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XII.

Bis zum Tage der Schwurgerichtsverhandlung hatte Frau Helene sich mit ihren ungelösten Qualen hinschleppen müssen ... Keinen Lichtstrahl hatte sie mehr erspähen können, der das tiefe Dunkel, das ihres Mannes unfaßbare seelische Verwandlung überlagerte, auch nur um ein Geringes erhellt hätte.

Und nun war sie verdammt, die Zuschauerin der großen juristischen Haupt- und Staatsaktion zu spielen, die, sie fühlte es, über die Zukunft ihrer Ehe, über ihr und ihres Gatten ganzes künftiges Leben entscheiden würde ... Sie hatte sich dem Kreise ihrer näheren Bekannten ferngehalten und auf der letzten Sitzreihe zwischen lauter Damen und Herren der Gesellschaft Platz genommen, die sie größtenteils nur von Namen oder überhaupt nicht kannte. Ungestört hatte sie so der Verhandlung folgen können, die sich, ganz der Voraussage ihres Mannes entsprechend, durch Stunden hingeschleppt hatte, ohne gegen die schöne Angeklagte dort hinterm Eisengitter irgendwelche ernsthaften Belastungsmomente zu bringen.

Ihr Fall schien ja restlos aufgeklärt ... Diese widerwärtige rothaarige Person, diese Krölke, hatte die ganze Denunziation – zwar nicht etwa aus den Fingern gesogen – aber nachempfunden, nacherfunden ... Seitdem das bewußte Kapitel 74 aus dem »Bund mit den Höllengeistern« vorgelesen worden war, fiel der letzte Schatten von Unklarheit ... Nun war's bis in den letzten Winkel aufgehellt, das übel duftende Seelenleben der Denunziantin: ihr war sogar die Quelle ihrer Erfindung nachgewiesen ...

Da war die jähe Wendung gekommen: der wild hinausgeschriene Protest der Krölke ... und seine unmittelbaren Folgewirkungen ...

Nein: also das stimmte nun nicht mehr – mit fast unzweifelhafter Bestimmtheit hatte die Vernehmung des Verlegers und des Kolporteurs des Schundromans dies eine aufgehellt: jene »literarische« Vorlage konnte unmöglich die unmittelbare Quelle gewesen sein ...

Und Frau Helenes bis zum Zerspringen geladene Brust hatte schon diese erste Wendung mit einem Aufschluchzen der Entspannung begrüßt ...

Aber dann hatte sich's alsbald herausgestellt: die Entlastung, welche diese Entdeckung für die Zeugin Krölke bedeutete, war doch nur eine scheinbare gewesen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß sie die Vorlage für ihre Beschuldigung in früheren Teilen des Romans gefunden haben könne, die ihr zur Zeit der Erstattung der Anzeige unzweifelhaft, ja zugestandenermaßen bekannt gewesen waren ...

Aber durch diese Wendung war das scharfsinnige Denken des Vertreters der Anklagebehörde in eine neue Richtung gelenkt worden – und jenes Frage- und Antwortspiel hatte sich angesponnen, in dessen Verlaufe der Assessor plötzlich an den Verleger des Romans die Zumutung gestellt hatte: den Verfasser zu nennen.

Und nach etlichem Drehen und Wenden hatte der Schundverschleißer sich entschließen müssen, mit dem Namen »seines« Autors herauszurücken:

Karl Nathusius – –

Da hatte Frau Helene einen Stich ins Herz gefühlt ... sie hatte sich gewaltsam bezwingen müssen, um nicht laut aufzuschreien ...

Und in derselben Sekunde war es ihrem hellseherischen Ahnungsvermögen völlig klar gewesen: jetzt – jetzt kam's – die Erleuchtung – die Erlösung ...

»Höllengeister« – Gustav – der Detektiv – die Stelle jenes Briefes, in der von »dem geheimnisvollen Korrespondenten der Frau Geheimrat Mengershausen« die Rede gewesen war – und nun – Nathusius ... das wirbelte und brodelte zunächst noch völlig zusammenhangslos durch das Hirn der fiebernden Zuhörerin, während sie an ihrem Platze, vorgebeugten Oberleibes, stieren Auges den Fortgang der tragischen Entwicklung verfolgte.

Und dann war die verhängnisvolle Frage an die Angeklagte gekommen: ob sie Karl Nathusius kenne?!

Und blitzartig schoß da die Erkenntnis durch Helenes Hirn:

Das ist's! das ist die Lösung – sie hat ihn gekannt ... von ihm ... von ihm stammt – irgendwie – der teuflische Plan ...

Und – Gustav?!!

Frau Helene hatte nicht Zeit, den Zusammenhang Nathusius – Susanne – Gustav irgendwie durchzudenken – bebend vor Empörung mußte sie mit anhören, wie die Angeklagte sich zunächst hinter die Auffassung verschanzte, als sei sie nur nach der Bekanntschaft mit des Herrn Nathusius Schriften gefragt ...

Und schon kam die entscheidende Frage: haben Sie Karl Nathusius einmal persönlich kennen gelernt?

Und ohne Wimperzucken verneinte Frau Susanne ...

Helene wußte, was nun kommen mußte ... Und es kam ...

Der Staatsanwalt fragte die Angeklagte, ob sie denn wenigstens mit Herrn Nathusius ... korrespondiert habe?!

Und ohne eine Sekunde Zauderns kam abermals das klare, feste Nein ...

Da war es aufgeschwollen in Helenes Brust – aller Haß, alle Qual der entsetzlichen zwei Monate – und derer, die vorausgegangen waren, seit dieser Dämon da in ihres Herzens Heiligtum hineingegriffen – das alles hatte sich zusammengeballt, sich entladen in dem irren Schrei:

»Das lügt sie –!!«

*

Schon in derselben Sekunde, als dies Wort sich aus ihren Tiefen losgerungen, wußte Helene, daß sie etwas Entsetzliches getan – etwas nicht wieder Gutzumachendes.

Sie sah die Angeklagte, sah den Gatten zusammenzucken wie von rächendem Blitz getroffen ... sah, wie aus der ganzen Weite des Saales alle Köpfe zu ihr herumfuhren, viele hundert Augenpaare sie suchten, fanden, aufspießten ... Ihr schwindelte ... ihre runden Hände krampften sich in das Geländer der vorderen Bank –

Und schon scholl durch das starre Schweigen, das den Saal überlagerte, die erzene Stimme des Vorsitzenden:

»Treten Sie vor – die Dame, die da gerufen hat ...«

Mit wankenden Knien schickte Helene sich an, dem Geheiß des Verhandlungsleiters zu folgen. Vor ihren taumelnden Schritten öffnete sich eine Gasse, quer durch den Zuschauerraum, als wiche die Menge vor einer Pestkranken zurück.

Im selben Augenblick erhob sich der Verteidiger. Kalkweißen Gesichts. Mit bebenden Fingern drückte er das seidenbesetzte schwarze Barett aufs Haupt und sagte mit geborstener Stimme:

»Ich ... lege die Verteidigung ... der Angeklagten ... nieder.«

Mit äußerster Anspannung stieg Gustav Herold, die Aktenmappe unterm Arm, die zwei Stufen der niedern Empore herab, auf welcher der Tisch für die Anwälte aufgebaut war, und schritt auf die Zeugenbank zu, welche sich an der Brüstung des Zuschauerraums hinzog. Dabei begegneten seine Schritte dem Vortreten seiner Frau ... Die Gatten starrten einander an, als hätten sie sich nie gesehen – seien einander völlig fremd ...

