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I.

Frau Helene saß beim Frühstück und starrte immerfort auf den gelben, häßlichen Briefumschlag, der an ihren Mann adressiert war von Frau Susannes Hand. Seltsam ... ein Briefumschlag mit der Aufschrift: »Verwaltung des Königlichen Untersuchungsgefängnisses, Moabit« ... Wie kam Frau Susannes Handschrift auf ein solches Kuvert –?!

Daß ihr Mann über kurz oder lang einen Brief von Frau Susanne erhalten würde, darauf war Frau Helene ja gefaßt gewesen ... Schon seit dem Augenblick, als sie erfahren hatte, daß der Geheime Sanitätsrat Herr Doktor Artur Mengershausen das Zeitliche gesegnet habe ... Frau Susanne also frei sei ...

Frei ...

So ... nun konnte ja der Kampf beginnen ... der Kampf, den Frau Susanne längst mit dem ersten einleitenden Augengeplänkel begonnen hatte ... Nun sie frei war, was hinderte sie, zum Angriff überzugehen?

Ha, ha, ha, wollen sehen, wer stärker ist – du oder ich! Mein Recht – oder deine Macht, Frau Susanne! Nicht daß der Brief gekommen war – nicht das war es, weswegen Frau Helene die Augen nicht abwenden konnte von dem Briefumschlag, welcher die kapriziösen Schnörkel der Rivalin zeigte ... aber ...

»Untersuchungsgefängnis Moabit« und Frau Susanne – wie kam das zusammen –?

– Mit einem Male stieg eine Phantasie in Helenes Seele auf, so aberwitzig und zugleich so ... so befreiend ... so verheißungsvoll ... daß ihr die zierlich gefältelte Krause um den Halsausschnitt des eleganten Morgenkleides zu enge wurde ...

Also, der Geheimrat Doktor Artur Mengershausen hatte sich nicht selber das Leben genommen – er war ermordet worden ... und Frau Susanne Mengershausen war verhaftet worden unter dem Verdachte, die Mörderin ihres Gatten zu sein ...

So phantasierte Frau Helene ...

Gleich darauf schlug sie sich mit dem Rücken der rosigen, fleischigen Hand gegen die Stirn: Herrgott – sind wir Weiber doch eine ekelhafte Gesellschaft –! Wenn unsre – na, nennen wir's doch schon beim rechten Namen – wenn unsre Eifersucht im Spiel ist – dann trauen wir der Nebenbuhlerin gleich jede Teufelei, jedes Verbrechen zu!

Aber seltsam und spannend war es doch, die Schrift der Verhaßten – und dieser ... dieser Hintergrund ... seltsam und spannend war das, wie überhaupt der Gedanke, daß es sich ja nun entscheiden würde, ob sie überhaupt recht gesehen ... ob es nicht bloß ein Phantom ihrer allzu zärtlichen, allzu begehrlichen Liebe gewesen war – was sie seit ein paar Wochen mit prickelndem Schmerz in allen Nerven, in allen Sinnen empfand – daß diese schöne, diese sündhaft schöne Frau – das Weib eines um fünfundzwanzig Jahre älteren Mannes, den die Lebensarbeit aufgerieben hatte, trotz Ruhm und Gold ... daß die dem Gatten einer anderen Frau die dunkelfeuchten, langbewimperten Augen öfter und tiefer geöffnet hatte, als dieses andern Mannes Frau es sich eigentlich gefallen lassen durfte – als sie, Helene, es sich eigentlich gefallen lassen durfte ...

Und nun war dieser schöne schwarze Satan plötzlich frei, ganz frei ... Der Herr Gemahl war ritterlich genug gewesen, in einem Anfall von Schwermut sich selber eine Kugel in den Kopf zu schießen und die Gründe zu diesem plötzlichen Schritt noch dazu in einem ausführlichen »Entschuldigungsschreiben« seiner Frau klarzulegen. Da stand es schwarz auf weiß zu lesen, daß er, als der große Sachverständige, der er doch nun einmal war, das Herannahen einer unheilbaren Geisteskrankheit an sich selber festgestellt habe und es deshalb vorziehe, Schluß zu machen ... anstatt Zeuge seiner Selbstzersetzung zu sein und sein Weib noch Jahre hindurch an eine verwitterte Ruine zu fesseln.

Frau Helene mußte lachen, wenn sie daran dachte, wie ihr gestern bei Wertheim der Regierungsrat von Walden begegnet war und ihr gleich entgegengerufen hatte: »Nun, gnädige Frau, was sagen Sie denn zu dem unverschämten Dusel, den die schöne Frau Susanne Mengershausen entwickelt –?« Natürlich – so sprach ja heute ganz Berlin ... Niemand dachte mehr daran, daß Geheimrat Mengershausen in seinem langen, gesegneten Arbeitsleben unzähligen Leidenden Hilfe und Rettung gebracht ... Über das stille, unscheinbare Wirken des großen Helfers und Menschentrösters ging die Gesellschaft mit einem frivolen Witz zur Tagesordnung über ... Daß dieser Mann aber die unerhörte Geschmacklosigkeit besessen, in jenen Tagen, da der Stern seines Lebens schon sank, eine der gefeiertsten Schönheiten der Weltstadt an sich zu fesseln, das hatte man ihm nicht verziehen, und man empfand es wie eine selbstverständliche Ritterpflicht, daß er nun wenigstens Takt genug bewiesen hatte, ohne allzu viel Geräusch von der Seite dieser Frau sich hinwegzustehlen und ihr den Weg ins Leben freizugeben ...

Daß aber dieser Weg nun geradezu auf das nur zu schönheitsempfängliche Herz des Herrn Rechtsanwalt Doktor Gustav Herold zuführte ... das, so meinte Frau Helene Herold, wäre eigentlich nicht nötig gewesen ...

Nun – wir sind ja auch noch da –! Und wenn es denn wirklich auf einen Kampf ankommen soll – vielleicht sind die Waffen doch nicht so ganz ungleich ... Frau Helene konnte es sich nicht versagen, einen Blick in den Spiegel zu werfen, der hinter ihrem Stuhle den Zwischenraum zwischen den beiden Fensternischen ausfüllte. Wenn sie verglich – sie meinte, daß ihre rosige Fülle doch am Ende mit Frau Susannes rassiger Schlankheit in Wettbewerb treten könne ... Freilich ... Augen ... nein – solche Sirenenaugen wie Frau Susanne hatte sie nicht ... Die Augen – ja, das waren der Nebenbuhlerin gefährlichste Waffen, und die wußte sie zu gebrauchen, die andere ...

– Mein Himmel – Gustav konnte sich ja wohl heute gar nicht zum Aufstehen entschließen ... ob er denn heute keine Termine hatte? Freilich – er hatte sich ja die halbe Nacht schlaflos auf seinem Bette gewälzt ... und seine Ehegesellin meinte zu wissen, warum ... hatte doch auch sie keine allzu glückliche Nacht hinter sich ...

Nein, nein, das war nicht wegzudeuten – Mengershausens Tod, das war eine Tatsache, die einen tiefen Einschnitt bedeutete ... Wohl hatte sie es bemerkt, welch mächtigen Eindruck diese Nachricht auf Gustav gemacht, und wie er verändert war in seinem Wesen ... Zwar beim Kondolenzbesuch des Ehepaares hatte Frau Susanne sich verleugnen lassen ... aber das entsprach wohl nur der generellen Anweisung an die Dienerschaft ... Daß sie sich melden würde ... noch ehe die Erde sich über ihrem Gatten geschlossen ... bei Gustav sich melden ... darauf hatte Frau Helene sich eingerichtet. Na, und hatte sie nicht recht behalten –? Da lag er ja schon, der Brief ... Und wieder stieg sie vor Frau Helene auf, diese lächerliche Phantasie ... Frau Susanne mordverdächtig, im Moabiter Untersuchungsgefängnis – und von dort aus streckten sich ihre Arme hilfeflehend zu Gustav Herold aus, zu ihm, der, wenn auch kein berühmter Verteidiger, doch ein tüchtiger, vielgesuchter Rechtsanwalt war ...

Eine abgeschmackte Phantasie. Denn die ausführlichen Berichte der Zeitungen über den Tod des berühmten Gelehrten lagen ja bereits vor. Selbst der Wortlaut des Briefes war bekanntgegeben worden, den er an seine Gattin gerichtet ...

Und trotzdem – dieses gelbe Amtskuvert ... Und Frau Susannes Schriftzüge ... Helene konnte den Gedanken nicht loswerden, daß irgendein interessantes Geheimnis dahinterstecken müsse. Alles in ihr zappelte vor Ungeduld. Endlich hielt es sie nicht länger – sie sprang auf, ergriff den Brief und eilte aus dem Eßzimmer, um Gustav zu wecken. Sie durchschritt die Diele, deren stimmungsvoll-malerische Einrichtung in funkelnagelneuem Glanze strahlte ... die hatte das Paar sich zugelegt, als die ersten Aufsichtsratstantiemen vom Elektrizitätssyndikat eingegangen waren ...

Als sie die Schlafzimmertür öffnete, kam Gustav ihr bereits fertig angezogen entgegen. Der fahle Widerschein einer ruhelosen Nacht voller unrastiger Gedanken lag auf seinem energischen, selbstbewußten Gesicht. – Mit spitzen Fingern hielt seine Frau ihm den gelben Briefumschlag entgegen. Sofort erkannte er die Handschrift – seine Stirn krauste sich zusammen, die grauen Augen irrten einen Moment lang unsicher über die Fläche des Kuverts – und blieben dann verständnislos auf dem amtlichen Aufdruck haften ... prüften den Poststempel, der »Berlin NW, Postamt 52« lautete ... und hefteten sich dann mit jäher Frage auf den Blick seines Weibes:

»Aus Moabit –?!«

»Ja – ich begreif' auch nicht –«

Mit einem Ruck riß Gustav das Kuvert entzwei und entfaltete ihm einen gelben doppelten Quartbogen, dessen Vorderseite an der linken Hälfte einen drei Finger breiten amtlichen Aufdruck trug und mit verschiedenen Stempeln und Namensunterschriften in Tinte und Bleistift versehen war. Er trat ans Fenster des Korridors, überflog stumm die erste Seite des Briefes, wandte um und las auch die zweite – – dabei furchte seine Stirn sich immer tiefer, in schweren Atemzügen begann seine Brust sich zu heben und zu senken, die Linke, die den Brief hielt, zitterte leise, die Rechte fuhr einmal mit einer hastig unsicheren Bewegung über die Stirn und das korrekt gescheitelte braune Haar – dann reichte sie der atemlos harrenden Frau das Papier hinüber.

