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Das Tal der Bode

Der Weg vom Brocken hinab nach der Bergstadt Elbingerode berührt Schierke und Elend. Die Bode, einer der bedeutendsten Harzflüsse, welche durch diese Orte fließt, ist ein Zwilling oder – wenn man will – ein Vierling. Am Kleinen Brocken entspringt die Kalte Bode; wie das Milde zum Starken eint bei Königshof sich mit ihr die Warme Bode, wohl so genannt, weil sie selten zufriert; auch sie nimmt ihren Ursprung nicht fern von ersterer, doch tiefer am Sandbrink, nicht weit vom herrlichen Wurmberg über Braunlage, dessen Schiefer sie besprengt und wo sie von den schwammigen Wurzelgeflechten des rotbraunen Torfs in hohen Ufern festgehalten und zu sanfter Strömung gezwungen wird. Später kommt vom Benneckenstein die Rapphode hinzu, zuletzt bei Treseburg die südliche kurze Lupbode, und die vereinten Schwestern, hochmütig auf ihren Bund, lassen sich von da die Große Bode schelten, bis ihren Namen samt ihrer Größe die mächtige Saale verschlingt.

Schierke, dadurch ausgezeichnet, daß es das höchste Dorf im Gebirge ist, gibt durch seinen Hochofen einigen hundert Hüttenleuten und Holzhauern Erwerb, die sich am Abhang neben der Kalten Bode bescheidene Hütten gebaut haben. Auch hier fehlt es nicht an jenen abenteuerlichen Felsgestalten, woran der Harz so reich ist.

Ehe man nach Schierke kommt, trifft man auf die Feuersteinklippen, die Ruinen des gigantischen Außenwerks der Brockenburg, und gerade dem Wirtshaus von Schierke gegenüber stutzt man über zwei noch ansehnlichere Steingebilde, die »Schnarcher« genannt, die an 80 Fuß aufsteigen und an die grandiosen Denkmäler aus der Zeit der römischen Herrschaft erinnern, wobei die horizontale Aufschichtung der Granitplatten die Täuschung vermehrt. Getreue Abbildungen der Schnarcher und eines originellen Steinbruchs bei den Feuersteinklippen finden sich in von Prebras »Erfahrungen vom Innern der Gebirge«, 1785. In früheren Jahren mußte man den Anblick der Schnarcher mit Schweiß und Mühsal bezahlen; ein Führer brachte auf rauher Bahn den Neugierigen in die Mitte des dichten Waldes, wo von hohen Tannen umdrängt und im Wind geschlagen plötzlich gleich schreckenden Gespenstern diese grauen Massen vor dem Pilger auftauchten. Nachdem der Wald abgeholzt wurde, stehen sie jetzt kahl und traurig da, von Moos und Grashalmen bewachsen und der Vernichtung langsam preisgegeben, weniger besucht, weil man sie von fern beschauen kann und keine Mühe den närrischen Menschensinn verlockt; auch schnarchen sie nicht mehr, weil der Windstoß nicht mehr taktmäßig das wüste Tannengezweig gegen die Granitblöcke wirft. Die Sucht, sich alles bequem zu machen, die räumende Hand der Kultur wird wie überall auch im Harz viel Romantisches verwischen, kann man doch sogar auf festgeklammerten Leitern den einen dieser Schnarcher besteigen und die Ziffern Zachs und Schröders aufsuchen, womit jene Stellen bezeichnet wurden, an denen diese Klippen ähnliche Einwirkungen auf die Magnetnadel äußern, wie sie der Ilsenstein darbietet. –

Jetzt ist der Fußweg über Schierke herab nicht mehr unbequem, und bei Elend trifft man auf eine neue Chaussee, die von Clausthal nach Elbingerode gezogen wurde. Einst aber war diese Gegend eine der verrufensten am Harz, kaum irgendwo der Wald so rauh und undurchdringlich. Elend, wo man jetzt einen Frischhammer, eine Mühle und ein Forsthaus findet, war ein ärmlicher Fleck, von Köhlern bewohnt, und über ihm hing auf steilen, klüftigen Felsen ein Raubnest, dem keiner sich zu nähern wagte, der etwas zu verlieren hatte, und das den Namen Elendsburg zu Recht trug, weil die Söhne seiner Höhlen Jammer und Elend brachten, wo immer sie erschienen sind. Wer ein lebendiges Bild dieser Gegend wünscht, wie sie gewesen ist, der lese den »Herrn Gevatter« unseres Bechstein; wir würden zuviel wagen, unterstünden wir uns, dem geübten Volkserzähler das Volksmärchen von dem Köhler und seinem Gevatter Tod nachzusingen. »Novellen und Phantasieblüten« von Ludwig Bechstein, II, Leipzig 1835.

Indem wir über dergleichen Waldabenteuer schwatzten, berührte uns ein Schatten jener Tage, um unserer Phantasie nachzuhelfen. Zwei stämmige Kerle, nacktarmig, dräuende Keulenknittel über die Schulter gelegt, auf denen ihre bestaubten Röcke hingen, und von einem Paar zottiger Hatzhunde begleitet, holten uns ein. Jeder von ihnen hatte ein Geringel von tüchtigen Stricken am Hals hängen, und Schlachtmesser und Schärfstahl baumelten am Gurt. Es waren Landschlachter, und sie erboten sich, uns einen näheren Fußsteig zu führen.