Frau Helene schleppte sich weiter, dem Zeugentische zu. Rechtsanwalt Herold aber setzte sich stumm auf die Zeugenbank, nahm das Barett ab, wischte sich mit einer unbewußten Bewegung die hellen Tropfen von der Stirn und sah bewegungslos, blicklos gradaus.

Der Vorsitzende hatte mit den Beisitzern ein paar Worte gewechselt. Nun setzte auch er das Barett auf und sagte:

»Nachdem der Rechtsbeistand der Angeklagten die Verteidigung niedergelegt hat, bleibt dem Gerichte nichts anders übrig, als wegen Mangels der gesetzlich notwendigen Verteidigung die Verhandlung bis auf weiteres zu vertagen.«

Da klang aus dem Zuschauerraum eine energische Stimme:

»Herr Vorsitzender, ich stelle mich als Offizialverteidiger zur Verfügung.«

Das war der Justizrat Bogdanski.

Der Vorsitzende sah erstaunt zu dem wohlbekannten Anwalt und Strafsachenspezialisten hinüber.

»Darf ich noch zu einer persönlichen Bemerkung ums Wort bitten, Herr Vorsitzender?«

»Bitte.«

»Es liegt mir fern,« sagte Herr Bogdanski, »mich irgendwie aufdrängen zu wollen – das habe ich bekanntlich nicht nötig. Ich melde mich nur im Interesse aller Beteiligten, vor allem der Angeklagten selbst. Ich betrachte dies Anerbieten als eine Gefälligkeit und als Opfer meinerseits und halte es nur aufrecht, wenn es als solches allseitig anerkannt wird.«

»Diese Erklärung kann ich im Namen des Gerichts ohne weiteres abgeben,« sagte der Vorsitzende sehr höflich. »Es ist im Interesse des Geschäftsganges selbstverständlich höchst erwünscht, wenn der Zufall, der es einem unserer berufensten Strafverteidiger ermöglicht, die so unvermutet entstandene Lücke im Verfahren auszufüllen, allseitig akzeptiert werden könnte.«

Der Staatsanwalt sagte: »Meinerseits besteht kein Bedenken – auch die Staatsanwaltschaft begrüßt das Anerbieten des Herrn Justizrat Bogdanski mit Dank.«

»Und die Angeklagte?« fragte der Vorsitzende.

Susanne Mengershausen schaute quer durch die Breite des Saales zu dem berühmten Strafverteidiger, der zum Kreise der persönlichen Freunde ihres Hauses gehört hatte, hinüber mit einem Blick, einem leichten verbindlichen Kopfneigen, als begrüße sie ihn bei einem ihrer Empfänge.

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Justizrat,« sagte sie mit Anspannung, doch völlig beherrscht, »daß Sie sich meiner annehmen wollen – in einem Augenblick, wo ich ganz unerwarteterweise nicht nur meinen Beschützer verliere, sondern auch einen plötzlichen Angriff erfahre – dessen Motive ich allerdings zu verstehen glaube.«

Und dabei flog ein Blick zu Frau Helene Herold hinüber – ein Blick voll ironischer Überlegenheit – ein Blick, wie ihn eine Frau im Wettkampf um den Mann wohl der Besiegten, der gedemütigten Nebenbuhlerin zuwerfen mochte ...

Und durch Gustav Herolds dumpf schmerzendes Hirn schoß da der Gedanke: ist's möglich – soweit hat diese Teufelin sich in der Gewalt? so kann sie blicken, so harmlos überlegen – in einem Augenblick, da ihr grauenvolles Geschick schon so gut wie entschieden ist?!

Justizrat Bogdanski hatte inzwischen dem Gerichtsdiener den Schlüssel zu seinem Robenschrank übergeben. Er war aus dem Zuschauerraum an den Gerichtstisch herangetreten, hatte um einen Augenblick Pause und um Überlassung der Gerichtsakten gebeten. Nun saß er am Verteidigertisch, durchblätterte, durchflog mit dem sichren Blick der Routine das mächtige Aktenbündel.

Nach wenigen Minuten war der Gerichtsdiener mit Barett und Robe des Anwalts zurück, und Herr Bogdanski, angetan mit den Abzeichen seines Berufs, verneigte sich gegen Richter und Geschworene zum Zeichen seiner Bereitschaft. Mit seiner neuen Klientin hatte er kein Wort gewechselt.

Der Vorsitzende, der inzwischen mit Beisitzern und Staatsanwalt eine kurze Beratung gepflogen hatte, erklärte die Sitzung für wieder eröffnet und begann:

»Herr Rechtsanwalt Herold – das Gericht ist der Auffassung, daß es sich benötigen könnte, Sie als Zeugen in der schwebenden Strafsache zu vernehmen. Es ersucht Sie also, sich in das Zeugenzimmer zu begeben.«

Gustav Herold verneigte sich stumm, totenblassen, doch beherrschten Angesichts, und verließ den Sitzungssaal.

»Treten Sie vor!« sagte nun der Vorsitzende zu Helene Herold, die während der Pause fast regungslos, scheinbar von niemandem beachtet, doch das Ziel aller Augen und Operngläser, inmitten des freien Raumes zwischen Richtertisch und Zeugenbank gestanden hatte. Und mit tief gesenktem Haupte trat die unglückselige Frau an den Zeugentisch. Auf ihrem offenen Gesichte stand die Erkenntnis geschrieben: daß es um ihr Glück, um ihr Leben ging.

»Sie sind die Ehefrau des bisherigen Verteidigers der Angeklagten, nicht wahr?« begann der Vorsitzende in mildem Tone, irgendwie gefesselt und gerührt durch den Ausdruck echten Seelenleids, bebender Angst, überzeugender Wahrhaftigkeit in dem zuckenden Gesichte der lieblichen blonden Frau. Helene bejahte mit stummem Kopfneigen und beantwortete dann fast tonlos die weiteren Personalfragen.

»Auf Grund Ihrer Äußerung, die Angeklagte spreche nicht die Wahrheit, hat das Gericht Ihre Vernehmung als Zeugin beschlossen. Was wissen Sie zur Sache auszusagen?«

Helene stand in tiefer Verwirrung, wußte nicht, wo beginnen.

Der Vorsitzende half ihr den Anfang finden. Durch seine Fragen bekam er stückweise heraus, daß das Ehepaar Herold mit Geheimrat Mengershausen und seiner Frau in nahem gesellschaftlichen und befreundeten Verkehr gestanden habe. Dies sei auch der Anlaß gewesen, der die Angeklagte veranlaßt habe, ihrem, der Zeugin Ehemanne ihre Verteidigung zu übertragen.

Es war, als ahne der Vorsitzende gewisse Zusammenhänge, denen er nachzugehen sich einstweilen nicht für verpflichtet hielt. Er ging sofort zu dem Zwischenruf der Zeugin über.

