagdhaus in das Tal hinab; der kürzere Fußweg hinauf ist gar steil, der Fahrweg ziemlich bequem; aber droben empfängt und bewirtet den Fremden ein artiger Forstmann, und man wird überrascht durch die gartengleiche Anlage, die ausgeschnittenen Rasenstücke, durch die netten und geräumigen Zimmer und die Aussicht über Busch und Wald hinweg und läßt sich die Erquickung wohl gefallen.

Man wandert weiter an dem grünumsäumten Bett der Selke zwischen den hohen, waldbedeckten Wänden, die sich bald erweitern, bald enger zusammentreten, und gewahrt in der Nähe der Leimufermühle rechts hoch im Wipfel einer Ureiche eine flatternde Fahne und fragt den Führer neugierig, warum dieses irdische Feldzeichen ausgesteckt ist. Die bunte Seidenflagge bezeichnet den Hausberg, auf dessen Spitze, wie schon erwähnt, die Steine der Burg Anhalt, des Stammhauses des herzoglichen Geschlechts, im Wald hingestreut verwittern. Geebnete Fußwege schlängeln sich hinauf, beschattet vom schönsten Laubgewölbe; Sitze und runde Steintische findet der Müde, und es ist ihm bequem gemacht, aus der Reisetasche zu tafeln, und zu einem luftigen Altan im Gipfel der höchsten Eiche darf er gefahrlos steigen und sich umschauen im Tal und hinüber bis zu Ballenstedts lieblicher Gartenflur. Nur einige Trümmer der Ringmauer und ein 250 Fuß tiefer Brunnen sind von Esikos, von Ottos des Reichen, von Albrechts des Bären stolzer und fester Residenz übriggeblieben für den Antiquitätenfreund.

Jaspisartige Roteisensteine lagern hier häufig im Grünstein, auch ist bei der Scheerenstieger Mühle der Alexis-Erbstollen beachtenswert, zur Aufnahme verlassener Gangzüge und zur Sicherung des ganzen Bergbaus in neuester Zeit angesetzt.

Von hier an verschwindet im Tal stundenlang fast jegliche Menschenspur; ein unberührter Naturtempel umfing uns, die schön erhaltene Straße allein erinnerte an menschliches Walten, und wir würden so ermüdet als befriedigt den Marsch gehemmt haben, hätte uns nicht der Blick aus dem Altan der Anhalter Eiche das ernste Ziel voraus gezeigt, das unsere Anstrengung zu lohnen versprach. Die Selkensicht – ein Häuschen auf der linken, gar steilen Talwand blieb unbeachtet samt der ihr nachbarlichen Tidianshöhle, worin mitternächtige Schatzgräber des öfteren ihr Glück gesucht haben. Um eine Aussicht mehr durften wir die Kraft nicht opfern. Endlich lag die Brücke vor uns, die zum rechten Ufer der Selke hinüberführt, und dort stieg, gleich dem Gespenst eines vom Scheitel bis zur Sohle verluppten Ritters, der

Falkenstein

mit Turm und Zinnen hoch aus der finsteren Waldmasse empor, und der Berg, der ihn trägt, schob sich, als wolle er den Paß verrennen und die Straße sperren, in das Tal herein. Nachzulesen in »Die Ritterburgen und Bergschlösser Deutschlands« von Gottschalk. Die sogenannte Talmühle und eine Papierfabrik stehen in der Nähe, die Straße aber folgt von hier ab immer dem rechten Flußufer bis zum Ausgang des Selketals, wo das Dorf Meisdorf den Pförtner vorstellt, eine Besitzung und der Wohnort der Freiherren von Asseburg, deren Ahnherren in der früheren braunschweigischen Geschichte keine unbedeutende Rolle gespielt haben. Von Meisdorf gelangt man in einer Wegstunde nach Ballenstedt.

siehe Bildunterschrift

Schloß Falkenstein

Auf dem Falkenstein saß früher ein mächtiges Grafengeschlecht, das die Umgegend als Reichslehen wahrscheinlich von Kaiser Heinrich IV. erhalten hatte. Geschichtlich wird zuerst im zwölften Jahrhundert ein Graf Burchhard erwähnt. Von einem anderen Grafen Hoyer dazu veranlaßt, soll hier Eskow von Repkow den Sachsenspiegel geschrieben haben. Ein Graf Burchhard war der Letzte des Stammes und vermachte im vierzehnten Jahrhundert seine erblosen Güter dem Domstift zu Halberstadt, und im fünfzehnten Jahrhundert belieh ein halberstädtischer Bischof die Herren von Asseburg mit dem Ländchen. Im Dreißigjährigen Krieg haben Tillys Völker und auch die Schweden sich an der Burg versucht.

Als wir schweißbedeckt den steilen Fußpfad erstiegen hatten, an den Resten der äußersten Ringmauer Atem schöpften und über den leeren Vorraum hinweg, den man – ob so eigentlich passend, ist die Frage – mit jungen Kirschbäumen bepflanzt hat, auf das große Eingangstor blickten, rezitierte der kleine Fränzel die schaurige Ballade, die ein Kind dieses Ortes ist:

»Im Garten des Pfarrers von Taubenhain
Geht's irre bei Nacht in der Laube.«

Und weiter:

»Von drüben herüber, von drüben herab,
Dort jenseits des Baches vom Hügel
Blickt stattlich ein Schloß auf das Dörfchen im Tal,
Die Fenster wie brennende Spiegel,
Da trieb es der Junker von Falkenstein
In Hüll' und in Füll' und in Freude.«

Er erinnerte uns dadurch an August Bürger, den zu Lebzeiten vielfach Verkannten, der so schwer trug am gewöhnlichen Dichterlos, den echten Volksdichter, den noch keiner übertroffen hat oder zu ersetzen vermochte, wenn auch die jüngsten Lobhudeleien der poetischen Kameradschaften gern seinen wohlverdienten Kranz zerfetzen und an ihre Genossen verteilen möchten. Bürgers Großvater war Pächter zu Pansfelde, sein Vater Pfarrer zu Molmerswende, dem Geburtsort des Balladensängers; beides sind südlich in der Nähe des Falkensteins gelegene Dörfer, und die gefährliche Laube im Pfarrgarten, der schilfige Unkenteich mit dem Plätzchen, worauf kein Gras wächst, sowie der grausige Richtplatz sollen in Pansfelde noch zu schauen sein.

Den Freunden und Bewunderern jener alten, handfesten Ritterzeit, deren Andenken hell und farbig aufzufrischen Veit Weber und Spieß bemüht waren, muß der Anblick einer so wohlerhaltenen, beinahe unbeschädigten Feste, das Theatrum ihrer Lieblingslektüre, höchst willkommen sein, und unser Musikus Moritz, ein hartnäckiger Verehrer jener massiven Kumpane des Feige von Bornsen und des Hasper à Spada, wurde berauscht im kindischen Entzücken bei jedem Schritt weiter durch diese toten Höfe und leeren Hallen. So funkeln die Augen, so färbt sich das faltige Gesicht des Antiquars mit Freudenrot, indem er behutsam und mit Ammensorgfalt die trockene, verholzte Mumie einer ägyptischen Prinzessin von ihren klebrigen Windeln erlöst.