»Und was gewännen wir dadurch?« entgegnete der kleine Franziskus, indem er die muskulösen Guiden von der Seite anschielte. »Rauhe Baumwurzeln würden sich für ein Viertelstündchen Kürze an unserem Fußwerk bezahlt machen, und höchstens bekämen wir eine meckernde Ziegenherde nebst einigen kleinen Hirtinnen im paradiesischen Kostüm mehr zu sehen. Die gerade Straße ist nicht immer die beste.«

»Wir sind zu sechst, die Burschen können keine böse Absicht haben, sie müßten denn eine Rotte Kollegen hier versteckt wissen«, flüsterte mir Ernst zu. »Sieh nur, zu welch höhnischen Mienen die Kerle ihre gelben Abällinosmasken verziehen und unsere Furcht ohne Hehl frech zu verlachen scheinen. Willst du mit, so lassen wir die anderen; und gibt's ein italienisches Waldstückchen im deutschen Harz, so gewinnt die Landschaft eine Staffage à la Salvatore Rosa; wir schlagen uns schon heraus und haben dann einen Triumph voraus.«

»Kinderstimme ist Gottes Stimme«, lachte ich; »der Franziskus ist der Jüngste von uns. Wir wollen das Schicksal nicht herausfordern.«

Die unsauberen Burschen verschwanden im Busch, ihre geifernden Hatzhunde schnoberten noch einmal durch unsere Gesellschaft und folgten dann den verdächtigen Herren.

Sowie man Elend im Rücken hat, führt die den Wanderer begleitende Bode, als wenn sie die Annehmlichkeit des Wechsels für das menschliche Gemüt erfahren hätte, ihn aus finsterer Wildnis plötzlich in eine milde Gegend zwischen sanft gerundete Hügel, grünende Wiesen und fruchtbare Felder, die Flachs und Getreide tragen, wo man Gemüse zieht und auch die Spätkirsche reift, so daß man verführt wird, sich durch ein Oberonsflugwerk augenblicks aus dem Harzgebirge wider Willen entführt zu wähnen. Menschlicher Betrieb und Kunstfleiß, der uns umdrängt, unterstützen den Traum. Zuerst stößt man auf das Hüttenwerk Mandelholz, bald darauf erscheint die Neue Hütte, und eine halbe Stunde später hat man die Prachtgebäude der Roten Hütte zur Seite. Einem fürstlichen Wohnsitz und nicht einer Werkstätte für die Bearbeitung des unedlen Metalls glaubt man zu begegnen, so großartig ist der seit 1819 begonnene Neubau mit seinen ausgedehnten Baulichkeiten, Türmen, schön stilisierter Arkade von acht dorischen Säulen aus Gußeisen und seinen Gartenanlagen, in denen man die großen Hochöfen und die Gießerei antrifft, deren geschmackvolle Gußwaren von Jahr zu Jahr immer mehr Liebhaber finden, so daß einige Kaufläden in der Residenz Hannover ihre geschmackvollen und unzerbrechlichen Kunstprodukte dem Publikum zur bequemen Auswahl darbieten. Eine Eisenbrücke, welche hier über die Bode führt, ist gleichsam das Aushängeschild der Anstalt, das Metall aber, das man verarbeitet, kommt aus den reichen, nahegelegenen Eisengruben, die wir schon in einem früheren Abschnitt beschrieben haben. Die Bergstadt Elbingerode mit ihren geregelten Straßen empfing uns wirtlich, und der Blaue Engel breitete seine Azurflügel über die Ermatteten aus. Der kleine Franziskus hatte bisher unseren Gustav nicht von sich gelassen; bei dem Gewirr der Einquartierung bekam ich hier die gesuchte Gelegenheit, ihm sein Brieftäschchen wieder zuzustecken. Er nahm es mit verlegener Miene, und ich las in seinen Augen eine Art von Reue. Trotzdem tröstete ich ihn mit Herzlichkeit: »Wer ist ohne Schuld unter uns? Der gebrechliche Mensch bleibt ein Sklave des Augenblicks; wer jedoch sich selbst und seinem Gott die Sünde zu gestehen Mut besitzt, ist, wenn auch ein Gefallener, auf dem Wege zur Sühnung! Darum ermanne dich, vergiß die verlorene Vergangenheit und hoffe!« – Er drückte meine Hand, aber antwortete nicht.

Unser frugales Nachtmahl sollte zwiefach gestört werden. Zuerst unterbrach es der Jammer einer ältlichen und ärmlichen Frau, die im Gasthaus gearbeitet hatte und nach ihren Kindern schrie, die sie zu Verwandten über Land geschickt hatte und die trotz der anbrechenden Nacht noch nicht heimgekehrt waren. »Der Mann ohne Kopf, der Müller von Hilkenbrede, wird ihnen begegnet sein und hat Böses über sie gebracht!« winselte sie, und weder unsere Zusprache noch das Gelächter der Mamsells vom Haus vermochten sie zu beruhigen. Was es mit diesem bekannten gespenstischen Acephalus, dem Schrecken des Volkes in dieser Gegend, für eine Bewandtnis habe, konnten wir aber ungeachtet aller Nachforschung nicht erfahren; nur ein alter Schichtmeister wunderte sich, daß wir nicht wüßten, wie jedwede im Leben versteckt gebliebene Mordtat also nach dem Tod bestraft würde.