»Frau Herold – ich hatte an die Angeklagte die Frage gerichtet, ob sie mit dem Schriftsteller Karl Nathusius in Briefwechsel gestanden habe. Diese Frage hat die Angeklagte verneint. Daraufhin ertönte aus Ihrem Munde der Ruf: Das ist eine Lüge – oder so ähnlich – nicht wahr?«

Die Zeugin bejahte wortlos.

»Welche Gründe hatten Sie für diesen Ausruf?«

Helene Herold rang verzweifelt nach Worten. »Ich ...« stammelte sie – »ich weiß – daß es unwahr ist ... ich weiß – daß Frau Mengershausen ... doch ... mit diesem Herrn ... Nathusius ... korrespondiert hat ...«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Aus einem Brief ... den ... den mein Mann ... bekommen hat ... in dem stand es drin ... daß Frau Mengershausen ... in Wirklichkeit ... doch ... mit dem Herrn Nathusius –«

»– in Briefwechsel gestanden hat ... Ja, was war denn das für ein Brief?«

Es half alles nichts ... Helene mußte gestehen. Sie gestand. Unter fieberhafter Erregung des ganzen Saales erzählte sie stammelnd, mit den Tränen kämpfend, die Geschichte ihres Eingriffs in die Geheimnisse ihres Mannes. Und als sie ihr Geständnis beendigt hatte, da atmete sie tief auf, erleichtert, erlöst – entlastet von einem Wissen, das ihre schlichte, wahrhaftige Seele zu Boden gedrückt hatte. Was auch kommen mochte – ihr Gewissen war nun frei geworden.

»Angeklagte,« sagte der Vorsitzende mit mühsam niedergezwungener Bewegung, »Sie haben gehört, was die Zeugin ausgesagt hat. Der Inhaber eines in Berlin domizilierten Detektivbüros will herausbekommen haben, daß Sie mit dem Schriftsteller Karl Nathusius in Briefwechsel gestanden haben. Wenigstens hat das in einem Briefe gestanden, den die Zeugin, deren Aussage wir soeben gehört haben, gelesen haben will. Ich nehme an, daß die Staatsanwaltschaft alsbald den Antrag stellen wird, den Inhaber des Detektivbüros – und wohl auch diesen Herrn Nathusius als Zeugen zu vernehmen. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob diese Herren irgendetwas auszusagen in der Lage sein würden, was die gegen Sie erhobene Anklage stützen könnte. Dazu sind nur Sie allein in der Lage. Aber ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich den Eindruck habe, als ob denn doch irgendwelche Beziehung bestehen könnte zwischen dem Manne, der erwiesenermaßen der Verfasser des Romans ›Bund mit den Höllengeistern‹ ist – und dem Tode Ihres Mannes ... der sich nach Angabe der Zeugin Krölke unter Umständen zugetragen haben soll, die so seltsam übereinstimmen mit den gewissen Kapiteln des ominösen Romans ... Frau Mengershausen ... haben Sie uns etwa ein Geständnis zu machen?«

Die Angeklagte sah dem Richter mit einem eisigen Staunen ins Gesicht:

»Herr Vorsitzender,« sagte sie gelassen, »ich verstehe Ihre Logik nicht ganz. Die – Dame, die soeben vernommen worden ist, beschuldigt sich selber, irgendwelche Briefe geöffnet zu haben, in denen irgendwer behauptet haben soll, ich hätte mit diesem – diesem Romanschriftsteller in Briefwechsel gestanden ... Und daraufhin soll ich Ihnen ein – Geständnis zu machen haben? Ich begreife das nicht. Vernehmen Sie als Zeugen, wen Sie wollen – – Es ist mir natürlich entsetzlich, daß die Entscheidung über meinen Prozeß durch diesen – mehr wie sonderbaren Zwischenfall noch weiter hinausgeschoben wird – aber ich habe keine Möglichkeit, diesen Aufschub zu verhindern.«

Das Gesicht des Vorsitzenden war eisig offiziell geworden.

»Schön. Frau Herold – nehmen Sie auf der Zeugenbank Platz. Gerichtsdiener – rufen Sie den Rechtsanwalt Herold herein.«

Nach wenigen Sekunden stand Gustav Herold am Zeugentisch. Er hatte sich der Abzeichen seines Amtes entledigt, straff aufgerichtet stand die stattliche Gestalt – auf dem bleichen, angespannten Gesicht lag fester Entschluß.

Nach Erledigung der Vorfragen wies der Vorsitzende den Zeugen darauf hin, daß er nach § 52 Ziffer 2 der Strafprozeßordnung als bisheriger Verteidiger der Beschuldigten berechtigt sei, sein Zeugnis zu verweigern in Ansehung desjenigen, was ihm in dieser Eigenschaft anvertraut sei. Gustav Herold verneigte sich.

»Und nun, Herr Rechtsanwalt – nun frage ich Sie zunächst folgendes: Ist Ihnen irgendetwas darüber bekannt, ob die Angeklagte mit dem Schriftsteller Karl Nathusius in irgendwelcher Verbindung gestanden hat?«

Gustav Herold sah einen Augenblick dem Vorsitzenden groß und ruhig ins Gesicht. Dann sagte er:

»Jawohl – darüber bin ich aufs Genauste unterrichtet. Die Angeklagte hat mit Nathusius Monate hindurch im Briefwechsel gestanden.«

In dieser Sekunde flogen zum hundertsten Male die Augen aller Versammelten zum strengen Profil der Frau im Trauerschleier hinüber. Die saß bewegungslos wie ein Marmorbild.

Ein Brausen schwoll auf. Die Zeugen auf der Bank an der Brüstung des Zuschauerraumes waren aufgesprungen – die Hörermasse dort hinten wogte empor wie ein sturmgepeitschtes Meer. Fäuste ballten sich, dumpfe Schreie klangen.

»Ruhe!!« befahl der Präsident. »Zeuge Herold – woher wissen Sie das?«

»Die Beweise befinden sich lückenlos in meinem Geldschrank. Ich hatte die Korrespondenz der Angeklagten aus deren Schreibtisch mit Erlaubnis ihrer Mutter an mich genommen, um den Inhalt einer Revision zu unterziehen. Bei der Durchsicht stieß ich auf den Briefwechsel mit Nathusius und habe dann diese Schriftstücke verschlossen, um sie der Kenntnis der Anklagebehörde zu entziehen.«

In diesem Augenblick sprang alles, was noch saß im Saale, von den Stühlen und Bänken empor. Der Gerichtshof, der Staatsanwalt, die Geschworenen, der Gerichtsschreiber – die seideraschelnden Damen im Zuschauerraum – alles. Nur eine nicht – die Angeklagte. Sie saß noch immer bewegungslos, eine Mumie, ein Steinbild.

Der Vorsitzende war der erste, der die ungeheure Erregung niederzwang.

»Sie sind Jurist, Zeuge – Sie wissen genau, wessen Sie sich bezichtigt haben ... Sie wissen auch, daß Sie berechtigt gewesen wären, die Auskunft auf jede Frage zu verweigern, die Ihnen die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zuziehen würde.«

»Jawohl, Herr Präsident.«

Der Vorsitzende sah ein paar Sekunden stumm gradeaus, in angestrengtes Nachsinnen vertieft. Dann wandte er sich abermals an Frau Mengershausen.