Und Frau Helene las:

»Lieber Freund, etwas Unmögliches ist mir widerfahren: Man hat mich soeben verhaftet. Ich soll die Schuld an dem Tode meines unglücklichen Gatten tragen. Mein Hausfräulein hat mich denunziert, die große blasse Person mit dem impertinent roten Haar, die Ihnen bei meinem letzten Jour auffiel; erinnern Sie sich vielleicht? Mitten aus dem traurigen Geschäft der letzten Fürsorge für meinen teuren Verstorbenen hat man mich herausgerissen – gerade vor seiner Bestattung. Ich flehe Sie an, lieber Freund – kommen Sie sofort zu mir. Sie müssen mir beistehen, müssen mich verteidigen, wenn es wirklich notwendig werden sollte. Ich habe ja von all diesen schrecklichen Dingen gar keine Ahnung. Ich erwarte, daß Sie mich ohne Verzug aufsuchen. Erzählen Sie Ihrer lieben Frau, wie man mir mitspielt. Und wenn sie die übergroße Güte haben wollte, in meinem Hause ein wenig nach dem Rechten zu sehen, so wäre ich ihr unendlich dankbar. Sie aber erwarte ich, sobald Ihre Zeit es Ihnen irgend gestattet, sich nach mir umzusehen. Ihre unglückliche

Susanne Mengershausen.«

Mit blassen Gesichtern starrten die Ehegatten sich an. Aus Helenes blauen Augen rannen ein paar jähe Tränen über ihre rundlichen Wangen und verblitzten auf dem Spitzengeriesel ihres Morgengewandes.

»Grauenhaft –« flüsterte sie ohne Ton.

»Eine unfaßliche Geschichte –« stammelte Gustav.

»Du wirst natürlich sofort zu ihr hinmüssen – nicht wahr?«

»Selbstverständlich ... aber nein, ich habe mehrere Termine am Kammergericht heute morgen – ich werde mal mit meinem Sozius telephonieren – soviel ich weiß, ist er heute ebenfalls unabkömmlich ... dann müßte ich unter allen Umständen erst nach der Lindenstraße ...«

»Mein Gott, die arme Frau wartet auf dich – bedenk' doch, Gustav –!«

»Ja, liebes Kind, meine Termine muß ich wahrnehmen, da hilft kein Gott – sonst nehmen die Kollegen Versäumnisurteil – also ich werde telephonieren.«

Es stellte sich heraus, daß Rechtsanwalt Herold tatsächlich an diesem Morgen auf dem Gerichte nicht zu entbehren war. Frau Helene bat ihn, der unglückseligen Frau doch sofort ein Telegramm zu schicken, in dem er ihr seinen Besuch ankündigte. Eine seltsam weiche, versöhnliche Stimmung hatte sie plötzlich überkommen. Mitfühlend war sie von Natur – und zu diesem Instinkt gesellte sich die Empfindung, als ob die Gefahr, die sie in unmittelbarer Nähe gewähnt, durch diese überraschende Konstellation zum mindesten in eine gewisse Entfernung gerückt sei ...

Während Gustav sein Frühstück hinunterschlang, warf er auf einen Block hastig ein Telegramm hin, das »an die Untersuchungsgefangene Frau Susanne Mengershausen, Moabit, Untersuchungsgefängnis, Zelle 287« gerichtet war ... Sein Wortlaut: »Komme sobald als irgend abkömmlich spätestens im Laufe des Nachmittages. Rechtsanwalt Herold.«

Währenddessen ging es Helene immerfort im Sinn herum, wie ihr vor einer halben Stunde im ersten Augenblick, als sie die seltsame Zusammenstellung von Aufdruck und Schrift des Moabiter Kuverts entdeckt hatte, sogleich diese phantastische Vorstellung durch den Kopf gezuckt war, die nun als unheimliche Wirklichkeit vor ihr stand ... Welch grauenvolle Witterung für das Allerunwahrscheinlichste ... War das der Instinkt der Eifersucht? Sie dachte doch sonst von allen Menschen das Beste, gönnte ihnen soviel Gutes, als sie nur immer sich wünschten ... Freilich – ihren Gustav ... den mußte man ihr lassen ... wer ihr da zu nahe trat – nun, ein bißchen Dämon, ein bißchen Furie steckte doch wohl am Ende auch in ihr, in der blonden, rosigen Helene Herold ...

Es prickelte ihr in allen Nerven, Gustav ihren wahnsinnigen Einfall von vorhin zu erzählen ... Aber – würde er nicht sofort den Ursprung dieser plötzlich erwachten Sehergabe erkennen? Und war es politisch, ihn, den hoffentlich doch noch ganz ahnungs- und arglosen, zum Mitwisser ihrer eifersüchtigen Wallungen zu machen? Hieß das nicht, seine Unbefangenheit – wenn sie überhaupt vorhanden war – gewaltsam zerstören? Ihre Rivalin war ja doch einstweilen sozusagen kaltgestellt ... denn schließlich – angesichts einer Anklage auf Tod und Leben ... zwischen den Wänden des Untersuchungsgefängnisses ... hörte das Kokettieren am Ende doch wohl auf, sollte man meinen –! Freilich ... Susanne Mengershausen – ah bah ... die würde noch mit dem Henker kokettieren, wenn er das Richtschwert nach ihrem schlanken, elfenbeingelben Nacken zückte ...

Und Gustav –? Was ging in ihm vor in diesem Augenblick? Mit lauernden Blicken beobachtete Helene den Gatten. Völlig instinktmäßig, in nervöser Zerfahrenheit stopfte er sein Frühstück in sich hinein ... Förmlich durcheinandertaumeln sah man seine Gedanken wie einen Schwarm aufgescheuchter Fledermäuse beim hellen Tageslicht ...

»Unfaßlich ...« knurrte er zwischen den Zähnen ... »Unfaßlich ...«

»Was ist unfaßlich ...?« fragte Helene.

»Na – die ganze Geschichte! Nach den gestrigen Zeitungsnotizen mußte man doch annehmen, die Sache sei völlig klargestellt ... Ein Pistolenschuß, ein eigenhändiger Brief an die Gattin ... und nun –? eine Denunziation der Zofe –? Eine Verhaftung wegen Mordverdachts –? Ich zerbreche mir vergeblich den Kopf –«

»Vielleicht –« sagte Helene langsam und nachsinnend vor sich hin – »vielleicht ... war der Brief am Ende gar ... gefälscht«

Gustav sah auf, peinlich betroffen.

»Also für dich existiert eine – auch nur entfernte – Möglichkeit, daß Susanne ... daß Frau Mengershausen ... –?! Das war nicht hübsch, Helene.«

»Wieso –?« fragte Helene mit gesenkten Augen. »Es kommen heutzutage ja doch täglich die haarsträubendsten Geschichten vor ... man kann sich ja eigentlich auf keinen Menschen mehr verlassen ... und schließlich ... wenn man den klapprigen Mengershausen so ansah ... und neben ihm ... diese Frau – da hatte man doch immer schon heimlich so das Gefühl: das kann doch nicht gut gehn auf die Dauer –! Irgendetwas muß da passieren – über kurz oder lang!«

Der Rechtsanwalt wagte keine Widerrede. Was seine Frau da aussprach, das hatte er selbst hundertmal gedacht und das ein oder andere Mal gewiß auch wohl zum Ausdruck gebracht ... irgendeinem näheren Freunde gegenüber. Und es war ja das Urteil der ganzen Welt gewesen.

Eine stumme Pause, während deren Gustav mit hastigen Griffen seine Privatkorrespondenz und die paar amtlichen Schriftstücke öffnete, die sich doch täglich, statt in das Büro, in seine Privatwohnung verirrten. Inzwischen schweiften Helenes Gedanken in die Zukunft der nächsten Stunden hinaus und suchten sich vorzustellen, wie ihr Gatte nun bald der hart verklagten Frau als Vertrauter ihrer Not und Hilflosigkeit gegenüberstehen würde ... Draußen in Moabit, in jenem kahlen, winzigen, unheimlichen Raum, den Gustav ihr schon früher einmal beschrieben hatte, als er – ein seltener Fall bei dem fast ausschließlich in Zivilsachen tätigen Kammergerichtsanwalt – einmal eine Offizialverteidigung zugewiesen erhalten hatte und von seinem Besuch bei der inhaftierten Angeklagten zurückgekommen war ... Eine Situation, bei der Frau Susanne sich vielleicht doch in etwas weniger vorteilhafter Beleuchtung präsentieren möchte als bei Fünfuhrtees, Premieren und Ballfestlichkeiten ...

»Sag mal, Gustav –« begann Frau Helene, »wirst du denn den Fall überhaupt übernehmen –? Du bist doch eigentlich gar kein Verteidiger – sonst sagst du doch immer ordentlich mit einer Art von Stolz, daß du nur Zivilanwalt seist ... und oft genug hast du es ausgesprochen, daß diese ... diese berufsmäßigen Verteidiger ... daß sie gewissermaßen –?«

»Na ... das ist doch wohl ein besonderer Fall ... Vergiß nicht, liebes Kind, wie ich dem Ehepaare Mengershausen überhaupt nähergetreten bin. Daß ich Mengershausens operativem Geschick – wie viele hundert Andere – doch wohl aller Wahrscheinlichkeit nach mein Leben zu verdanken habe. Meine komplizierte Blinddarmoperation vor vier Jahren ... war doch dicht vor Toresschluß, nicht wahr –? Und was Frau Susanne während meiner Rekonvaleszenz in der Mengershausenschen Klinik mir und auch dir geworden ist ... das wollen wir denn doch nicht so einfach ausstreichen auf die hoffentlich völlig gegenstandslose Denunziation irgendeiner hergelaufenen Person hin –?!«

»Nun ja doch, ja – daß Frau Mengershausen zuerst auf dich verfallen ist ... das begreife ich ja sehr wohl ... aus der Nähe unserer Beziehungen ... Aber ... nimm es nicht übel ... du hast doch oft genug gesagt, zu einem erfolgreichen Strafverteidiger gehört eine ganz besondere Routine ... Spezialist muß man sein, auch da ... Wäre es denn nicht ... vielleicht ... nützlicher für die Frau Geheimrat, wenn ... wenn statt deiner ... einer der allbekannten, gerissenen Verteidiger ihre Sache übernehmen würde – der Sello oder der Wronker oder so einer – wie?«

»Na erlaube mal, liebes Kind – das kannst du nun wohl doch am Ende mit gutem Gewissen mir überlassen!«

Frau Helene merkte, daß sie sich vergaloppiert hatte. Nein – das konnten sie nun einmal nicht vertragen, die Männer ... ihrer so wenig wie irgendein anderer ... An ihren beruflichen Fähigkeiten zweifeln ... und sei es auch auf dem entlegensten Gebiete – nein, das ließen sie sich nun einmal nicht gefallen.