Kaum hatte man die Mutter mit männlicher Begleitung ihren Küchlein entgegengeschickt, so nahm eine materiellere Szene uns in Anspruch. Zwei junge Männer erfüllten den Vorplatz mit ungestümem, fremdländischem Geschrei. Hätte ihre Sprache sie nicht als bekannte Insulaner verraten, ihre langschleppigen Oberröcke, die in den Nacken gedrückten Hüte, die schmalen Figuren, die versteinerten Gesichtszüge, das Steife und Gespreizte ihrer Bewegungen würden ihr Heimatland verkündet haben. Gewohnt, viele ihresgleichen in der Vaterstadt zu sehen, achteten wir ihrer kaum, bis sie das ganze Haus in Alarm gebracht hatten, den Wirt in unserem Speisesaal aufsuchten und der größte derselben mit vorgequollenen Blauaugen und gesträubtem Rothaar durch sein Zorngeschrei nach Sheriff, Friedensrichter, Konstablers, Mayor, Clerks und Aldermans ihn um die Tafel trieb, wobei er mit seinem dünnen Stecken eben nicht höflich die Luft durchfocht. Der Kleinere, ein blasses, bartloses Bürschchen mit schweißbedecktem, vor Schrecken zerstörtem Gesicht, hatte sich indes auf einen Stuhl geworfen und sprach nach kurzer Weile der vor ihm stehenden Schüssel nebst Flasche und dem berühmten Elbingeroder Käse tüchtig zu, ohne Frage von seiner oder Einladung von unserer Seite, und überließ seinem Kompagnon nach englischer Sitte ohne Unterbrechung das Wort.

Der Wirt, halb zornig, halb durch die fremde Sprache eingeschüchtert, die scheuen und doch neugierigen, den fremdländischen Achill, der ihrem Troja Verheerung drohte, anstaunenden Mädchen, die getreuen Knechte, zum Beistand ihres Herrn eindringend und mit geballter Faust nur sein Kommando erwartend, und der herkulische Ernst, der gerade das Fenster öffnete, vollendeten ein höchst komisches Bild, würdig eines Rambergschen Pinsels, dem noch niemand in seinen kleinen Genrebildern den Rang abzulaufen vermochte. Durch unseren Dolmetscher kam endlich ans Licht, daß die beiden Herren im Wald beraubt worden waren; ein Hirtenjunge, der sie geführt habe, beim Erscheinen der wilden Straßenräuber sich samt ihres eleganten Reisesacks, den sie ihm aufgebürdet hatten, davongemacht, und man habe ihnen Uhren und Börsen abgenommen. Nach ihrer Beschreibung waren die Waldmenschen riesige, blutbefleckte Ungeheuer gewesen, die ihnen obendrein gezähmte Wölfe auf den Hals gehetzt hätten. Der Rotkopf verlangte ohne Aufschub ein Aufgebot der Bürgerschaft in Masse, um eine Treibjagd anzustellen – das Aufsitzen einer Schwadron Landdragoner dazu –, und drohte bei jeder Säumnis mit schwerer Ahndung der Regierung seines Königs.

Freund Franziskus umflog sogleich die Tafel und insinuierte uns allen die juristische Vorsicht, nichts von unserer Begegnung jener Verdächtigen verlauten zu lassen, um nicht als Zeugen belästigt und aufgehalten zu werden, und wir fügten uns seinem Rat, denn die beiden Herren hatten sich auf dem Brocken gar zu vornehm und scharf von uns entfernt gehalten und waren vor uns ohne Abschied abmarschiert.

Als sie der Wirt zum Amtshaus spediert hatte, murrte jedoch Ernst: »Was sagst du jetzt? Sollte man der inneren Stimme nicht überall gehorsam sein? Wären wir dem Gaunerpaar unerschrocken gefolgt, so säßen die armen fremden Schelme nicht in solcher Verlegenheit.«

»Oder wir teilten ihr Elend«, entgegnete Franziskus, »und hätten wie fahrende Schüler auf dem Heimgang an den Bauerntüren fechten müssen und dann freilich zu sprechen vermocht: Cantat vacuus coram latrone viator!« –

Das Amt Elbingerode, zwei Quadratmeilen Landes, früher im Besitz mehrerer Harzgrafen, zuletzt stolbergisch, kam 1653 durch Kauf des Herzogs Christian Ludwig an Braunschweig-Lüneburg, und zwar für die mäßige Summe von 25 000 Talern. In seiner Nähe stand einst am Rabenstein ein Jagdhaus, auf dem Kaiser Heinrich III. verschied, doch jenes Jagdhaus zugleich mit einem nahen Dorf ist spurlos verschwunden.

Eine interessante, nicht so bekannte Begebenheit knüpft sich an die Stadt Elbingerode selbst. Frankreich mischte sich von jeher gern in den deutschen Haushalt, und die diplomatische Geschicklichkeit seiner Staatsmänner wirkte oft mit Glück auf die deutsche Kaiserwahl. Auch während der tödlichen Krankheit Karls VII. aus bayerischem Fürstenstamm und Frankreichs Alliierten suchten die französischen Gesandten durch feine Machinationen die künftige Kaiserwahl auf einen Freund, und zwar auf einen Prinzen des sächsischen Hauses, zu lenken. Ungeachtet des Kriegszustands zwischen Frankreich und Hannover, ungeachtet der tapfere König Georg II. von England ein Jahr zuvor den ruhmvollen Sieg bei Dettingen erfochten hatte, wagte der Marschall Duc de Belle-Isle im Dezember 1744 auf seiner Reise nach Berlin in Elbingerode Nachtquartier zu machen, vielleicht sich auf sein Gefolge von zwanzig Personen verlassend. Der dortige hannoversche Amtmann Johann Herrmann Meyer übertraf jedoch den französischen Herzog an Kühnheit, ergriff den kostbaren Augenblick, achtete nicht den berühmten Namen und das zahlreiche Geleit, sondern ließ den Marschall im Posthaus verhaften und nach der sicheren Stadt Osterode bringen. Der Monarch billigte und belohnte das gelungene Wagestück, man führte den Herzog unter starker Bedeckung nach der Festung Stade, und auf englischen Kriegsschiffen machte er die unwillkommene Fahrt nach London. Franz I. von Österreich bestieg den deutschen Kaiserstuhl; welchen geheimen Einfluß die Gefangennahme des fremden Agenten jedoch bei dieser Wahl gehabt hat, verbleibt natürlich im Feld wahrscheinlicher Mutmaßung. –

Zwischen kahlen Bergen wandernd näherten wir uns wieder der Bode, die hier schon mächtiger auftritt, da die beiden ältesten Schwestern bereits ihre Vereinigung vollzogen haben. Bis in dieses wüste, einförmige Tal, das von Porphyrlagen gefüllt ist und, wenn wir nicht irren, der »Wolfsgrund« heißt, sollen die Heuschreckenwolken des grausamen Hunnenstammes vorgedrungen sein; kurz vorher, ehe sie Otto I. auf dem Lechfeld vernichtete.