»Angeklagte, ich muß Sie noch einmal fragen: haben Sie uns noch immer kein Geständnis zu machen? Sie hören: der Mann, der bisher als Verteidiger an Ihrer Seite gestanden hat, der hat sich soeben selber einer Handlungsweise bezichtigt, die ihn dringend verdächtig macht, Ihnen nach Begehung des Verbrechens, dessen Sie beschuldigt sind, wissentlich Beistand geleistet zu haben, um Sie der Bestrafung zu entziehen ... Begünstigung nennt man das ... es steht Gefängnis bis zu einem Jahre darauf ...«

Ein unterdrückter Schmerzenslaut ächzte durch den Saal. Er kam von Helene Herolds Lippen ... Gustav Herold zuckte zusammen. Sein Mund verkrampfte sich ... Da starb sein Lebensglück ...

Mit tiefem Ernst fuhr der Verhandlungsleiter fort:

»Angeklagte – wenn Sie wirklich schuldig sein sollten – so haben Sie jetzt schon ein zweites Menschenschicksal auf dem Gewissen.«

Da brach Helene Herold in ein wildes Schluchzen aus.

»– und wie Sie hören, noch ein drittes ...« sprach der Vorsitzende weiter. »Wünschen Sie, daß wir auch noch Herrn Nathusius vernehmen?«

Und plötzlich fiel von Susanne Mengershausens Gesichte die starre Maske. Ein Mensch in seiner Qual sank zu einem Häuflein Erdenjammers zusammen.

Ein Ruck der tiefsten Erschütterung ging durch den Saal.

Dieser jähe Zusammenbruch – der war das Geständnis.

Mit der Milde letzter menschlicher Ergriffenheit in der Stimme wandte sich der Vorsitzende noch einmal an die Angeklagte.

»Frau Mengershausen ... ich glaube, keiner der Herren Geschworenen wird Ihr Schweigen anders denn als ein volles Geständnis auffassen. Aber ich bitte Sie im Interesse völliger Klarstellung der Sache – raffen Sie sich auf und zwingen Sie sich die eine Silbe der Antwort auf meine Frage ab: bekennen Sie sich im Sinne der Anklage schuldig?«

Da schoß der Verteidiger in die Höhe:

»Verzeihung, Herr Präsident – hier muß ich pflichtgemäß ein meines Erachtens ausschlaggebendes juristisches Bedenken einschalten. Die Frage, ob die Angeklagte sich im Sinne der Anklage für schuldig erkläre, halte ich in dieser Form für unzulässig. Die Angeklagte darf lediglich befragt werden, ob sie geständig ist, diejenige Tat begangen zu haben, die ihr von der Anklage vorgeworfen wird. Ob diese Tat – wenn die Angeklagte sie eingestehen sollte – den Tatbestand desjenigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs erfüllt, unter den die Anklage sie subsumieren will – das wäre ein Gegenstand der Rechtsausführungen der Prozeßparteien.«

»Sie haben recht, Herr Verteidiger,« erwiderte der Vorsitzende nach einem Augenblick des Nachsinnens. »Ich frage Sie also, Angeklagte Mengershausen: sind Sie geständig, Ihren verstorbenen Ehemann in den Zustand des hypnotischen Schlafs versetzt zu haben – und ihm in diesem Zustande den posthypnotischen Entschluß suggeriert zu haben, sich selbst nach dem Erwachen durch Erschießen das Leben zu nehmen?«

Da hob die zusammengesunkene Frau einen Augenblick das Haupt – ein grausenhaft verwandeltes Antlitz stierte den Frager an. Das Antlitz einer Verzweifelnden – einer Verlorenen.

»Ja.«

Das war nur mehr ein Hauch – der letzte matte Flügelschlag einer versinkenden Seele.

Ein tiefes, dumpfes Schweigen lastete auf der Versammlung.

Man sah es dem Vorsitzenden an: nur das Bewußtsein eiserner Pflichterfüllung, die jahrzehntelange Übung lieh ihm die Kraft, sich zu weiterer Verhandlung zusammenzuraffen.

»Meine Herren Geschworenen,« sagte er mit heiserer Stimme, »ich halte den Tatbestand für aufgeklärt. Es ist möglich, es dünkt mich persönlich sogar wahrscheinlich, daß eine Fortsetzung der Beweisaufnahme noch manches ergeben würde, was menschlich betrachtet zugunsten der Angeklagten sprechen würde. Beispielsweise dies: daß sie die Tat unter dem Einfluß eines andern Menschen – etwa des mehrfach erwähnten Herrn Nathusius – begangen hätte. Oder weiter etwa: daß sie die Tat begangen hätte unter dem Zwang einer – Leidenschaft – einer unüberwindlichen Zuneigung – zu irgendeinem Manne ... sei es wer es sei. Solche Umstände könnten, wie gesagt, für die ethische Wertung ihres Falles von Bedeutung sein – für die juristische sind sie es nicht. Denn der Paragraph 211 des Strafgesetzbuchs, der die mit Überlegung vorsätzlich ausgeführte Tötung eines Menschen als Mord unter Todesstrafe stellt – er kennt keine mildernden Umstände. Für die uns oder vielmehr Ihnen, meine Herren Geschworenen, obliegende Entscheidung kommen also diese Umstände nach dem Geständnis der Angeklagten nicht mehr in Betracht. Ihre Feststellung und Würdigung bleibt der Krone überlassen, wenn sie – den Fall der Verurteilung vorausgesetzt – sich schlüssig werden muß, ob sie von ihrem Begnadigungsrecht Gebrauch machen will. Für das erkennende Gericht ist mit dem Geständnis der Angeklagten der Fall ausreichend aufgeklärt. Wünscht einer der Herren Beisitzer oder der Herren Geschworenen, der Herr Staatsanwalt oder der Herr Verteidiger zu dieser Auffassung noch Erklärungen abzugeben oder Fragen zu stellen?«

Die Richter, Assessor Neumann, Justizrat Bogdanski lüfteten mit kurzem, verneinendem Kopfschütteln die Baretts. Die Geschworenen saßen stumm, regungslos.

»Angeklagte, Sie haben das letzte Wort. Haben Sie uns noch etwas zu sagen?«

Susanne Mengershausen saß tief in sich zusammengesunken. Man sah nur noch die gesenkten schwarzen Scheitel. Mit kaum wahrnehmbarer Verneinung bewegte sich das sterbensmüde Haupt der Verlorenen.