Schloß Falkenstein erscheint noch jetzt in stolzer Stellung auf seinem Hofplatz mit seinem unzerbrechlichen Mauerwerk voller Schießscharten und Brustwehren, mit seinem großen Haupttor und zum Ausfall geeigneten Nebenpforten, mit seinem stattlichen Turm und seinen Giebeldächern; und wie mögen ihre Besitzer von dort im Vertrauen auf sie stolz ins flache Land geblickt haben, als Berthold Schwarz noch nicht das höllische Pulver erfunden hatte, das den tapfersten der Männer in die Hände jedes boshaften Knaben gibt? –

Im äußeren Hof stößt man auf die kleine Wohnung des weiblichen Kastellans; uns wenigstens begrüßte ein Femininum auf diesem Wachtposten, erbot sich bereitwillig zur Einführung und erquickte die Dürstenden zuvor mit einem altdeutschen Imbiß, der aus frischer Milch und kräftigem Brot bestand. Auf einer Seitentreppe gelangt man durch eine enge Pforte in das Innere der Burg, und Säle und Zimmer reihen sich in den Flügeln aneinander, teils wohl erhalten, teils im Stil des Gebäudes restauriert. Da findet man den Speisesaal, das Fräuleinzimmer, die Kapelle, das Archiv, mit ansehnlichen Hirschgeweihen gezierte Gänge usw. – In den Sälen schauen die ernsten Bildnisse der Asseburger, Ritter und Bischöfe, von den Wänden herab, das Bild eines geharnischten, schönen Junkers wird als das Porträt jenes Falkensteins, von dem Bürgers Ballade erzählt, bezeichnet; ebenfalls ein Stübchen gezeigt, in dem er sein Liebchen verborgen gehalten hat. Auch ein Laboratorium findet sich, worin ein alter Burgherr seine alchemistischen Liebhabereien getrieben haben soll und das mit einer Geschichte von der vorhin erwähnten Tidianshöhle in Verbindung steht. Im Dienste der Burg stand nämlich ein Hirte namens Tidian. Der ehrliche Bursche hütete sorgsam sein Vieh im Tal, und von Langeweile gequält durchsuchte er Höhlen und Klüfte. Da fand er in jener Höhle, die noch seinen Namen trägt, glänzende Körner, und italienische Kaufleute, die vorüberzogen, bezahlten ihm den Fund und munterten ihn auf, solches Geschäft zu verfolgen und geheimzuhalten. Längere Zeit wurde der geheime Handel fortgesetzt, da hörte der Burgherr von Goldmünzen, die im Ausland unter dem Namen Tidiansgeld kursierten. Der inquirierte Hirte gestand, was er verhehlt hatte, und führte den Herrn zu seiner Fundgrube; dieser ließ ihm jedoch, um alleiniger Besitzer des Schatzes zu werden, die Augen ausstechen und ihn im tiefsten Gewölbe des Schlosses einkerkern. Bald darauf fand aber der grausame Ritter die Tidianshöhle zusammengestürzt, verschüttet, wie sie noch jetzt ist, und hatte keinen Gewinn von seiner unmenschlichen Tat.

Unter den Raritäten, die in den Zimmern verteilt sind, fesseln die Aufmerksamkeit besonders ein elfenbeinernes Kruzifix von Benvenuto Cellini; eine kleine Statue des gelehrten Otto von Freisingen aus vergoldetem Silber; ein furchtbares Ordalienschwert; eine bronzene Reiterstatue Gustav Adolfs; eine metallene Vase in getriebener Arbeit, mit einem Bacchuszug verziert, von Bonaparte aus Ägypten nach St-Cloud mitgebracht und als Beutestück des Siegeszugs nach Paris hierher gekommen; ein Ölgemälde der russischen Katharina, ein Geschenk dieser Kaiserin an einen Asseburger; und im Archiv ein sorgfältig bewahrter Glasbecher, der zu einer Familiensage gehört.

Bekannt ist die Mär der Familie des berühmten Marschalls Josias von Rantzow, dessen Urgroßmutter von einem Bergmännlein nachts aus ihrem Schloß geholt wurde, um einer Gnomenkönigin in schwerster Stunde beizustehen und, als diese glücklich eines Prinzleins genesen war, einen goldenen Fisch, eine goldene Spindel und eine goldene Münze zum Geschenk bekam, an deren Besitz von da an das Schicksal und die Wohlfahrt ihres Geschlechts geknüpft sein sollte. Eine ganz gleiche Begebenheit brachte einer Asseburgerin den Besitz von drei goldenen Kugeln und drei Zauberbechern, deren Aufbewahrung der Gnom mit gleicher Warnung befahl. Die Kugeln gingen verloren, und als der eine der Becher zerbrach, starben bald darauf die beiden Söhne einer Witwe des Asseburger Geschlechts, die auf Wallhausen saß. Dieses Unglück ereignete sich erst im siebzehnten Jahrhundert, ist im Kirchenbuch eingetragen, und seitdem werden die übrigen beiden Becher, der eine zu Falkenstein, der zweite zu Hinneburg, ängstlich verwahrt gehalten. –

In mehreren Zimmern sind die tiefen gotischen Fenster mit gemalten Scheiben geschmückt, Wappenschilder und Heiligenbilder darstellend, und ein Eckzimmerchen, das an ein Türmchen stößt, zeigt durch seine vielfarbigen Glasscheiben die reizende Talgegend in der mannigfaltigsten Beleuchtung, bald wie im Morgenrot, dann wie von dunklem Gewitter verdüstert, dann wie von blendender Feuerlohe eines Waldbrandes erfüllt. Münchhofs, des Predigers zu Meisdorf, »Mitteilungen über die alte Burg Falkenstein« sind dort als ein Erinnerungsbüchlein zu kaufen. Warum wurde ihm nicht ein Grundriß beigefügt? Auch könnte die Beschreibung der Örtlichkeit planmäßiger sein.

Zum großen Turm gelangt man aus dem Gebäude selbst, und zwar in der mittleren Höhe desselben. In seinen unteren finsteren Raum führt keine Stiege, eine enge Öffnung befindet sich im Fußboden als einziger Zugang in die Nacht dieses Burgverlieses; denn ein Neugieriger, der sich hinabließ, fand drunten ein menschliches Gerippe, Ketten, einen Wasserkrug und Fetzen von einer Weiberkleidung. Der »Führer durch den Harz«, Quedlinburg, bei Hahnemann, ist mit feinen Abbildungen der Sehenswürdigkeiten der östlichen Seite des Harzes geziert. Der Turm ist eigentlich rund, doch läuft sein unterer Körper nach Osten in eine spitzwinkelige Bekleidung aus; dieser stärkere Hauptteil trägt eine ihn völlig umkränzende Galerie, und über dieser erhebt sich in zwei verjüngten Stockwerken die geschlossene Kuppel, so daß seine Spitze nicht den gewöhnlichen, abgeschnittenen ritterlichen Warttürmen gleicht, sondern ein mehr klösterliches Ansehen hat. Durch Eisenklammern und starke eiserne Ringe ist der Turm da, wo er wandelbar zu werden begann, festgemacht; sichere Treppen führen in seinem Innern hinauf, und die Galerie hat man mit einem Geländer versehen, so daß der Genuß der schönen Aussicht ohne irgendeine Gefahr zu haben ist. Der Blick schwimmt hier auf dem grünen See der Baumwipfel, der dem Auge wohltut und dem jeder Luftzug eine sanfte Wellenbewegung gibt; überraschend ist der Durchblick, den der nordöstliche Ausgang des Selketals erlaubt und dessen Endpunkt der Dom von Magdeburg bildet; dieser, die Viktorshöhe und der Brocken sind die Höhepunkte der Aussicht.

Der innerste Schloßhof, zu dem man auf einer großen Stiege hinabkommt, ist mit in Stein gehauenen Wappen und Inschriften geziert, bewahrt einen 68 Ellen tiefen Felsenbrunnen, und in ihm öffnet sich der Eingang zu einer Reihe geräumiger Gewölbe, die sich im Fundament der Burg unter dem ganzen Flügel vom Turm zur Kapelle hinziehen. Ihre frühere Bestimmung ist unverkennbar; man findet in ihnen sogar ein sargähnliches, nur sechs Fuß langes Gemach und gegenüber einen langen und schmalen, an der Wand aufgemauerten Kasten, der gleich einem Schornstein das unterirdische Gewölbe mit einer oberen Halle in Verbindung setzt und gerade weit genug ist, um einen menschlichen Körper durchzulassen.

