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Das Ilsetal

»Sie lieben meinen Harz«, sagte mein Gegenüber, ein langer Mann im bleigrauen, feinen Oberrock von jesuitisch-bequemem Schnitt. »Sie lieben meinen Harz« – er betonte das »meinen« ganz seltsam –, »und ich liebe die Enthusiasten. Erstens weil ich alles hasse, was kalt ist, wie Frosch und Eidechse, Zahnbrecher und Scharfrichter, reisende Deklamatoren und professionierte Rezensenten. Ein Enthusiast sieht fürs zweite nur mit einem Auge und drückt das andere zu – nämlich das des Tadels –, konserviert sich so das eigene Vergnügen und ärgert niemanden, den die Sache näher angeht. – Sie sind zufrieden mit meinem Harz, und doch wurden Sie bereits von einem unfeinen Holzflößer, der sein ›Aufsahns‹ oder ›Habt Acht!‹ vergessen hat, unsanft zur Erde gesetzt; ein rücksichtsloser Fuhrmann hätte Ihre ganze Kompanie fast zu der barbarischen Hinrichtung mit dem Rad verurteilt, wären Sie sämtlich weniger geübt in den modernen Turnsprüngen gewesen; Sie haben in Juliushall das Fegefeuer einer mitten im Sommer geheizten Gaststube gekostet und dort aus den veröffentlichten Kegelbahngesetzen ein Probestück unserer literarischen Ausbildung angestaunt und haben zuletzt noch das romantische Modell einer Räuberherberge des Mittelalters im Eckernkrug zu beliebäugeln Gelegenheit gehabt. Wahrlich, man kann nicht mehr von bescheidener Artigkeit bei Residenzstädtern verlangen, die man sich verwöhnt, verweichlicht, tadelnd und absprechend überall zu denken verführt worden ist. Mein Harz hat sich aber auch, gegen die Gewohnheit störrischer Greise, in den letzten Dezennien gar sehr nach dem Weltlauf bequemt und manches Stück seiner antiquarischen Tracht gegen feine Modeware vertauscht. Er hat seine Straßen zu Tanztennen chaussieren lassen; manche Strecke Urwald ließ er niederschlagen, um den Lorgnetten der kurzsichtigen Generation Raum zu machen; er füttert ganze Herden der traurigen, aber allgemein verbreiteten Familie der Esel mit dem Duftkraut, das für sein Lieblingswild gewachsen ist, und die kleinen Damenschuhe mögen unzerfetzt seine mysteriösen Hochklippen besteigen oder können sich auf echt englischen Quersätteln von den genannten musikalischen Dromedaren hinauftragen lassen. Als der ehrliche Götz und der gelehrte Zuckert meinen Harz beehrten, hatten sie freilich mehr Ursache zum Grollen und Murren, und es mögen wohl dazumal solch niedliche Wirtinnen rar gewesen sein wie die unsrige, die zur Ehre der Heimat müde Pilger so emsig zu erquicken bemüht sind.«

Der Mann, der mit einer sonoren Stentorstimme so perorierte, saß mit uns zu Ilsenburg im Wirtshaus Zu den Roten Forellen an einer wohlbesetzten Abendtafel, ließ sich die zarten, höchst schmackhaften Fischlein der Ilse, die dem Gastschild ihren Namen geschenkt hatten, desgleichen das saftige Wildbret, das ihnen folgte, so gut schmecken wie wir und ließ die gefleckten Forellen ebenfalls mit uns um die Wette in einem Wein schwimmen, der einem Hildesheimer Bischofskeller an Feuer und Bukett Ehre gemacht hätte. Wir trafen den Fremden im Garten, wo wir die nette Badeanstalt besahen, und er machte uns auf die bauchigen Vitriolflaschen aufmerksam, die man mit dem Hals nach unten auf Stangen gesteckt und solchergestalt in originelle Spiegel verwandelt hatte, auf denen sich die schöne Umgegend als konvexe Panoramen präsentierte. Trotz seiner ausgedörrten Gestalt, seinen kalmückischen Backenknochen, der schmalgepreßten Adlernase und den kleinen, feindselig funkelnden Augen, trotz seiner ungewöhnlichen Tracht, einem breitrandigen und niedrigen Pilgerhut, aschgrauen Gamaschen und langem, blank lackiertem Reisestab, wozu sich noch eine genetzte Reisetasche und eine umsponnene Kürbisflasche gesellten, die an roten Schnüren kreuzweis und militärisch von den Schultern zu den Hüften herabhingen, fühlten wir uns zu dem beredten Fremden hingezogen und übersahen die Scheu und Verlegenheit der Wirtsleute, sobald der lange Herr mit uns eingetreten war, die sich besonders an der jungen Wirtsfrau, jetzt, da er sie in seinem Sermon lobend angesprochen hatte, verdeutlichte.

»Der Hackelnberg hat Ihnen Spaß gemacht, wie ich vernommen habe«, fuhr er fort, nachdem er ein volles Glas auf das Wohl der entweichenden Wirtin ausgeschlürft hatte. »Vielleicht hören Sie nicht ungern eine andere wundersame Geschichte, die mit dem Zauberring genau verbunden ist, den Sie im nächsten Morgenlicht zu besuchen gesonnen sind.«

»Wer fände nicht größeren Gefallen an derber deutscher Volksmär als an dem Hautgout unserer französierten Romane, vornehmlich wenn in solcher Mär dem hämischen Teufel ein Braten dicht vor dem Mund weggefischt oder gar der dumme Teufel geprellt wurde«, rief unser kleiner Humorist, Beifall nickend.

Der Lange zog seine Adlernase auf seltsame Weise über den Mund herunter, blinzelte boshaft mit den Augen und begann ohne weiteres:

»Zu der Zeit, wo noch die Menschen dünn gesät waren auf der Erde, wo die Städte und Dörfer noch sehr vereinzelt lagen, jeder sein Haus hinstellte, wo es ihm bequem schien, in der man es vermied, den Nachbar mit den Ellenbogen zu belästigen und ihn um Luft und Licht zu bringen und es auch noch keinen Gasthof Zu den Roten Forellen und überhaupt keine Ilsenburg gab, wohnten in der nächsten Gegend zwei Familien, jede außer der geringen Dienerschaft – denn man fütterte dazumal noch keine überflüssigen Tagediebe des Prunkes halber – nur aus zwei Personen bestehend. Am Fuße des abgestumpften Bergrückens, auf dem jetzt das sogenannte Schloß steht, das der dritte der Ottonen, nach ihm ein Bischof und seine wohlgepflegten Mönche, zuletzt die Wernigeroder Grafen innehatten, stand ein Landhaus, das Eigentum einer Witwe, die dort ein Töchterchen verzog, was damals ungewöhnlicher war, als heutzutage. Jungfrau Trude litt am Eigensinn nach Art der meisten rothaarigen Mädchen, tat sich aber viel auf ihre blendend weiße Haut zugute, die zu solchem Haar gehört, desgleichen auf ihren vollen, üppigen Körperbau, und vergaß darüber ihr Stupsnäschen, ihre Legion von Sommersprossen wie auch den übergroßen Mund, der ihr von der Natur stiefmütterlich beschieden war. Der Mann der Witwe hatte den Seinen ein reiches Erbteil hinterlassen; die Köhler und Jagdleute meinten, er sei ein kundiger Schatzgräber gewesen, der mit der Wünschelrute das köstliche Erz zu finden verstanden, auch die Schwarze Kunst gekannt und mit den Unterirdischen viel Verkehr getrieben habe.

siehe Bildunterschrift

Der Ilsenstein

Die andere Familie, Vater und Tochter, wohnte näher dem Brocken zu und schon mehr im Gebirge. Unsere grauenvolle Klippe, der Ilsenstein, und das Felsriff gegenüber, der Westerberg genannt, hingen damals noch fest in einer zackigen Wand aneinander, als ein Wall, mit dem der Brockenfürst sein Reich abgesperrt hatte. Der Herr hatte sich ein altes Steinschloß gekauft, das auf einem Absatz der Wand klebte gleich einem Geiernest, hatte es wohnlich gemacht für sich und sein Kind; denn er war aus edlem Geschlecht, wohlhabend und fern aus dem flachen Land gekommen, obgleich niemand wußte, woher. Man hielt ihn für einen gestürzten Fürstengünstling, der seinen Kopf und was er in guter Zeit geschenkt bekommen oder nicht, hierher in die Wildnis gerettet hatte, wie sich das denn zu jeder Zeit ereignet und immerdar ereignen dürfte. Die beiden Familien lebten jedoch nicht mehr so nachbarlich wie zu Anfang, als die Lästerzunge der bösen Fama sogar von dem Edelherrn und der Witfrau manches zu erzählen gewagt hatte, was ein keuscher Mund lieber zu verschweigen trachtet. Der Bruch war plötzlich entstanden; ob die Flamme des Edelherrn ausgebrannt oder ob die Eitelkeit der beiden Gespielinnen daran Schuld war – denn Fräulein Ilse galt unter den Jägerburschen als das schönste Frauenbild im ganzen Harz – blieb unentschieden. Aber Eifersucht, der böse Dämon der Adamssöhne und Evastöchter, vollendete die im stillen gehegte Feindschaft.

Zur Zeit, als der Edelherr und sein Kind eine Reise angetreten hatten, wie er jährlich zu tun pflegte – wahrscheinlich um im Lande einzukaufen, was zum Leben in der Öde nötig war –, suchte bei der Witwe ein junger Bursche Herberge, ein freimütiger und dreister Geselle ohne Sack und Pack, aber reich an Wortkram und Dünkel; heimatlos, aber von Sorge und Kummer bar und mit einem unbegrenzten Vertrauen auf sich selbst versehen. Jugend und Schönheit finden überall einen gedeckten Tisch, und der Bursche war jung und schön. Hätte es dazumal schon Demagogen gegeben, wir würden glauben, unser Held müßte zur Zunft dieser Weltphilosophen gehört haben; die Völker aber lagen noch in Nacht und kannten solche Beglücker nicht. Die gescheite Witfrau fand Gefallen an dem Fremdling, da ihr doch bislang kein Bursche der Umgegend gut genug als Eidam gefiel; Jungfrau Trude ließ sich nicht lange zureden, um ihr Wohlgefallen an dem Liebling der Mama auf das deutlichste auszusprechen, und so suchte das junge Paar einen schönen Sommer hindurch zusammen Erdbeeren im Busch, pflückte wilde Äpfel im Holz, nahm Vogelnester aus im Steingeklüft, und die Mutter spann daheim eifrig an den Brauthemden des geliebten Töchterleins.

Da kehrte mit dem Herbst der Edelherr samt dem Fräulein Ilse zum Schloß zurück, und nicht lange nachher änderte sich das Liebeswetter im Landhaus. Junker Rolf hatte die scharfen Augen des Falken, die geübt worden sind auf der Reiherbeiz. In kurzer Frist hatten diese herausgefunden, daß das schlanke, hochgewachsene Fräulein Ilse zu seiner Trude war wie eine Königin zur Magd, daß ihre fleckenlose Samthaut, ihr großes, strahlendes Augenpaar, ihre hohe und reine Stirn, die Fülle ihres kunstreich geflochtenen Flachshaars, der edle Schnitt des Gesichts und der zarte Mund voller Perlenzähne sie für jeden Liebesritter zu einem Turnierpreis machten, wie er im ganzen deutschen Reich kaum zweimal zu finden war, und die Erdbeeren und Holzäpfel seiner Trude wollten ihm seitdem nicht mehr munden. Der kecke Fant schlich so lange um das Schloß auf der Bergwand, bis er den Weg hinein gefunden hatte, und als ihm erst das Tor aufgetan war, wußte er auch den Schlüssel zu des Fräuleins Herzen und des alten, einsamen Schloßherrn Gunst zu finden.

Was darauf folgte, läßt sich ohne besonderen Witz erraten, denn die Mütter jener Zeit glichen darin vollkommen unseren Müttern, sie können's kaum erwarten, bis der Freier sich meldet, wenn die Töchter reif geworden sind, und ärgern sich über jeden schlanken Gesellen, der am Fenster vorüberzieht, ohne an die Tür zu pochen. Wie übervoll mußte daher das Maß des Grams und Grolls der Witfrau sein, da der schon gefangene Hecht sich aus dem Netz gemacht hatte, und da ihre rotköpfige Trude heulte und tobte vom Morgen bis zum Abend und die ganze Nacht hindurch, von der klugen Mutter das verlorene Spielzeug trotzig zurückbegehrte und sich nicht dabei beruhigen wollte, daß der lieblose Rolf, als ihn die Witfrau im Walde eifernd angesprochen, geantwortet hatte, Art lasse nicht von Art; Aar paare sich nur zum Aar. Wenn er auch seinem strengen Vater entlaufen sei, so bleibe er doch ein Grafensohn sein Leben lang und habe jetzt eine würdigere Buhlin gefunden!