»Die Beweisaufnahme ist geschlossen. Ich habe die den Herren Geschworenen zur Beantwortung vorzulegende Frage in Gemäßheit der Paragraphen 290 der Strafprozeßordnung und 211 des Strafgesetzbuches wie folgt entworfen:

»Ist die Angeklagte schuldig, vorsätzlich einen Menschen, nämlich den Arzt und Universitätsprofessor Geheimen Sanitätsrat Doctor medicinae Artur Mengershausen, getötet und diese Tat mit Überlegung ausgeführt zu haben?«

Sind gegen diese Fragestellung von irgendeiner Seite Einwendungen zu erheben? Da sich kein Widerspruch erhebt, so erteile ich dem Herrn Vertreter der Königlichen Staatsanwaltschaft zu seinen Ausführungen und Anträgen das Wort.«

Assessor Neumann erklärte einleitend, er werde sich kurz fassen. Die grausige Tragödie, welche der leidenden Menschheit einen unermüdlichen Fürsorger und Retter entrissen habe, sei durch die Verhandlung insoweit aufgeklärt worden, als durch das Geständnis der Angeklagten in Verbindung mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme einwandfrei festgestellt sei, daß die Angeklagte durch Ausübung ihres hypnotischen Vermögens den Tod ihres Ehemannes herbeigeführt habe. Angesichts dieses Ergebnisses komme es auf die Begleitumstände des Falles, auf die Motive der Tat nicht mehr an. Die Frage, ob die Angeklagte sich bei Begehung der Tat im Vollbesitz ihrer freien Willensbestimmung befunden habe, sei von keiner Seite aufgeworfen worden – auch habe der ganze Eindruck der Persönlichkeit der Angeklagten wohl für alle Prozeßteilnehmer das Vorhandensein der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit außer jedem Zweifel erwiesen. Sonach sei die Schuld der Angeklagten an dem Tod ihres Ehemannes einwandfrei festgestellt, und es sei seines Amtes, zu beantragen, daß es den Herren Geschworenen gefallen möge, die Schuldfrage zu bejahen.

»Herr Verteidiger – darf ich bitten?«

Justizrat Bogdanski erhob sich gravitätisch und holte zu einer Rede aus, deren glänzendes Pathos zu der berufskühlen Nüchternheit des öffentlichen Anklägers einen wirksamen Gegensatz bildete.

Auch er erklärte von vornherein, daß er angesichts des Geständnisses der Angeklagten darauf verzichten müsse, auf die menschliche Seite der Tat, die zur Urteilsfällung der Herren Geschworenen stehe, des Näheren einzugehen. Das müsse er den Feuilletons der Presse überlassen, die es sich zweifellos nicht entgehen lassen würden, die ihrer Bettachtungsweise entsprechenden Stimmungsbilder zu liefern. Hier handle es sich nur um ein juristisches Problem, das von seiten der Anklagebehörde nicht erkannt, jedenfalls nicht angeschnitten worden sei. Und er müsse die Herren Geschworenen dringend warnen, sich bei Beurteilung dieser rein juristischen Frage irgendwie durch die Empfindung beeinflussen zu lassen, die das grausige Begebnis in jeder fühlenden Brust auslösen müsse. Er, der Verteidiger, sehe sich nämlich durch den Tatbestand selber in Verbindung mit der Lage unserer Gesetzgebung zu einem Anträge gezwungen, der in Anbetracht des Geständnisses der Angeklagten vielleicht im ersten Augenblick paradox erscheinen könne: nämlich zu dem Anträge, die Schuldfrage zu verneinen.

Und nun entwickelte der berühmte Strafverteidiger vor den gespannt und gebannt lauschenden zwölf »Männern des Volkes« den gleichen Gedankengang, mit dem er vor Beginn der Verhandlung die Verblüffung der schönen und geputzten Lauscherinnen im Zuschauerraume erregt hatte. Oberster Grundsatz der Strafrechtspflege sei die alte Regel: » nullum crimen, nulla poena sine lege« – eine Handlung eines Menschen könne nur dann mit gerichtlicher Strafe geahndet werden, wenn zur Zeit der Begehung dieser Handlung ein Strafgesetz in Gültigkeit gewesen sei, das genau diese Tat mit Strafe bedrohe. Der Fall aber, daß ein Mensch einen andern durch Ausübung des Vermögens der hypnotischen Beeinflussung zu einem posthypnotischen Selbstmord bestimme, sei im deutschen Reichsstrafgesetzbuch nicht vorgesehen – aus dem einfachen Grunde, weil zur Zeit seiner Abfassung die hypnotischen Tatsachen noch nicht annähernd in ihrem vollen Umfange bekannt gewesen seien. Das Strafgesetzbuch bedrohe als Mord die »Tötung« eines Menschen, sofern sie vorsätzlich und mit Überlegung erfolgt sei. Als Tötung könne man aber nur bezeichnen die unmittelbare Einwirkung des Täters auf den Leib oder auf die Seele des Opfers, dergestalt, daß diese Einwirkung selber den Tod herbeiführe.

Das Verfahren aber, das die Angeklagte zugestandener – und erwiesenermaßen eingeschlagen habe, um den Tod ihres Gatten herbeizuführen – das sei als »Tötung« keinesfalls anzusprechen. Denn ganz zweifellos stelle die Handlung, welche den Tod des Geheimrats Mengershausen herbeigeführt habe, sich als Selbstmord dar – wenn auch als Selbstmord, begangen in einem Zustande der Willensunfreiheit, den die Angeklagte vorsätzlich und mit Überlegung herbeigeführt habe.

Wie gebannt hingen die Blicke der zwölf Männer auf der Geschworenenbank an den Lippen des Redners. Ihre Gesichter wiesen den Ausdruck einer dumpfen Verständnislosigkeit, eines mühsamen Ringens wider diese gleißende Dialektik, der ihr Begriffsvermögen nicht gewachsen war.

Aber auch die ganze übrige Versammlung folgte den Ausführungen des Verteidigers mit hingebender, krampfhaft angespannter Aufmerksamkeit.

»Meine Herren Geschworenen,« fuhr der Justizrat fort, »Herr Mengershausen hat, wie der sachverständige Zeuge Professor Aldringen vor Ihnen bereits bekundet hat, zu diesem Arzte seines Vertrauens mehrfach die Absicht geäußert, seinem Leben freiwillig ein Ziel zu setzen – allerdings nicht mit der Begründung, welche sich in dem von ihm hinterlassenen und, wie jetzt feststeht, ihm von der Angeklagten suggerierten Briefe findet: daß er nämlich als Sachverständiger das Herannahen einer unheilbaren Geisteskrankheit bei sich selber festgestellt habe und es deshalb vorziehe, Schluß zu machen. Nein: seinem Arzte gegenüber hat Herr Geheimrat Mengershausen seine Absicht des Selbstmordes auf die Annahme des Bestehens rein körperlicher Verfallserscheinungen zurückgeführt. Immerhin steht soviel fest: der Gedanke, der Plan des Selbstmordes hat in Mengershausens Seelenleben längst eine Rolle gespielt, ehe die Angeklagte ihn aufgegriffen hat. Sonst wäre es ihr auch gar nicht möglich gewesen, ihrem Manne die Ausführung dieses Gedankens wirksam zu suggerieren. Denn darüber, meine Herren Geschworenen, sind alle Forscher, welche sich bisher mit dem Problem der hypnotischen Suggestion beschäftigt haben, vollkommen einig, daß auch im Zustande der Hypnose das Eigenleben des Hypnotisierten keineswegs völlig ausgeschaltet ist, daß man also den Hypnotisierten zu einer Handlung nur dann zwingen kann, wenn diese Handlung seinem inneren Wesen entspricht – so daß er also auch in willensfreiem Zustande dieser, gerade dieser Handlung fähig gewesen sein würde.

»Daß diese Voraussetzung aber für den toten Mengershausen zutrifft, ist erwiesen. Er trug sich bereits seit längerem ganz ernsthaft mit dem Gedanken des Selbstmordes – und zwar, wie der Sachverständige bekundet hat, auf Grund einer allgemeinen, durch Überarbeitung hervorgerufenen Gemütsdepression.