Die mündliche Tradition spricht, über dieser geheimnisvollen Passage habe auf einer Falltür eine Spanische Jungfrau gestanden, eine jener von barbarischer Phantasie erfundenen Mordmaschinen, die in vielen alten Schlössern angetroffen wurden und blutgieriger Tyrannei, boshafter Eifersucht oder lichtscheuer Rachgier dienstbar waren. Dem Höfling, der sich vergangen hatte, diktierte man gnädigst die gelinde Strafe, die Jungfrau zu küssen. Näherte er sich jedoch dem hölzernen Frauenbild in dem schwach erleuchteten Gemach, so setzte sein eigener Fußtritt geheime Federn und Räder in Bewegung, die ausgebreiteten Arme der gespenstischen Buhlin drückten sich um ihn und durchschnitten mit versteckten Klingen seine Weichen, und zahllose Dolchspitzen, die aus ihrem Busen hervorstanden, zerfleischten seine Brust; dann lösten sich die Arme der Maschine wieder, vor ihr sank eine Falltür nieder, und das an unzählbaren Todeswunden verblutende Opfer stürzte, begleitet vom Hohngelächter verborgener Henker, in ein Verlies hinunter, in das hinein nimmer ein Menschenauge drang und seinem letzten Kampf tröstend zur Seite stand; doch endete er sicherlich noch glücklicher als der Jammermann, den man in dem erstbeschriebenen Steinsarg lebendig begrub, den menschliche Unbarmherzigkeit zu einem langsamen und qualvollen Tod in eine ewige Nacht verstieß und seine Qualen mit grausamster Bedachtsamkeit durch die oben in der Zelle angebrachten Luftlöcher zu verlängern suchte.

Unser Moritz wurde doch bleich, als ihm Ernst in solcher Weise die Bestimmung dieser Gewölbe klarmachte, und Franziskus fragte spöttelnd: »Nun, du altritterlicher Geselle, wie wird dir? Möchtest du noch dein gepriesenes Mittelalter wieder zurückzaubern können? Dein süßes Flötenspiel hätte dir vielleicht eine engelgleiche Prinzessin in die Arme gelockt, aber der forcierte Marsch durch diesen verteufelten Schlot wäre der Preis der köstlichen Schäferstunde geworden. Da haben wir dergleichen jedenfalls billiger.«

»Die Volksmasse, roh und verwildert, bedurfte Stachelzaun und Hakengeißel«, entgegnete unser Musikus, etwas verwirrt durch das auf ihn geworfene Gleichnis; »doch sind die schreienden Dissonanzen jener Zeit mit melodischen Harmonien durchwebt, die noch herrlicher erklingen, eben weil jene harten Grundtöne ihnen als dunkle Folie unterliegen. Wo finden wir solchen Enthusiasmus für Hohes und Heiliges, solche Großtat, solche Tugendopfer, solche Religiosität, solch kindliches Gottvertrauen, solche Männlichkeit, solch feste Treue, solche Züchtigkeit auf der einen und solch anbetenden Minnedienst auf der anderen Seite; wo finden wir dergleichen in unserer schlaffen, einem abgeleierten Marktlied ähnlichen, in Reflexionen entnervten Zeit, deren Selbstsucht keine Grenze achtet, deren Genußsucht mit krankhafter Begier das Spatium zwischen Wiege und Grab rasch abzuernten strebt, weil für ein Jenseits der Glaube verdorrt ist; und wie viele Arme fütterten der Burgpförtner und der Klosterkoch? Aber ›Die Macht ist welk, der Glanz dahin, der Väter Glauben tot!‹ singt der wackere Dichter der Vineta.« »Vineta oder die Seekönige der Jomsburg« von Döniges, 1836.

»Und dennoch lebt es sich ganz wohnlich in unserer lichten Zeit«, meinte Ernst, »und daß wir bis hierher durch Wald und Stein in heiler Haut und sogar mit geschonten Schuhsohlen pilgern durften, spricht für sie. Auch ist dir zu raten, in deiner Addition von der Frömmigkeit den Aberglauben und den blinden Fanatismus, von der Männlichkeit den Trotz, die Sucht nach Ungebundenheit, die hitzige Selbsthilfe, die unüberlegte Selbstrache und einige andere Kleinigkeiten zu subtrahieren, willst du anders als ein gerechter Advokat deiner geharnischten Klienten erscheinen. Preis dem Licht und seinen Priestern, die alle Verstecke durchleuchtet haben und nicht wieder verdunkeln lassen!« –

Als die Kastellanin von uns Abschied nahm, warnte Franziskus sie, ihren Schlüsselbund nicht abseits zu legen, denn es würden gar bald andere Gäste und vielleicht Vornehmere ihren Dienst anrufen; er habe nämlich vorhin von der Turmgalerie ein flüchtiges Kabriolett und weiter hinaus mehrere galoppierende Reiter auf der Straße im Tal erkundschaftet. – Wir hatten soeben den Rand des freien Vorraums erreicht, wo es zum Wald hinabging, als auch die Angemeldeten schon dicht vor uns erschienen und uns auf nicht erfreuliche Weise überraschten.

Der Junker Felix von Stahlhut und der Konzertmeister standen uns gegenüber, und ihre erhitzten Gesichter verkündeten die unfriedliche Absicht ihres Erscheinens im voraus. Der schöne Jäger stürmte sofort auf Gustav ein und streckte unhöflich seine Hand nach dessen Schulter aus.

»Ich halte Wort, mein sauberer Patron«, stieß er in rauhen Tönen hervor; »ich folge der Fährte des Wildes, und es entkommt mir nicht.«

»Sollten Sie nicht zufriedengestellt sein durch die Genugtuung, die ich gegeben habe?« antwortete Gustav mit einer sicheren Ruhe, die uns unerwartet kam.

Der Junker riß einen Brief aus seiner Brusttasche und schleuderte ihn verächtlich vor Gustavs Füße. »Mit diesem Fetzen meinen Sie Ihre Untaten gutgemacht zu haben?« lachte er hohnvoll auf. »Was kostet die Selbsterniedrigung einen Schacher Ihrer Art? Löst das Bekenntnis den Mörder vom Weg zum Schafott, und kann er sich dadurch entsündigen? O mein sauberer Herr, dann ginge der Schlechteste leichten und freien Schrittes durch die Welt und trüge einen hundertjährigen Ablaßbrief von eigener Hand geschrieben in seiner Tasche. Nein, mein Herr, Sie stehen mir auf andere Weise zu; gleich hier soll's geschehen, der Ort paßt vortrefflich zu unserem Geschäft, und das Gerät ist vorhanden.« Er sah sich nach dem Begleiter um, der ein Paar feiner Pistolen aus den weiten Taschen seines Oberrockes hervorzog. »Wählen Sie ohne Zögern«, sagte er mit barscher Stimme, indem er die Mordinstrumente Gustav darbot, jedoch die Mündungen vorsichtig von sich ab zu beiden Seiten richtete; »wählen Sie schnell, denn Sie entkommen uns nicht wieder, und mein Ehrenwort, daß beide gleich scharf geladen wurden.«

»Und was kümmert Sie der Handel, daß Sie so drängend einschreiten?« fragte Ernst mit beunruhigter Stimme. »Ehrlicher Sekundanten Pflicht ist überall das Sühnewort vor dem Duell.«

»Die beleidigte Dame ist von mir so hoch geehrt, wie von unserem Gegner beschimpft«, antwortete erhitzt der Orchestergeneral; »und ich lebe nicht ohne Hoffnung, bald der geehrten Familie meines Freundes näher anzugehören.«

Gustav errötete und warf einen mitleidigen Blick auf den radschlagenden Pfau; dann nahm er eine der Pistolen und spannte den Hahn. »Ich fürchte Ihre Kugel nicht«, sagte er gelassen, »und mein Herz pocht in diesem Augenblick so ruhig wie das eines schlafenden Kindes. Auch bin ich der Waffe so mächtig wie Sie; sehen Sie jenes Glas.« – Er deutete auf ein Trinkglas, das einer von uns vorhin auf einem Stein an der Mauer hatte stehenlassen; die Entfernung betrug an dreißig Schritt. Der Schuß brannte los, und das Glas flog in klirrenden Splittern umher. »Kann ein Verbrechen durch ein zweites gutgemacht werden?« fuhr er zu seinem betroffenen Gegner fort. »Soll ich ein neues, schweres Leid auf ein Herz werfen, das ich schon so tief betrübte? Soll ich Paulines Bruder töten oder zum vogelfreien Mörder machen? Nein, nein, nimmermehr!«

Er drehte sich abwärts, doch der Junker faßte ihn mit der Linken und spannte zugleich die zweite Pistole, die er schon vorhin von dem Begleiter genommen hatte, mit der Rechten. – »Mensch, ich schieße dich nieder! Mein Gelübde leidet keinen Aufschub. Du willst es nicht anders? So fahre zur Hölle!« schrie er mit den Gebärden eines Rasenden.