Man zeigt dem Fremden mehrere kleine Höhlen, die den geflüchteten Einwohnern der Gegend als verborgene Schutzwinkel vor der tierischen Grausamkeit des Feindes gedient haben sollen und die der Landmann unter dem Namen Zwerglöcher mit scheuer Ehrfurcht betrachtet, denn der Glaube an ein kleines Gnomenvolk, das einst im Harz gewohnt und geherrscht habe, ist noch nicht ganz ausgerottet. Diese Zwerge waren meist von gutmütiger Art, beschenkten diejenigen die ihnen freundlich zugetan waren, warnten in Gefahr; und wenn die Bäuerin Kindstaufe halten oder ein Fest geben wollte, so klopfte sie am Zwergstein und borgte von den willfährigen Zwergen Feierkleider, blankes Kochgeschirr und Hausgerät, mußte es nach dem Gebrauch jedoch treulich wieder an das Zwergloch bringen, und zwar mit irdischer Kost gefüllt, welche die unsichtbaren Näscher nicht verschmähten. Später muß jedoch die Natur dieser Gnomen ausgeartet sein, denn sie wurden boshaft, tückisch und diebisch, beraubten die Bäckerläden, ernteten auf den Feldern, wo sie nicht gesät hatten, stahlen sogar Säuglinge aus den Wiegen und legten Wechselbälge hinein.

Das Landvolk half sich mit einem klug ersonnenen Mittel. Wo man sie witterte, schlug man mit Ruten durch die Luft; traf man glücklich die Nebelkappen der kleinen Ruhestörer, so standen diese sichtbar da und wurden gleich im Abendflug niedergeschlagenen Fledermäusen wehrlos eingefangen und eingesperrt. Bald wurden dieser kleinen Arrestanten gar viele, und es mochten wohl einige Vornehme des Zwergenvölkleins darunter sein, denn die Dörfler sahen einstmals in der Dämmerung eine förmliche Ambassade der Lilliputer unter ihrer Linde erscheinen, die gewaltig über den Undank des Menschengeschlechts klagten, die Auslieferung ihrer kleinen Vettern verlangten, dafür jedoch den Abzug aus dem Gebirge versprachen. Der Kontrakt wurde abgeschlossen, und die Zwerge hielten ehrlich ihr Wort, erfüllten sogar die geforderte Bedingung, für jeden Auswanderer ein Geldstück als Abzugszoll in ein neben eine schmale Brücke gestelltes Gefäß zu werfen. Eine ganze Nacht hindurch hörte man das Getrappel der kleinen Stiefel auf der Brücke und das Klingen der Münzen, die das Faß bis zum Rand füllten. Sie zogen nach Morgen auf Quedlinburg zu, kamen nie wieder, und nur wenige Marodeure zeigten sich seitdem zuweilen im Harz, doch als artige, dienstbare Burg- oder Hausgeister.

Die Zwerghöhlen oder Kröppellöcher finden sich an vielen Stellen im Gebirge, so bei Walkenried, Nordheim, auch bei Halberstadt und Magdeburg. –

Dem Rohbach folgend, der acht Mühlen treibt, kommt man nach dem braunschweigischen Hüttenort Rübeland, und die vielfachen Verzierungen der Gebäude verraten, daß auch hier mit den Öfen eine Gießerei jener feinen Eisenwaren verbunden ist, die der Bürger gern auf Tafel und Spiegeltisch stellt, da er sie in Silber nicht bezahlen kann. Gegossene Eisenziegel decken sogar die Werksgebäude. Umgewandelt findet hier der staunende Wanderer das Bodetal; ist es der Einfluß der hinzugekommenen Warmen Bode? Die Natur hat nichts von ihrer Kühnheit und freien Würde aufgegeben, aber der schön gruppierte Tannenwuchs an den schlank aufsteigenden Wänden, die kräuterreichen Grenzhügel, die sanft geschlängelte Bode, durch zwei Brücken gangbar und gesellig geworden – all das gibt dem Platz eine Anmut und Behaglichkeit, daß man nicht umhin kann, dem gewagten Vergleich mit den Herrlichkeiten des Plauischen Grundes bei Dresden, den mehrere Reisende ausgesprochen haben, beizupflichten.

Die Trümmer des Raubschlosses Birkenfeld, das über Rübeland hing, sind unbedeutend; dagegen besitzt es zwei Schatzkammern, die sicherlich eine größere Zahl Neugieriger anlocken als das Grüne Gewölbe in Dresden; wir meinen die Baumannshöhle und die Bielshöhle, zwei Stalaktitengrotten, die keiner ihrer Schwestern – selbst jener klassischen auf Antiparos nicht – nachstehen. Die erstere liegt zur Linken der Bode und öffnet sich hoch im Kaltberg, die zweite findet man am rechten Ufer der Bode in der Talwand. Die erstere ist schon mehrere Jahrhunderte bekannt, und ihre Entdeckung kostete dem Finder, einem Bergmann, der sich in ihr verirrte, das Leben; die andere wurde im Jahre 1672 durch einen Waldbrand enthüllt; jene nannte man nach dem unglücklichen Entdecker, diese nach dem Schreckenfelsen, in dem sie verborgen liegt, nach dem Bielstein, vielleicht richtiger Beilstein, denn der Fels soll ein Götzenaltar gewesen sein, auf dem das steinerne Priesterbeil manches Menschenopfer schlachtete.