»Dieser bereits bestehenden Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß Mengershausen sich eines Tages aus eigener Entschließung das Leben nehmen würde, hat nun die Angeklagte ein wenig nachgeholfen ... Ihr Mann selber hatte sich vertrauensvoll einem Verfahren seitens seiner Frau unterworfen, das Herr Professor Aldringen Ihnen in seinem Gutachten als ›hypnotische Erziehung‹ bezeichnet hat. So war er nach jeder Richtung hin vorbereitet für die hypnotische Beeinflussung, der er dann erlegen ist. Es liegt also eine Handlungsweise vor, welche stark an das angrenzt, was unser Strafgesetzbuch als Anstiftung bezeichnet. Als Anstifter wird nämlich bestraft, wer einen andern zu einer von ihm begangenen strafbaren Handlung durch Geschenke oder Versprechen, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrtums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt hat.

»Anstiften zu einem Verbrechen kann man auch jemanden, dem dieses Verbrechen selber nicht angerechnet werden kann – also zum Beispiel ein Kind unter zwölf Jahren, einen sinnlos Betrunkenen, einen Geisteskranken. Hätte also Frau Mengershausen ihren Gatten im Wege der hypnotischen Suggestion veranlaßt, statt sich selber einen anderen zu töten, so wäre sie als Anstifterin zum Morde mit dem Tode zu bestrafen gewesen, während der Täter selber nach Paragraph 51 des Strafgesetzbuches straflos ausgegangen wäre, weil er sich bei Begehung der Tötung in einem Zustande von Bewußtlosigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

»Nun hat aber die Angeklagte ihren von ihr selber in bewußtlosen Zustand versetzten Gatten nicht zu einem Morde, sondern zum Selbstmord angestiftet. Der Selbstmord aber, meine Herren Geschworenen, ist in Deutschland nicht strafbar.

»Das ist nach geltendem Rechte die Formel für die Tat der Angeklagten: sie ist der Anstiftung zum Selbstmord schuldig. Anstiftung zu einer nicht strafbaren Handlung ist aber selber nicht strafbar.«

Auf den Gesichtern der Geschworenen hatte sich der Ausdruck peinlicher Begriffsverwirrung noch immer mehr verschärft. Die Richter saßen regungslos, mit undurchdringlichen Amtsgesichtern. Der Staatsanwalt machte eifrig Notizen. Das Publikum lauschte andachtsvoll, fasziniert, seelisch vergewaltigt durch die Begriffsakrobatik eines genialen Jongleurs. Rechtsanwalt Herold saß auf seinem Zeugenplatz in wirrer Benommenheit. Aus dem wüsten Grübeln über das eigene Schicksal hat die tollkühne Seiltänzerei des berühmten Kollegen ihn gewaltsam herausgerissen. Welch ein Glück für Susanne, schoß es ihm immer wieder durchs glühende Hirn, daß ich zurückgetreten bin ... Das hätte ich nicht gekonnt – nie fertig gebracht ...

Und die Angeklagte selber? Sie saß regungslos, unverändert in der Stellung ihres Zusammenbruchs – die schwarzen Scheitel tief geneigt ... den Oberleib vornübergesunken – unbeteiligt ... erledigt.

»Meine Herren Geschworenen!« fuhr Bogdanski siegessicher fort, »ich gebe ohne weiteres zu, daß diese Ausführung, die juristisch absolut unanfechtbar ist, Ihr sittliches Empfinden ebensowenig befriedigen kann wie das meine. Aber Sie sind hier nicht bestellt, der göttlichen Weltordnung zum Siege zu verhelfen – Ihre Aufgabe ist es, auf die Ihrer Entscheidung unterstellte Tat das bestehende Recht anzuwenden. Ich selber wäre der Erste, bei der demnächst bevorstehenden Revision unseres so ungemein reformbedürftigen Strafgesetzbuches, die Aufnahme eines Paragraphen zu befürworten, welcher mit Todesstrafe wegen Mordes denjenigen bedroht, der einen Menschen, über den er die Macht der hypnotischen und posthypnotischen Suggestion erlangt hat, unter Ausnutzung dieser Macht zum Selbstmorde veranlaßt – oder zwingt, wie Sie es nun nennen mögen.

»Heute – existiert eine solche Strafbestimmung nicht. Heute läßt sich die Tat der Angeklagten nicht anders beurteilen denn als straflose Anstiftung zum straflosen Selbstmord.

»Und darum, meine Herren Geschworenen, verlange ich von Ihnen, daß Sie sich durch die menschlichen Empfindungen, die der Fall Mengershausen in Ihnen wie in uns allen ausgelöst haben muß – nach dem Geständnis der Angeklagten stehe ich nicht an, sie als Gefühle des Abscheus, des Ekels, des Grauens zu bezeichnen – daß Sie sich durch diese selbstverständlichen Empfindungen nicht zu einem Spruch hinreißen lassen werden, der vor dem Urteil des Gerichtshofes nicht bestehen könnte, und demgegenüber ich an die Ihnen zweifellos bekannte Ermächtigung des Gerichts appellieren müßte, dem der berühmte Paragraph 317 der Strafprozeßordnung das Recht verleiht, nein, die Pflicht auferlegt, einen Spruch der Geschworenen, der in der Hauptsache einen Rechtsirrtum der Geschworenen zum Nachteile des Angeklagten darstellt, dadurch aufzuheben, daß das Gericht die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung vor das Schwurgericht der nächsten Sitzungsperiode verweist.

»Meine Herren Geschworenen, ich bin zu Ende. Noch einmal: Sie haben Recht zu sprechen, nicht dem Urteil Gottes des Allmächtigen vorzugreifen, vor dessen Richterstuhle dereinst die Tat der Susanne Mengershausen ihre Sühne erfahren wird. Ich beantrage wiederholt, daß es Ihnen gefallen möge, die Schuldfrage zu verneinen.«

Im Augenblick, als Herr Bogdanski sich gesetzt hatte, brandete die ungeheure Erregung des Saales in einem orkangleichen Brausen empor. Der Vorsitzende reckte die Rechte – der Sturm wollte sich nicht legen. Da schwang er heftig die Klingel ... allmählich verebbte die hohe Woge der Gefühle.

»Herr Staatsanwalt?«

Der bebrillte Assessor stand unter dem Drucke der Erkenntnis, daß all sein juristischer Scharfsinn, seine genaue Akten- und Gesetzeskenntnis gegenüber der Wortgewalt des Verteidigers einen schweren Stand haben würde. Er versuchte den Nachweis, daß der Ausdruck »Tötung eines Menschen« vom Gesetzgeber absichtlich so allgemein gefaßt sei, damit er alle nur irgend erdenklichen Fälle umfasse, in denen es einem Menschen gelinge, den Tod eines andern Menschen durch eine lückenlose Reihe von Ursachen und Wirkungen herbeizuführen. Ein solcher Fall liege aber hier vor. Alles, was die Verteidigung angeführt habe, um diesen klaren Tatbestand zu trüben und zu verwirren, reiche nicht aus, um die natürliche Logik der vorliegenden Tatsachen zu entkräften, nach welcher die Handlung der Angeklagten sich als eine zielbewußte und zweckmäßige Reihe von Maßnahmen kennzeichne, die in ununterbrochener Geschlossenheit das Ziel, den Tod des Geheimrats Mengershausen herbeizuführen, vorsätzlich und mit Überlegung angestrebt und auch herbeigeführt habe. Das aber sei eben Tötung – und wenn das angewandte Mittel der Heranziehung des eigenen körperlichen und seelischen Apparats des Getöteten zur Herbeiführung seines Todes neu und unerhört sei, so beweise das nichts gegen den Schluß, daß dieses neue Mittel sich als vollkommen zweckmäßig und geeignet zur Herbeiführung des angestrebten Todeserfolges erwiesen habe.