Die Witfrau hob im heißen Zorn verstummend die Zeigefinger beider Hände zu einem furchtbaren Schwur, den niemand vernahm als sie und die bösen Geister, die ringsum aus den Zwerglöchern horchten; und als sie heimgekommen war, schloß sie das Kellergewölbe auf, wo ihr seliger Eheherr einst seine geheime Wissenschaft gepflegt hatte, fürchtete sich nicht vor dem kreischenden Warnton der verrosteten Angeln, nicht vor dem seltsamen Gerät, das drinnen lag, nicht vor dem Totengebein, über das ihr Fuß gestolpert war. Die vergilbten Pergamente nahm sie vom Herd, desgleichen die lange, weiße Gabelrute, die mit trockenen Schlangenhäuten umflochten war, von der Wand; die Köhler sahen sie seitdem oft in kalter Mitternacht an ihrem dampfenden Meiler hinschreiten, sie grub Wurzeln im sumpfigen Bruch und briet Kröten am nächtlichen Feuer; das heulende Trudchen besänftigte sie aber beständig mit dem Spruch: ›Harre der Mainacht, mein armes Kind; so wahr dein Vater einen Bart am Kinn getragen hat, soll deiner Brust alsdann der Bräutigam nicht länger mangeln!‹«

Der Erzähler pausierte ein wenig, schenkte sein leeres Glas voll und musterte dabei scharf seine Zuhörer. »Sollte jemand der Herren etwa sein Gewissen nicht sattelfest wissen«, sagte er sehr ernsthaft, »dem wäre besser, er suchte sein Bett; denn was jetzt noch folgt, möchte ihm den Schlaf vertreiben.« Doch unser Humorist lächelte ungläubig; unser Romantiker hing mit seinen hellen Glasaugen ungeduldig am Mund des Warners, kräuselte mit den Fingerspitzen den blonden Knebelbart, und Kinder und Mägde horchten mäuschenstill. So leerte der Lange langsam sein Glas, schob das runde, feuerrote Käppchen einige Male hin und her auf dem breiten Glatzkopf und fuhr fort:

»Die Kalendermacher waren dazumal ebenso schlechte Wettermacher wie in unserem Jahrhundert; längst stand Frühlingsanfang auf ihren Prophetenblättern, und jedermann harrte täglich auf die Nachtigall und die grünen Blätterknospen. Doch der Winter spielte seinen Feinden einen Possen, gerade wie er's uns getan hat in diesem Jahr; er ließ im April den Schnee wolkenweise fallen, so daß man tagelang nichts sah von Himmel und Erde, von Sonne und Mond und, als es endlich klar geworden war, niemand die Gegend mehr kannte, in der man jahrelang gelebt hatte, und die Menschen sich wie vergrabene Murmeltiere vorkamen. Da war kein Weg noch Steg, kein Tal, kein Hügel zu finden; alles sah sich an wie ein weißes, ungeheures Gipsfeld, aus dem nur die Gipfel der höchsten Bäume wie Besenreiser, das die Knaben zum Spaß eingesteckt haben, hervorschauten; gegen seine gutmütige Weise warf der Harz tödliche Schlaglawinen hernieder; aus den Schornsteinen stiegen die erschrockenen Menschen ans Licht und sahen sich um, ob die Welt noch stände und ob die Sonne nicht im Schnee erloschen sei, die Dörfler zimmerten sich Brücken von Dach zu Dach, um das blökende Vieh im Stall zu füttern; die Bergleute in den Harzstädten gruben Stollen unter der Schneedecke hin von Haus zu Haus, um nachzuschauen, ob Nachbar und Gevatter noch wohlauf seien; alle Weibsleute am Vorharz blickten sehnsüchtig nach der Blocksbergkuppe und fürchteten, sie möchten umsonst den Besenstiel blankgescheuert und den schwarzen Bock zur Mainachtsreise vergebens so sauber gewaschen haben; dem Jägersmann lief sogar das hungernde Reh auf die Tenne, und er fand voller Gram die toten Feldhühner und Lerchen auf dem Schnee und die erstickten Märzhäslein darunter.

Die fromme Ilse blickte ebenfalls mit Angst von ihren Fenstern in das Wetter hinaus, doch ihre geblendeten Augen wandten sich schnell wieder ab. Indes tröstete sie sich leicht, denn der Liebste war bei ihr, und der Vater saß wohlauf, wenn auch mit sichtlich verfinstertem Gemüt, am wärmenden Kamin. Rolf war ihre erste Liebe, und sie wußte nicht, daß sie seine letzte Liebe geworden war.

Und was träumt und faselt die Jugend nicht von einer ersten Liebe? Es ist der Reiz des Neuen, des Unbekannten; der törichte Mensch überschätzt ja alles, was er nicht kennt und zu ergründen vermag, besonders dann, wenn obendrein etwas Mysteriöses daran hängt; das eben eröffnet die Glücksbahn jedem gescheiten Betrüger, den Cagliostros und Mesmers, den Muckern und Geistersehern, dem kecken Scharlatan und jedem Glücksjäger; das ist die Schuld so vieler Tränenbäche, in denen abgewelkte Blumen dem großen Meer zuschwimmen, das nichts wiedergibt. –

Die Frühlingssonne gewann endlich ihr Recht, und als der Mai nahte, hatte ihr Strahl langsam den Schnee weggeküßt, der Vorharz zeigte wiederum sein grünes Kleid, und unter der kalten Decke hatten die Erstlingsblumen schon Knospen getrieben. Da stand in der ersten Mainacht die wilde Witfrau auf dem Söller ihres Hauses, beschwor mit grauenvollen Worten die Geister der Luft und malte mit ihrem Schlangenstab geheimnisvolle Zeichen in die Nacht, die schwarz und schwer auf den Bergen zu ruhen schien. Die Bewohner des Schlosses erwachten vor Tag mit Entsetzen. Endlose Donner rollten ringsum, die feurigen Schlangen der Blitze schienen am Himmel eine Schlacht zu kämpfen, die Wetterschläge rasselten zerstörend nieder, in einem Wolkenbruch ergoß der Himmel seine Ströme zur Erde, das feste Gestein schien in seinen Fugen und Wurzeln zu erbeben, das Schloß wankte, die Fenster klirrten, und seine Glocken läuteten ohne Glöcknershand. Statt zu lösen vermehrte der Morgenstrahl das Grauen; denn war auch das Wetter still geworden, so erschien dagegen das Tal unter der Steinwand zu einem See gewandelt, und immer dauerte noch die Erschütterung des Felsgesteins, das Wanken des Mauerwerks, das unterirdische rätselhafte Krachen, ähnlich dem Getöse, das eine Bande verwegener Minierer erweckt, die mit Eisen und Pulver sich einen Weg bricht durch die Wälle des Feindes.

Das Fräulein blieb die Unverzagteste im Schloß; die reine Seele verliert Vertrauen und Hoffnung nirgendwo. Von einer inneren Stimme getrieben floh sie aus den Mauern, stieg mutig den Felsen hinan, und ihr folgten Vater und Bräutigam. Doch oben auf dem Gipfel der Steinwand enträtselte sich der Schrecken und verdoppelte sich zugleich. Frühlingsluft und Regen hatten die ungeheuren Schneemassen zu schnell geschmolzen, vom Brocken bis zur jenseitigen Talschlucht glich die Gegend nur einem einzigen Katarakt, der verwüstete, was vor ihm lag, mit grimmiger Wut gegen die Felswand schoß und mit hochauf spritzenden Schaumwellen sich auftürmte am gefundenen Widerstand. Bleicher wurden die Gesichter, starrer die Blicke derer, die ihre Schwäche fühlten, dem gewaltigen Element gegenüber; doch ehe sie zur Besinnung gekommen waren, krachte es unten, als berste der ganze Erdball mitten auseinander, die Steinwand spaltete sich und brach zusammen, das Schloß verschwand in den stürzenden Trümmern, der Wasserschwall begrub es vollends und mit ihm den vom eingesunkenen Berggipfel fortgerissenen Schloßherrn, den Junker und alles Gesinde. Nur das Fräulein Ilse sahen die Köhler, die sich auf die nahen Höhen geflüchtet hatten, langsam an der Granitpyramide, die seitdem ihren Namen trägt, herabgleiten, und eine hochgewachsene, schwarzlockige Mannsgestalt stand plötzlich neben ihr, fing die Ohnmächtige an einem Vorsprung des Felsens auf, hüllte sie in einen weißen Mantel und verschwand mit ihr im Nebeldampf, der dem freigewordenen Bergwasser entquoll. Wer der mächtige Helfer gewesen ist, erfuhr niemand; wahrscheinlich war es ein unterirdischer Geisterkönig, der das fromme, schöne Kind beschirmt und für sich behalten hat.

Die alte Witfrau hatte auf ihrem Söller jubelnd das Verderben angesehen, doch dauerte ihr Jauchzen nur kurze Frist, denn der bösen Lust folgt der Rachegeist dicht auf den Fersen. Ein Schrei in ihrer Nähe sträubte ihr Haar hochauf und machte das Mark ihrer Gebeine erstarren. Trude sah den immer noch geliebten Verräter stürzen, sah ihn verschwinden unter den Wasserbergen; die Sinne schwanden dem armen Kind sofort, und sie glitt vom Söller ihm nach.

Lange ging die Mutter in stummer Verzweiflung, nachdem der Waldstrom sich beruhigt hatte und zum munteren Flüßchen geworden war, seinen Lauf hinunter, bis sie auf einer Wiese zwei ausgeworfene Leichen fand, die sich fest umschlossen hielten und in denen sie das, was sie gesucht hatte, erkannte. Ihr Prophetenwort hatte sich erfüllt, das kühle Wellenbad hatte die zerrissene Liebe versöhnt und neu verknüpft; die Mainacht hatte der Braut den Bräutigam an das Herz gelegt. Was aus ihr geworden ist, weiß man nicht, keiner sah sie mehr, und ihr Haus zerfiel.

Die schöne Ilse jedoch wurde nach einiger Zeit wieder sichtbar im Tal und zeigte sich, obgleich selten, am Fluß, den man nach ihr benannt hatte. Wenn nach einer lauen Nacht wie der heutigen ein reines Morgenrot im Osten schimmert, tritt sie aus einem Felsspalt im weißen fürstlichen Atlaskleid und die Stirn geschmückt mit einem Diadem von schimmernden Kristallen, wie sie am Ilsenstein wachsen; dann steigt sie zum Gewässer, legt die köstlichen Gewänder ab, badet die strahlenden Glieder und kämmt das reiche Haar, bis der erste Sonnenstrahl sie berührt. Und wenn einmal einem jungen Fant, der schön und blond und tugendhaft ist wie sie, es glückte, sie zu überraschen, soll sie ihn reich und überschwenglich mit irdischen Schätzen und anderen Liebesgaben überschüttet haben, ja einem solchen, der aber ein ganz besonderes Wundertier und seltener Gaben sich bewußt sein müßte, soll einst ihre Erlösung vorbehalten bleiben. Ob die Sache wahr ist, lassen wir dahingestellt sein. ›Das Geheimnis ist für die Glücklichen!‹ Dem Plauderer möchte schlechter Lohn werden, denn ›leicht aufzureizen ist das Reich der Geister, und unter dünner Decke schlummern sie‹! – Unter uns wird kein unverständiger Näscher Gelüst nach solch gespenstischer Bekanntschaft hegen, und wir wollen uns deshalb wechselseitig eine ruhige und gute Nacht wünschen.«

»Wer ist der Herr?« fragte ich den Ilsenburger Wirt, einen schlichten, aber verständigen Mann, nachdem der zungenfertige Erzähler seinen breiten Hut aufgesetzt und das Zimmer ohne Zeremonie verlassen hatte.

»Wer der Herr zu sein beliebt«, antwortete der Mann mit einem respektvollen Blick nach der Tür, »werden Sie so wenig von mir als irgend jemandem in der Gegend erfahren können. Fragt man nach seinem Namen, so nennt er sich Herr Namenlos ohne weiteren Titel. Solange wir denken können, kennen wir ihn, denn er besucht jedes Jahr einige Male das Gebirge, ist in jedem Winkel desselben wie zu Hause, weiß von allen, versteht alles, kennt jedes Kraut, jedes Gestein, Erz oder Hüttenwerk, rät, belehrt jedermann, tadelt aber auch alles Gebrechliche und wäscht jeden faulen Fleck mit scharfem Salzwasser. Man sieht ihn gern und fürchtet ihn doch gleich einer geheimen Bergpolizei, und er hat manch tüchtigen Menschen zu einem Amt und manchen aufgeblasenen Dümmling vom Amt gebracht. Wie und wodurch, das erriet noch keiner. Sie haben das Glück gehabt, ihn bei guter Laune zu treffen, denn meistens sind die Gäste, die wir so gern bei uns sehen zur Ehre unserer Heimat, die Scheibe seines Witzes, und er läßt seinen Groll und Unmut zuzeiten an ihnen aus. Noch im vergangenen Herbst machte er einen langweiligen jungen Herrn aus der Residenz, der mit einer Komödiantenmamsell und einem geckenhaften alten Hofrat hier einkehrte und der sich für einen Alleswisser, einen Philosophen, Medikus, Kunstkenner, der Himmel weiß, für was mehr, ausgab, durch sein Examen so konfus und zaghaft, daß die ganze Gesellschaft augenblicklich aufbrach, ohne die Zeche zu bezahlen. Aber die barfüßigen Kinder in den Tälern, die Dirnen, die Beeren und Holz suchen, die armen Köhler liebt er, und sie lieben ihn, denn mit ihnen schwätzt er gern und entläßt sie selten ohne Geschenk.«

»Es ist Mephisto selbst, der Schalk, der Geist, der stets verneint«, rief der Humorist jubelnd.

»An unserem Ilsetal hat er ein besonderes Gefallen«, fuhr der Wirt fort, »gleich dem Jüngsten erklettert er den Ilsenstein, sitzt stundenlang da oben und versucht mit kleinen, seltsamen Instrumenten die Kräfte, die in dem Wunderfels wohnen sollen.«

»So ist er wohl gar der Berggeist selbst, der einst das Fräulein entführte?« fragte ich lächelnd.