»Aber Gustav – du hast mich gewiß nicht richtig verstanden ... natürlich kommt mir's nicht im entferntesten in den Sinn, als ob der Sello oder der Wronker mehr könnten wie du – Ich meine, dafür solltest du mich doch kennen! Ich habe das auch bloß ... bloß so hingesagt ... Ich dachte mir ... sieh mal, wenn Frau Mengershausen nun am Ende doch nicht so ganz ... doch nicht so ganz rein dastände ... und wenn sie am Ende gar ... hinterher verurteilt würde ... würde dann nicht jeder sagen: na ja, warum hat sie sich auch einen Verteidiger gesucht, der sich sonst eigentlich gar nicht mit derartigen Sachen befaßt –? Hätte sie den und den genommen, dann wär's gewiß anders gekommen!«

»Entschuldige, liebes Kind – aber du bist ein bißchen albern. Im Ernste wirst du Frau Mengershausen doch wohl eine derartige Tat überhaupt nicht zutrauen. Oder etwa doch –?«

Frau Helene stand hastig auf – ihre Lippen zuckten, ihre rosigen Finger zerrten ein Spitzentaschentüchelchen aus den Falten des Morgenrocks und tupften damit die überfließenden Augen.

»Es hat wohl keinen Zweck, noch weiter über die Sache zu sprechen ... Wenn Frau Susanne Mengershausen in Betracht kommt, dann ... dann – –«

»Na was dann – bitte –?«

Frau Helene verlor ihre Fassung.

»Bildest du dir vielleicht ein, ich bin blind und blödsinnig –?!« Und mit einem erstickten Aufschluchzen rannte sie aus dem Zimmer.

Gustav Herold saß einen Augenblick stumm, mit fest zusammengezogenen Brauen und verkniffenen Lippen, und starrte auf das weiße Viereck, welches das Fenster, von einem spitzendurchsetzten Store verhangen, in die pompeijanischrote Wand des Eßzimmers hineinschnitt. Dann zuckte er resigniert die Achseln.

Na ja – murmelte er halblaut vor sich hin ... Na ja – –

Mit einer ruckartigen Bewegung raffte er sich zusammen, stand auf, griff nach der Aktenmappe, in welcher er die Sachen, die er zur häuslichen Bearbeitung vom Büro mitgenommen, bei sich führte – und schritt mit straffen Bewegungen aus der Stube. Vor dem Garderobenschränkchen sann er einen Augenblick nach, welche Oberkleidung die Temperatur wohl erfordern möge. Er entschied sich für den Pelz ... Zwar war es eigentlich gar nicht so besonders kalt ... Aber ... na ja, er wählte eben den Pelz ... und selbstverständlich Zylinder ... denn immerhin ... es galt doch einen Besuch bei einer schönen ... bei einer verehrten Frau ... Wenn auch unter besonderen Umständen ... die Dame war in jedem Falle zu respektieren ... Am liebsten hätte er auch noch den modisch dunkelbraunen Jakettanzug und den Diplomatenschlips mit Gehrock und langer Binde vertauscht ... aber er schämte sich doch wohl ein bißchen vor Helene ...

Überhaupt – ob es nicht zweckmäßig war, Helene schnell noch vorher zu versöhnen, ehe er ging –? Sie schleppte sich sonst den ganzen Morgen mit Gedanken herum ... zu denen doch auch nicht der geringste Anlaß vorlag ... auch nicht der geringste ... also schnell zu ihr –!

Er fand sie im Schlafzimmer. Sie stand am Fenster und starrte in den weiten, von riesigen Fenstermauern im Geviert umrahmten Schacht des Hofes hinaus, aus dessen Tiefe mit hartem Widerhall das Teppichklopfen des Portiers empordrang. Ihre Schultern zuckten in verebbendem Weinen ... das nun aber wieder heftiger wurde, da sie seinen Schritt vernommen. Sie wandte sich nicht zu ihm um. Da trat er auf sie zu, legte beide Arme von hinten um ihre runden Schultern, so daß seine Hände sich über ihrem weichen Busen kreuzten, und zog sie an sich.

»Dummchen du –!« flüsterte er. »Na – hab' ich nicht Recht –? warst du nicht ein richtiges Dummchen –?!«

»Ich weiß doch nicht –!« flüsterte sie noch immer abgewandten Blicks und tiefgesenkten Kopfes.

Da zog er sie fest an sich, hob mit beiden Händen das runde Kinn und drückte seine Lippen auf die ihren.

»Schäfchen!« flüsterte er, »mein herzallerliebstes Schäfchen du –!«

Da legte sie die duftenden Arme fest um seinen Nacken, versteckte ihr tränennasses Gesicht an seiner Brust, tief in das rauhe Pelzwerk seines Mantels hinein, und stammelte, vom Weinen halb erstickt:

»Ich hab' dich doch so lieb, Gustav – so wahnsinnig lieb –! Und eine Angst hab' ich ... eine Angst –! Ach Gott, ich kann's dir gar nicht sagen, wie entsetzlich bang mir ist, wie entsetzlich bang –!«

*

Mit qualvoller, immerwährend steigender Nervosität hatte Gustav Herold die vier Stunden ausgehalten, die erforderlich gewesen waren, um seine Termine am Kammergericht zu erledigen. Es war ihm fast unmöglich gewesen, sich bei den Plaidoyers soweit zu konzentrieren, wie es das Interesse der Klienten erforderte. Beim Vortrag einer umfangreichen Bausache, die in zahllose kleine Einzelfragen zerfiel, hatte er sich dermaßen verheddert, daß das Gericht schließlich ungeduldig geworden war und eine Vertagung auf acht Tage »behufs genauerer Vorbereitung des Anwaltes der Berufsklägerin« in Vorschlag gebracht hatte. Nur seinem feststehenden Ruf als fleißiger und gewissenhafter Arbeiter hatte er es zu verdanken, daß Gericht und Gegenanwalt auf seine offensichtliche Indisposition Rücksicht nahmen, und eine ärgerliche Szene vermieden wurde. Tief aufatmend konnte er um halb zwei Uhr mittags Barett und Robe in den Schrank hängen und die weiße Halsbinde wieder mit der farbigen vertauschen. Mit flüchtigem Gruß entriß er sich dem Geplauder der Kollegen, stülpte den Zylinder auf den Scheitel und hastete über die dunklen Korridore, die wuchtigen Stiegen des altehrwürdigen Gebäudes hinab, trat augenblinzelnd in die Sonnenhelle des Wintertages hinaus, die auf der breiten Asphaltfläche der Lindenstraße lag, rief ein Automobil heran, sank erschöpft in die Polster, entzündete eine Zigarette und versank in ein tiefes Brüten nachschürfender Erinnerung.

Vor vier Jahren war's gewesen ... Im zweiten Jahre seiner jungen, heißverliebten, in einem ewigen Rausch der Sinnenwonne hintaumelnden Ehe, als die tückische Krankheit ihn niedergerissen hatte ... In der Traumbefangenheit eines seelenumschleichenden Fiebers war er in die Privatklinik des Geheimen Sanitätsrat Doktor Artur Mengershausen geschafft worden ... Was dort mit ihm vorgegangen war, lag endlos weit hinter ihm, wie die verschollenen Erlebnisse einer früheren Existenz auf einem fernen Stern ...

Nur die beruhigende Stimme eines stattlichen, doch schon leicht gesenkten Graukopfs mit spiegelnden Brillengläsern und stets peinlich ausrasierten schneeweißen Bartkoteletten klang wie ein sanfter Orgelton durch die Wirrnis jener blassen zerfahrenen Erinnerungen hindurch ...

Und dann die lange todesmatte Rekonvaleszenzzeit, deren erste endlose Wochen noch in der tiefen, stumpfen Ruhe der Klinik verbracht werden wollten ... Und da war zum erstenmal das mattgelbe Oval unter dem schwarzen, sezessionistisch tiefgescheitelten Haargesträhn aufgetaucht – das doch ganz beherrscht wurde von einem Paar übergroßer schwarzer Augen ... in deren Dunkelheit es immer flirrte und wirrte wie der geheimnisvolle Widerschein einer tief drunten verschlossenen Welt ...

Frau Susanne Mengershausen ... die einzige Tochter jener Irma Ressel, die einst ein leuchtender Stern der deutschen Opernbühne gewesen war und nun als eingeschnurrte, geradezu ein wenig hexenhafte Matrone still und unpersönlich im Haushalt ihres Schwiegersohnes, des berühmten Arztes, hindämmerte ...

Zwischen den beiden Ehepaaren, dem alternden Arzt mit seiner um fünfundzwanzig Jahre jüngeren Frau und den schier blutjungen Rechtsanwaltsleuten hatte sich aus der beruflichen Berührung ein lebhafter Verkehr entwickelt, dessen gesellschaftlicher Charakter sich nach und nach in einen freundschaftlichen umgewandelt hatte. Aber neben diesem offiziellen Verkehr, der sich in durchaus normalen und sympathischen Formen abwickelte, war etwas andres hergegangen, etwas tief Verschwiegenes, scheu vor der Welt sich Bergendes –

Gustav Herold war nicht nur von Beruf ein Anwalt des Rechts – er war auch von Natur und Temperament ein Mann der Korrektheit und Ordnung. Unklare Verhältnisse auf jedem Lebensgebiete waren ihm ein Greuel, untergruben die fröhliche Sicherheit seines Wesens, aus der allein heraus er schaffen und das Leben ertragen zu können meinte ... Seine Ehe blieb musterhaft, auch als die zerstörenden Wirkungen dieses Neuen seiner eigenen Seele zum Bewußtsein kamen. Mit nur um so innigerer Zärtlichkeit war er aus dem Bann der dunkelflimmernden Augen Susannes in die stets offenen Liebesarme seines Weibes zurückgeflohen. Und noch lange Zeit hindurch war Frau Helene eine völlig arglose Zuschauerin des immer vertrauteren Verkehres gewesen, der ihren Gatten mit jener anderen Frau zusammenführte, mit ihr, für die sie selber eine heftige Zärtlichkeit, eine fast neidische Bewunderung empfand ... Erst seit der häufigeren Berührung mit jener war sie sich ihrer eigenen Unbedeutendheit bewußt geworden ... Niemals aber hatte sie eine Gefahr für ihr eigenes Glück geahnt ... Bis eines Tages –

Ein Schwall wilder und weher Erinnerungen umflatterte das Hirn des einsam grübelnden Mannes, den das Auto in rasender Schnelligkeit durch den klaren Wintermorgen des geschäftigen Berlin gen Norden trug ... einem Wiedersehen entgegen, so beklemmend schaurig, wie er es sich niemals hätte träumen lassen ... damals, als ... als ihm mit unwiderleglicher Klarheit die Erkenntnis entgegengestarrt hatte ... daß ... daß nur eins noch ihn hätte retten können:

Schleunige Flucht ... völlige Trennung ...