Der Ankläger verfehlte nicht, an das Gewissen der Geschworenen zu appellieren – gab ihnen zu bedenken, welch fürchterlicher Präzedenzfall geschaffen werden würde durch einen Freispruch. Dieser werde gleichbedeutend sein mit einem Freibrief für ähnliche Verbrechen – die würden dann das Gewissen der heute amtierenden Volksrichter mit unsühnbarer Schuld belasten.

Es sei sein Grundsatz, die Verteidigung nach Möglichkeit niemals persönlich anzugreifen. In diesem Falle müsse er von dieser Maxime abweichen ... Er bedauere es aussprechen zu müssen, daß er in den Darlegungen des Herrn Verteidigers nicht das Bestreben erkennen könne, dem Ethos des Rechts zum Siege zu verhelfen – daß er sich vielmehr die Stellungnahme der Verteidigung nur aus dem Bestreben erklären könne, in einem sensationellen Fall, auf den die Augen Berlins, Deutschlands, der wissenschaftlichen Welt gerichtet seien, um jeden Preis einen Erfolg zu erzielen – auch um den Preis einer Irreführung, einer Vergewaltigung der Rechtsprechung wie des Rechtsgefühls.

– Alle Blicke flogen zum Verteidiger hinüber bei diesem unerhört scharfen Angriff auf die Berufsehre des Anwalts. Aber Justizrat Bogdanski saß völlig gelassen, abgehärtet durch die Erfahrungen eines dreißigjährigen forensischen Kämpferdaseins. Nur um seine Mundwinkel zuckte es leise ironisch: Na, warte nur, Assessorchen –!

Der junge Vertreter der Anklagebehörde redete sich in immer hitzigeres Feuer. Vor einer mit Berufsrichtern besetzten Kammer, meinte er, würde der Verteidiger eine derartig rabulistische Beweisführung schwerlich gewagt haben. Das Volksgericht scheine den Herren Verteidigern als geeignetes Versuchsfeld für advokatorische Kniffe und Winkelzüge dienen zu müssen ...

Nun wurde es sogar dem Vorsitzenden zuviel.

»Ich ersuche den Herrn Vertreter der Königlichen Staatsanwaltschaft,« sagte er nicht ohne Schärfe, »sich in seinen Angriffen gegen die Verteidigung zu mäßigen.«

Es war offensichtlich: Herr Neumann hatte sich durch seine letzten Ausführungen bei den Laienrichtern gradezu geschadet. Die Geschworenen waren unruhig geworden, steckten die Köpfe zusammen. Der Assessor nahm das wahr. Er bat um Entschuldigung, wenn sein empörtes Rechtsgefühl ihn hingerissen habe. Es sei nur das starke Bewußtsein seiner unbedingten Ehrerbietung vor der Einrichtung des Geschworenengerichtes, das ihn gezwungen habe, sich schützend vor dies Palladium unserer Rechtspflege zu stellen ...

Es war zu spät. Die Stimmung der Männer des Volkes, die im Anfang den Ausführungen des Staatsanwalts ein williges Ohr geliehen zu haben schienen, war offenbar jählings umgeschlagen. Es war wohl ein taktischer Fehler gewesen, die Geschworenen an die Mangelhaftigkeit ihres richterlichen Urteilsvermögens zu erinnern ...

Herr Bogdanski hatte leichtes Spiel. Mit ein paar witzigen Wendungen tat er den Assessor ab, der sich in die Rolle eines Zionswächters des Volksgerichts hineinplädiert habe – eine Vorkämpferschaft, welche von dem klaren Empfinden der Herren Geschworenen, dem Bewußtsein der Gesundheit ihres natürlichen Rechtsgefühls zweifellos mit Entrüstung abgelehnt werden würde. Er selber, der Verteidiger, wisse aus langjähriger Praxis, daß den Laienrichtern durchaus die Fähigkeit innewohne, auch einmal eine juristisch verwickelte Darlegung zu verfolgen und zu würdigen ... Er stehe ja nicht vor einem französischen Assisenhofe, der sich bekanntlich durch advokatorische Fechterkunststücke leicht bestimmen lasse, das Gefühl über die Anwendung des geltenden Rechts triumphieren zu lassen.

»Meine Herren Geschworenen – ich spreche zu einem deutschen Schwurgericht. Der Deutsche ist der Mann des gründlichen Denkens – wissenschaftlich exakte, vom Gefühlsmäßigen unbeeinflußte Gesetzesanwendung war immer der Stolz deutscher Rechtspflege. Sie werden diesen Stolz nicht beschämen durch eine Entscheidung, die zwar Ihrem Gefühl eine billige Befriedigung verschaffen möchte, Ihrer juristischen Denkfähigkeit aber ein beklagenswertes Zeugnis ausstellen und dazu beitragen müßte, der in gewissen juristischen und politischen Kreisen marktgängigen Verachtung des Geschworeneninstituts neue Nahrung zu geben. Meine Herren Geschworenen – pfuschen Sie nicht dem höchsten Richter da droben ins Handwerk – sprechen Sie Recht!«

Der Vorsitzende bedeckte sein Haupt und nahm nun selber zur vorgeschriebenen Rechtsbelehrung das Wort. Er tat es mit derselben ruhigen Objektivität, mit der er die ganze Verhandlung geleitet hatte. Er pflichtete den Ausführungen der Anklage bei, wonach das Wort »Tötung« eine sehr weite Auslegung gestatte. Jede Vorkehrung falle unter diesen Begriff, welche sich durch den Erfolg als zweckmäßig erweise, den Tod eines Menschen, dem überlegten Vorsatz des Täters entsprechend, herbeizuführen. Auf der andern Seite sei nicht zu verkennen, daß der Tatbestand an sich das Phänomen des Selbstmordes, nicht des Mordes im gewöhnlichen Sprachsinne, darstelle. Die Anstiftung eines willensfreien Menschen zum Selbstmorde sei selbstverständlich denkbar. Im vorliegenden Falle sei aber ein willensunfreier, ein seiner Willensfreiheit durch den Anstifter selber zu eben diesem Zwecke beraubter Mensch zum Selbstmord angestiftet worden. Ob eine solche Handlung als Tötung im Sinne des Mordparagraphen aufzufassen sei, das sei eine Frage, über die schon wegen der absoluten Neuheit des Falles die Meinungen geteilt sein könnten. Er, der Vorsitzende, halte sich nicht für befugt, in der Frage dieser Auffassung den Geschworenen Winke oder gar Ratschläge zu erteilen. Diese Frage sei eben der Gegenstand des Spruchs der Herren Geschworenen, die nur ihrem Gewissen verantwortlich seien. –

Nunmehr übergab der Vorsitzende den Geschworenen die von ihm unterzeichnete Frage und ersuchte die Herren, sich in das Beratungszimmer zurückzuziehen. Er beauftragte den Sicherheitsbeamten, die Angeklagte abzuführen.