»Die Geschichte, die Sie gehört haben, trägt sich so im Volk, aber er erzählt sie, als wäre er dabeigewesen, und man glaubt sie leichter; etwas muß übrigens wohl daran sein, denn meine eigene Familie ist in das Märchen verwickelt. Der Wohlstand, der bei uns von Vater auf Sohn sich vererbte, soll von der Prinzessin herstammen, und der Urgroßvater meines Großvaters soll ihn ins Haus getragen haben. Er war ein armer, aber fleißiger und frommer Kohlenbrenner, und als er einstmals vor Tage ging, um nach seinem Meiler zu sehen, erblickte er das wunderschöne Fräulein am Wasser. Auf seinen freundlichen Gruß nickte sie gar hold, winkte ihm und nahm ihm seinen Brotsack ab, ging in den Fels und brachte das Ränzel gefüllt zurück, gab es hin, befahl aber zugleich, er dürfe es nicht eher als in seiner Hütte öffnen. Der Neugier des Burschen wurde jedoch der Weg zu lang; schon auf der Brücke schaute er in seinen Sack, und als er nur Tannenzapfen drinnen fand, schüttete er erbost den Dreck über das Geländer. Da klang es aber und schimmerte auf dem Wasser, und er verschloß schnell den Sack und rannte erhitzt und beklommen zu seinem Weib. Was zurückblieb vom Gold im Ränzel, reichte aus, um den Grund zu dem Wohlstand zu legen, den unsere Großväter sorglich wahrten und auf Kind und Enkel brachten; darum gedenken wir der schönen Ilse, als gehörte sie zu uns, und hören mit Ärger, wenn ein naseweiser Fant sie eine Hexe oder ein garstiges, mannstolles Weib schilt oder gar unseren Glauben an die Geschichte verspottet.« –

Unsere nächtliche Ruhe wurde mehrfach gestört; es gewitterte draußen, und der Regen schlug gegen die Fensterscheiben, eine Beunruhigung für jeden Reisenden, dessen Vergnügen so ganz vom Wetter abhängig ist. Schwüle Luft füllte die Kammern; der Humorist schnarchte ein grausames Solo, und da ihm der Wein geschmeckt hatte, weckte ihn kein Anruf. Der Romantiker warf sich im Bett umher, träumte laut von der göttlichen Aphrodite, von ihrer Geburt aus des Meeres silbernem Schaum, wie die Unvergleichliche zum Entzücken der Götter und Menschen an die Küste von Zypern schwamm, und dazwischen mischte der Träumer in herzzerbrechenden, schweren Seufzern den prosaischen Namen: Ilse! Spät sank daher erst der feste Schlaf auf uns, den das Reisen so wohltätig fördert, doch trotzdem waren wir sämtlich schon wach und zum Marsch gerüstet, als die Posaunenstimme des Namenlosen sich auf dem Hausflur gleich dem Kommandowort eines Generalissimus vernehmen ließ.

Wir zählten die Häupter unserer Lieben, und siehe da! Es fehlte ein teures Haupt: unser Romantiker nämlich; die Magd versicherte jedoch, denselben schon vor Tag munter und rührig draußen gesehen zu haben.

»Er wird die Prinzessin erlösen wollen, der waghalsige Bursche!« lachte der kleine Humorist; der Lange meinte aber mit trockener Miene, wir würden den Neidhart schon finden, der gesonnen sei, uns die erste moussierende Kraft vom Morgenbecher wegzuschlürfen. –

Unser Führer wählte den bequemsten Weg, an dem alten Schloß vorbei, in dessen Kirche nicht mehr die Hora der Benediktiner ertönt, nicht mehr die rüstigen Knappen ritterliche Waffen schleifen, das aber noch von gräflichen Dienern und Jagdleuten bewohnt wird. Der Lange machte uns an mehreren gelichteten Stellen auf die schöne Aussicht in das Tal aufmerksam, unsere Sehnsucht strebte jedoch zu heiß vorwärts nach dem sehenswürdigsten Platz des Harzes. Nur ein kurzes Stündchen und, wir standen am

Ilsenstein

Die Ersteigung ist von dieser Seite weder gefährlich noch besonders unbequem. Der steinerne Riese, der letzte von den Wächtern, die wahrscheinlich ehedem ihren Herrn, den Brocken, umstanden; er, der treu und unverzagt seinen Platz behauptet in der fürchterlichen Verwüstung gleich jenem römischen Soldaten in dem Tor zu Pompeji, den man nach tausend Jahren noch Schildwache stehend fand, er lehnt hier seine müden Schultern an die geduldige Bergwand. Man muß sich den Ilsenstein nicht als einen isolierten Pfeiler vorstellen, der in der Art des Hübichensteins bei Grund am Oberharz wie ein stumpfer abgerundeter Zylinder emporsteige. Der Ilsenstein übertrifft den Hübichenstein an Höhe um das Doppelte, ist ihm an Form aber völlig ungleich, ähnelt mehr einer beschädigten Pyramide, deren Spitze zerbrochen und zerklüftet und gespaltet sich darstellt, deren Seitenwände teilweise ihrer glatten Bekleidung beraubt wurden, hie und da rauhe Vorsprünge bilden, die freilich bei einem Fernblick sich in die gigantische Masse verschmelzen.

Überrascht findet man auf der höchsten, mit Beschwerde zu erkletternden Spitze des Granits ein Werk von Menschenhand, aber ein heiliges und von edlem Sinn erdachtes, das deshalb willig vom gewaltigen Fels getragen wird. Es ist ein großes, eisernes Kreuz, von einem Volksvater errichtet zum Gedächtnis seiner Stolberger, die den Heldentod im letzten Völkerkrieg für deutsche Freiheit gefunden hatten. Anton Graf Stolberg-Wernigerode ließ das Denkmal setzen, und es ehrt den Stifter wie jene Braven, deren Namen an ihm der Nachwelt erhalten sind. Ein wahrhaft zauberreiches Gemälde gewährt der Blick von diesem natürlichen Wunderturm herab; tief unter den Füßen empfängt ihn wie eine versteckte, schamhafte, reizende Braut das Tal in seine hohen Wände geschmiegt; dort hinüber reicht er nicht aus für die weithin sich verlierende Ebene voll wechselnder Landschaften, und gegenüber steigt vor ihm der verrufene Brocken auf und scheint so wenig fern, daß man einen Gruß, eine Bestellung auf baldiges Quartier hinüberzurufen versucht wird.

Der Führer nannte uns auf der anderen Seite des Ilsetals den steilen Buchberg, den Westerberg – ein imposantes Felsgebäude – und die Bäumlersklippe, welche an schöner Aussicht eine Rivalin des Ilsensteins zu sein sich erdreistet. Auch zog er einen Miniaturkompaß hervor und machte uns aufmerksam auf die Abweichungen der Nadel, die völlig verwirrt und ihrer Beständigkeit entfremdet zu sein schien, unstet umherstrich und durch den Osten sogar zum Süden wandelte. Er schob diese merkwürdige Erscheinung auf Magneteisenstein, der hier verborgen und eingesprengt lagern soll; dieselbe Erzart, welche der Spitzenberg dem Naturforscher ergiebig liefert.

»Ein Kluger bricht die Mahlzeit beim besten Appetit ab und spart auf eine spätere Schüssel«, sprach nach kurzer Weile alsdann der lange Namenlose, indem er auf einen steilen Fußpfad deutete und zugleich vorsichtigen Tritt und feste Sohlen empfahl; »die Wolken könnten uns den Weg unvermutet besprengen und unsere Hälse in Gefahr bringen. Überdies erwartet uns dort unten das Beste.« – Und der Erfahrene hatte in beiden Punkten vollkommen recht. Freute sich auch der neckische Till Eulenspiegel bei jedem Bergan schon auf das Bergab, hier hätte er seine Hoffnung getäuscht gefunden, und wir wünschten uns Glück, als wir atemlos in der Tiefe angekommen waren und eine köstliche Eiche von Steinbänken umbaut fanden, die Erholung für die erlahmten Sehnen darbot, und wir unseren Blick rückwärts zu der Gefahr wenden durften, die wir bestanden hatten.

Der Mensch wird kleiner, je größer die Natur vor ihm ist. Betroffen und wie zu Zwergen zusammengedrückt blickten wir an dem rauhen Felskoloß hinauf, der sich über zweihundert Fuß hoch mit fast unbekleideten Wänden senkrecht erhebt, in deren Spalten sich nur hie und da ein krauses Gebüsch oder eine einzelne Tanne angesiedelt hat, tollkühnen und verlorenen Steigern gleich, welche den Rückweg nicht zu finden vermochten. Vergebens streben die Gipfel des üppigen Buchenbaums, der schnellschießenden Fichte aus dem Grund zu ihm empor; sie küssen kaum seinen glatten Leib, und er schaut verächtlich auf sie nieder und beugt Nacken und Haupt so furchterregend über sie hin, als wolle er sie mit seinem zerquetschenden Einsturz bedrohen. Unsere Herzen pochten höher, und das Auge wurde unsicher; dazu vermehrte das dunkle Wettergewölk, das über dem Felsgipfel wie von ihm angezogen und festgehalten sich lagerte, den Eindruck, und es schien uns wie ein Traum, daß wir da oben gestanden waren, obgleich unsere erschöpften Glieder die Wahrheit verbürgten. Nur der Lange, wenn auch der älteste von uns, schien unverwüstlich zu sein; seine scharfen Augen suchten forschend im Tal umher, und sein spottendes Wort trieb uns weiter.

Das Ilsetal wird von den meisten Reisenden für das schönste Tal im Harz gehalten, für Hercynias Paradies; und es ist in Wahrheit wert, ihm mehr als einen flüchtigen Besuch zu widmen. Wir huldigten still, aber inbrünstig diesem Eden mit seinen Laubgrotten, Baumgängen und dunklen Verstecken. Jedes Plätzchen verdient ein Poem, und überdies hatte der Nachtregen es mit einem besonderen Schmuck behängt; »die Läuble träuften noch«, ein jedes Blatt trug einen Edelstein, dem die steigende Sonne Karfunkelschein verlieh, und wo der Fluß nur den kleinsten Felsbrocken bespülte, entfaltete sich ein Regenbogenschimmer aus seinem Wellenspiel. Die Ilse, ein Kind des Brockens, tanzt, als wäre sie stolz auf ihre Herkunft und ihr prunkvolles Reich, in ewig jugendlicher Frische und Fröhlichkeit durch das Tal und scheint spielend die ihr von der Natur gestellten Hindernisse zu überwinden. Im Festkostüm zeigt sich aber die frische Nymphe höher hinauf in ihren

Wasserfällen,

die so malerisch gruppiert sind, daß kein Zeichner sie verläßt, ohne sie in seinem Skizzenbuch zu verewigen; auch bleibt ihm die Wahl, sie jenseits der leicht und frei über das Wasser geworfenen Brücke als ein breiter, klar herabschießender Spiegel, dessen Blendung durch den dunklen Wald zu beiden Seiten verdoppelt wird, aufzufassen oder auf seinen Erinnerungsblättchen den Moment zu bewahren, wo sie krausstirniger, mutwilliger und geschwätziger in hundert verschiedenartigen Wasserzweigen einen wüsten, unordentlichen Haufen teils abgerundeter, teils kantiger Granitblöcke keck durchbricht oder sich schmiegsam fügend durch seine Spaltungen zu drängen versucht. Wir waren noch nicht gar weit im Tal hinaufgeschritten, so wurden unsere Augen in ihrem Genuß gestört, denn einen anderen Sinn – unser Ohr – nahmen seltsame Töne in Anspruch, die wie das Gewimmer und Gestöhne eines Gefährdeten klangen und, als unsere Stimmen sich erhoben, in förmlichen, doch sehr matt schallenden Angstruf übergingen.

siehe Bildunterschrift

Die Wasserfälle

Erregt und eilfertig sprangen wir nach der Gegend, wo uns ein unerwarteter Schreck überraschte. Die Ilse strömte hier durch ein gedehntes, tieferes Bett, dichter Busch umwuchs ihre Ufer, und nur an einem schmalen Platz fand sich ein Zugang, der durch eine glatte Felsplatte gebildet wurde, die sich schräg zu dem Wasser hinuntergesenkt hatte. Was mußten wir finden? – Dicht neben ihr erblickten wir unseren blonden Romantiker in der peinlichsten Situation. Bis über die Brust im Fluß, zeigte er nichts als das blasse Angesicht, den nach Luft schnappenden Mund, den die boshaften Wellen bespritzten, und die in das Gezweig krampfhaft verflochtenen Hände, die starr und ermüdet kaum noch ihren Dienst verrichteten.

»Zum Henker, junger Ritter, wie kommt Ihr zu solch unzeitigem Bad in kühler Frühzeit, bekleidet und am gefährlichsten Fleck?« rief der Namenlose, befahl uns aber sogleich mit augenblicklicher Besonnenheit, die Schöße seines Rocks zu fassen, und reichte, sich auf die feuchte Steinplatte wagend, mit seinen langen Affenarmen dem Wassermann seinen tüchtigen Reisestab zur Rettung. Das Stück gelang unverhofft schnell; bald stand der armselige Freund, triefend wie ein wackerer Pompier, zwischen uns, und wir mühten uns, das Wasser von seinem Kopf und seinen Kleidern zu streifen.

»Hat dich die Ilse verlockt? Hast du glücklich Unglücklicher die Prinzessin gesehen?« fragte der kleine Humorist mit Hast.

Der Romantiker machte ein verlegenes Gesicht, stammelte Dankesworte für die Erlösung aus stundenlanger Pein und stotterte, ein großer Goldfisch sei ihm ins Auge geraten, der dicht an dem Stein oben auf den Wellen zum Greifen nahe gestanden habe. Die fatale Platte mit ihrer feuchten Politur habe den neugierigen, unvorsichtigen Fischer abgleiten lassen.

»Potztausend, ein Goldfisch, eine chinesische Rarität, ein Kinju? Das kann niemand anders gewesen sein, als die verwünschte Geisterbraut, die in mancherlei Gestalt ihre Koboldstreiche verübt; nur wundert's mich, daß sich die Gnomenkönigin nicht lieber als blanker Weißfisch präsentierte«, entgegnete der Lange nicht ohne merkbare Ergötzung, indem er jedoch mitleidig den auf das Gras Gesunkenen aus seiner Kürbisflasche labte.