Wir wollten hinzustürzen, aber es bedurfte unseres Einschreitens nicht. Ein derber Schlag traf von unerwarteter Hand den Arm des Jägers, das Gewehr entfiel ihm und entlud sich am Boden. Wütend kehrte sich der Junker, die Hand am Waidmesser, gegen den nahen Busch, aber erschreckt trat er zurück, und wir erblickten staunend im Pulverdampf den bleifarbigen Oberrock mit gelben Knöpfen, das lange, vorgestreckte Rohr, den breiten Pilgerhut, die Adlernase unter den blitzenden Augen, die wir schon im Ilsetal gesehen hatten – der Namenlose stand mitten unter uns, und Gustav sank mit starr auf die Erscheinung gerichteten Augen auf einen Trümmerhaufen nieder.

»Sie hier, Herr Ohm?« stieß der junge Stahlhut hervor, indem er mit der Linken den geschlagenen Arm berührte. »Wahrlich, nur von Ihnen bleibt das zu ertragen!«

»Wie, junger Herr?« fragte der Alte mit scharfem Ton zurück. »Nicht auch von deinem Vater, von deiner Mutter und von jedem ehrlichen Mann, den Gott hergesandt hat, um dich an einer unglücklichen Tat zu hindern, die den letzten Schimmer vom Glück in deiner Eltern Haus zertreten mußte? Wer hat dich gesetzt zum Richter des Nächsten, wer hat dir erlaubt, Selbstrache zu üben? Hast du etwa jüngst in Berlin den Clavigo gesehen, und stachelte dich deine Eitelkeit, die Rolle des Beaumarchais zu versuchen?«

»Aber die Ehre, mein Ohm!« warf der Junker verwirrt ein.

»Welche Ehre?« fuhr der Alte strenger fort. »Es stände schlecht um die eigentliche Ehre, könnte sie ein Schlechter nehmen oder nur verletzen. Und ist das Blut des Schlechten ein Heilmittel für die Wunden der Ehre? Ist Tat oder Wort ungeschehen, ungesprochen gemacht durch den Tod des Beschimpfers?«

»Sie sollten ihn nur kennen, den Menschen da; sollten nur den schandvollen Brief gelesen haben, den er schrieb, und Sie würden ihn nicht der gerechten Züchtigung entziehen wollen«, entgegnete mit neu auflodernder Hitze der junge Jäger.

»Gewehr in Ruhe, Tollkopf!« herrschte der Oheim ihm zu. »Leider ist überall die junge Welt jetzt solch ein frühreifes Treibhausgemüse, daß sie glaubt, alles richten, reformieren und mit Alexanderklingen entscheiden zu können; aber in der Familie Stahlhut gilt dennoch der Respekt vor grauem Haar, und er soll bestehen trotz deiner Wut, die so blind war, daß sie nicht einmal bemerkte, wie der Onkel dicht hinter deiner Wagenspur ritt. Und Sie, mein Herr Konzertmeister, Sie hätten abraten, nicht hetzen sollen, da die hitzigen Jahre hinter Ihnen liegen. Der da ist noch zu entschuldigen, weil er gewohnt ist, loszubrennen und Blut zu verspritzen, aber Ihr Fagott lädt man nicht mit Schießpulver, und Ihr Kontrabaß ist keine Donnerbüchse, wenn auch einmal ein schwedischer Korporal, dem Ihr Kollege Naumann sich als der Musikantengeneral des Königs am Tor signalisierte, die Wache zur Salutation ins Gewehr rief.«

»Der Freund forderte Beistand in einer Ehrensache, und dieser schmähliche Brief ...« stotterte das runde Männlein.

Der alte Herr bückte sich und hob den Brief vom Boden auf. Das Blatt entfaltend, ruhte sein Auge auf Gustav, der sein Gesicht in beiden Händen verbarg. »Das ist also der Renegat, der abtrünnige Liebesritter? Ei, ei, ein alter Bekannter, der Fischer und Ilsenschwimmer, den mein Wanderstab nun schon zweimal gerettet hat. Wunderbar waltet der ewige Gott, und wir sollten ihm niemals nachpfuschen wollen oder uns erkühnen, in seine Räder zu greifen.« Er schüttelte das Haupt mit einem Blick in die Baumgipfel und las dann langsam und bedächtig, und unsere Augen hingen an der Bewegung seiner schmalen Lippen, ja Franziskus trat von Neugier gefoltert nahe zu ihm, um an der Lektüre teilnehmen zu können. – Der alte Herr übersah die Unart, begleitete jedoch die Durchsicht des Schreibens mit lauten Apostrophen. »Ein seltsames Blatt!« murmelte er. »Das ist keine Defension des Sünders, wie zu vermuten, sondern eine komplette Selbstanklage, ein Geständnis, eine Beichte, wie sie ein spanischer Großinquisitor nicht umständlicher verlangen dürfte. Wahrlich, ein merkwürdiges Aktenstück in unserer Zeit, dessen Verfasser nicht zu der Alltagskompanie gehören muß.

Ei, ei!« fuhr er nach einer Weile fort, »in Herzenssachen einem fremden, kalten Ratgeber Folge geleistet, von dem ersten Wechsel des Schicksals, vom ersten bösen Lebenswetter niedergeschlagen, ohne Vertrauen auf Gott und Zukunft? Pfui, was hat der Mann dem zagenden Weib voraus, wenn die erste Windsbraut ihm die Besonnenheit nimmt, und wo bleibt die Männlichkeit, wenn der Schiffer im ersten Sturm sich in der Kajüte versteckt und Kompaß und Steuer einer fremden Hand überläßt? Wer ist der bedächtige, ratgebende Freund mit dem Schildkrötenblut? Ist er vielleicht zugegen? Ist es vielleicht der kleine Humorist in eigener Person?« – Er drehte sich gegen Franziskus.

»Ich will nicht hoffen, daß meiner in dem Jammerbrief ungeziemend gedacht worden ist!« sagte Fränzel stutzig und sah feindselig auf Gustav.

»Sagtet Ihr nicht, mein kleiner Mann, Ihr hättet besonderen Gefallen daran, wenn dem hämischen Teufel ein Braten dicht vor dem Mund weggefischt würde? Das könntet Ihr erleben«, sprach der alte Herr und las weiter. »Das ist viel, vielleicht zu viel!« stieß er dann hervor. »Felix – dein Wolfshunger hatte daran noch nicht genug? Wenn der Feind sich selbst an den Schandpfahl stellt, sich selbst das Brandmal mitten auf die Stirn brennt, das nennt der tolle Fant keine Genugtuung! – Herr«, sagte er dann zu Gustav finster und mit Härte, »wenn die Familie diesen Brief drucken ließe, wenn die Journalistik, auf deren Tafeln Beschimpfungen zur Tagesordnung und zur Lieblingskost gehören, diesen Brief vor den Augen der ganzen Germania entfaltete?«

»Mag es geschehen!« stammelte Gustav. »Paulines Anblick hat mich vernichtet; was kann noch kommen für den Ausgestoßenen, der wie ein Gespenst seiner selbst durch die Zukunft zu wandern verdammt wurde?«

Der Alte las den Schluß des Blattes laut: »›Sie sollen mein Mörder nicht werden, auch will ich nicht selbst Hand an mich legen, denn mir blieb noch eine Hoffnung, die einzige Art reuiger Buße und gutmachender Sühne, vielleicht mein Leben noch einmal opfernd hingeben zu können in Paulines Dienst, für sie und um ihr Leben zu sichern!‹

Schwärmereien! Romantische Irrlichter! Doch nicht übel poetisiert!« lächelte er mit leichtem Spott; doch sogleich wieder ernst werdend, streckte er die Hand gegen Gustav aus und sagte kräftig: »Selbsterkenntnis ist der Weisheit Anfang! In Wahrheit: dieser Brief ist ein Heldenstück, wie vielleicht der grimme Falkenstein keines gesehen, ist das Märtyrertum eines Fakirs, der sich selbst auf dem Rost gebraten hat. Wer die Gewalt besaß, den Wallungen des jugendlichen Blutes und dem inneren Stolz gegenüber eine solche Demütigung über sich zu verhängen, der ist schon auf besseren Weg geraten, und der Meister, der ihn in die Lehre bekommt, darf vielleicht Öl und Mühe daran wagen; oder der Beichtende müßte andererseits bereits so tief unter die Null der Schlechtigkeit gesunken sein, daß sein Selbstbekenntnis als die großsprecherische Prahlerei eines Galeerensträflings vor seinesgleichen zu betrachten sei, wo dann freilich an keine Erhebung mehr zu denken wäre. Dazu finden wir jedoch zuviel Menschliches in den Zügen unseres Gegners. Jedenfalls haben wir auf diesem Platz für jetzt nichts mehr zu tun, und deshalb marsch, marsch, mein Herr Neffe nebst obligatem Sekundanten!« – Er steckte den Brief zu sich, ließ noch einen besonderen Mitleidsblick über den gedrückten Gustav streifen und faßte den Jäger herrisch am Arm, der mit verbissenem Grimm, einem Mohikaner gleich, den ein europäischer Krieger am Raub der Kopfhaut hinderte, dagestanden war.