Er hatte versucht, was in seinen Kräften stand. Er hatte sich Mühe gegeben, den bisherigen intimen Verkehr mit dem Mengershausenschen Ehepaare nach und nach ein wenig förmlicher, ein wenig entfernter zu gestalten ... Aber Frau Susanne hatte ihn nicht losgelassen.

Voll grimmiger Gewissensqual entsann sich Gustav Herolds korrekte Normalmenschenseele jenes Alpenballes im vorigen Fasching ... Frau Susanne im Kostüm einer Oberinntalerin, dessen ländliche Schlichtheit einen so pikanten Gegensatz zur mondänen Überkultur ihres eigenen Wesens bildete. Sie hatte ihn völlig in Beschlag genommen, war im tollsten Überschwang der Stimmung stundenlang an seinem Arm durch das Gewühl all der Salontiroler und künstlichen Älplerinnen geschwärmt, welche das Labyrinth der Krollschen Räume mit Tanz und Flirt und bacchantischem Lärm durchfluteten ...

Und schließlich war es droben, auf der Galerie, bei einer tiefaufatmenden Rast zu jener ... Aussprache gekommen, an die Gustav Herold noch immer zurückdachte wie an einen ersten Sündenfall ... aus dem eines Tages etwas unsagbar Schreckliches mit der logischen Notwendigkeit eines Naturprozesses sich entwickeln mußte ...

Und nun war es da, dies Schreckliche, dies Unausdenkbare ...

Aber nein – das alles war ja gar nicht wahr. Das war ja nur ein groteskes Spiel eines hämischen Zufalls, das sein klarer Blick, seine Berufstüchtigkeit mit ein paar raschen Griffen entwirren würde ... Von Stund an würde er nur noch Jurist sein, nur noch Anwalt, Anwalt des Rechts ... das ja auf Frau Susannes Seite stehen mußte, mußte – –

Das Gegenteil war ja undenkbar. Frau Susanne hatte wie eine Verschmachtende an der Seite des alternden Mannes dahingelebt ... Aber ... eine Mörderin ... eine Verbrecherin –? Pah – lächerlich –!

Nur die Phantasie einer verruchten, hysterischen, zweifellos durch Hintertreppenlektüre verdorbenen Domestikenseele hatte solch eine abgeschmackte Beschuldigung ausbrüten können –!

Nun – wir werden ja sehen ... wir werden ja hören –!

Eine tiefe Ruhe, eine aufrechte Entschließung senkte sich in das wüste Hirn des grübelnden Mannes.

Und da hielt auch schon das Auto vor dem schmalen Pförtchen, das den Eingang zu dem Untersuchungsgefängnis für die weiblichen Inhaftierten erschließen sollte. Nach wenigen Minuten stand Rechtsanwalt Herold vor dem Gefängnisinspektor und brachte sein Begehr vor: er sei der Verteidiger der gestern eingelieferten Untersuchungsgefangenen Frau Susanne Mengershausen, von ihr zu einer ersten Rücksprache bestellt – er bitte sie sprechen zu können.

»Bitte um die Bescheinigung!« sagte der Beamte fest ohne aufzublicken.

»Welche Bescheinigung?« fragte Herold bestürzt.

»Nun, die Genehmigung des Herrn Untersuchungsrichters.«

Der Rechtsanwalt bekam einen roten Kopf. Na ja – da hatte man's schon –! Das kam davon, wenn man sich mit Berufsgeschäften befaßte, zu denen einem denn doch die nötige Routine fehlte –!

Der erfahrene Beamte sah mit schwachem Lächeln auf: Aha – ein Anfänger, der noch keinen Schimmer hat –!

Herold wollte sich nicht noch weiter blamieren.

»Entschuldigen Sie – ich hatte in der Eile gar nicht daran gedacht ... Ich werde hinübergehen und mit dem Untersuchungsrichter Rücksprache nehmen. Können Sie mir vielleicht sagen, welcher Herr die Untersuchung führt?«

Der Beamte warf einen Blick über die Registratur, die über seinem Arbeitspult aufgebaut war, und hatte mit einem Griff sofort das richtige Aktenstück zur Hand.

»Untersuchungsrichter Dreiundzwanzig,« sagte er lakonisch.

»Danke verbindlichst.«

Der Rechtsanwalt war wieder draußen an der frischen Luft. Die Automobile sausten, die Elektrischen klingelten betäubend, der lebhafte Verkehr der frühen Nachmittagsstunde strudelte an ihm vorüber. Und da drinnen, hinter diesen hohen, starren Mauern ... diesen vergitterten Fensterreihen ... da drinnen irgendwo saß ... sie ... und harrte seiner ...

Gustav Herold schlenderte die Straße entlang und fahndete nach einer Buchhandlung, um sich die neueste Auflage eines Kommentars zur Strafprozeßordnung zu kaufen, von dem er nur eine uralte Auflage besaß. Vergebens ... in diesen Außenbezirken des weltstädtischen Lebens gab es nur kleine Sortimentskrämchen mit der üblichen Lektüre des arbeitenden Volkes ... den abscheulichen Nick-Carter-Heften ... der ganzen erbärmlichen Schundliteratur, die der Gebildete nur von außen, nur dem Rufe nach kennt ... Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abermals im Auto in die nächste erreichbare Zone höherer Kultur zurückzusausen, ins Quartier latin ... dort fand er sofort das Gesuchte. Und da er, der vielbeschäftigte Anwalt des Handelsrechts, nun plötzlich zum Kriminalisten gestempelt worden war, versah er sich schnell noch mit weiterem Rüstzeug, dem »Strafrechtslexikon« des Reichsgerichtsrates Stenglein, das ihm in dieser bequemen Form schnell eine Übersicht über die höchstrichterliche Stellungnahme zu den wichtigsten strafrechtlichen Problemen bot. Während der Rückfahrt studierte er die längst vergessenen Bestimmungen, überflog die Stichworte »Mord«, »Totschlag«, »Versuch«, »Teilnahme«. Dann vertiefte er sich in die »Rechte der Verteidigung«. Er hatte schnell den in Betracht kommenden Paragraphen 148 der Strafprozeßordnung ermittelt, der dem verhafteten Beschuldigten zwar mündlichen und schriftlichen Verkehr mit dem Verteidiger gestattet, diesen Verkehr aber, solange das Hauptverfahren nicht eröffnet ist, erheblich einschränkt, indem er bis zu diesem Zeitpunkte den Richter zu der Anordnung befugt, daß den Unterredungen mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne ...

Aus dieser Befugnis des Richters folgte logisch, daß vor Eröffnung des Hauptverfahrens der Besuch des Verteidigers bei dem verhafteten Angeschuldigten ohne vorgängige Genehmigung des Richters – in diesem Falle also des Untersuchungsrichters – nicht zulässig sei ...

Der Gefängnisbeamte war somit vollkommen in seinem Recht gewesen, und es galt zunächst das Einverständnis des mit der Sache befaßten Untersuchungsrichters herbeizuführen. Was aber das Bedrückendste war: man mußte sich darauf gefaßt machen, daß der Untersuchungsrichter dem Verteidiger eine Gerichtsperson beigeben werde, welche der Unterredung des Verteidigers mit seiner Klientin beizuwohnen haben würde ...

Und wenige Minuten später befand sich Gustav Herold in einem Milieu, das ihm aus seiner eigenen um neun Jahre zurückliegenden Referendarzeit in der Erinnerung war: im Vorzimmer des Untersuchungsrichters Dreiundzwanzig. Ein halbes Dutzend Menschen verschiedensten Alters und Standes saß da herum, lauter Erscheinungen, in denen der lethargische Stumpfsinn des langen Wartenmüssens in dumpfer Atmosphäre mit dem Fieber jener Erregung zusammenrann, die sich stets des Laien bemächtigt, wenn er mit der schicksalsmächtigen Gewalt der Rechtspflege in Berührung tritt ...

Er zeigte dem diensthabenden Gerichtsdiener Frau Susannes Brief und bat, ihm sobald als irgend möglich das Gehör des Richters zu verschaffen.

»Der Herr Untersuchungsrichter hat Termine,« schnarrte der Gerichtsdiener. »Setzen Sie sich, Herr Rechtsanwalt – warten Sie.«

Der lümmelhafte Ton, dessen sich der Rechtsanwalt von derartigen Unterbeamten stets zu versehen hatte, und der nur einen Widerhall des zweifelhaften Rufes bildete, dessen sich der Strafverteidiger in seiner Berufsausübung auf seiten der Gerichte selbst erfreute, war dem erfahrenen Anwalt keine neue oder überraschende Erscheinung. Dieses Phänomen galt es mit gelassenem Achselzucken hinzunehmen ...

Länger denn eine halbe Stunde hatte Gustav Herold Gelegenheit, den Gedanken, die sein Haupt umschwirrten, wiederum Audienz zu geben. Ja – ja – wer dem Leben gewachsen sein wollte – der mußte doch wohl Nerven wie Hanfseile haben! Also dies erste schauerliche Wiedersehen – das sollte sich vollziehen nicht einmal unter vier Augen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in Gegenwart eines Justizbeamten ... eines Gerichtsschreibers vielleicht, eines ehemaligen Unteroffiziers ... oder eines jungen, eleganten, monokeltragenden, neugierigen Referendars ...

Arme, schöne Frau Susanne –!

Und als nun Gustav Herold mechanisch seine Taschenuhr zog, da wies sie die dritte Nachmittagsstunde ... und mit Entsetzen fiel ihm ein, daß die schwarzumränderte Todesanzeige, die als einziges Lebenszeichen Frau Susannes aus ihrem jungen Witwenstand in sein Haus hinübergeflogen war, ehe der heutige Brief ankam – daß die auf heute nachmittag drei Uhr zur Beerdigung des Geheimrats Doktor Mengershausen eingeladen hatte –!

In diesem Augenblick also, in diesem nämlichen, hatte sich in der prunkvollen Häuslichkeit des Verstorbenen das Trauergeleit versammelt ... in diesem Augenblick stand wohl auch Helene im schwarzen Gewand am Sarge des Mannes, in dem sie den Retter ihres Gatten verehrt hatte ...

Grauenhaft mußte diese Beisetzungsfeierlichkeit sein –! In den Herzen der Hunderte, die dort zusammengeströmt sein würden, nur der eine Gedanke – der Gedanke an die Herrin dieses Hauses, an den Menschen, der dem Verstorbenen von allen am nächsten gestanden hatte ... und der nun fern, fern da oben in Moabit im Untersuchungsgefängnis saß ...