»Bruderherz, sprich erst: Hast du sie wirklich gesehen? Hat dich die boshafte Undine hinabgestoßen oder hineingezogen? Die Neugier stößt mir das Herz ab!« drängte der Kleine, obgleich der gierig Trinkende ihm die Antwort immer schuldig blieb. –

Fremde Stimmen unterbrachen unsere Sorge. Zwei schlanke Töchter des Berges traten zu uns heran und boten in ihren kleinen Bastkörben eben gepflückte Himbeeren zum Verkauf, die, auf frischen Blätterschüsseln ausgebreitet, appetitlich schimmerten und nicht verschmäht wurden.

Der Namenlose musterte die Dirnen wie ein Polizeispion von ihren nackten, rein glänzenden Füßen an bis zu den dunklen Haarschweifen, die über die Schultern auf die Ellenbogen herabhingen, an denen jede ihren Strohhut trug. »Ihr habt früh gepflückt, Kinder«, sagte er zutraulich, »und der Nachtregen hat euch die Köpfe gewaschen. Wie taufte man euch, ihr schmucken Oreaden dieses Tals?«

»Hanna«, sprach die eine; »Ilse«, die andere, die Schönere und Schlankere.

»So hast du Teufelskind wohl gar die Hexenilse gespielt, deine Gevatterin vorgestellt und unchristliches Unheil angerichtet?« antwortete er im verstellten Zorn.

Die Dirnen erblickten jetzt erst den armen Romantiker im Gras, der sich von ihnen abzuwenden suchte; durch ihre gebräunten Wangen wurde dennoch eine schnelle Röte sichtbar, sie tauschten mit den schwarzen Augen einige schelmische Blicke, und ohne Antwort eilten beide verstohlen lachend weiter.

»Das bleibt eine mysteriöse Begebenheit!« schüttelte der Namenlose den Kopf; unser Freund aber begann trotz der goldenen Sonnenstrahlen, in denen er ruhte, mit den Zähnen zu klappern, und sein Atem flog fieberhaft, so daß die Besorgnis um ihn das Abenteuer nebst den schelmischen Dirnen und ihren frischen Beeren in den Hintergrund drückte. Auf den Rat des Langen führten wir unseren Kranken bis zum nächsten Gebäude, einer Blankschmiede, denn die freimütige Ilse fügt sich sittsam der menschlichen Herrschaft und treibt in ihrem Tal und weiter hinunter Papier-, Öl- und Lohmühlen, auch jenseits Ilsenburg einen Kupferhammer und eine stattliche Pulvermühle. Gastliche Menschen empfingen uns, sie gaben gern dem Freund ihre groben Kleider und ihr Bett, wärmten unseren Wein für ihn und sandten eilig einen Boten, um eine Fuhre zu bestellen.

»Schaff den Kahlkopf fort!« flüsterte der Kranke fröstelnd, als ich das schwere Deckbett um ihn stopfte, daß er fast darunter verschwand. »Sahst du seine sprühenden Augen und wie die Hörnchen unter seinem Kappel hervorwuchsen? Es ist mir, als sei er der Blocksbergfürst in eigener Person; er allein ist an dem Unfall schuld, und ich gehe keinen Schritt mehr in seiner Gesellschaft.«

Die fiebernde Rede mehrte mein Bangen um den Lieben, und als ich später mich umsah, den Namenlosen schärfer darauf anzuschauen, wurde mir selbst fast unheimlich zumute; ich fühlte das Ansteckende der Gespensterfurcht, denn der Unbekannte war nirgendwo zu finden, und keiner der Arbeiter wollte wissen, welchen Weg er genommen hatte. Unser Plan, ohne Aufenthalt die Weiterreise zum Brocken anzutreten, wurde unterbrochen, wir mochten den Gefährten nicht zurücklassen, den Troubadour unserer Karawane nicht missen, und beschlossen deshalb nach Ilsenburg zurückzukehren, dort den Tag mit Besichtigung der Eisenhütte, der Walzwerke, der sieben Teiche, der ansehnlichen Drahtfabriken – der größten am Harz – auszufüllen und in der Abendkühle, vom Mondschein beleuchtet, von sicheren Maultieren getragen, nach dem verrufenen Berggipfel zu wallfahrten.

Unsere unvermutete Rückkehr zu den »Roten Forellen« schien die muntere Wirtin besonders zu erfreuen, und sie erkundigte sich sorglich bei mir nach dem eisernen Gedächtniskreuz auf dem Ilsenstein. Ich erfuhr dann, daß auch sie als junges Mädchen unter den Auserwählten gewesen sei, die auf des Grafen Befehl am Weihetag das Denkmal bekränzen durften, und sie erwähnte ein Heiligtum, das sie als Andenken für ihre Kinder bewahre. Nach langen Bitten holte sie den Schatz und sah sich um nach uneingeweihten Zuschauern, ehe sie öffnete. Es war ein Schächtelchen, und in Baumwolle verpackt, die mich ein Cadeau von Gold und Edelsteinen vermuten ließ, fand sich – ein grünes Seidenband mit Inschrift und Datum. Die erwählten Jungfrauen hatten es am Busen getragen.

Von dieser Kindlichkeit gerührt, nahm ich den Augenblick wahr, wo ein Hausgeschäft sie abrief, und schob eine Waterloo-Medaille, die ich zu Goslar der bettelnden, zudringlichen Witwe eines Legionärs abgekauft, und ein silbernes Schaustück, auf das letzte Lutherfest geprägt, das ich in Hildesheim erhandelt hatte, unter die Baumwolle, denn mir schien, die Dinge gehörten als verwandt zusammen und müßten in dem Schächtelchen vorzüglich gut verwahrt und am besten Ort sich befinden.

Wernigerode

Des Menschen Entschlüsse sind Schaum ohne die Zustimmung der unsichtbaren Mächte, deren Walten man täglich als Zufall zu schelten pflegt. Die Sehnsucht nach dem Hauptziel aller Harzreisen mußte sich fügen, denn einmal fand sich in ganz Ilsenburg kein Packtier mehr, und zum anderen galt unserem Freund Gustav heute das Bett der Wirtin mehr als alle Wunder der Erde, und er schwor hoch und teuer, nimmer das verrufene Tal – weder als Kavallerist noch als Infanterist – wieder zu betreten, und sollte er auch niemals die Heiligtümer der Brockenspitze zu sehen bekommen.

siehe Bildunterschrift

Wernigerode

Der gescheite Gastwirt trat mit seinem Rat dazwischen. Er meinte, es sei da oben eben nicht angenehm, mit einer solchen Masse von Gesellschaften zusammenzutreffen, wie sie heute zu Fuß, auf Wagen und Eselssätteln hinaufgezogen seien; überdies möchten alle diese Herrschaften sich durch die Laune des Berges geärgert finden, denn er habe früh »den Hut aufgesetzt« und »braue« dennoch, was immer schlechte Aussicht verspräche; man könne überdies auf vielen Wegen hinaufspazieren, und er riet uns, augenblicks nach der nahe gelegenen Stadt Wernigerode aufzubrechen, die wir nicht unbesucht lassen dürften. Morgen, versprach er, zeitig den kranken Gefährten auf seinem eigenen Korbwägelchen nachzuspedieren, wo wir alsdann auf der bequemsten, wenn auch längeren Brockenstraße zum Ziel gelangen würden.

Schnelle Entschlüsse sind nirgends so nötig wie auf Reisen. Die Mittagssonne brannte noch tüchtig auf Wangen und Brust, als wir bereits auf dem breiten, bequemen Weg fortwandelten, der dicht an den Kalkbergen hin durch ein Eichenwäldchen und die üppigsten Wiesen beinahe in gerader Linie zu der Residenz der Grafen von Stolberg führt und nur zwei Dörfer berührt: Drübeck am Nonnenbach mit seinem Jungfrauenstift und Altenrode, den Zwillingsbruder vom nahe Darlingerode, mit seinem Kaiserplatz und den Kaisersteinen, einem altertümlichen Denkmal, aus sieben großen, in einen Zirkel gestellten Feldsteinen bestehend, auf dem vielleicht in frühen Tagen ein finsterer Freigraf der gefürchteten Feme heimliche Acht ausgesprochen oder ein Kaiser den Königsstuhl gehalten hat oder vielleicht noch früher die alten Sassen sich zum Feldgericht gesetzt haben mögen. Rethmeiers »Braunschweigisch-Lüneburgische Chronica«, Kap. 15, 16.

Der kleine, mutwillige Franziskus war auf dieser heißen Wanderung von uns allen besonders vergnügt und zufrieden. »Das Schicksal bleibt der erste aller Humoristen, und Saphir selber muß vor ihm die Flagge streichen«, plapperte er beim Marsch. »Mir ist's recht, einmal wieder ein Stadtleben zu kosten mit seinen Equipagen, Militärs, Pflastertretern, Fratzen und Originalen, die Witz ausgeben und sich bewitzeln lassen. Wurde mir doch schon ganz schwül und schläfrig zumute in der gepriesenen, ländlichen Einförmigkeit. Die Gesichter haben da fast alle denselben Schnitt, so eine Medaillenform mit der Umschrift: ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!‹ Und offenherzig gestanden: die Bäume, Steine und Bäche, vor denen ihr die Augen aufreißt, bleiben doch sämtlich Bäume, Steine und Bäche, stehen die einen auch dichter oder einzelner, sind auch diese runder, eckiger, jene steiler und zerfetzter, brausen diese ockergelb, jene klar wie Kristall vor unseren Füßen hin. Ich habe dich längst heimlich bedauert, da du dich als unser Altmeister zum Graphisten unserer Streifzüge hergegeben hast, begreife nicht, woher du trotz unseres reichen Sprachschatzes alle Adjektiva hernehmen willst, deren du bedarfst, und fürchte, du wirst dich zuletzt wie der stolze Rhein im Sand verlieren.«

»Ich hoffe auf billige Kunstrichter, die wie du die Schwierigkeit nicht verkennen und danach die Leistung abwägen«, sagte ich lächelnd.

»Traue nicht«, warnte der Kleine; »gedenke der Höhle des Löwen und der Fußstapfen, welche nur hineinführten. Vestigia terrent! Wer's nur lassen könnte; aber hat man einmal sein Gekritzel gedruckt gesehen, so jucken die Finger, und man brennt, sich diese abermals mit dem schwarzen Höllensaft zu beschmutzen. ›Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortschreitend Böses muß gebären!‹ – Auch ich freue mich deshalb auf die Stadt, weil ich dort einen ruhigen Platz, ein sauberes Tintenfaß und eine wohlgeschnittene Feder zu finden hoffe, um unsere Ilsennovelle in erster Frische niederzuschreiben. Meine Reisebilder werden sich zwar nur wie ein Stern fünfter Größe neben dem Sirius zu jenen verhalten, in denen der berühmte und berüchtigte Heinrich Heine sich und sein famoses wildledernes Beinkleid verewigte; der liebe, böse Heine! Hätte er nichts geschrieben als den kleinen Tambour des kleinen Bonaparte, wer könnte ihm die Ehrensäule verweigern! Aber die Sucht nach den schmutzigen Fingern! – Wäre der lange Namenlose uns nur nicht so verdächtig sans adieu davongegangen, dann würde auch mein Gänsekiel Mut behalten haben, der Pariser Goldfeder nachzueifern. Oh, so ein Fouché, der seinen Fuß in die Schuhe aller Menschen steckte, ist ein glücklicher Mensch! Was er liebt, weiß er durch tausend dienstfertige Nasen und Hände aufzuspüren und herzuschaffen und festzuhalten, solange es ihm gefällt.«

Der Anblick der gräflichen Hauptstadt schnitt die Redseligkeit des kleinen Humoristen in ihrem Faden mitten ab, und obgleich wir es einstimmig für kein großes Erdenglück hielten, ein regierender Herr zu sein, da die Sorgenlast für tausend Fremde durch die Befriedigung, Hunderten wohlzutun, nimmer aufgewogen zu werden vermag – den Besitzer dieser Residenz wagten wir zu beneiden. Die Stadt liegt in einer Bucht, die zu den schönsten des ganzen Harzes gerechnet wird, und ihre bescheidenen Häuser tauchen so einladend und wirtlich aus der lachenden Umgegend hervor, daß man im voraus überzeugt ist, den fünftausend Menschen, die in ihnen ihren Lebenskreis abgeschlossen fanden, könne es nur wohl ergehen. Die fortschreitende allmähliche Abstufung und milde Verschmelzung der Gegenstände dieser Landschaft wirkt höchst wohltuend auf das Auge, das hier auch nicht von einem einzigen schroffen Punkt gestört wird. Die dunklen Schatten der Hochtannen, die den Einschnitt besetzt halten, durch den die Holtemme zur Stadt strömt, gehen fast unbemerkt in die frischeren Laubgewölbe der Buchenbäume hinüber, und diese verlieren sich ebenso weich im niederen Unterbusch, der wiederum in grüne Wiesen verfließt, die in der Nähe der Stadt reichen Kornfluren Platz machen. Wir faßten den Beschluß, ehe wir das Tor berührten, den Verband unserer Karawane für jetzt aufzulösen, den die Pilger befehligenden Scheich seines Ansehens zu entkleiden, die Reisegesetze zu annullieren; teils, damit unser Einzug der städtischen Krittelsucht keine Nahrung gäbe, teils, um jedem Geschmack volle Freiheit zu gönnen und abends das Gefundene wechselseitig in größerer Mannigfaltigkeit austauschen zu können.

Der Stadt scheint es nicht an Verkehr zu mangeln; man braut und brennt geistige Getränke, man breitet Tücher und fährt Bauholz aus, man gibt den narkotischen Blättern des Tabaks Beize und Brühe und dörrt die Zichorie, die Verderberin der edlen Mokkabohne. Auch fehlt ihr als Hauptstadt nichts; weder Regierung noch Kammer, weder Konsistorium noch Berg- und Forstamt; und die Kunstliebe der gräflichen Familie, in der die edle Musik besonders hoch geschätzt wird, ruft zum Utile das Dulce.

