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IV.

Gustav Herold lehnte sich in die Polster des Automobils zurück. Seine Augen brannten.

Er zündete eine Zigarette an. Das Fuhrwerk trug ihn in rasendem Laufe der Potsdamer Straße zu, wo sein und seines Sozius Büro lag.

Der Fall Mengershausen –! Was anfangs nur ein paar wirre Schnörkel gewesen waren, verband sich nun langsam zum klaren Bild. Zum Bild –? nein – Gott sei Dank, ein Zerrbild bloß, eine Fratze war's –! Denn nun – nun wußte man ja doch, was eigentlich vorlag: eine abgeschmackte, völlig haltlose Beschuldigung einer rachsüchtigen, minderwertigen Dienstperson!

Ein Jammer und ein Elend, daß er noch immer nicht Gelegenheit haben sollte, diesem Weibsstück bei einer Vernehmung selbst gegenüberzustehen – sie durch ein paar treffsichere Fragen an die Wand zu drücken, daß sie ihre elende Domestikenseele in Fetzen von sich spie! Denn jetzt erst – nach diesem lächerlichen, komödiantischen Versuch, das Bild der Straftat, die seiner Klientin vorgeworfen wurde, in die Wirklichkeit umzusetzen – jetzt erst ward ihm das Absurde der ganzen Beschuldigung völlig klar.

Hypnose –! Auch so eins von den modernen Mitteln, um große Kinder graulich zu machen! Sie stand neben dem Spiritismus, dem Okkultismus, der Theosophie ... Für Gustav Herold waren das alles nur verschiedene Erscheinungsformen für den einen Begriff des Aberglaubens, mit dem die materialistisch gewordene Menschheit sich für den Ausfall an übersinnlichen Hilfsquellen zu entschädigen suchte, den die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung ihr gebracht ...

Noch niemals hatte er sich mit dem Problem des Hypnotismus ernsthaft beschäftigt. In der Praxis hatte er sich als Anwalt der oberen Instanz fast völlig zivilrechtlicher Betätigung zugewandt und niemals Veranlassung gehabt, sich mit Fragen des menschlichen Seelenlebens, geschweige denn mit Grenzfragen, überhaupt zu beschäftigen. Wenn er auch zu jenem geringen Prozentsatz der Rechtsanwälte gehörte, die nach einer wissenschaftlichen Fortbildung ihrer Kenntnisse trachteten und bestrebt waren, mit der Fortentwicklung des nationalen Rechtslebens Schritt zu halten, so hatte er sich doch notgedrungen, wie alle seine Kollegen, spezialisieren müssen. Er stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie und hatte sich deshalb fast ausschließlich dem Studium von Fragen des Handelsrechts, insbesondere des Handelsgesellschaftsrechts, zugewandt – Studien, die außerdem noch den Vorteil besaßen, alsbald goldene Früchte zu tragen in Gestalt von Aufsichtsratsstellen bei großen kommerziellen und industriellen Unternehmungen ...

Die Menschen, die Probleme, mit denen sein Berufsleben auf diese Weise in Berührung kam, standen allesamt im Hellen Lichte wachsten Oberbewußtseins – Dämmerzustände des menschlichen Seelenlebens pflegen im Dasein Geheimer Kommerzienräte keine entscheidende Rolle zu spielen ...

So war es denn weniger ein Wissen um das Wesen der hypnotischen Tatsachen, denn ein dilettantischer Instinkt, der ihn den »Fall Mengershausen« mit den Worten beurteilen ließ: So was gibt's ja überhaupt gar nicht!

Auch er hatte gelegentlich wohl einer jener verblüffenden Vorführungen beigewohnt, die von Berufshypnotiseuren veranstaltet werden, und bei denen das Publikum stets mit dem dunklen Gefühl nach Hause geht, beschwindelt worden zu sein. Nein – hysterische Schwachköpfe mochte man für eine Viertelstunde in einen Zustand willenloser Apathie versetzen und in dieser Verfassung zu allerlei Hokuspokus mißbrauchen – aber daß eine Frau imstande sein sollte, einen Mann wie Artur Mengershausen zum Automaten zu degradieren – das glaub' ein andrer! Wohl war der Geheimrat in den letzten Jahren seines Lebens nicht gerade der Rüstigste mehr gewesen ... da war manch einer, der mit vielsagendem Achselzucken konstatiert hatte, dem alten Herrn sei die Ehe mit der um so viel jüngeren Frau – und was für einer Frau! – nicht gerade besonders gut bekommen ... Aber der seinem Wesen anscheinend so fremde Entschluß zur Selbstvernichtung konnte ihm nur aus einer unheimlichen, pathologischen Veränderung seines Innern mit tragischer Naturnotwendigkeit erwachsen sein ... daß er ihm von einem fremden Willen von außen her aufgezwungen sein sollte – das war ein abstruses Hirngespinst ...