Beide Höhlen sind eine Art Familiengut und stehen unter der Aufsicht der Nachkommen ihrer Entdecker und Ausbauer. Die Baumannshöhle, deren Eingang von Waldanemonen und der schönen Glockenblume umkränzt erscheint, enthält nur sechs Hauptzimmer, dagegen hat aber ihr Vorsaal eine stolze Höhe von 30 Fuß. Die Bielshöhle hat fünfzehn Gemächer und sogar eine Art zweites Stockwerk. Jene trifft man ganz im Naturzustand und doch gefahrlos, diese ist mehr durch Kunst gereinigt und zugänglich gemacht und erfordert dennoch Vorsicht; in jener ist die Luft kühl, aber erquicklich, in dieser kann die eisige Kälte dem Erhitzten schädlich werden, wenn er unvorsichtig eintritt.

Beide Grotten sind von den Stalaktiten und Stalagmiten des faserigen Kalksinters überfüllt; die feuchte Bildhauerarbeit der Natur dauert ewig fort, und ein Liebhaber dieser Naturspiele kann sich sättigen in kindlicher Ergötzlichkeit, wenn er die nötige Phantasie mitbringt. Vom schwachen Licht der Lampen beleuchtet, die man trägt, erinnert diese unterirdische Welt unwillkürlich an die arabischen Verwünschungsgeschichten aus Tausendundeine Nacht; man meint sich von einer Spukgesellschaft umgeben, welche innen lebt und außen schläft, und besteigt der Führer seine Kanzel und läßt seine Deklamatorstimme durch diese Schauerklüfte erschallen, zündet er sein Feuerwerk an und blenden die roten und blauen Flammen das Auge; ja beginnt sogar ein verborgener Chor einen Choral, der wie Stimmen der Unterwelt, durch den großen Meister Mozart heraufbeschworen, vom Boden zur Decke anschwillt, so ist das Feenreich vollkommen da und der Genuß außerordentlich. Unter den Naturspielen wird man der achtfüßigen klingenden Säule, der eingeschleierten Nonne und dem Meer am Boden mit seinen eingefrorenen Wellen den Preis geben müssen. Der Taubstumme, der am Ausgang uns ein Waschbecken reichte, steht in einer herzergreifenden Harmonie mit diesem stillen, unterirdischen Totenreich; innen und wahrhaft tief bewegt wirft man ihm das Geldstück in sein Becken. –

Im eigentlichen Sinne des Wortes lustwandelt man von Rübeland bis zum Dorf Neuwerk in einem Gottespark, den der meisterlichste Kunstgärtner nicht nachzuschaffen vermöchte. Seine schönste Partie bildet

die Marmormühle,

die in vollbewachsene Berggelände eingeschoben, von dem pittoresken Krockstein überragt und dicht hinter einer eleganten Brücke, die von mächtigen Pilaren getragen wird und mit einem geschmackvollen Eisengeländer geziert ist, eher dem Lustschlößchen, wo ein Reicher faulenzt, als einer fleißigen Werkstatt ähnelt. Dieses ganze Gebirgssegment gehört der Kalkformation an und enthält einen trefflichen Marmor – allgemein unter dem Namen Blankenburger Marmor bekannt –, der in großen Blöcken losgeschossen und in der Mühle durch Sägen zerschnitten, geschliffen, poliert und zu Bällen, Dosen, Knöpfen usw. gedrechselt wird. – Ein Braunschweiger namens Delion erbaute 1719 diese Mühle; ein Hofrat Schmidt verbesserte sie, und jetzt ist die ganze Maschinerie neu aus Gußeisen hergestellt. Die Marmorbrüche bei Rübeland liefern den grauen und schwarzen, mit weißen Adern durchschlängelten Stein, weiter hinab im Tal wandelt sich des Marmors Farbe vom Zimtbraunen bis zum Blaßroten mit den schönsten Varietäten in bunter Mooszeichnung und vielfarbigen Bändern.

siehe Bildunterschrift

Die Marmormühle

Der Krockstein, den man mit seinen Zacken, Zinken und Spitzgiebeln für ein Urmodell der gotischen Kirchenarchitektur halten möchte, besteht ganz aus Marmor, und je tiefer dieser liegt, um so größere Farbenschönheit trägt er. Nicht fern von seinem Gipfel erbaute sich ein vormaliger Agent Tübel ein Belvedere; das Häuschen heißt noch das Düvelshäuschen und erlaubt einen Überblick über den ganzen Talgrund. Auch ein Pulverturm ist auf dem Krockstein zu schauen, und zwar ein absonderlicher, denn er ist ganz von Marmor ausgeführt. Ebenfalls birgt dieser merkwürdige Fels eine kleine Stalaktitengrotte, und seine Marmorbrüche wimmeln von Versteinerungen, die durch ihre mannigfaltigen Figuren die Zeichnungen seines Gesteins verschönern.