Der Edelstein des Platzes ist das Schloß, das sich hoch über der Stadt auf den letzten Vorsprüngen des Gebirges erhebt. Die sanft gerundeten Höhen, die es tragen, sind teils mit dem grünen Samt der Kräuter überzogen, deren medizinische Kräfte der mit ihnen handelnde Apotheker zur Goldmacherkunst benutzt, teils mit Holzungen bedeckt, und letztere verwandte man zu einem wohl eingehegten und mit Wild besetzten Tiergarten. Die Stadt dehnt sich mit einer Häuserreihe dicht zu dem Fuß des Schloßbergs aus und kreist fast seine Vorderseite ein, als wünsche sie so nahe wie möglich bei denen zu sein, auf die sie der Himmel als ihre Beschirmer und Wohltäter verwiesen hat. Das Schloß selbst mit seinen niedriger liegenden Ökonomiehäusern und drei Türmchen – von denen aber bei der Ansicht vom Tiergarten hinauf die beiden seitwärts gestellten verschwinden und nur die Spitze des kleinsten, eigentlichen Schloßturms sichtbar bleibt – ist ein stattliches und guterhaltenes Gebäude, und seine Ersteigung, die ein warmes Halbstündchen kostet, aber auf einer fahrbaren, mit ansehnlichen Bäumen besetzten Schlangenstraße geschieht, belohnt sich reichlich durch die überraschende Aussicht. Sowohl der Rückblick über den Harz hin auf den freiliegenden Brocken oder auf die jenseitigen Höhen, die eine Scheidewand zwischen dem Zilbach und der Holtemme bilden, an welch letzterer das nette Friedrichstal liegt – eine jetzt gerade hundertjährige Kolonie, die sich recht friedlich in die Berge schiebt –, wie auch andererseits in die flache, fleißig angebaute Ebene bis gen Halberstadt hinab, gäbe eine der unerschöpflichsten Fundgruben für den Pinsel eines Landschaftsmalers.

Im Schloß ist der Speisesaal bemerkenswert durch eine vollständige Bildergalerie des gräflich Stolbergschen Geschlechts, desgleichen eine Wasserleitung, die in einem irdenen Röhrenzug das Quellwasser des Harzes auf einem meilenlangen Weg zum Schloß führt; auch sind zwei niedliche Lusthäuser im Tiergarten einen Besuch wert; so auch der Denkstein eines Glücksschusses, durch den ein Graf einen wütenden Hirsch vom Schloßfenster herab erlegte, der eine Gräfin mit todesgefährlicher Galanterie bedrängte. Im Lustgarten, der den Fuß des Schloßbergs schmückt, trifft man außerdem ein ansehnliches Gebäude, das eine an 4000 Bände starke Bibliothek voller Seltenheiten und ein reichhaltiges Naturalienkabinett einschließt. –

Die Geschlechter derer zu Wernigerode und zu Stolberg gehören zu den ältesten von Norddeutschland; die Chronisten gedenken ihrer schon unter den Vierherren und den zwölf Gutmännern oder Gaugrafen des viergespaltenen Sachsenvolks, und Eginhart erwähnt beide Namen unter den Harzgrafen, die als Kampfgefährten des tapferen Wittekind mit Karl des Großen Hilfe die sorbischen Wenden an der Saale und an der Elbe in einer grimmigen Schlacht besiegten, die dem wendischen Kriegsfürsten Miloduch das Leben kostete und in der auch ein Junker von Ballenstedt – Waldemar, Borings Sohn – einen frühen Heldentod gefunden hat. Als Harzgrafen werden aufgeführt: Wernigerode, Blankenburg, Arnstein, Mansfeld, Wipper, Stolberg, Hohenstein und Lutterberg. Unter den sächsischen Edlen, die bei der Wahl zu Vierherren beachtet wurden, findet man die Namen Anhalt, Ballenstedt, Gibichenstein, Homburg, Katlenburg, Quedlinburg, Ringelheim, Winzenburg. – Rethmeiers »Braunschweigisch-Lüneburgische Chronica«, Kap. 44.

In den Harzkriegen klingt der Name derer von Wernigerode ebenfalls, doch trifft man sie meistens auf der fremdländischen Seite. Im Jahre 1199 erstürmte ein Hermann von Wernigerode als Kriegsobrist des schwäbischen Philipp die Feste Lichtenberg und befreite Goslar von einer Hungersnot, durch die Kaiser Otto IV. die Reichsbürger zu zähmen gedachte, und derselbe Graf Hermann schlug sechs Jahre später eine Belagerung des Herzogs Wilhelm, Bruder des Kaisers, tapfer ab. Ein Heinrich von Wernigerode machte um 1283 Herzog Heinrich dem Wunderlichen von Grubenhagen viel zu schaffen und verbrannte ihm im Verein mit dem Reinsteiner Heinrich das Kloster Stederburg; 1367 nahm Herzog Otto der Quade den Wernigeroder Grafen die Harzburg durch den Verrat eines tückischen Knechtes und gab sie Ritter Hansen von Schwichelt zu eigen; dagegen zog 1400 ein Heinrich von Wernigerode als wohlerprobter Kriegsmann unter des Braunschweigers Bernhard Fahnen gegen das bischöfliche Banner von Hildesheim. Bemerkenswert erscheint aber vor allem das Schicksal eines Grafen Dietrich als Exempel vorzeitiger Sitte und Rechtsverhandlung. Der Vorfall begab sich in den späteren Jahren des rüstigen und kriegslustigen Herzogs an der Leine, Otto, den seine zahllosen Widersacher den Quaden oder Bösen schimpften.

Der gealterte Herr, des unruhigen Lebens satt, hatte sich die Stadt Hardessen (Hardegsen) zur Residenz ausgebaut und fest gemacht; und froh seines Friedenquartiers, veranlaßte er die Erzbischöfe, Bischöfe, Fürsten und Edlen der nachbarlichen Lande, einen Verein zu schließen, einen allgemeinen Landfrieden zu beschwören, die Plackereien und Raubzüge auf gemeiner Straße zu verbieten, und zwar bei der schimpflichen Strafe des Strangs, denn es klang damals im Volkslied eben nicht sauber:

Reiten und Rauben ist keine Schand,
Das tun die besten Hofleut' im Braunschweiger Land.

In dieser Zeit wohnte auf Wernigerode ein Graf Dietrich, heftigen Gemüts und schlaglustiger Faust, und dieser ließ sich verleiten – vom Teufel, sagt die Chronik –, dem von Regenstein ohne Warnung sein Haus zu überfallen und auszuplündern. Der Landfriedensbund forderte den Täter in das freie Feldgericht und legte den Rechtsspruch in die Hände dreier Bündnispartner: des Magdeburger Erzbischofs, des Herzogs Otto an der Leine und eines Grafen von Hohnstein. Furchtlos erschien der Wernigeroder Graf am Tage Maria Magdalena anno 1390 vor den Richtern, hörte die Klage des Regensteiners und leugnete den Frevel nicht, vielleicht im Wahn, edle Herren würden mit ihresgleichen nicht eben hart verfahren. Doch kaum war der Spruch verlesen, so traf das breite Schwert des Beisitzers Hans von Bleicherode das verurteilte Haupt; man schleifte den Gestürzten zu einem Baum und hängte ihn mit dem Zügel seines eigenen Streitrosses auf. Die rauhe Zeit mochte solch rauhe Taten fordern; freuen wir uns, daß sie dahinten liegt; doch bleibt diese Begebenheit eine seltene Erscheinung in einem Säkulum, wo die bevorzugten Stände sich untereinander so leicht nicht übel achteten.

Die nächsten Umgebungen Wernigerodes bieten vieles, was des Beschauens würdig ist. Wünscht man die liebgewonnene Landschaft aus einem anderen Gesichtspunkt und in einen neuen Rahmen gespannt zu betrachten, so muß man nur die nahen Höhen besteigen: den Pavillon, den Blockshornberg oder die gerundete Bergkuppe, welche seltsamerweise die Zwölf Morgen getauft worden ist; von letzterer formt sich durch Stadt und Schloß ein herrliches Proszenium.

Das Dorf Hasserode, ein Wandnachbar des schon berührten Friedenstals, lädt zur Besichtigung seines Farbwerks ein, einer Privatbesitzung, die jedoch den Kobalt aus Siegen bearbeitet, weil der früher in der Domkuhle gefundene, obgleich von schöner Ansicht, zur Blaufarbenbereitung geringe Tüchtigkeit bewies. Unter den weiter verlockenden Promenaden ist zu empfehlen ein Marsch am Zilliger Bach aufwärts durch das schönumlaubte Christianental bis zu den Eisengruben des Hartenbergs und des Büchenbergs. Höchst eigentümlich ist hier die Gewinnung des unerschöpflichen Eisensteins, der in mächtigen Lagern fast zutage steht und aus großen und weiten Gruben, die vulkanischen Kratern gleichen, gewonnen wird, unter denen man mehrere von hundert Fuß Tiefe und sechshundert Fuß Durchmesser antrifft. Alle hohen Schmelzöfen dieser Gegend werden von hier versorgt, wie denn überhaupt das Eisen, dieses Mark der Erde und der getreueste Partner menschlicher Kraft, das vorzüglichste Produkt des gesamten westlichen Unterharzes ausmacht. – Das am Büchenberg gleichfalls gewonnene Braunsteinerz wird besonders nach Petersburg versandt.

Eine zweite Wallfahrt von nicht geringerem Interesse führt uns an den steilen Ufern der Holzemme hinauf durch schwarzen Tannenwald zu einem Klippenkonvolut, die Teufelsburg genannt, von wo aus ein Schauerblick in die Steinerne Renne erlaubt ist, in der der wilde Strom seinen ewigen Kampf mit dem grauen Gestein durchficht und in hundert schäumenden Wasserfällen sich seinen gewonnenen Pfad offenzuhalten weiß. Höher hinauf bis zu dem unheimlichen Versteck, das den Ursprung der Holzemme verbirgt, verwildert die Gegend durch ungeheure Felsblöcke und feuchten Moosgrund dermaßen, daß sie ungangbar wird und den Namen die »Hölle« mit völligem Recht in Anspruch nehmen darf.

Auffallend ist für jeden fremdländischen Reisenden im Harz die Unzahl diabolischer Ortsbenennungen. Man könnte zu dem Glauben verführt werden, die ältesten Bewohner hätten wirklich dem leidigen Höllenherrscher ihre Anbetung gewidmet und dieses finstere Gebirge zum Sitz eines wahrhaften Teufelsdienstes auserwählt. Sie meinten vielleicht, der allgütige Gott lasse seinem Charakter gemäß die Sonne ohnehin scheinen über Gute und Böse, aber mit dem Satanas müsse man sich abfinden und ihm die Krallen streicheln, da ihn das Volk wie einen gestrengen Polizeimeister und immer munteren Steueroffizianten in Sachen des Gewissens auf Erden zu betrachten gewohnt war. –

Als wir uns in der gräflichen Schenke der Vorstadt Nöschenrode, einem Gasthaus, das jedem Gesundbrunnen und Badeort Ehre machen würde, wieder zusammengefunden hatten und der Austausch des vereinzelt oder in Gesellschaft Betrachteten stattfand, zeigte nur unser am spätesten eingetroffener Humorist eine faltige Stirn und ein unbefriedigtes Gesicht. Er meinte, Wernigerode müsse noch bedeutend schöner werden, um schön zu heißen. Übrigens finde sich alles comme chez nous, nur in Aquarell und Miniatur. Kleine Genüsse bezahle man teuer, und die großen habe man gratis wie überall, wo Adams Kinder Handel und Wandel treiben. Auch die hübschen Frauen wüßten die Fremden augenblicks zu erkennen und Angel und Fischkorb zu gebrauchen trotz den Residenzlerinnen. – Bestimmteres wollte der Schelm nicht verraten, doch sein Gesicht trug die Maske eines Triumphators, und er stieg im Zimmer umher mit dem Gang eines Truthahns; wir aber taten ihm nicht den Gefallen, zu fragen, denn wir kannten alle den kleinen, eitlen und mitunter nicht eben gewissenhaften Gecken.

Der Brocken

Ein Meiler dampfte neben uns, und seine schweren Rauchwolken wurden in den Gipfeln der schwarzen Tannen aufgefangen und festgehalten, die ringsum finstere und undurchdringliche Wände bildeten. Wir lagerten am Rumpf eines solchen umgeschlagenen Riesenbaums, der zugleich als Bank und Tafel diente und auf dem unser Führer, ein derber, brauner Hüttenmann, seinen Fouragesack zu unserer Erquickung ausgekramt hatte. Die kalte Küche mundete, der Becher kreiste, und die barfüßigen Kinder des Kohlenbrenners summten um unser Mahl wie ein gieriger Wespenschwarm, mit Hast und wechselseitigem Neid die leckeren Brocken auffangend, die wir ihnen zuwarfen. Freund Ernst, ein Kraftmensch von seltenem Schlage, der zu den Urwäldern und dem Urgebirge wie ein Verwandter paßte, auch den abgekommenen Turnerrock noch trug und trotz seines blatternnarbigen Gesichts, dieser rar gewordenen Schönheit, als Modell eines jugendlichen Herkules hätte stehen können, reichte dem Bergmann den gemeinsamen Pokal, bat aber zugleich um einen echten Harztrinkspruch. Der braune Sohn des Berges besann sich nicht lange:

»Es grüne die Tanne, es blühe das Erz!
Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz!«

So sprach er im harten, scharfen Dialekt und leerte den Becher bis zum Grund.