Als Susanne Mengershausen die Stufen hinabstieg, die von der Schranke niederwärts führten, da taumelte sie. Der Schutzmann sprang zu, bot ihr den Arm ... bewußtlos griff sie zu und wankte, gestützt von dem behelmten Beamten, aus dem Saal.

Inmitten einer ungeheuren Erregung, welche die Zeugen diesseits, die Zuschauer jenseits der Schranke zu leidenschaftlich redenden Gruppen zusammenballte, trat Helene Herold an ihren Mann heran, der teilnahmslos vor sich hinstierend auf der Zeugenbank saß:

»Gustav – ich muß dich sprechen – wo könnten wir allein –«

Müde, apathisch erhob sich der Rechtsanwalt.

»Im Anwaltszimmer, denke ich ... da wird's leer sein ... es ist fast Mitternacht ...«

Wortlos schritt das unglückliche Paar die hallenden, nur noch durch wenige Glühbirnen matt erhellten Korridore entlang. Und dann standen die zwei Menschen in dem kahlen Raum, dessen Wände die zahllosen kleinen Schränke säumten, in denen die Anwälte ihre Amtstracht verwahrten. Gustav sank auf einen Stuhl an dem langen Tische, der die Mitte des Gelasses einnahm, stemmte die Ellenbogen auf und barg das Gesicht in den Fäusten.

»Was wird werden, Gustav?« Helene war an den Gatten herangetreten und hatte ihre zitternden Hände auf seine schlaffen Schultern gelegt.

»Ich weiß es nicht.«

»Wird sie – verurteilt werden?«

Gustav zuckte matt die Schultern.

»Und – du? wir beide?«

»Ich? ich bin verloren. Das ist doch wohl klar.«

»Gustav – und ich – ich habe dich – – o mein Gott, mein Gott ...«

»Nein, Kind«, sagte der Anwalt und schaute zum tränenüberströmten Gesichte der Frau empor, »du nicht ... Mir wird mein Recht. Und du – du warst nur das ... Werkzeug ... einer ... Lassen wir das. Ich ... beuge mich.«

»Du ... willst den Weg gehen – den Mengershausen – – Gustav –!!«

Aufschreiend warf Helene sich über ihren Gatten, als müsse sie ihn mit ihrem Leibe decken gegen das Schicksal.

»Nein, Helene – jedenfalls für's erste noch nicht. Erst soll dem – Rechte – sein Lauf werden.«

»Dem Recht? so könnte man dich –«

»Wenn – sie – verurteilt wird – so bin ich – ihr Mitschuldiger ... oder richtiger ihr ... Begünstiger, wie das Gesetz es nennt ... Es steht Gefängnis darauf – Gefängnis bis zu einem Jahre – du hast's ja schon gehört. Denkst du, daß ich das überlebe?!«

Da klang hinter ihm eine ruhige, behaglich ironische Stimme:

»Sie irren, Herr Kollege.«

Die zwei fuhren herum. Justizrat Bogdanski stand hinter ihnen.

»Tja, sehen Sie, Kollege – das kommt davon, wenn ihr Ziviljuristen uns Kriminalisten ins Handwerk pfuschen wollt. Keine Ahnung habt ihr ... Erstens wird die schöne Sünderin überhaupt nicht verurteilt ... ich habe sie, ohne Ruhm zu melden, herausgehauen – was Sie, mein guter Herold, schwerlich fertig gebracht hätten ... Und wenn sie verurteilt würde – Ihnen könnte trotzdem niemand etwas tun.«

»Ach, Herr Justizrat – wenn Sie recht hätten –« stammelte Frau Helene schluchzend.

»Ich habe immer recht, kleine Frau ... wenigstens auf meinem Spezialgebiet ... vom Aktienrecht verstehe ich womöglich noch weniger als Ihr Gatte vom Reichsstrafgesetzbuch ... Ich will Ihrer Schwachheit aufhelfen, Kollege. Als Sie Frau Susannes Korrespondenz an sich nahmen, um den Inhalt zu prüfen, konnten Sie von dem Briefwechsel mit Nathusius noch nichts ahnen, hatten also auch nicht die Absicht, diese oder andere Schriftstücke der Anklagebehörde zu entziehen. Diese Handlung war nicht ›wissentlich‹ im Sinne des Paragraphen 257 des Strafgesetzbuches und also nicht strafbar. Nachdem Sie aber diesen teuflischen Briefwechsel entdeckt hatten, bestand für Sie keine Rechtspflicht, das Belastungsmaterial, das sich in Ihrem Besitz befand, aus freien Stücken der Staatsanwaltschaft anzubieten. Dazu ist niemand verpflichtet, eine Anzeigepflicht besteht nach Paragraph 139  des Strafgesetzbuches nur bei Kenntnis vom Vorhaben des Mordes – nicht aber nach begangener Tat. Also haben Sie überhaupt keine Begünstigung begangen. Äußersten Falles stelle ich mich mit besonderem Vergnügen als Verteidiger zur Verfügung – heute schon zum zweiten Male ...«

»Herr Justizrat – Sie sind unser Retter!« jubelte Helene – und ehe der alte Herr es wehren konnte, hatte sie ihren tränenfeuchten Mund auf seine ausdrucksvolle Rechte gedrückt.

»Gnädige Frau – sind Sie des Teufels?« knurrte der berühmte Mann. »Verzeihung – aber für Handküsse habe ich lebenslang keine Verwendung gehabt –«

»O, dann – dann so!« und schon hatte Frau Helene ihre Arme um die seidenbesetzte Robe des Justizrats geworfen und ihn herzhaft auf den Mund geküßt.

»Hm ... das ... das ist was andres ...« schmunzelte der alte Genießer.

»Herr Justizrat, auch ich danke Ihnen,« sagte Gustav Herold und streckte dem Kollegen die Rechte hin. »Ich glaube. Sie haben recht ... Aber was hilft das mir? Erledigt bin ich trotzdem ... Den Spruch der Anwaltskammer werde ich nicht erst abwarten.«

»Das täte ich an Ihrer Stelle, offen gestanden, auch nicht, Kollege,« sagte Bogdanski mit plötzlichem Ernst. »Das Vertrauen, das unser Beruf erfordert, haben Sie verwirkt. Sie müssen freiwillig die Konsequenzen ziehen ... das sichert Ihnen die bürgerliche Achtung, auf der sich ein neues Leben aufbauen läßt. Aber totschießen is nich – Ihre Frau heißt Helene und nicht Susanne.«

Der Gerichtsdiener trat ein:

»Herr Justizrat – sie sind wieder da – die Jeschworenen ...«

Wenige Minuten später verlas der Obmann der Geschworenen die Frage und den Urteilsspruch:

»Ist die Angeklagte schuldig, vorsätzlich einen Menschen, nämlich den Arzt und Universitätsprofessor Geheimen Sanitätsrat Doctor medicinae Artur Mengershausen, getötet und diese Tat mit Überlegung ausgeführt zu haben?

– – Nein.«

*

Am folgenden Tage verkündeten die Blätter der Reichshauptstadt, daß Frau Susanne Mengershausen sich in ihrer Wohnung durch Öffnen der Pulsadern das Leben genommen habe.


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