Die Kastellanin, die während der rasch gespielten Szene mehrmals im Hintergrund wie eine Gluckhenne, die um die Küchlein bangt, hin und her gelaufen war, schritt jetzt im Geleit eines ansehnlichen Leibwächters heran. Steif, lang und dürr, wie ein wurmstichiger Lanzenschaft, war in dem Begleiter der preußische, langgediente Korporal nicht zu verkennen.

»Mit Verlaub, meine Herren!« rief der Veteran mit einer Stentorstimme. »Im Namen des allergnädigsten Königs verarrestiere ich Ihre ganze Division, und dieselbe muß sich ohne Widerstand nach Meisdorf zum Herrn dieses Platzes transportieren lassen, denn hier darf weder aus grobem Geschütz noch aus kleinem Gewehr gefeuert werden ohne gnädige Permission.«

»Was will Er, und wer ist Er?« fragte der Ohm Namenlos mit noch stärkerer Stimme, dem als Hellebarde vorgelegten spanischen Rohrstock unerschrocken entgegentretend.

Frappiert richtete der Korporal sein Rohr geradeauf und legte die linke Hand mechanisch an den roten Rand seiner blauen Kappe. »Was wir sein tun, zeigt der Rock: wohlgelobter Korporal im Halberstädter Regiment. Haben bei Leipzig und Belle Alliance die Franzmänner mit dem Vater Blücher – Gott habe ihn selig! – chargiert, vier Blessuren – auf Ehre! – erhalten und sind mit solchen in die Stadt Paris hineingetriumphiert. Waren anno 1831 hier an die Grenze postiert von wegen der bösartigen Cholera, die viele tausend Rekruten und Invaliden sans façon auf den Sand gelegt; und weil wir mit vorzüglicher Akkuratesse dazumal vigiliert und keinen Paß passieren lassen, dem nicht große Siegel und lange Titel beigetan, hat Seine Majestät die Gnade gehabt, uns als gelobten Eremiten in den Ruhestand zu versetzen. Seit dieser Zeit agiert man in der Gegend gleichsam wie hohe Polizei, Aufpasser, Feldhüter und sitzt in Krügen und Schenken als der ›letzte Mann‹, um acht zu haben, damit das trunkene Bauernvolk nicht Gläser, Stühle und Fenster oder auch die eigenen Hirnschädel malträtiere.«

»Allen Respekt, mein lieber Miles emeritus, für Seine Toga emerita«, lächelte der Ohm; »doch ist hier kein Krug, und alle Hirnschädel sind im gesunden Zustand. Die jungen Leute probierten eben gekauftes Schießgewehr auf ungefährlichem Platz. Das zerbrochene Glas soll hiermit bezahlt werden, und hätten die Kugeln etwa eine Bresche in jene Mauer geschossen, so werde ich selbst bei dem gnädigen Herrn auf Meisdorf, wenn ich heute abend mit ihm zu speisen die Ehre habe, über den Schadenersatz verhandeln.«

Das blanke Silberstück, das dabei dem Kriegsmann in die Hand fiel, änderte bezaubernd dessen Haltung und Stimme. »Nichts für ungut, hochedler Herr Baron«, entgegnete er mit respektvollem Rückschritt; »bitte, mich nicht in böses Licht zu stellen – ich meine dort im Schloß –, hat mir der pure Diensteifer auch ein Weniges aus der Linie vorpoussiert.

Da habt Ihr mich in eine schöne Patsche gestoßen, Frau Base«, murmelte er auf der Retirade; »sind ja sehr noble und solide Herrschaften und keine blutdürstige Studentenbagage oder lumpiges Demagogenvolk!«

Das Intermezzo hatte unserer düsteren Stimmung einen lichteren Anflug gegeben. Der lange Herr trieb mit seinem Befehlswort die Seinen vor sich her und hinunter zu den Pferden. »Reisen Sie glücklich, meine Herren, und sollten wir nochmals zusammentreffen, geschehe es durch einen holderen Genius!« sprach er recht herzlich und war bald aus unseren Augen geschwunden. Eine peinliche Stille lagerte nach seinem Verschwinden einige Minuten lang auf der ganzen Gesellschaft.

Ernst unterbrach sie zuerst. »Es ist nicht zu leugnen, daß etwas Besonderes, Unerklärliches auf manchen Menschen ruht, das ihnen eine magische Gewalt verleiht, die an nichts Sichtliches gebunden ist«, sagte er. »Habt ihr etwas Ausgezeichnetes an diesem alten Herrn gefunden? Er hat nichts Athletisches, nichts von Majestät, und dennoch übt er durch Blick und Stimme einen Impuls auf jedermann aus, der an Zauberei zu grenzen scheint. Erlebt man dergleichen selbst, so erklärt man sich leichter manche Erscheinungen der Welthistorie und bezweifelt weniger die märchenhafte Gewalthaberei eines Kolumbus', Cäsars oder Napoleons.«

Gustav richtete sich empor. »Ich hatte diesen Mann gefürchtet als meinen bösen Dämon«, seufzte er aus tiefer Brust, »und bin ihm die Abbitte schuldig geblieben, denn er ist als ein guter Engel mit dem Kelch von Gethsemane zu mir getreten. Es ist mir, als hätte er das Versöhnungswort namens einer ganzen Welt mir zugerufen, und meine Brust ist so weit geworden, mein Blut pulsiert so frei, eine quetschende Last ist von mir gefallen, und ich fühle frische, kühle Abendluft nach Gewitterschwüle in jedem Atemzug. Ich stehe am besseren Wege, und ich habe das klare Bewußtsein, ich werde besser sein. Meint ihr alle das von mir, wie er es meinte, so reicht mir die Hände, redet nicht weiter von der Sache, und laßt uns lebensmutiger die Reise fortsetzen.«

Wir nahmen mit Herzlichkeit die dargebotenen Hände, und er erhob sich rasch und seine Augen dankten uns.

Nur Franziskus war ferngeblieben und sagte barsch: »Nur den Brief hätte der namenlose Herr nicht entführen müssen, bevor wir den Inhalt gelesen haben. Mutmaßen muß ich, daß meiner auf keine artige und diskrete Weise darin Erwähnung geschah, und obgleich Undank der Welt Lohn ist, glaube ich an dir dergleichen nicht verdient zu haben.«

»Beruhige dich darüber«, entgegnete Gustav, doch mit einem Anklang von Bitterkeit. »Mich habe ich nirgends geschont und deshalb in nichts Fremdem eine Entschuldigung gesucht. Nur bei der Erzählung der Tatsachen durfte ich deine Einwirkung nicht verschweigen, um wahrhaft zu bleiben.« –

Wir stiegen an der Ostseite des Falkensteins in die Niederung und gelangten nach einem Viertelstündchen zu dem sogenannten Gartenhaus, einer Asseburgschen Försterei, die auch als Gasthof dient und wo die Reisenden Pferde und Wagen unterstellen können. Gustav schien dennoch tiefer durch das Erlebte angegriffen zu sein, als er sich anmerken ließ, und da wir auf den einspännigen Salzkarren eines Fuhrmanns stießen, der dieselbe Straße zog, so ließ der Freund sich bereden, auf dem Fuhrwerk Platz zu nehmen, und so legten wir den zweistündigen Weg bis Harzgerode, der durch lauter Wald läuft und nur das anhaltsche Forsthaus Wilhelmshof berührt, zwar schweigsamer als sonst, aber ohne Beschwerde zurück. Wir suchten, ermüdet vom heutigen Marsch, eine Lagerstatt in dem alten Städtchen, worin eben nichts Merkwürdiges zu finden war außer einem anhaltschen Erbbegräbnis und seiner Mauer und seinem Straßenpflaster, die aus schwarzem und weißbuntem Marmor bestehen, und fanden solche unter dem Schild des lieben weißen Rosses, das die Pforte unseres Gasthofs schmückte und dem wir vom Flügelkleid an Vertrauen zu schenken gewöhnt worden sind. –

Frisch atmet des Morgens lebendiger Hauch;
Purpurisch zuckt durch düstrer Tannen Ritzen
Das junge Licht und äugelt aus dem Strauch;
In goldnen Flammen blitzen
Der Berge Wolkenspitzen.