Und dann – ein schriller Kontrast zu dieser Grundstimmung aller Versammelten – in getragener Feierlichkeit sich abwickelnd, das Zeremoniell der Beisetzungsfeierlichkeit ... Trauergesänge eines Männerquartetts – die Leichenrede des Geistlichen, der gewiß im letzten Augenblick bei der Nachricht von der entsetzlichen Wendung, die sich gestern abend vollzogen hatte, sein ganzes wohlvorbereitetes Konzept hatte über den Haufen werfen müssen, um in einem tragischen Eiertanz der Beredsamkeit an der schroffen Klippe vorbeizugaukeln, an welcher der gemessene Ernst frommer Ergebung jählings in klirrendem Schiffbruch hätte zerschellen müssen ...

– Aber nein – das ging nicht ... Gustav konnte unmöglich warten, bis der Untersuchungsrichter Dreiundzwanzig das ganze Programm seiner Tagesarbeit abgewickelt haben würde ... Es gab förmlich einen kleinen Kampf mit dem Gerichtsdiener, als der Rechtsanwalt es unternahm, in das Allerheiligste des Inquisitors vorzudringen. Aber es gelang ihm schließlich doch, an die Türe zu klopfen, aus der ein indigniert scharfes »Herein« erscholl ... Herold trat ein. Hinter Aktenstößen saß der Richter, der sich nun aus seiner lässigen Haltung, in der er den unglücklichen Zeugen ihm gegenüber auf dem Stuhl dort ausgequetscht hatte, zu autoritativer Straffheit emporreckte und ihm entgegenschnarrte:

»Wie ist es möglich, daß Sie hier hereingekommen sind? Hat der Gerichtsdiener Sie durchgelassen, wenn ich fragen darf? Ich habe mir ein für allemal jede Störung während der Termine verbeten –!«

Der Referendar, der als Protokollführer fungierte, und eine andere, patent gekleidete Jünglingsgestalt, die in der Ecke am Fenster dem Aktenstudium obgelegen – Herold erkannte natürlich in ihr sofort einen zweiten, dem Untersuchungsrichter zugeteilten Referendar – also diese beiden jungen Herren weideten sich mit dem lebhaftesten Vergnügen an dem bescheidenen Kitzel dieser dramatischen Unterbrechung ihrer monotonen Tagesarbeit –

»Ich bitte höflichst um Verzeihung, Herr Untersuchungsrichter – ich wurde vom Untersuchungsgefängnis an Sie verwiesen – Rechtsanwalt Doktor Herold.«

Und er reichte dem Beamten Susannes Brief.

Der Untersuchungsrichter knurrte irgendetwas Unverständliches vor sich hin – überflog den Brief ... reichte ihn dem protokollierenden Referendar, indem er mit dem Zeigefinger die Unterschrift bezeichnet:

»Die Akten bitte, Herr Kollege!«

Eifrig kramte der Referendar in den Aktenstößen und reichte alsbald seinem Vorgesetzten einen gelben Umschlagbogen herüber, welcher den mit Tinte ausgefüllten Vordruck trug:

»Vorverfahren gegen die p. Mengershausen wegen Tötung ...«

– Der Fall Mengershausen –! Der ganze Schauder vor dem seelenlosen Funktionieren des Mechanismus des Justizbetriebes, der den Laien stets überfällt, so oft er mit ihm zu tun bekommt, und gegen den der Berufsjurist im Laufe der Jahre völlig abgestumpft wird ... in diesem Augenblicke packte er den Doktor juris Gustav Herold, daß ihm fast schwindelte vor Ekel und Abscheu. Fern im Süden, am Kurfürstendamm, feierte man die Beisetzung eines Toten ... ein paar Häuser von hier hinter Gefängnismauern fieberte des Toten Weib ... Und hier in der muffigen Stube verhandelten ein paar fremde, fühllose Menschen nach dem Schema ihrer Berufsroutine und dem geheiligten Ritus des Paragraphensystems den »Fall Mengershausen« ...

»Sie haben Ihre Bestellung zum Verteidiger noch nicht zu den Akten angezeigt, Herr Rechtsanwalt ...« sagte der Untersuchungsrichter.

»Ich habe erst heute morgen das Ersuchen der Angeschuldigten erhalten, ihre Verteidigung zu übernehmen. Die vorgeschriebene Anzeige erfolgt hiermit.«

»Sie wünschen also die Angeschuldigte zu sprechen?«

»Allerdings.«

Der Richter überlegte einen Augenblick. »Das ist natürlich Ihr gutes Recht. Aber ich halte mich für verpflichtet, von der Befugnis des § 148 Absatz 3 Gebrauch zu machen, und ordne hiermit an, daß den Unterredungen des Verteidigers der Angeschuldigten eine Gerichtsperson beizuwohnen hat. Als solche wird der Referendar Doktor Fritze hiermit bestimmt und beauftragt, den Herrn Verteidiger zum Untersuchungsgefängnis unverzüglich zu begleiten.«

Der junge Herr, der am Fenster über seine Akten gesenkt die Unterredung verfolgt hatte, schnellte empor und verbeugte sich, indem er militärisch die Hacken zusammenschlug.

»Darf ich mir noch eine Frage gestatten, Herr Untersuchungsrichter?« sagte Herold mit mehr Höflichkeit im Ton, als er sich eigentlich vorgenommen hatte.

»Bitte.«

»Ich möchte gerne wissen, was für Verdachtsmomente gegen die Angeschuldigte vorliegen.«

Der Untersuchungsrichter zog die Stirn in Falten und warf einen scharf prüfenden Blick auf seinen Besucher.

»Wie Ihnen bekannt sein dürfte, Herr Rechtsanwalt, steht dem Verteidiger das Recht der Akteneinsicht erst nach dem Schlusse der Voruntersuchung zu. Vorher ist ihm nach dem Wortlaut des Gesetzes die Einsicht der gerichtlichen Untersuchungsakten nur soweit zu gestatten, als dies ohne Gefährdung des Untersuchungszweckes geschehen kann. Ich bedaure, Ihnen aus diesem Grunde die Akteneinsicht nicht gestatten zu können und jede Auskunft verweigern zu müssen.«

Die Stirn des Rechtsanwalts rötete sich. Seine Lippen zuckten.

»Sie sind also der Auffassung, Herr Landrichter, daß, wenn ich in die Akten Einsicht nehmen würde, der ... Untersuchungszweck ... gefährdet sein würde –?«

Gesicht und Stimme des Richters blieben völlig unbeweglich, als er antwortete:

»Nach der Fassung des Briefes der Angeschuldigten an Sie stehen Sie zu der Frau in nahen persönlichen Beziehungen. Ich habe nicht die Ehre, Sie näher zu kennen – aus diesem Grunde bedaure ich bei der von mir geäußerten Auffassung verharren zu müssen.«

Der Rechtsanwalt verneigte sich und wartete stumm, bis der Richter seinen Beschluß in den Akten registriert und auf dem Briefe der Frau Geheimrat Mengershausen einen entsprechenden handschriftlichen und unterstempelten Vermerk angebracht hatte. Dann verneigte er sich kurz vor dem Referendar:

»Darf ich bitten, Herr Kollege –?«

Der Referendar warf einen Blick zu dem Untersuchungsrichter, der mit einem Kopfnicken bestätigte und sich dann wieder zu seinem Zeugen wendete. Von der Abschiedsverneigung seines Besuchers und seines Untergebenen nahm er kaum mit einem flüchtigen Dank Notiz. Und Rechtsanwalt Herold zog ab mit dem jungen Herrn, den man ihm als Aufsichtsperson an die Seite gegeben, damit »der Untersuchungszweck nicht gefährdet würde« ...

Während er mit seinem Begleiter die hallenden Steintreppen des um diese Nachmittagsstunde fast menschenleeren Gebäudes hinunterstieg, durchzuckten sein Hirn blitzartig die Erinnerungen an all jene Erörterungen, die er in der »Deutschen Juristen-Zeitung« gelesen hatte, und welche sich mit der ungeheuerlichen Benachteiligung beschäftigten, die einem in Untersuchung gezogenen Angeschuldigten durch die gesetzliche Gestaltung des Vorverfahrens zuteil wurde. Dinge, mit denen der in Strafsachen versierte Jurist sich längst achselzuckend abgefunden haben mochte ... ihn, den Zivilanwalt, stießen sie förmlich wider die Stirn. Erinnerte das nicht alles an mittelalterliche Zustände –? Gab es nicht jenen Anklägern recht, welche behaupteten, daß der vorsintflutliche Inquisitionsprozeß in wesentlichen Partien unsrer heutigen Strafgesetze noch fortspuke –?

Die untersuchungführende Behörde, mit allem Rüstzeug des Wissens und der Routine ausgerüstet, hatte alle Fäden in der Hand, übersah und wirkte selbst das ganze Gewebe, in dessen Maschen der Angeschuldigte eingefangen werden sollte ... Und dieser selbst blieb ganz auf seine eigene Erregung und Hilflosigkeit beschränkt ... dem rechtsgelehrten Helfer aber, dem er die Wahrung seiner gesetzlichen Rechte anvertraute, dem verschloß sich während der ersten entscheidenden Momente des eingeleiteten Verfahrens völlig der Einblick in das angesammelte Material – ja nicht einmal zu vertraulicher Aussprache mit seinem Schutzbefohlenen gab man ihm Raum ... man überwachte sogar den Verkehr des Beschuldigten mit seinem Rechtsanwalt, in jenem ungeheuerlichen Mißtrauen gegen diesen Stand, das unsere ganze Rechtspflege durchzog ... gegen jenen Stand, den man doch bei feierlichen Gelegenheiten immer mit Emphase als gleichberechtigten Faktor der staatlichen Rechtspflege anerkannte und rühmte ... Wie erwies doch dieser Fall so klar die Berechtigung der seit langen Jahren in der Wissenschaft, im Reichstag und in der Presse immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Reform der Strafprozeßordnung, welche eine Erweiterung der Rechte der Verteidigung, Erleichterung der Akteneinsicht und des Verkehres mit dem Angeschuldigten als Mindestziele enthalten müßte! Freilich waren das alles nur Wünsche und Vorschläge geblieben, Anregungen und »schätzenswertes Material« für Entwürfe und Kommissionsberatungen, ohne daß der Gesetzgeber zu einer entschlossenen Tat gelangt war.