Überhaupt ist der Harz für den Petrefaktensammler eine unerschöpfliche Fundgrube. Wo nur die geeignete Lagerstätte für diese rätselhaften Seegeschöpfe sich meldet, da sichert sich auch ein reicher Fang von Konchylien aller Art, von Ammoniten, Trochiten, Turbiniten und Ostraziten, von schöngeformten, liliengleichen Enkriniten, von Schraubensteinen und gesternten Korallen, von Fischabdrücken in Schiefer, von blanken Glossopetren und all den übrigen kleinen Raritäten, die wir als Zeugen einer Sündflut heilighalten, und selbst am Fuß des Brockens fehlen sie nicht. Gleich unmündigen Kindern, die auf dem Grab ihrer Großeltern spielen, tobt und tanzt die neue Welt über den zerfetzten und versunkenen Resten einer alten Welt, gedenkt leichtsinnig nicht des hohlen Bodens ihrer Spielplätze, nicht der grollenden Gewalten, die in nächster Stunde alle unsere Herrlichkeiten in ein neues Chaos verwandeln können, um aus ihm nach ihrer Laune ein umgestaltetes, neues Erdenreich aufzubauen.

Den finsteren, freudestörenden Gedanken vertrieb auf der Stelle ein Bild, das als eine niedliche Variation des beliebten »Freut euch des Lebens!« vor uns erschien, indem wir um einen Vorsprung des Gebüsches traten. Ein schlanker, leichtbekleideter Bursche hielt auf seinem nackten Pferd, das dergleichen gewohnt sein mußte, da ihm die Trense lose auf der Mähne lag, und des Burschen beide Hände umfaßten den Nacken einer netten jungen Magd, die vertraulich an dem blanken Leib des wohlgenährten Tieres lehnte. Sobald wir als Störenfriede sichtbar geworden waren, lösten sich die Liebesfesseln; der Reiter trieb sein Roß zur Schwemme in den Fluß, wußte es aber so zu wenden, daß sein eifersüchtiges Auge die Liebste bewachen konnte; die junge Magd trat dagegen zu einem im Gras spielenden Kindlein zurück und sammelte emsig die eßbaren Schwämme in ihren Korb, die der feuchte Anger üppig erzeugt hatte. Die lächelnden Gefährten gingen ohne Schelmwort vorüber, es schien allen leid, so ungebührlich in einen fremden Himmel getappt zu sein, nur der kleine Franziskus sang:

»Der Tag ist untreu, harre sichrer Stunde,
Wo der Verräter schläft, und Liebe wacht!
Da neigt sich's her, da senkt sich Mund zum Munde!
Still ist das Glück und still die Maiennacht!«

Die frischen Wangen der jungen Magd flammten hochrot auf, je tiefer sie sich niederbückte, um ihr Lächeln zu verstecken. Fränzels Lied schien ihr keine Terra incognita. Wir stiegen bei Neuwerk und seinem Hüttenwerk, das schon mehrere Male sein Jubiläum gefeiert hatte, aus dem Bodetal links bergan, verließen die frische Undine aber nur nach einem Gruß auf baldiges Wiedersehen.

Blankenburg

Das Plateau, das wir erstiegen, um über Hüttenrode auf Blankenburg zu wallfahrten, hat den Mineralogen von jeher großes Interesse erweckt. Um die ausgedehnte Kalkformation lagert auch hier der rote Eisenstein in unglaublichen Massen und trat in früherer Zeit als wirklicher Eisenfels ans Licht. Mehrere hundert kleine Schächte, nur leicht ausgebaut und mit einer Haspel über dem Mundloch, öffnen sich nebeneinander besonders im Stahlberg; sie sind Privateigentum der Einwohner von Rübeland, Neuwerk und Hüttenrode; der Besitzer bearbeitet sie selbst mit seinem Knecht, und die Herrschaft bezahlt das Erz fuderweise, doch dirigiert den ganzen Bau ein Geschworener. Das metallische Gestein liegt so dicht unter der Dammerde, daß sich die roten Brocken zwischen buntem Achat und braunem Jaspis überall auf der Fläche verstreut vorfinden. Chlorit in seiner dreifachen Gestaltung, Magneteisen, Manganerz, Quarzkristalle, Zeichenschiefer und Alaunschiefer gesellen sich hier miteinander, und der eifrige Sammler hält reiche Ernte.

siehe Bildunterschrift

Blankenburg vom Heidelberg aus

Zum Dorf Hüttenrode gelangt man nach einem einstündigen Marsch über ein flaches Feld von Wiesen und Äckern; dann ist noch ein steiler Berg zu erklimmen, den jedoch ein schattender, schöner Buchenwald bedeckt, und auf seiner Höhe überrascht den Blick die Stadt Blankenburg, auf die man hinabschaut und gemächlich, in reicher Holzung, zu ihr hinuntersteigt. Bei einer Sägemühle wird der Aufmerksame dann noch durch einen großen Teich gefesselt, den ein weiter Wiesenplatz umgrenzt. Dieser Wasserbehälter ist ein Wohltäter der nahen Stadt, deren Bürger ohne ihn verdursten müßten, denn er sammelt das Wasser der Quellen und führt es in der Beck den Städtern zu. Durch das Neue Tor zogen wir ein, ließen uns jedoch nicht fesseln von dem regen Leben und Treiben, das in einer Stadt auffallend ist, die weder Manufakturen noch Fabriken hat und sich nur vom bürgerlichen Gewerbe ernährt, und verließen sie wieder durch das Lünertor, um in der Schenke Zum Forsthaus eine kurze Erholung für die erlahmten Glieder zu suchen.