»Eine Antwort darauf!« rief Franziskus. »Schnell, Troubadour, an dir sind Becher und Wort.«

Der bleiche Gustav schien nicht gelaunt für dergleichen, doch besann er sich und deklamierte nach einer Weile:

»Aus dumpfem Tal steig auf zu Bergesgipfeln,
Die matte Brust in frische Luft getaucht!
Dort lausch den Stimmen in den Eichenwipfeln;
Denn oben durch die Waldeshöhe haucht
Der Geist der Freiheit, und aus Waldesranken
Ersprießen still urkräftige Gedanken.«

»Warum schweigst du, Schwächling, und was starrst du mit gläsernen Augen auf die Straße?« fuhr Ernst unwirsch den Verstummten an. »Ich lasse Julius Mosen die zweite Strophe nicht unterschlagen, ist sie doch wie eigens für ein solches Theatrum gedichtet.« Mit seinem weitschallenden Baß sprach er weiter:

»Und fühlst du schaudernd hier dein inn'res Elend,
Das leere Gaukelspiel der dumpfen Zeit,
Und kommt es über dich mit Ängsten quälend,
Dann gehe mannhaft mit dir selbst in Streit,
Bis du in dir den Geist, der dich bestricket,
Die Lüge, samt der Feigheit hast ersticket.«

Eine feine Kalesche voller Gesellschaft rollte auf der Straße vorüber. »Lauchgrüner Wagen und das Wappen!« rief der kleine Franziskus stutzend. »Es ist die Equipage der Stahlhuts; nun, das fehlte gerade noch!«

Gustav hatte seinen Platz verlassen, er hüstelte und ging zur Köhlerhütte.

»Was ist mit dem Menschen, der in der Stadt der lebensmutigste von uns schien?« fragte ich.

»Ein wundes Gewissen wird unwohl in der gesunden Natur«, entgegnete Ernst mit Härte; »nur im Getümmel der Städte findet es den betäubenden Rausch.«

»Gustav und ein wundes Gewissen?« fragte ich entsetzt.

»Nun, es lastet keine der sieben Todsünden auf ihm«, antwortete der Herkules, »aber er hat unrecht getan, und der versteckte Krebs mußte hier aufbrechen, wo die Geister der urdeutschen Altvorderen in jedem Waldschatten wandeln. Abends spreche ich zu dir davon; doch rede nicht mit ihm. Solche Gesellschaftssünden heilt von innen heraus die eigene, bessere Natur, wenn sie in unseren heillosen Kulturstrudeln nicht gänzlich ausgerottet worden sind.« –

Ein ganzes Heer von Blusenträgern strömte im lauten Jubel die Straße herab. Alle prunkten an Hut oder Kappe mit dem Brockensträußchen, dem zarten Erinnerungszeichen, und sie umringten uns; Bekannte fanden sich; einer lachte über des anderen buntscheckige Ausstaffierung; unser Gespräch wurde dadurch unterbrochen und vergessen. –

Die Straße zum Brocken ist jetzt so bequem, daß selbst ein reicher Podagrist in seiner Staatschaise bis vor das Brockenhaus zu fahren vermag und ohne Beschwerde alle Herrlichkeiten mitgenießen darf, die vordem nur der waghalsigen Jugend sich erschlossen haben. Der Weg von Wernigerode ist der gemächlichste. In seiner Nähe finden sich zwei kontrastierende Sehenswürdigkeiten; einmal die Hohneklippen, ein Zwillingspaar natürlicher Warten, die, aus einzelnen Granitblöcken zusammengeschichtet, sich fünfzig Fuß hoch vom Hohnekopf, dem Nacken des Harzes, erheben. Die Sage schweigt über den Ursprung ihres rätselhaften Namens; die Idee von Hohn, Verhöhnung der Niederungen, scheint mehr in ihm zu schlummern als das Gedächtnis an ein Hünengeschlecht, das man in ihm gesucht hat. Einen freundlichen Gegensatz schenkt das gräfliche Molkenhaus am Ranneckenberg, eine Sennhütte, im Sommer von einer blanken Rinderherde umgeben – eine Schweizer Idylle mitten zwischen nordischem Tannenwald und Klippen.

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Das Brockenhaus

Lichter wird nun der Wald, die Bahn steiler, aber man empfindet an der dünneren Luft die Nähe des Zieles. Da ist plötzlich die Aussicht frei, die langgestreckte Heinrichshöhe erscheint über ihr der Brocken in seiner vollen Majestät, im Bewußtsein seiner eigenen Würde stolz jede äußere Zierde verschmähend und von sich rückend. Kahl und farblos werden die Kuppen rundum, die Vegetation erlischt allmählich, nur die steifen, hartblättrigen Moorbeeren- und Heidelbeersträucher halten stand; der üppige Wald versinkt, kaum hält sich noch eine kränkelnde Weißbirke in einer Steinspalte, und das einzelne knotige Nadelholz, die schwarzwurzelige Kiefer, kriecht zu Zwergen und Krüppeln zusammen – zu einem Sklavengeschlecht, das sich vor den Füßen des furchtbaren Gebieters krümmt und im Sand windet. Der Boden ist teils mit formlosen unzähligen Felsbrocken bedeckt, die aus einem feinen Sand hervorragen, teils mit schwarzgrünen oder falben Moosarten überzogen, welche die schwammigen Brüche und schwarzen Moore verhüllen, die der Unvorsichtige nicht ohne Gefahr betritt.

Besonders gefährlich ist die Heinrichshöhe, wo vormals das Torf stechen im großen betrieben wurde; unbrauchbar für die Schmelzhütten befunden, nutzt man dieses Produkt jetzt nur noch für die nicht fern am gräflichen Jagdhaus Jakobsbruch liegende Glashütte, eine schöne Anlage im Besitz eines Wernigeroder Privatmanns, dazu die einzige im Harz.

Die letzte Anstrengung war gemacht, wir standen oben, tief ergriffen, verstummt durch den ersten Blick, den wir ringsum getan hatten. Warum der Berg Brocken heißt, scheint der erste Anblick zu verkünden; die kahle Fläche von einer deutschen Viertelmeile im Umkreis, überall mit gewaltigen Granittrümmern und Felsbrocken wie besät, spricht selber ihren Namen aus. Der Brocken ist ein Kern des Urgebirges, der als die ungeheuerste Pyramide einst in des Himmels Azur aufstieg; wie hoch, vermag menschliche Phantasie nicht zu messen, sowenig sie wagen möchte, die Grauen und Schrecken der Erdrevolution sich auszumalen, die seine Wolkenspitze brach, zertrümmerte, in ein zerbröckeltes Steinmeer verwandelte und ihre furchtbaren Reste mit ungemessener Gewalt über Wälder und Täler verstreute. Und doch standen wir auf diesem Trümmerfeld noch 3 600 Fuß über der Meeresoberfläche. Ob die Brüche und wüsten Torfmoore, die auf dem Kleinen Brocken – einer Absenkung des Berges nach Norden zu – und auf der Heinrichshöhe sich finden und durch die Schneemassen sich fortbilden, Anteil an seinen Namen haben, mag unerörtert bleiben; unter dem Volk der freien Friesen gab es auch einen Stamm der Brockmänner, die im feuchten Land saßen.

Noch standen wir verstummt; unter uns lagen die Wälder schon im Schleier der Abenddämmerung, hier oben war es noch taghell, obgleich sich die Sonne in einem Wolkenbett ihrem westlichen Tor näherte und nur dann und wann einen glühenden Strahl in den Wald schoß, der gleich einem Blitz ihn zu entzünden schien. Im Osten dagegen brauten weiße Nebel, verdichteten sich von Minute zu Minute und hoben sich aus dem Tannendunkel, um am Berg aufzuklimmen, und ein kalter Wind wurde wach und sauste stoßweise zwischen uns hindurch über das grausig-wüste und freudenleere Brockenfeld. Da zog Franziskus ein Büchelchen aus der Brusttasche – es war der Faust des Dichterkönigs Goethe –, und ihn in der Hand, sprang der Kleine wie ein Besessener auf der weiten Fläche umher.

»›In die Traum- und Zaubersphäre‹,
Rief er, ›sind wir eingegangen!
Schaut die Klippen, die sich bücken,
Und die langen Felsennasen,
Wie sie schnarchen, wie sie blasen! –
Sind das Molche durchs Gesträuche?
Lange Beine, dicke Bäuche,
Und die Wurzeln wie die Schlangen
Winden sich aus Fels und Sande,
Strecken wunderliche Bande,
Uns zu schrecken, uns zu fangen;
Aus belebten derben Masern
Stecken sie Polypenfasern
Nach dem Wandrer. –
Wie rast die Windsbraut durch die Luft,
Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!
Du mußt des Felsens alte Rippen packen,
Sonst stürzt sie dich hinab in dieser Schlünde Gruft. –
Ein Nebel verdichtet die Nacht.
Höre, wie's durch die Wälder kracht,
Aufgescheucht fliegen die Eulen.
Uhu! Schuhu! tönt es näher;
Kauz und Kibitz und der Häher,
Sind sie alle wach geblieben?‹«

Atemlos lehnte er sich an einen der gigantischen Felsblöcke, die wie von Menschenhand aufeinandergelegt, sich oft bis an zehn Fuß hoch aus der welligen Ebene erhoben; doch nach kurzer Pause fuhr er fort: »Was steht ihr und glotzt? Wie? Könnt ihr, prosaisches Volk, euch nicht einmal mit mir in eine Mainacht versetzen? Hört ihr nicht das Sausen in der Luft? Seht ihr nicht die dunklen Kranichzüge vom Wald herauf? Riecht ihr nicht die duftige Salbe, mit der die jungen und alten Damen sich pomadiert haben, um federleicht zu werden, und mit dem Sprüchlein ›Oben hinaus und nirgend an!‹ zum Schornstein hinauszukutschieren! O welch bunte Equipagen!

Es trägt der Besen, es trägt der Stock,
Die Gabel trägt, es trägt der Bock!

Bemerkt ihr nicht die gliedweise aufgepflanzten Besenstiele, die Lanzen der höllischen Nobelgarde?« – Er meinte die an mehreren Orten eingesteckten Stangen, um bei hohem Schnee den Gang zum Brunnen und die Wege zu finden. – »Reißt eure trägen Augenlider weit auf. Dort jener dürre, wüste Platz ist der Hexentanzplatz; flackernde Feuer brennen rings um ihn:

Man tanzt, man schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt;
Man sage mir, wo es was Besseres gibt! –

Die, welche dort den Hopser vortanzt, ist es nicht die Lilith mit den schönen Haaren, die erste Frau des Vaters Adam? Weh! Und dort schleicht das blasse Gretchen mit den roten Blutschnürchen um den weißen Hals! Wendet die Blicke ab und drüben hin; das ist der unschmackhafte Hexenbrunnen, worin die Sultaninnen der Höllenmajestät sich badeten, ehe sie zum berüchtigten Huldigungskuß gelangten; hier – diese Steinmasse ist das Waschbecken für die zarten Hände der Odalisken! Diese zusammengefallenen Trümmer waren der Hexenaltar, auf ihm glühte der Krötenkessel mit der schäumenden Höllenbrühe. Die vielen Opfer, welche der neueste Zeitgeist dem Bösen geschlachtet hat, haben leider das mysteriöse, morsche Steingerüst zusammengedrückt. Und hier dicht neben uns steht die Teufelskanzel, wo die schwarze Majestät die Bulletins ihrer Helden, die Bittschriften ihrer Lieblinge entgegennahm, cäsarische Schlachtreden an sie hielt und Orden, Medaillen und rotglühende Dosen an sie verteilte.

Hier sammelte sich der große Hauf,
Und Herr Urian saß obenauf!«

Franziskus packte die nächsten seiner Gefährten und schien mit ihnen einen Hexentanz um die Kanzel beginnen zu wollen. Da hielt er plötzlich stutzig an, schwieg und ließ die Gesellen, die seine satanische Lust in einem gemeinsamen Hallo, das hier oben, wo es keinen Widerhall gibt und selbst ein Schuß matt ertönt, dumpf und heiser erklang, mit fortgerissen.

Eine fremde Menschengestalt befand sich zwischen uns; wir starrten sie an, denn sie glich in ihrer Unbeweglichkeit der Leiche eines plötzlich Verschiedenen. Näher betrachtet war es ein alter Invalide, der an dem Satansstein sich niedergesetzt hatte. Sein Gesicht war eingefallen, ein weißer Schnauzbart und ein silberfarbenes Haar, das schlicht unter seiner Mondierungskappe hervorhing, gaben ihm etwas Ehrwürdiges, das augenblicks auf die lustigen Brüder einwirkte. Sein Krückstock lag neben ihm, und unter dem blauen, sauberen Überrock streckte er ein hölzernes Stockbein hervor, das von den Opfern, die er seinem Beruf gebracht hatte, schlagend erzählte. Übrigens saß der Alte unbeweglich, als gehöre er zu dem Stein; seine Augen waren glanzlos auf einen fernen Fleck am Himmel gerichtet, er schien nichts von unserem tollen Toben zu vernehmen, und unser Anruf bekam keine Antwort.