Aber diese prinzipiellen und theoretischen Bedenken und Beklemmungen des Juristen versanken in dem Augenblick, als der Rechtsanwalt mit seinem Aufpasser das Justizgebäude verlassen hatte und nun wiederum seine Schritte dem Untersuchungsgefängnis zulenkte, in dem die unglückselige Frau nun schon seit vielen Stunden vergeblich seines Trostes, seiner Hilfe harrte. So stürmten all seine Gedanken, fieberten all seine Gefühle dem nahen, grausamen Wiedersehen entgegen ...

Der kleine Referendar, ein elegantes Kerlchen, auf dessen glattem Gesicht auch die martialischen Schlägernarben den Ausdruck kindlicher Gutmütigkeit nicht verdecken konnten, hatte seine heftige Neugier gewaltsam niedergehalten und war in korrektem Schweigen an der Seite des älteren Fachgenossen hingeschritten, dessen weit über das normale Interesse des Anwalts an einem Fall seiner Berufstätigkeit hinausgehende Erregung auch ihm nicht hatte entgehen können. Aber endlich konnte er seine Neugier nicht länger zügeln und traute sich mit einer bescheidenen Frage heraus:

»– Wohl 'n besonders interessanter Fall, was, Herr Rechtsanwalt –?«

»Einigermaßen,« erwiderte Herold. »Eine Dame meiner eigenen Gesellschaftskreise.«

»Donnerwetter! wessen angeschuldigt, wenn man fragen darf?«

Der Rechtsanwalt hatte nicht übel Lust, den jungen Herrn mit einer groben Antwort in die Schranken seines Amtes zurückzuweisen. Aber die wasserblauen Augen da neben ihm leuchteten in so liebenswürdiger Harmlosigkeit ... und dann entsann sich der Rechtsanwalt, daß er auf den Takt dieses jungen Herrn doch in der bangen halben Stunde, die vor ihm lag, einigermaßen angewiesen sein würde ... So bezwang er sich denn und antwortete freundlich in möglichst lässigem Tone:

»Sie wird beschuldigt, ihren Mann ermordet zu haben. Genaueres weiß ich auch noch nicht.«

»Um Gotteswillen –!« Das rosige Gesicht des jungen Menschen wurde um drei Schattierungen blasser, seine Hand tastete unsicher in den steilen Schlot des Achtzentimeterkragens hinein. Man sah: der da war noch nicht abgebrüht im seelenmordenden Einerlei des Justizbetriebes ...

»Übles Pöstchen, das mein hoher Herr Chef mir da aufgebrummt hat – . Na, Sie dürfen mich getrost als nicht existierend behandeln, Herr Rechtsanwalt – ich werde mich nach Möglichkeit unsichtbar und unbemerkbar machen ... im Komplott mit einer Mörderin werden Sie ja doch wohl nicht sein, nicht wahr?«

Der Rechtsanwalt dachte an seine eigene Jugendzeit und lächelte flüchtig.

»Ich würde an Ihrer Stelle doch genau aufpassen, Herr Kollege –! Man kann nie wissen –!«

»– Scheußliche Situation –!« knurrte der feine Junge vor sich hin.

Die zwei Eindringlinge wurden aus den Händen des einen Beamten in die des andern gereicht ... durchschritten hallende Korridore, die mit eisernen Gittern verwahrt waren ... die öffneten sich vor ihrem Schritt, und der phantastische Bau nahm sie auf, dessen fünf Flügel, in Sternform um einen Mittelpunkt gruppiert, hoch und licht aufragten, im Erdgeschoß von einer Doppelreihe verriegelter Türen eingesäumt, in den oberen Stockwerken von eisernen Galerien, hinter denen man ebenfalls die Reihen der Gefängniszellen vermuten konnte. Hier und dort schlichen kleine Trupps von untersuchungsgefangenen Frauen an den Ankömmlingen vorüber, von Beamten geführt, zu irgendeiner Arbeit ... Meist Frauen der unteren Stände, mit stumpf verwahrlostem oder neugierig frechem Gesichtsausdruck. Und endlich tat die Tür eines niederen Gelasses sich vor ihnen auf, welche die Aufschrift trug: »Terminzimmer«.

»Wollen die Herren sich gedulden,« sagte der Schließer. »Gleich wer' ick Ihn' die Untersuchungsgefangene vorführen.«

Nun wird sie kommen ... sagte Gustav Herold zu sich selbst ... Da – zu dieser schmalen schwarzen Pforte da – wird sie hereintreten ... Er sagte es sich ... und konnte es nicht fassen ... und glaubte es nicht ...

Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen – aber es gelang ihm nicht. Nur ihrer Kleider entsann er sich, die sie getragen hatte an bedeutungsvollen Tagen – ihrer Poirettoilette – ihrer bloßen Arme, die sie beim Gespräch so gern auf die Tischkante stützte, das Kinn auf die verschlungenen Hände gelehnt ... des Ansatzes ihres Halses, des zarten schwarzen Flaums, der ihren Nacken überzog ... Aber ihr Gesicht ... ihre Augen ... das alles fand er nicht ...

Und dann raffte er sich doch zusammen. Wohin verlor er sich –? Hatte er sich nicht gelobt, für die nächste Stunde nur Berufsmensch, nur Jurist, nur Verteidiger zu sein ...?

Und war es nicht auch eine verwerfliche Regung, wenn Gustav nun das Bedürfnis fühlte, den Pelz ein wenig zu öffnen, so daß das weiche, braune Fell einen dekorativen Rahmen für seine schlanke, straffe Gestalt abgab –?

Ach – das alles durfte eigentlich nicht sein ... aber es war nun eben doch ... und auch dies war, daß einen Augenblick die Empfindung aufblitzte, das sei doch eigentlich eine verflucht interessante Situation ... Schützer und Schirmer der verfolgten Unschuld ... beinahe so etwas wie Ritter vom Heiligen Gral ... und die verfolgte Unschuld eine gefeierte Schönheit der Berliner Gesellschaft ... und hatte Frau Susannes dunkelflimmernde Augen ... und überhaupt ... nun eben, es war Susanne ...

Während der Rechtsanwalt seine Aktenmappe auf dem Tisch ausgepackt hatte, der in der Mitte des Zimmers stand, hatte der Referendar sich einen Stuhl in die Ecke ans Fenster gezogen und sich dort so unsichtbar wie möglich gemacht. Er fühlte sein Herz so laut schlagen, daß ihm war, als hätte der Rechtsanwalt es hören müssen ... Das romantische Grauen des Moments trübte ihm Augen und Sinne ... und ein Neid stieg in ihm auf gegen den Anwalt, welcher der Held und Herr der Stunde war ... während er zu der abscheulichen Rolle eines Aufpassers, eines Spitzels degradiert war ...

Und nun schnellten beide Männer mit jähem Ruck empor ... Schritte hallten draußen auf den Fliesen des Korridors, ein schwerer, plumper ... und ein elastischer, weicher ... es rasselte ein Schlüsselbund ... und nun öffnete sich die niedere Tür ... und da stand sie – –

Im schwarzen Gewande tiefster Witwentrauer, den stumpfen Tuchrock, der von den schmalen Hüften niederfiel, bis fast zum Knie empor mit Krepp verbrämt ... ganz Krepp die Taille mit dem bis unters Kinn, bis unter die Ohren geschlossenen steifen Kragen ... es schien, als hingen die tiefen Schleier der schwarzen Haarscheitel noch tiefer als sonst auf Stirn, Wange und Ohren hernieder ... Und aus der Schwärze dieser ganzen Umrahmung hoben sich in mattem, opalisch leuchtendem Elfenbeingelb nur drei lichte Flecke hervor – das schmale Oval des Gesichtes und die schlanken Hände, die schlaff, wehrlos, willenlos ergeben herniederfielen ...

Von dem feinmodellierten Ohrläppchen hingen zwei lange, matte Jettropfen hernieder, wie zwei schwarze, zähe, erstarrte Tränen ...

Ein Symbol der Trauer stand sie da ... eine tragische Muse ...

»Na, denn wer ick Ihn' also inschließen, Herr Rechtsanwalt –« knarrte die rostige Stimme des Aufsehers. »Wenn Se wer'n fertig sinn – da an der Wand is de Klingel.« Der Alte schlorrte hinaus, die Tür schnappte ins Schloß ... der Riegel kreischte, die schweren Tritte schlurften draußen auf den Fliesen von dannen.

Da ging es wie ein Schauder durch den schlanken Körper der Frau ... sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte kurz und jäh auf. Und nun stieg es heiß und brennend auch in Gustav Herolds Kehle und Augen. Mit zwei Schritten war er bei ihr, nahm ihr sanft beide Hände von den Augen und zog die eiskalten in tiefer Erschütterung an seine Lippen, eine nach der andern ...

»Bitte, bitte, gnädige Frau ... beruhigen Sie sich doch ... ich bin ja nun da ... es muß alles gut werden ...«

»Ich danke Ihnen ... Doktor ...«

Und nun erst, als sie die Augen wieder hob, schien sie den fremden jungen Menschen da am Fenster entdeckt zu haben, und mit entsetzter Frage flog ihr Blick zu ihm hinüber und dann zu dem Freunde zurück.

»Gesetzliche Vorschrift, gnädige Frau –!« sagte Gustav kurz und mit einer vorstellenden Handbewegung: »Herr Referendar Doktor –«

Ein fragender Blick zu dem jungen Kollegen – der nannte seinen Namen, schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich tief, wie vor einer Fürstin.

»Ich bin untröstlich, gnädige Frau, Ihre Aussprache mit Ihrem Herrn Verteidiger durch meine Gegenwart ... ich bitte, rechnen Sie mir das nicht persönlich an ...«

Frau Susanne machte nur eine leicht abwehrende Handbewegung und neigte dabei ergebungsvoll das Haupt. Dann fragte sie, zu Herold gewendet:

»Und ich werde Sie also überhaupt nicht allein sprechen können –?«

»Solange die Voruntersuchung dauert – leider nein, gnädige Frau. Bedenken Sie aber, daß der Herr Kollege dienstlich hier anwesend ist und unter Amtsverschwiegenheit steht.«

Wieder neigte Frau Susanne stumm das Haupt. Sie wankte. Erschüttert legte Gustav Herold ihr die Linke um die Schulter und führte sie zu dem ungeschlachten Stuhle, der am Vernehmungstische stand, seinem eigenen gegenüber. Und nun hatte sie sich wiedergefunden. Ganz straff und aufrecht saß sie da, die dunklen Augen mit resignierter Erwartung auf den Rechtsanwalt gerichtet, der nun ganz geschäftsmäßig ihr gegenüber Platz nahm und in verändertem, streng offiziellem Tone die Verhandlung eröffnete.