Blankenburg ist die Hauptstadt des gleichnamigen Fürstentums und uralt wie sein einfaches Schloß, das auf einem aus dunklem Schiefer steigenden, blanken Kalkfelsen recht trotzig dasteht. Es hatte einst eigene gleichnamige Grafen, dann ererbten es die Reinsteiner, nach deren Aussterben es die Herzöge von Braunschweig als erloschenes Lehen einzogen. Schon im 10. Jahrhundert nach Christus hatte es Kirchen und Mauern; ein Graf Siegfried begleitete den Löwenherzog nach Jerusalem; 1182 belagerte Friedrich Barbarossa die Stadt, nahm und zerstörte sie; im Dreißigjährigen Krieg litt sie durch die fanatischen Reichstruppen; dagegen gab sie im Siebenjährigen Krieg ihrem flüchtigen Fürstenstamm einen sicheren Schutzort, und des blutbefleckten Frankreichs Erbe, Louis XVIII., fand in ihrer deutschen Gastlichkeit einen Trost und in einem schlichten Bürgerhaus, das man noch zeigt, ein Asyl, wo er in gelehrten Studien auf eine Weile die schlimmsten Erinnerungen zu vergessen suchte, bis ihn sein Schicksal weiterriß. 1836 zerstörte im August eine nächtliche Feuersbrunst an 60 Wohnhäuser.

Wahrhaft in fürstlicher Majestät schaut das Schloß von seinem Kalkfelsen hernieder und liegt noch höher als das Wernigeroder. Bis zur Mitte des Steins steigt zu ihm der terrassenförmige Schloßgarten hinan, und in seiner Nähe treibt die schon erwähnte Beck eine Wassermühle, vielleicht die höchste in der Welt, die deshalb der Stadt als Wahrzeichen für reisende Zunftgesellen diente. Der eingezäunte Tiergarten dehnt sich weit bis zur Sägemühle des Schieferbergs hinüber, und zu ihm gehört auf dem nahen Kalvinusberg die kleine Luisenburg, ein achteckiges Lusthäuschen, das erbaut war, um eine noch schönere und freiere Aussicht zu gewinnen. Und die Verführung dazu lag nahe, denn diese Aussicht gibt jener vom Wernigeroder Schloß nichts nach, ja wir möchten ihr den Vorzug an Abwechslung malerischer Gruppierung zugestehen. Wir müssen mit einem früheren Beschreiber übereinstimmen, daß dieser Aufenthalt ganz geeignet ist, ein fürstliches Gemüt, das durch die Wirren des Lebens ermattet, durch die Befeindungen der Nachbarn erbittert und durch Volksundank empört war, hierher floh, sich zu besänftigen und für künftige Tage zu kräftigen.

Das Schloß ist kein altertümliches Gebäude; Feuersbrünste verwüsteten es mehrmals, und bei einer derselben kam eine Gräfin in den Flammen um; der Neubau ist aus dem Jahre 1590. Es umfaßt einen Kaisersaal, einen Audienzsaal und einen Redoutensaal, im letzteren sogar ein Theater, auf dem während der sommerlichen Anwesenheit des regierenden Herzogs von Braunschweig die Schauspieler der Residenz Vorstellungen geben. Außerdem enthält es über hundert Zimmer, sämtlich mit Geschmack und Reichtum dekoriert. Von einer ehemaligen Bildergalerie sind nur noch einige ausgezeichnete Kunstwerke vorhanden; ein Kruzifix, von Michelangelos Meisterhand aus Elfenbein geschnitzt, möchte das seltenste Stück der Schätze sein, die der freundliche Kastellan den Fremden willfährig enthüllt; doch noch seltener erscheint er selbst, indem er jede Erkenntlichkeit für seine Mühewaltung zurückweist. Anbeter der Grillparzerschen Muse können hier die weiße Ahnfrau lebensgroß an der Wand erblicken als Konterfei des bekannten Berliner Schloßgespenstes, dessen Erscheinen immer einen Unglücksfall des preußischen Herrscherstamms vorhersagt. Zu ihr paßt der steinerne Kopf eines Gewappneten, den man als Überbleibsel der ehemaligen Burg in eine Wand eingemauert hat und der einen enthaupteten Grafen von Reinstein darstellen soll. Da es jedoch gegen alle Sitte spricht, einem beschimpften Familienglied solch ein Denkmal zu setzen, so möchten wir dieses steinerne Ritterhaupt für das Abbild jenes feindlichen Wernigeroders halten, dessen tragisches Ende am gehörigen Ort bereits erzählt wurde.

Daß hier die Mutter der großen Kaiserin Maria Theresia, eine Tochter des Herzogs Ludwig Rudolf von Braunschweig, geboren ist, bleibt als historische Notiz interessant.

Leider kamen wir zu spät, um uns an den weit berühmten Blankenburger Kirschen zu erfrischen, und zu früh, um die Früchte der herrlichen Walnußbäume zu kosten, die man hier in auffallender Menge und im üppigsten Wuchs antrifft.

Der Regenstein

»Alles Leben ist Krieg«, sprechen die Naturphilosophen. Der Organismus jedes lebenden Wesens kämpft kürzer oder länger gegen die Außenwelt, gegen Elemente und Mitgeschöpfe einen fruchtlosen Kampf, der früher oder später, zuletzt aber überall, mit dem Erliegen endet. Der Mensch ringt mit dem Brudermenschen um den Platz und die bessere Stellung; Völker streiten mit Nachbarvölkern um den geduldigen Boden und um welthistorisches Übergewicht. So war es immer – nur die Waffen haben sich geändert und sind mannigfaltiger geworden; denn die gewandte Zunge, der armselige Gänsekiel und das geschriebene Recht vertreten in den meisten Fällen jetzt Faust, Keule und Schlachtschwert. Die Gegend, die wir durchwanderten, gibt Zeugnis von dem kriegerischen Charakter der Vorzeit, wo Selbstschutz, Selbstwehr und Selbstwache an der Tagesordnung waren. Jeder erhabene Fels am Unterharz ist ein gehelmtes Haupt, jede Steinplatte eine geharnischte Brust, doch die Mehrzahl hat der Fittich des kapitolinischen Vogels oder des Schwarzkünstlers tückisches Giftpulver entwaffnet und niedergeworfen.