Der mutwillige Fränzel wandte sich von ihm ab und baumelte wie abgespannt mit den Armen. »Stört den Alten nicht, er schläft gleich dem Hasen mit offenen Augen. Schade, daß die prosaische Erscheinung uns aus den Rollen geworfen und euch um eine Kapuzinerpredigt gebracht hat, die ich für oben von dem höllischen Katheder euch aufgespart hatte. Ihr und ich, wir sind darum. Trösten wir uns mit dem großen Garrick, dem der Metzgerhund auf der Brüstung des Parterre, dem sein schwitzender Herr die runde Atzel aufgesetzt hatte, eine der schönsten Szenen seines ›Richard‹ verdarb. Dazu pfeift der Wind verdammt eisig auf den warmen Rücken, und ich rate, ins Haus zu treten und Herrn Nese die gebührende Begrüßung zu spenden.«

Der Rat des Kleinen fand Beifall, wir traten zum Haus, doch konnte ich nicht unterlassen, nochmals nach dem sonderbaren wachen Schläfer zurückzublicken. –

Ein guter Wirt lockt die Besucher. Auf dem Brocken geschah es umgekehrt: die vielen Gäste lockten den Wirt hinauf. Vormals befanden sich auf der Heinrichshöhe zwei kleine Gebäude dicht neben der Felsengruppe, die man das Brockentor nennt. Sie waren Überbleibsel der früheren bedeutenden Anstalt zur Torfgräberei, die den Namen Langenwerk getragen hatte, und das eine war für Gäste geöffnet, das andere für die gräfliche Familie eingerichtet. In den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ließ der humane Graf Christian von Stolberg-Wernigerode das jetzige Brockenhaus – ein 130 Fuß langes, 30 Fuß tiefes Gebäude – errichten; sicherlich das höchste Gasthaus im deutschen Lande. Dem Zweck und Ort angemessen, hat es nur ein Stockwerk, das jedoch Wohnung des Wirts, Saal und zehn Fremdenzimmer einschließt und in zwei Nebenhäusern Räume für Ökonomie, Viehstand, Stallung enthält. Mitten aus dem Dach erhob sich ein schornsteinähnlicher, massiver, über 30 Fuß hoher Turm, um für den Beschauer auch die letzten, hindernden Gegenstände wegzuräumen und ihn gleich einem Luftschiffer völlig zu isolieren. Dieser Turm brachte jedoch viel Feuchtigkeit in das Haus, die der kurze Sommer nicht vertrieb, und da 1835 eine kleine Feuersbrunst das südliche Nebenhaus ruinierte, so wurde bei der Herstellung auch der Turm im Haus abgebrochen und eine Strecke davon ein neuer, freistehender Turm von Eichenbalken und Bohlen erbaut. Diese Warte hat ein gefälliges Ansehen, ist einfach und angemessen verziert, vierseitig und, da sie nach oben sich verschmälert, verständig konstruiert, um dem Wetter zu trotzen. Der Eingang der unteren, offenen Halle liegt so wie die Front des Brockenhauses nach Osten; über ihr erheben sich noch zwei Stockwerke, und die freie Galerie über diesen thront 50 Fuß über den Erdboden.

In der Nähe der Gebäude finden sich kleine, mit Steinen eingefriedete Anger, die frisches Futter für die Kühe des Wirts und für die gastierenden Esel liefern, die der vormalige Wirt Gerlach nicht unbeachtet ließ, da sie ihm willkommene Gäste brachten.

Bei der Erforschung dieser Notizen erfuhren wir auch mit freudiger Erregung, daß der 18. Oktober, der Tag der Leipziger Völkerschlacht, auf dem alten Vater Brocken sowohl wie auf mehreren Bergspitzen der Grafschaft Wernigerode noch immer durch nächtliche Freudenfeuer gefeiert wird; »So ist denn im Vaterland doch noch ein Platz, und dazu der würdigste, wo man ein dankbares Gedächtnis hat und es im Volk zu erhalten sucht«, meinte Freund Ernst.

Wer auf dem Brockengipfel nach französischer Pfefferküche und Hamburger Seefischen Verlangen trägt, bleibe in seiner Narrenkappe am eigenen Tische sitzen; es würde den Ort beleidigen, fände man dort etwas anderes als deutsche Hausmannskost; aber diese ist gut und befriedigend. Der Wirt würzte sie mit Gesprächen über seinen Winteraufenthalt, gleich dem Dachs im Schnee vergraben, abgeschnitten von aller Welt wie ein eremitischer Asket, ja zuweilen tagelang gleich dem Polarmenschen ohne Sonne. Wir bewunderten seine freiwillige Entsagung; er erwiderte, der Mensch gewöhne sich an alles, nur habe ihm im letzten Jahr ein Unglücksfall den gewählten Aufenthalt etwas verdüstert.

Die Wintermonate waren bereits überstanden und leidlich gewesen, doch sagten dem Erfahrenen manche Naturanzeigen, der mürrische Alte würde nicht ohne einen Koboldstreich abziehen und ohne nochmals seinen weißen Bart zu schütteln. Die Vorratskammern hatten sich geleert, aus Vorsicht machte darum der Wirt noch einen Marsch in die Täler und kehrte abends mit der schwerbeladenen Hausmagd zurück.

Der Heimweg wurde beschwerlich, denn der Sturm hatte sich aufgemacht, und der Himmel entlud sein schweres Schneegewölk. Glücklich gewinnt man die Brockenhöhe, aber jetzt verschlimmert sich das Wetter bis zur Furchtbarkeit, und der Wirt hat Mühe, das Haus zu erreichen, wo er mit Schrecken die Magd, von der er sich gefolgt glaubt, vermißt. Erschöpft ruft er nach Hilfe, und eine zweite Dienerin eilt entschlossen fort, der befreundeten entgegen. Beide kehren nicht zurück, und man findet die Unglücklichen am Morgen fern vom Haus, beide im Schnee versunken, erstickt und den Tragkorb vom Orkan weit hinabgeschleudert.

»Es waren brave Dirnen«, schloß der Erzähler mit trüber Miene, »denn hier oben kann man nur sittige und wohlerzogene Leute gebrauchen; besonders war die jüngere, die sich den Tod um der Kameradin willen holte, ein hübsches, feines Ding, das einzige Kind eines alten Soldaten und überall gelobt in der Gegend.«

»Das einzige – oh, der Arme!« rief ich aus und faßte nach meinem Herzen. »Doch nicht des Stelzfußes, des weißbärtigen Invaliden?«

»Sie werden ihn am Berg gesehen haben«, bestätigte der Wirt; »seit jenem Unfall lebt er fast nur noch hier oben, und es ist mit seinem Gehirn etwas nicht in Ordnung. Sie war auch Braut, aber der junge Bursche ist aus Verzweiflung ein Trunkenbold geworden.«

»Das ist zu tragisch«, stieß Ernst heraus; »man muß eine Kollekte machen.«

»Lassen Sie das«, widerstrebte der Wirt; »der alte Weißbart ist ein ehrgeiziger Patron, hat auch ein Häuschen unten und zieht englisches Halfpay.« –

»Ist den Herrschaften noch ein Stückchen Sonnenuntergang gefällig, so dürfen Sie keine Zeit verlieren!« rief Christian, der muntere Hausknecht, in das Zimmer, und alle sprangen auf, vergaßen augenblicks, was sie soeben noch tief ergriffen hatte, und in wenigen Minuten standen wir dicht geschart draußen im kalten Abend; aller Augen waren nach Westen gerichtet.

Große Naturszenen malen zu wollen, sei's mit dem Pinsel oder mit Worten, habe ich jederzeit für eine Art Manie gehalten und bin schwer darangegangen, wenn ich mußte. Der Mensch kann nur für fremde Sinne wiedergeben, was er mit eigenen Sinnen auffaßte; die Hauptsache, der heimliche, innerste Eindruck, bleibt Mysterie, bleibt jedes einzelnen unantastbares Besitztum, weil er bei jedwedem anders ist. Ich habe einen Bekannten, der sich nie selbst das Tuch im Kaufladen auswählt, seitdem er sich einmal, willens, ein blaues Kleid zu kaufen, den schreiendsten Scharlach eingehandelt hatte. So ist es sicherlich auch mit solchen Schilderungen.

Der Westen war wolkenfrei, langsam sank die Goldkugel dem Horizont zu und war bemüht, beim Scheiden ihre ganze Glorie und Herrlichkeit zu zeigen; der ganze Vorwald schien in feuriger Lohe aufzugehen, die Bergkuppen flammten und dampften, die Augen ertrugen das nicht lange, und wir wandten uns geblendet nach Osten.

Da fühlte ich Gustavs Hand eingekrallt in meine Schulter. Er hob die andere gegen eine weiße Nebelwand, welche himmelhoch wie ein Vorhang die Gegend abschnitt, und fieberhaft stieß er hervor: »Siehst du, da ist er wieder, der Namenlose! Ich wußte es vorher, daß er uns nachkam! Er wächst zum Riesen, er hebt die Faust, mich zu verderben!«

Ich sah wirklich vor mir, was er aussprach; überrascht, doch lächelnd antwortete ich: »Du hast recht, wir sehen das Brockengespenst. Aber sieh, jetzt wird es zum Riesenzwilling, jetzt zum Drilling, jetzt zur vielköpfigen Hydra. Wir sind es selber, im Zauberspiegel zur Hünengröße unserer Urväter aufgeschossen, und der Riesenarm, der dich bedroht, ist dein eigener.«

»Meine Herren, Sie sind Glückskinder«, klang des Wirtes Stimme hinter uns, »denn das Schauspiel dieser wunderbaren Abspiegelung auf der östlichen Nebelwand ist selten so gefällig, sich den Reisenden zu zeigen, und wir selber bekommen es nur dann und wann zu sehen.«

Die Gefährten klatschten dem Brockengespenst ein Bravo, das jedoch wie von Kindeshänden klang und dem die Erscheinung sofort wie beleidigt entwich.

»Schone mich, denn ich bin krank, recht krank!« flüsterte Gustav beschämt mir zum Ohr. »Ich hätte diese Reise nicht mitmachen sollen, weil eine Ahnung mir lange voraussagte, sie würde mir nichts Gutes bringen, würde neu zerrütten, was ich mühsam hergestellt hatte.«

»Närrischer Mensch«, erwiderte ich, »was lastet denn auf dir so schwer, daß es diese leichte Luft nicht mitnähme?«

»Seelenmord!« sagte er eintönig, und eine kleine, seidene Brieftasche in meine Rechte schiebend, setzte er beklommen hinzu: »Lies das, aber schone mich vor den anderen; du bist, seit ich dich kenne, mir Rat und Richter geworden, ich will büßen durch volle Beichte für die Doppelsünde des Verschweigens.« –

Der letzte unter den Ermüdeten, die frühzeitig das Bett aufgesucht hatten, benutzte ich den einsamen Augenblick, ehe ich mein Licht löschte, Gustavs Schatz zu besichtigen. Das himmelblaue Souvenir enthielt nichts Unvermutetes, einige welke Blumenstengel, ein goldenes Ringelchen, eine blonde Haarlocke und ein Blättchen Seidenpapier mit einer zarten, fast wie gemalten Miniaturschrift, die jedoch sichtlich von einer unsicheren Hand geschrieben worden war. Der Inhalt lautete also: »Wohlverstanden habe ich Ihren kurzen und kalten Brief, mein Herz ist eisig geworden seitdem wie Ihre Worte. Sie sind frei, Gustav; die Fessel, die Sie an mich band, drückte Sie und ist morsch geworden; was bedürfte es darum noch der Freilassung? Ihren Ring erhalten Sie anbei, den meinigen erbitte ich umgehend zurück. Ich zürne Ihnen nicht, aber daß Sie ein kindliches Gemüt, das im Vertrauen auf Gott und auf die Menschen glücklich gewesen ist, um dieses Vertrauen gebracht haben, daß Sie einer Seele, die Sie über alles geliebt hat, jeden Glauben geraubt und sie lebendig getötet haben, das kann Ihnen nur eine höhere Macht vergeben, die den vorsätzlichen Treuebruch strafend zu finden weiß, flüchte er sich in die tiefste Felsschlucht oder auf den Gipfel des höchsten Gebirges. Mir kann ich diese Vergebung für Sie noch nicht abgewinnen, denn ich bin unaussprechlich elend. – Pauline.«

Der Brief ließ wenig zu erraten übrig, er schilderte den Schlußakt eines alltäglichen Dramas unserer Zeit. Er erweckte aber einen besonderen Anteil an der Briefstellerin, verdarb mir die Nacht und trieb mich aus dem Bett, als meine Uhr noch nicht die volle Stunde nach Mitternacht zeigte. Durch das stille Haus wandernd, nahm ich den Mantel des Wirts, trat in die Nacht hinaus und ging zur Vorhalle des Turms, die mir Schutz gegen den kalten westlichen Luftzug versprach.

Welch eine Nacht umfing mich! Ich stand in der Feierstille eines unermeßlichen Tempels, aber nicht auf seinem Marmorboden, sondern mitten in seiner weiten Kuppel glaubte ich zu schweben, denn Sterne umgaben mich überall, Myriaden Sterne glänzten unter meinen Füßen ringsum; gleich ungezählten Hochaltären hoben sich die dunklen Bergspitzen aus dem Kirchenschiff zu mir hinan, und eine kaum merkliche Helligkeit bezeichnete den Quell des Lichtes in Osten. – Mir fielen Burkhardts Verse ein, und ich rezitierte sie laut und mit wahrhaft frommer Empfindung:

»Es grüßt sich leise Tag und Nacht;
Noch ist die Erde nicht erwacht,
Ich kann hier oben ganz allein
Mit euch, ihr großen Berge, sein.
Ich möchte mit euch reden hier,
Ihr Berg' und Firne. Betet ihr? –
Ich möchte mit dir beten gern,
Du feierliches Volk des Herrn!«

Kaum verklang mein letztes Wort, so fühlte ich meine ausgestreckte Hand von einer fremden ergriffen, die kalt war wie die eines Toten, und als ich entsetzt zurückfuhr, sah ich den Invaliden neben mir; hätte ich denselben nicht schon vorhin gesehen, würde ich an eine Geistererscheinung geglaubt haben. Der alte Kriegsmann stand steif und rüstig auf seinem Stelzfuß, völlig so groß wie ich, und seine Augen leuchteten mich an. »Sucht der Herr auch einen Stern, wo ihm was Liebes wohnt, was vor der Zeit von ihm genommen ist?« fragte er mit einer tiefen, milden Stimme.

»Ihr wurdet von einem harten Unglücksfall getroffen«, antwortete ich; »ich weiß davon, aber Ihr seid nicht ohne Leidensgefährten, Vater.«

Das letztere Wort schien ihn zu erschüttern durch und durch, und sein weißer Schnauzbart verzog sich wie im Grimm. »Sie haben gebetet, das habe ich noch von keinem hier oben gehört«, murrte er; »und so mag das Wort hingehen, ich will's nicht für Spott nehmen, obgleich ich's von niemandem dulde, seit sie es nicht mehr spricht zu mir. Wissen Sie, was es heißt, das einzige Kind zu verlieren?« setzte er sanft hinzu.