»Sie schrieben mir bereits, gnädige Frau, Sie seien gestern nachmittag verhaftet worden. Um welche Stunde war das?«

»Gegen sechs Uhr.«

»Sie befanden sich in Ihrer Wohnung und waren vermutlich mit den Vorbereitungen für die Beisetzung Ihres verstorbenen Herrn Gemahls beschäftigt –?«

»Allerdings.«

»Sind Sie bereits durch den Richter verantwortlich vernommen worden?«

»Ja –«

»Gestern oder erst heute morgen?«

»Heute morgen.«

»Und – hat der Richter Ihnen bereits nähere Mitteilungen gemacht über die Veranlassung Ihrer Verhaftung ... über ... die Anschuldigung, welche gegen Sie erhoben wird?«

»Ich schrieb Ihnen bereits: mein Hausfräulein – sie nannte sich Elsbeth, ich habe erst heute erfahren, daß sie in Wirklichkeit Anna heißt, und mit Familiennamen Krölke – sie hat mich ... denunziert ...«

»– Und was ... was hat sie behauptet?«

»Ja – wie soll ich mich ausdrücken –? Die ganze Sache ist so ... so abgeschmackt, so ungeheuerlich – es ist mir vollkommen unbegreiflich, daß so etwas vor Gericht überhaupt ernst genommen werden konnte ...«

»Aber bitte, gnädige Frau, so erzählen Sie doch nur ...«

»Sie wissen vielleicht bereits, Herr Doktor, auf welche Weise mein Mann ... die unselige Tat –?«

»Ja, gnädige Frau – ein Revolverschuß –? nicht wahr?«

Frau Susanne schauderte wie im Frost zusammen. Fast tonlos bejahte sie.

»Die Zeitungen,« fuhr der Anwalt fort, »haben bereits lange Berichte über die Angelegenheit gebracht. Es ist mir also auch bekannt, daß Ihr verehrter Herr Gemahl einen Brief an Sie hinterlassen hat, in welchem er Sie wegen seines Schrittes um Verzeihung bittet ... und die Gründe auseinandersetzt. Sie können sich also meine sprachlose Überraschung vorstellen, als ich Ihre Zeilen bekam. Erzählen Sie, bitte.«

»Das Mädchen behauptet also ... behauptet also: ich hätte meinen Mann ... ja mein Gott – das kann man ja kaum aussprechen ... ich hätte ihn ... hypnotisiert ...«

»Hypnotisiert –!?« Der Rechtsanwalt fuhr förmlich in die Höhe. »Das ist ja ... ist ja eine Geschichte aus ... aus einem Hintertreppenroman ...«

»Gott sei Dank ... Sie also auch –! Ja, das war auch das erste, was ich dem Richter gesagt habe. Also hören Sie nur: die Person will ... belauscht haben, wie ich meinem Mann des Nachts im Schlaf ... den Brief diktiert haben soll ... und dann soll ich ihm befohlen haben, diesen Brief zu schreiben ... und dann ... sollte er – begreifen Sie –?«

»Aber – das ist ja heller Wahnsinn! Das ist ja ein Märchen, um Kinder gruseln zu machen! Und das – das hat der Richter geglaubt –?! Daraufhin ... allein daraufhin hat man Sie verhaftet?«

»Ja – ich begreif' auch nicht. Aber denken Sie nur – der Richter hat das Mädchen mir gegenübergestellt ... und sie hat die unerhörte Dreistigkeit gehabt, diese ganze Beschuldigung mir ins Gesicht zu wiederholen. Sie behauptet, sie habe sich nachts ins Badezimmer geschlichen ... um ... nun, um uns zu belauschen ... und dabei habe sie ganz deutlich gehört, wie ich meinem Mann diesen Brief langsam und laut vorgesprochen habe ... und dann ... dann soll ich – – oh Gott, Herr Doktor – ich kann nicht mehr ... ich kann nicht mehr –!«

Frau Susanne warf die Arme auf die Tischkante, schwer sank ihr Kopf herunter, krampfhaft zuckten ihre beiden Schultern, ein Stöhnen, ein Röcheln fast, widerhallte schauerlich an den kahlen Wänden der öden Stube.

Der kleine Referendar war hastig aufgestanden und ans Fenster getreten. Er hielt sein Taschentuch vor Mund und Augen gepreßt, das Grauen, die Tränen zu dämmen, die aus der Tiefe seines jungen ungeprüften Herzens emporstiegen ...

»Bitte fassen Sie sich, gnädige Frau,« bat Gustav Herold. »Ich habe Sie noch viel zu fragen. Es muß doch noch irgendetwas anderes vorliegen als eine derartig phantastische Denunziation einer Dienerin, die doch wahrscheinlich sogar irgend eine greifbare Veranlassung hatte, Ihnen übelzuwollen – übrigens ... was haben Sie denn eigentlich mit der Person gehabt –? Wie erklären Sie sich überhaupt die Anzeige?«

»Ach ... das ist ja so einfach ... so klar ... Acht Tage vor dem Tode meines Mannes ... hat das Mädchen während unserer Abwesenheit an einem Sonntage, wo auch das Dienstmädchen beurlaubt war, ihren ... ihren Galan in unsere Wohnung eingelassen. Ich hatte Migräne, und wir haben schon nach dem zweiten Akt der ›Meistersinger‹ aus der Oper herausgemußt ... Mein Mann hatte mich nur bis vors Haus begleitet, um nachher noch, wie verabredet, mit Freunden zusammen zu sein ... Und da – da habe ich das Mädchen mit ihrem Verehrer ... überrascht ... Ich wollte sie sofort vor die Tür setzen ... habe mich aber törichterweise durch ihr Gewinsel bewegen lassen, sie zu behalten ... Nur an ihre Eltern habe ich geschrieben ... Das ist jedenfalls der Grund gewesen – –«

»– Und das ... das haben Sie doch natürlich dem Richter mitgeteilt –? Und haben es bei der Gegenüberstellung dem Mädchen vorgehalten –?«

»Selbstverständlich! Sie hat natürlich auch alles zugegeben.«

»Ja – es wird mir aber immer weniger begreiflich, wie der Richter ihrer Denunziation ... Glauben schenken konnte! Es muß doch noch irgendein ... irgendein Anhaltspunkt ... gewesen sein ... irgend ein Umstand ... tatsächlicher Natur ... welche der Beschuldigung einen Schein von Glaubwürdigkeit leihen konnte –!«

Frau Susanne richtete sich straff auf und sah ihrem Verteidiger fest in die Augen.

»Ja – etwas derartiges ... ist tatsächlich vorhanden. Also ich hatte mir von dem Brief ... meines Mannes ... den er mir hinterlassen hat, nicht wahr? – von dem hatte ich mir ... mit Bleistift eine Abschrift gemacht ... um sie meiner Schwester zu schicken ... meiner verheirateten Stiefschwester in Prag ... die habe ich abends spät auf meinem Schreibtisch liegen lassen ... und andern morgens war sie verschwunden. Am Nachmittag wurde ich verhaftet ... und da ... hat die Polizei in unserm Schlafzimmer alles durchsucht ... und hat ... vor meinen sehenden Augen ... den Zettel – mit der Abschrift des Briefes – gefunden ... in der Schublade des Nachttischchens an meinem Bett ...«

Gustav Herold hatte in diesem Augenblick die Vision, als langte von der Decke hernieder eine riesige graue Schattenhand ... spreizte sich weit aus und griffe – nach wem? nach der schönen Frau, die ihm da gegenüber saß, so ganz neu für ihn, so ganz entkleidet der gelassenen, unnahbaren Hoheit, die sonst um sie gewesen war ... so rührend, so mädchenhaft in ihrer hilflosen Verzweiflung ...

Oder langte sie gar nach ihm – die graue Schattenhand von droben –?

»– Ah ... ich glaube, ich verstehe ... und nun meint also die Polizei ... und wohl auch der Richter, nicht wahr? – die meinen: was in Wirklichkeit eine ... eine Abschrift ist ... das sei ... das sei das Original des Briefes gewesen ... den der Gatte hinterlassen hat –!«

Frau Susanne hielt den forschenden Blick ihres Freundes aus, der in ihre Augen drang, als wolle er auf den Grund ihres Wesens schauen.

»Der Richter sagt: es kommt ihm so vor, als ob ... als ob ich mir den Brief ... den ich meinem Manne hätte sug ... wie heißt das doch noch –?«

»– Sie wollen sagen, suggerieren wollen –«

»Ja, ganz richtig, suggerieren wollen, so sagte er ... den Brief also, den hätte ich mir vorher ... aufgesetzt ... und hätte ihn dann meinem Manne vorgelesen ... natürlich, als er in dem ... hypnotischen Zustand gewesen wäre ...«

Gustav Herold fixierte sekundenlang die Spitze seines Bleistiftes und sann scharf nach.

Eine Logik in der Tat, die etwas außerordentlich Bestechendes hatte ... Wenn man die phantastische Möglichkeit eines derartigen Planes einmal als wahr annahm, wenn man sich vorstellte, wie eine Frau handeln würde, die ihrem Gatten einen solchen zu ihrer eigenen Entlastung bestimmten Brief ... suggerieren wollte ... wenn man weiter annehmen wollte, daß etwas derartiges psychologisch und physiologisch überhaupt möglich sei ... dann war es ja doch selbstverständlich, daß diese Frau den Wortlaut eines derartig bedeutungsvollen Schriftstückes erst einmal mit der Feder in der Hand festlegte, bevor sie es unternahm, ihn der vorher hypnotisch beeinflußten Willenssphäre des Objekts ihres verbrecherischen Angriffs auf dem Wege der Suggestion einzuverleiben ...

Gustav Herold empfand es ganz deutlich, wie angesichts dieses juristisch formalen Denkprozesses, den er aus der Seele des Untersuchungsrichters heraus in seinem eigenen Inneren zu reproduzieren versuchte, der Dialektiker in ihm über den Menschen völlig Oberhand gewann ... Daß seine persönlichen Beziehungen zu der Heldin der grauenvollen Tragödie, die sich vor ihm aufreckte, in diesem Augenblicke abfielen, wie stets die individuellen Schlacken des Einzelfalles zu Boden sinken, wenn es gilt, die rechtserheblichen Momente eines menschlichen Schicksals im Schmiedefeuer wissenschaftlicher Logik herauszuläutern ... Und inmitten des tosenden Wirrwarrs seiner Empfindungen fühlte er in dieser Sekunde etwas von jener grausam objektiven Forscherfreude, jenem eisigkalten Wissensstolz, der dem Laien so unbegreiflich ist ... und der doch nichts andres ist, als das reine Funkeln der einzigen Waffe, mit welcher der Mensch die dunkle Tücke des Schicksals zu besiegen vermag: der Waffe des Gedankens ...