Schiller

Ein Morgen, so anmutig, so frisch und heiter, wie wir ihn kaum auf unserer Reise genossen hatten, ein Morgen, dem keine nächtliche Grille, kein drückender Alp standhielt, lockte uns aus der städtischen Beschränkung, und nach kurzem Marsch durch ein helles Birkenhölzchen, an dessen glatten Blättern und weißen Stämmen die Tropfen des Morgentaus in Perlen schnüren schimmerten, standen wir wiederum am Rande des schönen Selketals und schauten vom Berg hinab in das Alexisbad, das wie ein Christgärtchen unter uns lag. Eng von Höhen eingeschlossen liegt der niedliche Platz, alles ist in ihm so nett, so geregelt, so wohlgepflegt, daß man sich sagt, die Kranken müßten hier leicht gesunden – hier, wo erquicklicher Gotteshauch aus jeder Waldschlucht der heißen Wange zuströmt und überall der tiefste Gottesfriede, das Arkanum für das von Sorgen verdüsterte Gemüt, zu walten scheint.

Nach Tromsdorfs neuesten Untersuchungen überwiegt die Quelle die meisten deutschen Stahlbrunnen an Eisengehalt. Sie kommt aus einem alten, verlassenen Stollen der rechten Talwand, und Fürst Friedrich Albrecht ließ schon 1766 eine kleine Badeanstalt in der Konradsmühle einrichten. Erst im Jahre 1808 wurde durch den berühmten Geheimen Rat Dr. Gräfe – damals bernburgischer Leibarzt – des Herzogs Alexius Aufmerksamkeit auf die Heilquelle gelenkt, und mit jedem Jahr vervollkommneten sich die Anlagen, und mit ihnen wuchs die Zahl der Besucher. Das neue Badehaus ist bequem und höchst anständig, und das Wasser gelangt durch geschlossene Röhren unmittelbar aus dem Stollen in die Wannen – ein Vorzug, den jeder Kundige anerkennen muß. Sein Bestand ist salzsaures und schwefelsaures Eisen und schwefelsaures Mangan.

Gar ansehnlich ist das geräumige Logierhaus, doch werden auch noch die alten Quartiere in der Konradsmühle benutzt, und hinter derselben finden Gäste geringeren Standes in einem Haus, »Die Rose« genannt, wohlfeileres Unterkommen. Im Salon, dem Vereinigungspunkt der Gesellschaft, ist für gute Tafel, Lektüre, Musik gesorgt; und auch der bösen Mode, an den Heilquellen, wo die Leidenschaften schweigen, die zerstörenden Gemütsbewegungen vermieden werden sollen, dem Hasardspiel Schutztempel zu bauen, hat man sich gefügt: die kleine, gefährliche Kugel des Roulette tanzt im bunten Trichter, der gleich der Charybdis manchen Schiffbrüchigen gemacht hat, und schlimmer als Schobri, der Ungar, plündert der Korsar Faro jeden, der sich auf sein grünes Raubrevier verirrte.

Der wohltätige, im März 1834 aus dem Erdenleben berufene Stifter dieser vortrefflichen Anlagen hat sich selbst ein Denkmal gesetzt; wir meinen den sogenannten Pavillon des Herzogs, ein Asyl, wohin sich der leutselige Wirt, der das Vergnügen der Gäste überall zu erhöhen persönlich bemüht war, dann und wann zurückzog. – Eine Rotunde mit zwei kleinen Nebengemächern lehnt sich an die hohe Felskuppe, auf der das eiserne Ehrenkreuz der Preußen in kolossaler Vergrößerung prangt, und ist von den der Öffentlichkeit geschenkten Räumen durch die Selke geschieden, über die eine leichte Brücke sich zu dem mit Obstbäumen bepflanzten Ufer hinüberlegt. Die Regelmäßigkeit der Lindenalleen, die in geraden Linien hingestellten Gebäude, die Reinlichkeit der Plätze machen gerade hier in der Mitte der Gebirgsnatur durch das Abstechende auf den Reisenden einen überraschenden und angenehmen Eindruck und geben den ermatteten Sinnen einen unverhofften Erholungspunkt, nach dem die künftigen Erscheinungen neuen Reiz gewinnen. Abwechslung ist nun einmal das Salz jedes irdischen Vergnügens. –

Gustav zog es vor, in diesem kleinen Paradies, das nicht mehr von Badegästen überfüllt war, zu verweilen. Er glaubte der inneren Sammlung und einiger einsamer Stunden der Selbstbesprechung zu bedürfen, wozu ihm dieser Ort völlig geeignet schien. Wir übrigen durchstreiften indessen die Umgebung, in welcher der feine Takt und geläuterte Geschmack des Eigentümers jede Schönheit aufzufinden und genießbar zu machen verstanden, auch hier und da durch mystische Sinnbilder und Felsinschriften versucht hatte, dem Gedankenflug des Wanderers eine heilsame Richtung zu geben.

Keiner der an den Abhängen ausgehauenen Laubengänge blieb unbetreten, jeder Ruhesitz wurde erprobt; wir bestiegen den Schlotheimsfelsen, den Friedrichsplatz, den eisernen Luisentempel, den Habichtstein, den Karlsplatz, die Schönsicht, das Birkenhäuschen – eine Galerie schöner Aussichten. Wir streiften an der Selke aufwärts bis zur Pulvermühle, zum Teufelsberg, dessen Eisengrube den herrlichsten Eisenglimmer liefert, und bis zur Viktor-Friedrichs-Silberhütte und unermüdlich dann wieder nordwärts durch Holz und Schluchten über die Klostermühle hinaus, wo man jetzt Marmor schneidet und schleift und wo noch ein Turm des Mönchsklosters Hagenrode steht, bis zur Erichsburg, den blutbefleckten Trümmern eines Geiernestes, das 1347 von den bürgerlichen Flambergen der Nordhäuser und Mühlhäuser ausgenommen und von den Fackeln der Rächer eingeäschert wurde, wobei die Selbsthilfe der Städter ihr Mütchen durch die Enthauptung eines stolbergschen Grafensohnes und eines Ritters von Werthern kühlte und mit neunzehn erdrosselten Spießgesellen die nächsten ehrlichen Eichen schändete; wiederum östlich uns wendend besuchten wir dann zuletzt den Alexisbrunnen, eine eisenhaltige Trinkquelle, die seit 1830 gefaßt und benutzt wurde und den einzigen Mangel des Badeortes wohltätig verwischte.