Indessen – es war nun einmal da ... dies groteske Gespenst ... es reckte seine knochigen Finger nach ihr ... nach der Frau, deren Schicksal sich mit Gustav Herolds Wesen immer geheimnisvoller, immer verhängnisvoller verflocht und verschlang ... Es galt dies höllische Scheusal zu bannen ... es galt die wissenschaftliche Formel zu finden, vor der es zerstieben müßte wie ein mephitischer Brodem aus versunkenen Jahrhunderten ... Es mußte gearbeitet werden ...

Wie stand die Wissenschaft, wie stand die juristische Praxis gegenwärtig zu dem Problem, das die nächsten Wochen erfüllen würde? Hier galt es einzusetzen.

Der Rechtsanwalt drückte auf den Gummiball und brachte das dahinrasende Automobil zum Stehen. Dem Chauffeur befahl er als neues Ziel die Königliche Bibliothek in der Dorotheenstraße. Schon die Handbibliothek würde ausreichen, um ihm wenigstens eine flüchtige Übersicht über den derzeitigen Stand der Frage zu verschaffen und die nötigen Literaturhinweise dazu. Und nicht zehn Minuten später saß Gustav Herold in dem wundervollen, feierlichen Lesesaale. In der Dämmerung des Winternachmittages blitzten an allen Pulten die grünumschirmten Studierlampen auf. Ihrer jede beleuchtete ein tiefgeneigtes Haupt, das in ernstem Sinnen über einem Dokument menschlichen Geistesringens forschte und grübelte. Ein Milieu, so recht geschaffen zur Vorbereitung der Seele auf einen Kampf ums Recht ...

Also zunächst aus dem Handkatalog die vorhandenen Werke über forensische Medizin ermittelt und aus dem unübersehbaren Bücherschwall, der die Wandregale belastete, herbeigeschleppt! Das erste der beiden vorhandenen Werke versagte. Auch nicht einmal eine Andeutung über den Einfluß der hypnotischen Phänomene auf das Rechtsleben war vorhanden. Ein zweites Werk aber, Schmidtmann, Handbuch der gerichtlichen Medizin, Band III, brachte schon ein paar ungemein orientierende Hinweise. Zwar die Frage, um die es sich im Falle Mengershausen handelte, war nicht einmal andeutungsweise gestreift: die Frage nämlich, ob es möglich sei, einen Menschen im hypnotischen Dämmerzustände zum Selbstmord zu veranlassen ... der Fall war wohl überhaupt noch niemals vor ein Gerichtsforum getreten ... Aber die andere und näherliegende, unstreitig verwandte Frage, ob ein Hypnotisierter auf dem Wege der Suggestion durch eine zweite Person zu einem Verbrechen angestiftet werden könne, war energisch angeschnitten. Allerdings erwies der Verfasser sich als Skeptiker. Zwar gab er ohne weiteres zu, daß auf dem Wege des Experiments in der Klinik es häufig gelungen sei, einem Hypnotisierten Handlungen zu suggerieren, welche, willensfrei vollzogen, als Verbrechen angesehen werden müßten. Aber, so meinte der Verfasser, zwischen dem Laboratoriumsexperiment und dem Versuch, einen Hypnotisierten zum wirklichen Verbrechen zu führen, sei ein erheblicher Unterschied. Zunächst gebe es sehr viele Menschen, die der Hypnose überhaupt nicht zugänglich seien, sodann sei es Tatsache, daß ein gesunder Mensch überhaupt nicht gegen seinen Willen hypnotisiert und ihm schon gar nicht eine Tat suggeriert werden könne, die seiner Erziehung, seinen Ansichten und Anschauungen zuwiderlaufe, überhaupt seien eklatante Fälle von passivem Hypnotismus nur bei Hysterischen zu beobachten ...

In tröstlicher Weise stimmten diese Darlegungen einer Autorität mit den dilettantischen Vorahnungen überein, mit denen Gustav Herold selbst sich der Frage gegenübergestellt hatte.