Es war mir wie ein Schnitt durch das ganze Herz, ich drückte seine Hand und sagte mit Hast: »Ich weiß, Alter!«

»Aber das wissen Sie nicht, wie sie war«, fiel er mit Heftigkeit ein. »Es gibt viele Kinder, die ihre Eltern ehren und die Liebe ihrer Eltern verdienen. Aber wer kann sagen, er habe nie einen Verdruß, nie einen Gram von seinem Kind gehabt? Ich konnte es; ich war ein hochmütiger Vater deshalb, und Hochmut kommt vor dem Fall. Mein Kind war hübsch, aber frommer als hübsch, besser als hübsch; es war ein Kind nach dem Willen Gottes, jedermanns Freude; wo sie hinging, kam das Glück mit ihr, und sie selbst war so recht was man glücklich nennt.«

»Ein reines Herz trägt die Glückseligkeit in sich gleich einem Amulett. So hat sie lange, schöne Jahre genossen, dir lange Jahre die schönste Freude gegeben, und wurde abgerufen, ehe sie des Lebens Sorge und Qual getroffen haben, die keinem, der geboren wurde, erlassen bleiben!« erwiderte ich bewegt.

»Ich heule ja nicht, ich jammere ja nicht, wenn mir auch niemand mehr die rauhen Backen streichelt, niemand mehr mich den guten Alten nennt, niemand mein müdes Auge zudrücken wird!« sagte er mit schauerlicher Kälte. »Man könnte fragen, warum sich der Tod gerade die Besten, die Glücklichsten aussucht, da so viele Taugenichtse in der Welt laufen; aber ich habe bei Salamanca, bei Waterloo tausend junge Muttersöhne zerrissen von den Eisenkugeln daliegen sehen, die ungern Retirade blasen hörten, und ich frage nicht. Aber wissen Sie, wie es tut, wenn man allein in der Welt ist, ganz allein und dazu im weißen Haar?« –

»Ich weiß!« stieß ich hervor und quetschte seine dürre Hand. Er sah mich verwundert an, schwieg eine Weile und fragte dann heimlich: »So stiegen Sie auch wohl auf den Berg, um Ihren Stern zu suchen?«

»Was meint Ihr mit dem Stern, Alter?« entgegnete ich.

»Auf den Sternen wohnen die Seligen«, flüsterte er mit Scheu; »aber der Sterne sind gar viele Tausende, und die meisten Menschen wissen nicht, wo ihre Lieben hingekommen sind, und vergessen sie darum so leicht. Aber mein Kind hat seinem alten Vater selbst gezeigt, wo man ihm die neue Wohnung angewiesen hat, eben in derselben Stunde, wo das Unglück geschah und ich unten am Fenster stand und nach dem Wetter ausschaute. Erkennen Sie den großen, schönen Stern dort, wo die Sonne steht, wenn es Mittag ist? Gleich wird er untergehen. Der Stern leuchtete ganz allein in mein Fenster in jener schweren Stunde, und er wurde mit einem Mal groß und klar wie ein Mond, und mein liebes Kind stand mitten in ihm und winkte mir, wie es immer tat, wenn es drunten in der Haustür von mir Abschied nahm. Darum lebe ich hier oben, solange die Nächte hell sind, und bin hier lieber als selbst auf dem Kirchhof, wo sie mein Kind hingelegt und ihm ein schönes Lied gesungen haben vom: ›Wie sie so sanft ruhn! Denn meine Tochter liebte die frommen Lieder. Aber dort liegt nur ihr Leib, hier sehe ich sie selbst auf dem Stern und rede mit ihr manche lange Nacht hindurch. Es stört ihre Seligkeit, weil sie mich so betrübt sieht, ich erkenne es an ihrer traurigen Miene, aber ich kann doch nicht anders, und mein einziger Trost bleibt, daß es mit dem weißen Kopf nicht mehr lange dauern kann, und dann werden wir beide zusammen wieder das alte Glück zu finden wissen.«

Ich lag wie auf der Folter, ich sah meinen Doppelgänger neben mir, schaudernd fühlte ich die Ansteckung, die sich von dem Greis mir mitteilte in dem Gewirr meiner Gedanken, dem Brennen meines Gehirns, dem ungeregelten Klopfen meines Herzens; und ich schaute sehnsüchtig nach dem immer größer werdenden Lichtreifen im Osten und horchte auf das Geräusch, das im nahen Haus wach zu werden schien.

»Man könnte viele Warum in solch einer Nacht hinaufrufen zu dem, der die schönen Sterne kommandiert«, sprach der Invalide tiefsinnig fort, »aber ich habe sie längst allesamt in die Kasematten geschickt; nur eines frage ich zuweilen: Warum gerade mich das Schrecklichste traf und warum gegen allen Weltlauf ich nicht voranmarschieren durfte?«

»So fragen alle Unglücklichen«, sagte ich zerstreut, »und mit welchem Schmerz würde dich dein Kind begraben haben?«

Er stutzte und sann nach; man rief meinen Namen, und eilig drückte er mir die Hand und sprach lebhafter: »Der Herr soll Dank haben; von heute an frage ich auch das nicht mehr, und möge der Herr bald den Stern herausfinden, wo sein Liebstes hingegangen ist.«

Er verschwand in der Düsterkeit der Halle, ich hörte seinen Stelzfuß auf der Treppe und eilte beklommen an den schmerzlichsten Erinnerungen, an den kaum verharschten Wunden meiner Seele vorbei, den Gefährten entgegen, und ihre Fröhlichkeit blieb mir lange widerwärtig, obgleich die Dämmerung ihnen meinen Zustand verbarg und mir Zeit zur Fassung gewährte. –

Der heißeste Wunsch jedes Brockengastes bleibt die Gunst, einem klaren Sonnenaufgang zuschauen zu dürfen. Hunderte steigen getäuscht bergab, denn den meisten fehlen Zeit und Geduld, um die gute Laune der Natur auf der Bergspitze abzuwarten, wo die Zerstreuungen der Geselligkeit mangeln. Auch wir standen oben im Turm und blickten uns anfangs verdutzt an, bis Herr Nese tröstete und meinte, er würde ohne Tadel uns dreifache Zeche ansetzen dürfen, denn es sei kaum passiert, daß dieselben Gäste die drei größten Schauspiele seines Berges während eines so kurzen Aufenthalts genossen hätten.

Die Sterne waren erloschen, und statt ihrer überzog ein dünner Dunstflor den ganzen Himmel; unter uns aber schien sich ein gärendes Meer zu wälzen, steigend und sinkend, bald glatt und still, gleich einem Silbersee, bald hochgetürmt, durcheinanderstürzend, brandend gleich dem Ozean, wenn ein Orkan ihn peitscht. Herr Nese kannte sein Theater und befahl Geduld. Wie gelbe Flammen schoß es jetzt auf im Osten, das herrlichste Rot überzog den Horizont, und die glühenden Fingerspitzen der Eos streckten sich zuckend hoch am Himmelsgewölbe hinauf, als wollten sie die Siegesbahn freimachen und reinigen, auf welcher der Sonnengott, der Lebenswecker, heranzog. Er kam; der Dunstschleier verschwand wie durch einen Zauberschlag, und der Feuerball war da, ehe man ihn erwartet hatte.

Die Aussicht, Umsicht, Fernsicht – ich weiß nicht, welches Wort ich dafür wählen soll –, die man vom Brocken hat, ist einzig, aber ich zweifle, daß sie irgend jemanden wirklich befriedigte. So lange, als die steigende Sonne die leichteren Nebel aufküßt, die schwereren aufrollt und vor sich hinwälzt, wodurch eine neue Landschaft nach der anderen sich uns enthüllt und wir wie vor einem großen Bilderbuch sitzen, dessen Blätter im Royalfolio eine unsichtbare Hand nach und nach aufschlägt, weilt das Wohlgefallen in uns, die Neugier steigt, solange ein Fleckchen des weiten Kreises noch seines Schleiers nicht beraubt wurde. Hat aber die Sonne alle Nebel aufgesogen oder geschmolzen, und stieg sie zu einer Höhe, auf der sie den ganzen Gesichtskreis erleuchtet, so sinkt das Vergnügen allmählich. Das Panorama ist zu groß, das Proszenium zu breit, dadurch wird das Auge überladen, ermüdet in Überreizung, und die fernen Hauptpunkte verfließen in Undeutlichkeit. Als stünde man auf einem schwimmenden Eiland, mitten im Luftraum, übersieht man in einer geringen Zirkelbewegung achtzehn Meilen Landes; es ziehen an dem Blick vorüber Braunschweig, Hildesheim, Hannover, der Klütberg bei Hameln, der vordem das Fort George trug – ein Meisterwerk der Kriegsbaukunst, das französischer Mutwille in die Luft sprengte –; die Wilhelmshöhe bei Kassel, die Wartburg, das Schloß zu Gotha folgen; Erfurts Domtürme, Weimars Ettersberg, der Petersberg bei Halle, Kothen, Nordhausen, Magdeburg, Halberstadt müssen die Musterung dulden, und das Fernrohr erlaubt den Asmodi-Blick in zahllose andere Ortschaften, die nächstliegenden nicht einmal mitgerechnet. Ein ganz eigener, wunderbarer Eindruck ist dieser großen Umsicht nicht abzuleugnen; wir verweilten recht lange bei ihr, und jeder suchte sich Lieblingsgegenden aus, mit denen eine süße Erinnerung verknüpft worden ist.

Als wir endlich herunterstiegen, trafen wir den alten Invaliden in einem Turmwinkel schlafend. Er hatte sich in seinen grauen Soldatenmantel gewickelt, und unser Lärm, da wir im Halbdunkel an ihm vorbeigestürmt waren, hatte seinen tiefen Schlummer nicht gestört. Mich freute die Ehrerbietung, mit der auch die lautesten Gesellen an ihm vorüberschlichen, und ich flüsterte leise: »Möge dir dein unbeflecktes Gewissen oft solchen Schlaf schenken, und mögen schöne Träume deiner Vergangenheit den Schläfer erquicken, bis ihn der lange Schlaf, der hier keinen Morgen hat, erlösen darf. Solchem Verlust gegenüber ist das Leben ein Bettler und hat mit all seinen gepriesenen Schätzen keinen Ersatz!« –

Unter den noch nicht erwähnten Sehenswürdigkeiten des Brockens verdient das Magdbett noch eine Erwähnung, eine ausgehöhlte Mulde von sechzehn Fuß Länge. Die Sage spricht, eine fromme Magd habe einst auf der Burg eines wüsten Ritters gelebt, der sie aus einer Fehde heimgebracht, da er die kleine Waise an der Brust ihrer zertretenen Mutter auf dem Blutfeld gefunden hatte. Doch der Säugling wuchs zur reizenden Jungfrau im Dienst der Edelfrau, die ihr die Mutter ersetzte, und entzündete die unreinen Sinne des Herrn, der ihr des Leibes Leben gerettet hatte, um ihre Seele zu verderben. Mutig entfloh die Magd der Burg, gehetzt gleich einem scheuen Reh von den Verfolgern durchirrte sie die Wildnis, bis sie todesmatt die Wüste des Brockenfeldes erreichte und die Jäger des Burgherrn jede Spur verloren und die fruchtlose Hatz aufgeben mußten. Aber nicht allein die sündige Begier, sondern auch die bangende Liebe suchte nach ihr. Ein junger Knappe durchstrich jedes Dickicht, forschte in jeder Talschlucht, durchwatete Waldbruch und Moor, um die Verschwundene zu finden. Da lockte ihn eine nie gesehene Lichtsäule abends zum Ziel; in dem steinernen Bett fand er sie auf krausem Moospfuhl, anzuschauen wie ein liebliches, schlafendes Kind, und Strahlengarben schienen rundum aus dem Boden aufzusteigen und beleuchteten die Schlummernde. Aber die Jungfrau erwachte nicht mehr, und die weinende Liebe begrub sie da, wo sie von ihr gefunden wurde. So klingt die Sage vom »Bett der Magd«.

Ebenfalls muß man nicht unbesucht das Schneeloch lassen, eine mehrere hundert Fuß lange Steinspalte von grauenhaftem Ansehen, die nördlich von Ilsenburg sich vorfindet und auch im Sommer ein natürlicher Eiskeller bleibt. Ein Dutzend der Harzflüsse nehmen am Brocken ihren Ursprung, und eine reine Quelle entspringt außerdem dicht unter seinem Gipfel.

Die Abschiedsstunde rief; jeder pflückte sich ein Brockensträußchen, in dem die weiße, farblose Anemone sich mit dem Hexenkraut und dem Sonnentau, dem Wollgras und dem Alpenhabichtskraut vermählte und starre Heidelbeerbüsche den Platz der Myrte vertraten. Auch einige Stücke Schwefelkies und Violenstein, dem ein feines Flechtenmoos den Veilchenduft gibt, steckten wir ein und schieden. – Wertvolle Erze und Metalladern hegt der Brocken nicht; er ist nur der uneigennützige Wächter der naheliegenden Schätze und steckte nichts für sich ein.

Der letzte Rückblick zeigte uns noch unseren Invaliden im vollen Sonnenlicht. Er stand oben auf dem Turm, der Wind spielte mit den weißen Haaren des entblößten Greisenhauptes und ließ seinen Mantel wallen in der Luft. Ich gedachte der Ossianischen Heldengestalten, Fingals, wie er um Komala, die schöne Tochter Sarnos, klagt auf einsamem Hügel.

»Sie werden auf der Heide dich suchen,
Aber nimmer dich finden!
Du wirst zu ihren Träumen kommen
Und Frieden ihrer Seele bringen.
Deine Stimme wird in ihrem Ohr weilen,
Und sie denken mit Freude
An die Träume ihrer Ruhe.
Sehet! Strahlen wallen
Um das Mädchen her;
Ein Mondstrahl hebt ihre Seele!«


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