Mägdesprung lag wieder ganz nahe vor uns, bei dem wir gestern zuerst das Selketal freudig begrüßt hatten. Aber ein eigenes Schicksal schien über unserer Wanderung zu walten und einem unsichtbaren, unheimlichen Geleit den Befehl gegeben zu haben, sich an unsere Fersen zu heften. War es die strenge homerische Ate, die Tochter der Eris, die Unheil anrichtet und geschehenes Unrecht straft und den die lahmen, schielenden Schwestern, die Liten, zu langsam schleichen? Waren es gar die Eumeniden selbst, die gefürchteten, die das verletzte Gewissen zum Ziel ihrer Jagd erwählen? –

An einem recht wüsten Fleck der Landschaft stießen wir auf eine armselige Familie, wie man leider unter den Gebirgsvölkern sie nur zu häufig antrifft. Die Wurzelknorren gefällter Waldbäume machten den Boden uneben und trist; auf einem kahlen Hügel stand ein einzelner Baum, dessen Krone der Blitz gebrochen und zerstört hatte und der nur wenige halbvertrocknete Zweige gleich Gespensterarmen von sich streckte, und gegenüber dem Bild ihres Daseins lagerten die Armen. Es war eine kümmerliche Alte mit bleichem, hagerem Gesicht, dem gefurchten Ackerfeld des Grams und der Sorge; der lange Gewohnheitskummer schien durch den rauhen Hauch der Zeit in diesen Zügen zu Stein geworden zu sein, und der schwere Sack, der an ihre schmalen Schultern gefesselt hing und vielleicht erbettelte Viktualien enthielt, schien sie nieder auf das Moos gezogen zu haben. Ihr zur Seite lehnte ein rüstiges junges Weib und stützte sich und eine mächtige Last von geschnittenen Holzstäben auf den Rand des Hohlwegs; Wuchs und Gesicht ließen auf frühere Anmut schließen, aber auch bei ihr war der Druck der Not sichtbar, und mehrere Kinder, die Mutter und Großmutter umstanden, schienen weniger als ein Segen des Himmels, sondern mehr eine Vergrößerung der Lebenssorgen zu sein. Dürftig gekleidet und barfuß, leuchtete dennoch eine gewisse Rechtlichkeit aus der Kleidung der Familie, die abgetragen, aber nirgends zerrissen sich zeigte. Wir fühlten uns gefesselt, und unwillkürlich griff jeder zur Tasche; aber die jüngere Person streckte keine Hand nach dem Dargebotenen aus, und die Schamröte stieg sogar an ihren Wangen auf, als wir unser Scherflein einer nach dem andern in den Schoß der Alten warfen.

»Ihr scheint krank, Mütterchen?« sprach Ernst dazu. »Und es wird Euch wohl nicht leicht, all das kleine Volk zufriedenzustellen, wenn die Mittagsglocke und Vesper befiehlt: ›Tischlein, deck dich!‹«

»Es ist so, mein lieber Herr!« antwortete die Greisin, indem ihr Auge sich auf die kleine Münzsammlung in ihrer Schürze niedersenkte, die sie aber nicht berührte. »Armut ist ein übel Ding, vor allem, wenn sie unverschuldet kommt und man früher nicht daran gewöhnt war.«

Die Alte drückte sich besser aus, als wir erwartet hatten, und als Ernst sich auf einen Baumstumpf niederließ, weilten auch wir horchend in seiner Nähe.

»Böses und gutes Wetter wechselt über jedem Haupt«, sagte ich, »und für jedes Leid ist in des Herrgotts Hand auch ein Trost. In diesen gesunden, derben Kleinen – nicht wahr, Eure Enkel? – wächst mit jedem Tage eine Hilfe, ein Zukunftsschatz höher für Euch. Und hier Eure Tochter – sie ist es doch? – sieht aus, als arbeitete sie gern für die Mutter und helfe willig tragen, was der Himmel zur Prüfung verhängt hat und auch wieder besser werden läßt.«

Die Junge warf einen düsteren Blick in die Wolken hinauf und murmelte halblaut: »Es wäre Zeit dazu! Aber was hin ist, ist hin, und wen der Himmel einmal vergessen hat, der bleibt unter den Füßen der anderen.«

»Lästere nicht, Grete«, schalt die Alte; »die guten Herren scheinen frommer Leute Kinder und könnten Böses von uns denken. Sie ist eine frühe Witwe geworden, der Mann war ein Böttcher oben im Berg zu Hohegais, wo die fleißigen Schlegel immer weit ins Feld klappern und nicht ruhen bei Tag und Nacht. Er war ein rechtlicher, anstelliger Mensch und verdiente, was das Haus nötig hatte. Da quetschte ihn ein großer Braubottich, und er starb unter schwerem Leid und hinterließ der Grete nichts als die Unmündigen da, die mehr verlangen als die Lilien auf dem Feld.«

»Ich kenne den Ort«, fiel ich ein; »dort hinüber über Benneckenstein, der lebendigste Arbeitsplatz in der Gegend, von hundert Werkstätten und Schmiedeessen erfüllt. Die braven Kameraden werden die Waisen ihres Zunftgesellen doch nicht im Stich gelassen haben?«

»Jeder hat heutzutage mit sich selbst zu schaffen, das Leben ist teuer, die Welt voller, und einer drängt den andern«, seufzte die Alte. »Sie geben uns zu tun, wir tragen die Eimer und Wannen hinunter in das Land und bringen weiches Stabholz und Reifen zurück. Aber das ist ein gar mühseliges Geschäft, wenn die Jahre drücken und dazu Krankheiten einkehren; es reicht der Verdienst kaum hin für den Mund, und die Sorge steht neben dem Abendsegen und wacht wieder auf beim Morgengebet. Es könnte freilich wohl anders sein, anders werden mit uns, hätte die schwere Zeit nicht die Menschenherzen schlechter und härter gemacht, und gelte das heilige Wort noch bei den Jungen, was es bei den Alten gegolten hat.«

Neugierig rückten wir näher zu der Greisin, deren Herz sich seit langem wieder einmal zu öffnen schien, und Ernst fragte: »So habt Ihr doch noch eine Hoffnung zum Glück? Solchen Trost besitzen wahrlich nicht alle, die das Leben drückt.«

»Wir sind nicht von hier«, erwiderte die Alte mit treuherziger Geschwätzigkeit, von der der Unglückliche so leicht fortgerissen wird, darf er vor geduldigen Ohren von sich erzählen. »Im Preußischen, zu Sangerhausen, stand mein Seliger als Oberkoch bei der Salpetersiederei auf dem Töpferberg, und wir hatten unser Auskommen. Außer der Grete war uns noch ein jüngeres Kind geschenkt, ein kluges, lustiges Bübchen, das aller Welt gefiel, weil es so früh verständig wurde und immer voller Schelmstücke war. Ein kinderloser Bruder unseres Gewerkherrn hatte seine besondere Freude an unserem Sohn, ließ ihn zur Schule gehen, tat mehr an dem Kleinen, als wir tun konnten, und da der Junge sich wohl hielt und seine Lehrer ihn lobten, schickte der menschenfreundliche Herr – er gehörte zum Stadtrat und galt als der geschickteste Anwalt – ihn auf die große Schule, daß er seinen Eltern dereinst Stütze sein könnte. Aber der Bub war seinem väterlichen Haus schon fremd geworden als Kind, wieviel mehr, als er zu Besuch heimkam in schönen Kleidern und mit den gewandten Manieren der vornehmen Leute.

siehe Bildunterschrift

Sangerhausen

Den Vater hatte indes der Himmel abberufen; der Wohltäter ging ihm bald nach, hinterließ seinem Pflegesohn jedoch ein nettes Sümmchen im Testament; der ehrliche Böttchergeselle freite um die Grete und versprach uns gut zu halten in seinem Wohnort. Alles das gefiel dem Bruder nicht, und hochmütig geworden durch sein Glück, haßte er den Ort, wo man seine Eltern kannte, und zog über die Grenze in eine andere Stadt, und es soll ihm dort recht wohl gehen, und er soll leben wie der reiche Mann im Evangelium.«

»Aber da Eure Not begann, gedachte er doch Eurer? Oder schicktet Ihr nach ihm niemals?« fiel Theodor ihr in die Rede.

»Die Grete hat ihm wohl zehnmal geschrieben, und die Botenfrau trug die Briefe hinunter«, seufzte die Alte; »aber die Antworten, die er versprochen hat, sind ausgeblieben, und zuletzt hat er die Frau fortgewiesen und dazu gesagt: Was er erwerbe, bedürfe er selber, und da wir gegen seinen Rat und Willen uns erniedrigt hätten, möchten wir ihn nicht weiter stören. Und das haben wir denn auch bedacht und ihn in seinem Glück nicht stören wollen, haben duldsam unser Elend getragen, bis der Herrgott ihm selber vielleicht das Herz wenden möchte.«

»Ein schlechter Sohn«, murrte der Pädagoge, »dem die Obrigkeit das vierte Gebot, das er vergessen hat, ex officio eintrichtern müßte.«

Ein Kreischen der Alten schreckte uns zusammen; wir sprangen auf, da wir die Greisin wie von einer Schlange gestochen in die Höhe fahren und dann an die Knie der Tochter niedersinken sahen. Die Ursache wurde uns sogleich klar: Franziskus, der nach gewohnter Weise rastlos hinter uns umhergestrichen war, hatte uns eingeholt und war in unseren Kreis getreten; aber ein Blick auf unsere Gesellschaft trieb alles Blut aus seinen Wangen.