Die zweite Stufe der Ermittlungen, die er anstellte, erstreckte sich auf die Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen. Zunächst blätterte er sämtliche Registerbände durch und versuchte festzustellen, ob sich der höchste Gerichtshof jemals mit dem Problem der Einwirkung des Hypnotismus auf strafrechtliche Verhältnisse befaßt habe. Aber vergebens. Eine nennenswerte Bedeutung konnte also der Hypnotismus im bisherigen praktischen Rechtsleben wenigstens noch nicht erlangt haben ... Das bewies natürlich nichts gegen die Möglichkeit solcher Einwirkungen ... nur eben zu oberstrichterlicher Entscheidung waren derartige Fälle noch nicht gebracht worden, wie es schien ...

Noch einen letzten Vorstoß in das Gebiet der Literatur unternahm Gustav Herold. Das Lehrbuch enthielt unter einer großen Menge anderer Literaturnachweise auch die Bezugnahme auf eine Abhandlung des berühmten Strafrechtslehrers von Lilienthal, die sich im siebenten Bande der »Zeitschrift für gesamte Strafrechtswissenschaft« vorfinden und den Titel »Der Hypnotismus und das Strafrecht« führen sollte. Bald hatte der Rechtsanwalt diese Abhandlung ausfindig gemacht und las sie mit steigendem Entsetzen. Sie enthielt eine eingehende systematische Darstellung des Problems. Diese stützte sich vor allen Dingen auf die Forschungen französischer Gelehrter, die sich anscheinend weit gründlicher als ihre deutschen Kollegen mit dem Problem beschäftigt haben mußten. Als Gesamtresultat dieser sehr eingehenden Darstellungen trat die eine Tatsache ins Licht, daß mit der physiologischen Möglichkeit, eine in hypnotischen Zustand versetzte Person zu einem Verbrechen anzustiften, das dann absolut automatisch, und zwar selbst Tage und Wochen nach dem Aufhören des hypnotischen Schlafes ausgeführt werden müßte – daß mit einer solchen Möglichkeit unbedingt gerechnet werden mußte ...

Wenn aber eine Möglichkeit dieser Art bestand – wenn es möglich war, einen fremden Willen hypnotisch zu einem Verbrechen zu mißbrauchen – warum sollte dann dieses Verbrechen nicht auch – sich gegen die eigne Person des Hypnotisierten richten? Mit einem Worte: wenn man einem andern Menschen einen Mord suggerieren konnte, warum dann nicht auch – einen Selbstmord –?

Noch viel einleuchtender schien festgestellt, daß es möglich sei, das hypnotisierte Versuchsobjekt zur Anfertigung einer schriftlichen Urkunde zu bringen, deren Inhalt seinem Willen und Wesen vollständig fremd war ... Der französische Gelehrte Liégeois hatte derartige Experimente zu vielen Dutzenden vorgenommen und seine Versuchsobjekte beispielsweise veranlaßt, gegen Dritte völlig aus der Luft gegriffene Anzeigen bei der Polizei zu machen ... falsche Zeugenaussagen zu erstatten ... falsche Urkunden, Schuldscheine, Zahlungsversprechungen, Bürgschaftsscheine auszustellen ... Wenn das alles möglich war, warum sollte es ausgeschlossen sein, daß man jemandem einen Brief von der Art suggerierte, wie der, den Susanne Mengershausen ihrem Gatten unter den lauschenden Ohren der lauernden Zofe in den hypnotischen Schlaf hinein diktiert haben sollte –?!

Freilich – einen Trost verhießen die Darlegungen des Gelehrten: zunächst waren alle Forscher sich darüber einig, daß auch im hypnotischen Zustande die Individualität des Hypnotisierten nicht ganz aufgehoben – daß das Bewußtsein nicht immer ein leeres Blatt sei, auf das man schreiben könnte, was man wollte ... Daß also der Hypnotisierte nicht ohne weiteres die Anstiftung zu einer Handlung annehme, die seinem inneren Wesen zuwiderlaufe ... Ferner trat auch dies Moment mit unbestrittener Deutlichkeit hervor, daß eine Fortwirkung der Suggestion über den Zustand des hypnotischen Schlafes hinaus, eine Suggestion auf lange Sicht, à la longue échéance, wie die französischen Gelehrten es nannten, nur bei besonders veranlagten Personen möglich sei.

Und endlich, was das wichtigste war, es erschien völlig ausgeschlossen, daß eine derartig intensive Beeinflussung der hypnotisierten Person überhaupt zu erzielen sei bei einer erstmaligen Unterwerfung des Hypnotisierten unter den Willen des Hypnotiseurs ... vielmehr müßte, bevor ein solcher Zustand der Beeinflußbarkeit überhaupt erreicht werden könnte, eine längere Reihe von Einwirkungen vorangegangen sein. Für diese längere Reihe war sogar schon ein wissenschaftlicher terminus geprägt ... »hypnotische Erziehung« nannte man das ...