siehe Bildunterschrift

Der Regenstein

Unter allen vormals bewehrten Plätzen des Harzes ragt der Regenstein – oder eigentlich Reinstein – als der Obrist hervor, und als ein unerschrockener Kriegsfürst ist er auch herausgetreten in die Ebene und steht dräuend weit vor den Heeresreihen. Die mächtige Feste, die dieser isolierte, stolze Bergrücken trug, deren Erbauer Kaiser Heinrich der Vogler gewesen ist, hat das Schicksal einer fahrenden Frau gehabt und ist durch viele Hände gegangen. Als Stammhaus der Reinsteiner Grafen fiel sie nach deren Erlöschen an Braunschweig; Wallenstein bekam sie als Geschenk von Österreich, verkaufte sie dem Grafen Merode; Erzherzog Leopold verlieh sie dem Grafen von Tättenbach; Brandenburg nahm sie als Halberstädtisches Lehen in Besitz; Frankreichs Truppen jagten die invalide Besatzung heraus, flüchteten aber vor dem Krückstock des Großen Fritz, und dieser ließ endlich die alte Feste schleifen.

Angezogen von der imposanten Gestalt dieses Sandsteinfelsens, der aus einer wüsten Sandfläche an 250 Fuß hoch sich erhebt, scheuten wir den von unserer Reiseroute ableitenden, halbstündigen Marsch gen Norden nicht, und je näher wir kamen, je mehr wuchs das Gefühl einer düsteren, drückenden Ehrfurcht bei jedem Aufblick.

An der Südseite ist der Reinstein zugänglich, und aus dem jungen Eichenholz, das ihn umgürtet, gelangt man durch ein noch ziemlich erhaltenes Tor zwischen halb zerfallenen Wällen auf den Nacken des gigantischen Torsos, dessen Umfang im Verhältnis seiner Höhe sich ausdehnt. Was zerstörbar gewesen ist von dem Menschenbau, den er trug, ist fortgeschafft, aber die nach dem größten Maßstab in den Felsen selbst ausgearbeiteten Gewölbe, Kammern, Ställe, Keller, Kerker und Verliese spotten, obgleich von Menschenhand und wie mühevoll eingehauen, der Vernichtung durch Menschenhand und werden für immer das Erstaunen der Besucher hervorrufen, obgleich diesem Erstaunen sich unwillkürlich die finstersten Phantasien, die Bilder einer Zeit, wo Gewalttat im Dunkel Mode war, beimischen.

Es war Sonntag, und bunte Gesellschaften aus der Umgegend belebten den Raum. Aus dem Tanzsaal, der ehemaligen Burgkirche, schallte Musik, Gejauchze der flüchtigen Springer und Gelächter der Fröhlichen, und der Schenkmann, der im Sommer in den Steinkammern seine Wohnung nimmt, hatte vollauf zu tun, um jedermann zu befriedigen. »Wandel ist der Erde Los!«

Das tändelnde Getreibe verstimmte uns, und wir suchten den Generalssitz an der Nordseite und schraken zurück bei dem Herabgleiten des Blicks an dieser steilen, völlig senkrecht abgeschnittenen Felswand in die Tiefe. Ich erinnere mich keines Platzes, der so mir die Brust zusammengeschnürt hat, und der blinde Musikant, der nicht fern vom Abgrund seine mißtönende Geige strich und auf den Klang der Kupfermünzen horchte, die in den hingestellten verschabten Hut fielen, erschien mir als ein absichtliches, dem Ort mutwillig angeheftetes Pasquill. Wir konnten nicht heimisch werden auf dem finsteren Fels, besahen nur flüchtig den Brunnen, dessen Tiefe nicht abzunehmen scheint, obgleich jeder Neugierige sie durch Steinwürfe erprobt, und auf dessen Grund das Gespenst eines unglücklichen Selbstmörders nächtlich seine hohlen Seufzer vernehmen läßt. Nicht unbemerkt blieb mir der unheimliche Blick, den unser Gustav in den schwarzen Schlund hinabwarf.

Nicht weit von dem Reinstein sind sehenswert der Osterstein und der wunderbar benannte Luchsternis; jener ein achtzehn Fuß hoher, vierzig Fuß breiter, sichtlich behauener und durchlöcherter Fels – einst vielleicht ein Altar der Ostera, der früh leuchtenden germanischen Aurora –, dieser eine größere, kurios formierte Sandsteinmasse, welche eine Grotte überbaut, die voll buntem Kieselgeröll liegt und für ein Haus der schon erwähnten kleinen Gnomen gilt, die keinen Raub ihres bunten Spielzeugs erlauben, sondern was man fortgetragen hat, verlieren machen und wieder zurückbringen. Wir waren aberwitzig genug, dennoch unsere Taschen zu belasten, auch manche der ausgezeichneten Petrefakten im Stinkmergel und der bunten Chalzedone mitzuschleppen, die am Fuß des Reinsteines und in dem ganzen Bezirk sich in solcher Menge vorfinden, daß die Wahl zur Qual wird. Blitzröhren von bedeutender Dimension, diese seltenen Verglasungen des Kieselsandes durch die Glut eines in die Erde gefahrenen Wetterstrahls, kommen gleichfalls in dieser Sandebene vor.


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