Die Alte erhob sich schnell wieder auf ihren Sitz, aber aufzurichten vermochte sie sich nicht, und zitternd streckte sie die dürren Arme aus. »Gott hat ihn hergeschickt«, stammelte sie mit fliegenden Atemzügen. »So wahr der Heiland lebt, er ist es! Kinder, es ist der Fränzel! Unser Fränzel ist's; er ist gekommen, den Segen seiner Mutter zu holen. O helft mir auf, daß ich hin zu ihm kann. Grete, Bärbchen, so faßt doch zu! Fränzel, so steh doch nicht so steif wie die Jesussäulen am Kielischen Tor Zwei von einem Asseburger 1557 bei Sangerhausen errichtete Steinsäulen, das Wegemaß, auf dem der Heiland sein Kreuz trug. und bietet der Mutter die Hand, ehe sie vor Freude den Tod hat.«

»Was gibt's? Was soll das? Was wollt Ihr?« fragte Franziskus, unsicher umherblickend, als forsche er auf unseren Gesichtern nach der Mitwisserschaft und suche einen Ausweg in einer unerwarteten Verlegenheit.

»Sie nannte sich deine Mutter!« fiel Ernst mit heftigem Ton ein.

»Sehe ich aus wie ein Bettlerssohn?« entgegnete heftig der Kleine. »Mein Vater war ein Ratsherr, und nie hat mein Fuß zuvor diese Gegend betreten.«

Die Schwester warf ihre Last ab und umklammerte mit beiden Händen seinen Arm. »Verleugnest du uns, so mag dich Gott verleugnen in deiner Sterbestunde!« rief sie herzdurchschneidend. »Franz, ich habe mich nicht zu dir gebettelt, wenn der Mutter Elend mir auch fast das Herz abgedrückt hat, ich habe für sie lieber Schweiß und Blut gegeben, denn ich weiß, du hast mich immer gehaßt, seit Martin um mich geworben hat. Aber da dich Gottes Hand selbst hergeführt hat, so lasse ich dich nicht, und wenn du mich wund schlägst und die Kleinen da zu Vollwaisen machst. Die Herren sollen uns nicht für Lügenvolk halten; Franz, sieh der Mutter ins Jammergesicht, und sage dann, du habest nicht an ihrer Brust geruht!«

»Fränzel, mein Fränzel, denk an des Herrn Gebote, die deine Mutter dir zuerst vorgesagt hat! Fränzel, richte die auf, die der Himmel so tief niedergeworfen hat!« wimmerte die Alte dazwischen.

Wir standen verstummt und erschüttert, aber unsere innere Bewegung ging in Abscheu über, als Franziskus sich gewaltsam losmachte, die erschöpfte Schwester zur Seite stieß und wahrhaft diabolisch ausrief: »Gegen einen Anfall auf offener Straße werde ich mich doch zu schützen wissen! Wollt ihr etwas von mir und habt ihr Ansprüche an mich, so kommt in den Ort, statt mich vor Fremden zu beschimpfen. Diese Herren wissen, wo ihr mich finden könnt.«

Ein Jammergeheul der Greisin sammelte uns zu ihrem Beistand, und die Kleinen, im Glauben, der Großmutter werde ein Leid angetan, flüchteten zu der Alten und stimmten in das laute Weinen ein. Ein Seitenblick zeigte uns den herzlosen Sohn, der mit Gebärden des Zorns mit raschem Schritt den Weg zum Alexisbad einschlug.

»Fluche ihm nicht, Mutter!« rief Ernst. »Elternfluch ist unwiderruflich, und er bleibt dein verirrtes Kind, das Gott noch auf den rechten Pfad zurückführen kann, und wär's durch den Wetterstrahl, der den Saulus traf. Folgt dem Wahnwitzigen, denn alles, was der Mensch gegen die Natur tut, ist eine Manie, in der er sich selber schlägt«, setzte er hinzu.

Aber der flüchtige Kain war nicht zu ereilen, und als wir auf einem Hügel Atem schöpften, sahen wir, wie Ernst, die Brieftasche in der Hand, auf die Verlassenen einsprach, wie die ganze Familie mit beruhigten Gesichtern zu ihm emporblickte und Papier aus seiner Hand empfing.

Bald darauf holte er uns ein und wartete die Frage nicht ab, die er in unseren Mienen las. »Der Mensch ist nicht seinetwillen allein geboren«, sagte er, und seine dunkeln Augen leuchteten in besonderer Heiterkeit aus dem sonnenverbrannten Gesicht zu uns herüber; »die Natur schuf ihn zur Geselligkeit, damit einer des andern Fehler ausgleichen und versöhnen möchte und die Flecken des einzelnen nicht am Gesamtbild der Menschheit sichtbar würden. Warum sollte ich verhehlen, was ich getan habe? Ich habe der unglücklichen Familie ein Zettelchen an meinen Vetter in Osterode gegeben. Ein Wagen soll sie von da nach meinem Besitztum transportieren; sie sind keine Faulenzer, und in meiner Moorkolonie werden sich ein Dach und Arbeit für die Verlassenen finden. Aber mein Plan geht noch weiter. Der böse Sohn wird sie in seiner Nähe antreffen, er wird sie in anständiger Umgebung wiedersehen, und die Eiskruste seiner Selbstsucht wird, von der Natur bezwungen, schmelzen. Bis dahin wollen wir die Verachtung nicht laut werden lassen, die diese Stunde in uns allen erzeugen mußte.«

Wir drückten dem trefflichen Menschen die Hand und folgten ihm nicht ohne beklemmende Erwartung zum Bad. Franziskus stand am Fenster und kritzelte mit seinem Ring an den Scheiben, als wir das Logierhaus betraten. Sein Gesicht trug die gewöhnliche Ruhe, und wie sonst lagerte sein sarkastisches Lächeln um den Mund. Als wir ohne Anrede an ihm vorübergingen, stampfte er unwillig mit dem Fuß. »Also gerichtet ohne Verhör?« fragte er in scharfem Ton. »Ich lese es an euren Mienen, grämlich und starr, wie die einer abgesperrten, verhungerten Jury, ihr habt euer ›Schuldig!‹ von euch gegeben. Und ihr seid doch nicht einmal versichert, ob eure weichen Herzen nicht von einer Lüge überrumpelt worden sind, ob ich überhaupt denen etwas schulde, die nie etwas für mich getan haben, ob ihre Schlechtigkeit mich nicht von ihnen geschieden hat. Aber so ist's mit der Freundschaft; platzende Seifenblasen, vorzüglich, wenn ein Weibermund sie anbläst. Doch ich werde eure Hochherzigkeit nicht belästigen.« Er drückte sich den Hut aufs Haar und verließ den Saal.

Gustav fragte nach dem Vorgefallenen und folgte erschrocken dem Geschiedenen, den die Gewohnheit ihm wert gemacht hatte. Tief betrübt kehrte er nach einer Weile zurück. Franziskus war in einer Extrakutsche an ihm vorübergerollt und hatte ihm mit höhnischer Freundlichkeit ein Adieu zugerufen.

Der kalte Ernst selbst verlor auf einen Augenblick die Besonnenheit. Seine Faust zerschlug das Fensterglas, in das der herzlose Sohn seinen Namen geschnitten hatte. »Hier darf kein Andenken von ihm bleiben«, brauste er auf, »es wäre eine Schande. Bedauern wir ihn, der sich selbst bestiehlt, selber die folternde Furie hinter sich auf das flüchtige Roß nahm. Und dir müssen wir Glück wünschen, Gustav, denn du warst wirklich in recht bösen Händen.«

Gustav drückte die nassen Augen an des Freundes Brust.


 << zurück weiter >>