Dies also war der Grundpfeiler des Gebäudes, auf das sich der »hinreichende Verdacht« der Staatsanwaltschaft stützte: dieses Blatt Papier, von der Hand der Angeschuldigten mit Schriftzeichen bedeckt, deren Wortlaut übereinstimmte mit jenem Briefe, den der Verstorbene der Gattin hinterlassen hatte ... War dieser Zettel das Original des Briefes ... oder war der Brief das Ursprüngliche und der Zettel nur eine Abschrift –? Nun – er würde den Zettel ja fürs erste nicht zu sehen bekommen. Der befand sich bei den Untersuchungsakten, und in die war ihm, dem Verteidiger, ja bis auf weiteres die Einsicht verwehrt. Hätte er diese beiden Schriftstücke nebeneinander, dann, so meinte er, müßte es doch ein Kinderspiel sein, unwiderleglich festzustellen, ob der verhängnisvolle Zettel die Urschrift oder eine Kopie war –!

Er behielt diesen Gedanken ganz für sich. Es war nicht nötig, ihn in Gegenwart des Vertreters der Untersuchungsbehörde laut werden zu lassen.

»Ich bin im Bilde, gnädige Frau. Die Denunziation Ihrer entlassenen Angestellten hat also an dem Zettel, der sich in Ihrem Schlafzimmer vorgefunden hatte, eine gewisse Stütze erhalten. Das ist natürlich – wie wir zu sagen pflegen – ein bißchen dünn ... selbst für einen Verdacht ... aber der Staatsanwaltschaft hat es nun einmal genügt ... Ich hätte Sie nun allerdings jetzt um hundert Dinge zu fragen ... aber« – – – – mit einer verbindlichen, lächelnden Halbrechtsdrehung des Kopfes zu dem Referendar im Fenstereck – »wir wollen es der Untersuchungsbehörde denn doch nicht gar zu bequem machen. Sie mag ihren eigenen Verstand anstrengen.«

»Könnte ich Ihnen denn nicht ... einmal schriftlich meine Ansicht über die ganze Sache –?«

»Sie werden nicht einen Zettel Papier über die Schwelle dieses Hauses bringen, den nicht die Gefängnisverwaltung und der Untersuchungsrichter vorher prüft, gnädige Frau. Und ebenso wenig bin ich imstande, mit Ihnen zu korrespondieren, ohne die unvermeidliche Kontrolle der verehrten Behörden.«

»Ja, mein Himmel – es gibt aber doch so unzählige Dinge, über die ich mich mit Ihnen einmal aussprechen müßte, Herr Rechtsanwalt –!«

Gustav Herold zuckte mit den Achseln. »Der Herr Kollege dort wird bis auf weiteres ständiger Zeuge unserer Gespräche sein, gnädige Frau – was Sie also in seiner Gegenwart nicht erzählen mögen, das werde ich wohl auch vorerst nicht zu hören bekommen. Es ist also wenig genug, was ich im Augenblick für Sie tun kann. Trotzdem bin ich auch jetzt nicht ganz überflüssig. Ich habe als Ihr Verteidiger das Recht, gewissen Terminen beizuwohnen, zu denen Sie selber nicht zugezogen werden. So zum Beispiel, wenn demnächst in Ihrer Wohnung eine sogenannte Einnahme des richterlichen Augenscheins stattfinden sollte ... was mit Bestimmtheit zu erwarten ist ...«

Frau Susanne stand auf. Mit stummem Flehen gingen ihre großen Augen zwischen den beiden Männern hin und her ... dem Manne, den sie sich zum Rechtsbeistand gewählt ... und dem Vertreter, dem jugendlich befangenen Vertreter dieser unheimlichen Macht, in deren Banden sie sich rettungslos verstrickt fühlte ... Der kleine Referendar konnte diesen Blick nicht ertragen. Ihm fehlte noch die gelassene Selbstverständlichkeit, mit welcher der erfahrene Richter die peinlichste Situation aushält im Vollbewußtsein seiner Pflichterfüllung. Es war ihm, als habe er sich aus freien Stücken, aus eigener taktloser Neugierde, zwischen diese beiden Menschen eingedrängt, die beide seine Anwesenheit – er fühlte das wohl – als lähmendes Hemmnis empfanden in einem Augenblick, da in ihnen alles nach vertraulicher, rückhaltloser Aussprache drängte ...

Auch Gustav Herold fühlte sich übermannt. Was der Jurist hatte sagen können und dürfen in diesem Augenblick, – es war gesagt. Mächtig quoll nun in ihm das erschütterte Mitleid mit dem gequälten Weib empor, das vor ihm stand, plötzlich losgerissen von all jenen Existenzbedingungen, mit denen ihr Wesen tausendfach verwurzelt war ... abgeschnitten von jeder Möglichkeit einer Aussprache mit irgendeinem Menschen ... selbst mit dem Manne, der ihr Beistand sein sollte in dem schrecklichen Kampf um Freiheit und Leben, den man ihr aufgezwungen ...

Er trat auf sie zu und ergriff die weichen, schlanken Hände, die wehrlos ergeben an der schwarzen Gestalt herniederhingen.

»Mut, Mut, gnädige Frau. Das Schicksal meint es nicht gut mit Ihnen. Aber verlassen sind Sie darum nicht, auch wenn es Ihnen vielleicht so vorkommt im Augenblick. Das sind so Krisen im Menschenleben – die müssen eben ausgehalten werden. Das alles ist ja so aberwitzig – so ungeheuerlich und so fabelhaft ... es kann unmöglich schwer fallen, diese groteske Beschuldigung zu erschüttern. Glauben Sie mir – mit purem, stumpfsinnigem Klatsch, aus elender Rachsucht einen Menschen zu vernichten – das ist denn doch nicht so leicht, wie diese – Dame sich das vielleicht vorstellt.«

Mit angstvollem Druck krampften sich Frau Susannes nervös zuckende Hände in die warmen, ruhigen ihres Freundes.

»Sie werden mir helfen, Herr Doktor, nicht wahr –? nicht wahr, Herr Doktor? Sie verlassen mich nicht –?l«

»Gnädige Frau – wenn ich Ihnen sage, daß ich keinen anderen Gedanken haben werde, als den, Ihnen zu helfen –?! aber ... Sie müssen wissen ... ich habe all die Jahre meiner Anwaltschaft hindurch mich mit Zivilsachen beschäftigt ... ich bin keiner von den berühmten, erfahrenen Strafverteidigern ... ich muß Ihnen das sagen ... Sie müssen wissen, daß Sie Ihre Verteidigung in die Hand eines Mannes legen, der mit den Kniffen und Pfiffen des Schwurgerichtssaales nicht Bescheid weiß ...«

»Lieber Freund – ich weiß – wenn einer mir helfen kann, dann sind Sie es ... Was brauche ich einen raffinierten Verteidiger –? ich bin ja doch unschuldig ... ich bin ja doch keine Verbrecherin, die sich irgendwie aus der Patsche ziehen will ... ich bin ein unglückliches, machtloses Weib ... o Gott, Herr Doktor, wenn Sie ahnen könnten, wie elend mir ist, wie elend ...«

Der schmale Kopf mit den blauschwarzen Scheiteln sank tief, tief nach vorn ... ein Schauer durchrüttelte die schlanke Gestalt, die Brust an Brust mit dem Manne stand ... so, wie er sie nie gesehen hatte ... wie nur seine Träume sie ihm gezeigt ... der mondänen Unnahbarkeit entkleidet, die sonst um sie her war wie eine Rüstung, wie ein Wall ... und durch die es immer hindurchleuchtete wie ein flackerndes Flimmern von Werbung und Sehnsucht, von zurückgedämmter Glut, von ungestilltem Begehren ... Daß er sie nun nicht in seine Arme schließen durfte, sich mit allem, was er war, vor sie hinstellen ... mit seiner Ehre, dem makellosen Ruf von Unantastbarkeit, der ihn umgab, und ausrufen:

Wer nach diesem Weibe zielt, der kreuze erst mit mir die Klinge –!

Aber ja – das durfte er ja auch ... das würde er ja auch tun –! Kein Gesetz im Himmel und auf Erden, keine Pflicht gegen irgendwen, die ihm das verbieten könnte –! Verteidigen, ja verteidigen wollte er sie –! Wider alle Schliche niederträchtiger Gemeinheit wollte er für sie zeugen ... sie decken mit dem Schilde seines Wissens, für sie streiten mit dem Schwerte des Wortes ... wider die Welt – wider die ganze Welt –!

»Ich muß Sie nun verlassen, gnädige Frau ... ich werde auch nur wiederkommen können, wenn irgend eine Veränderung eintritt, die eine Besprechung unbedingt benötigt ... Sie müssen bedenken, daß ich bis auf weiteres nur in Gesellschaft des Herrn Kollegen dort zu Ihnen kommen könnte und also an dessen Zeit gebunden bin ... und ihn nur aus wichtigen Gründen in Anspruch nehmen darf ...«

»Um Gotteswillen – dann werden also vielleicht Tage und Tage vergehen, ehe ich Sie wiedersehe –?!«

»Das – ist leider höchst wahrscheinlich. Aber jedenfalls werde ich Sie über alles, was geschieht, unterrichtet halten. Und auch in Ihrem Hause ... werden wir zum Rechten sehen. Verlassen Sie sich ganz auf meine ... auf unsere Freundschaft ... Und nun ... Kopf hoch, gnädige Frau –! Kopf hoch! leben Sie wohl!«

Mit festem Druck umschlossen Gustav Herolds Hände die eisigkalte Rechte, die zuckend in der seinen lag. Und sekundenlang ruhte Blick in Blick ... in stummer Zwiesprach, in sehnsüchtig überströmendem Schweigen ...

Und dann schritt der Rechtsanwalt zum Druckknopf der elektrischen Klingel hinüber und rief den Schließer herbei. Auf den Fliesen draußen klapperten die schweren Stiefel des Beamten ... es rasselte das Schlüsselbund, der Riegel knarrte zurück ... und nun nichts mehr, als ein stummes Senken des schwarzen Scheitels, eine tiefe Verneigung der beiden Männer ... und wie ein Schatten in die Tiefe des Hades taucht, von einem hüstelnden, humpelnden Charon geleitet, so schwand die schwarze Gestalt von hinnen, verschwebte in den weitläufigen Korridoren des verwunschenen Hauses, dessen Luft geschwängert schien von den tausend Qualen ruheloser Gewissen, von den ohnmächtigen Seufzern der gemarterten Unschuld ...

Die beiden Männer atmeten tief auf. Sie tupften den Schweiß von ihren Stirnen ... griffen mechanisch nach Akten, Hut und Stock ...

»Das war das Fürchterlichste, was ich bisher erlebt habe –« sagte der kleine Referendar.


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