Gustav Herold sah sich für heute außerstande, noch tiefer in die Literatur des in Frage kommenden Problems einzudringen. Ihm wirbelte der Kopf. Er hatte das Bedürfnis, das Gelesene zunächst einmal in Ruhe durchzudenken und seine Konsequenzen für den Fall seiner schönen Freundin in Ruhe auseinanderzuwirren. An dem Fernsprechautomaten, der sich in den Vorräumen der Bibliothek befand, telephonierte er seinem Büro und ließ sich den Bescheid geben, daß seine Anwesenheit am heutigen Nachmittage nicht unbedingt erforderlich sei. Dann flüchtete er sich, wohin der Berliner immer flüchtet, wenn er einmal ungestört Nachdenken will, in ein Café ... in eins der Aschinger-Cafés, in dem er wenigstens sicher sein konnte, keine Bekannten zu treffen ... Das Publikum, das in diesen Lokalen verkehrte, störte ihn nicht in seiner Betrachtung ... es bestand fast ausschließlich aus Pärchen kleinbürgerlichen Standes, die vollauf mit sich selbst beschäftigt waren ...

Mechanisch trank Gustav Herold eine Melange und aß ein paar Stücke Baumkuchen. Daß er zum Mittagessen nicht nach Hause gegangen war, daß er überhaupt noch keine Mahlzeit zu sich genommen, kam ihm gar nicht zum Bewußtsein ...

Also so viel war klar: so einfach lag der Fall nicht, wie er ihm am Vormittag erschienen war ... als er aus dem Termin kam ... Nein – was die rachsüchtige Dienstperson gegen ihre Herrin, der Teufel mochte wissen, wie, sich zusammenfabuliert – außerhalb der Reihe des ... Möglichen ... lag das nicht ... die Staatsanwaltschaft hatte jedenfalls nicht so plump und täppisch danebengegriffen, wie er sich's im Anfang vorgestellt hatte ... Freilich – die Denunziation allein würde vielleicht nicht ausgereicht haben. Es mußte da noch irgendetwas anderes vorliegen, das er, der Verteidiger, zur Stunde noch nicht wußte ... und es hatte auch wenig Zweck, sich den Kopf darüber zu zerbrechen ...

Aber ebenso klar lag auch dies zutage: wer Frau Susanne Mengershausen schuldig sprechen wollte, den Tod ihres Gatten vorsätzlich dadurch herbeigeführt zu haben, daß sie ihn im Wege der hypnotischen Suggestion zwang, sich selber das Leben zu nehmen – der mußte noch eine ganze Menge Dinge nachweisen, über die Tatsachen hinaus, welche die Angeberin selber wahrgenommen zu haben behauptete. Zunächst war darzutun, daß der Gedanke des Selbstmordes der psychischen Richtung des Verstorbenen durchaus nicht ganz fern gelegen habe ... denn sonst würde er diesen hypnotischen Zwang voraussichtlich gar nicht akzeptiert haben.

Des weiteren durfte es als ausgeschlossen gelten, daß es Frau Susanne gelungen wäre, ihrem Gatten eine wirksame Suggestion aufzuoktroyieren, wenn er nicht zu ihr bereits seit längerer Zeit in einem hypnotischen Rapport gestanden – oder, um den terminus der Wissenschaft zu gebrauchen, es mußte nachgewiesen werden, daß Frau Susanne ihren Gatten bereits einer längeren »hypnotischen Erziehung« unterworfen hätte ...

Durch alle diese Dinge aber wurde das dräuende Gespenst, das einen Augenblick aus der phantastischen Region der Fabel und Lüge in die Wirklichkeit des Lebens scheinbar herausgetreten war, an seinen Ursprungsort zurückgescheucht ...

Denn das alles war ja Wahnsinn ... Ein Mann, dessen ganzes Wesen stets die vollste Zufriedenheit mit seinem Leben widergespiegelt hatte – ein solcher Mann sollte, selbst im Zustande hypnotisch gelähmter Willensmacht, sich nicht mit allen Lebenskräften des Unbewußten gegen die Zumutung gewehrt haben, diesem herrlichen, vollausgefüllten Mannesdasein ein freiwilliges Ende zu setzen –!

Und war er etwa eine psychisch belastete Persönlichkeit gewesen, eine jener lenkbaren Naturen, wie sie sich selbst in wachem Zustande fremder Willensbeeinflussung allzu gefügig zeigen? War er ein Psychopath gewesen, ein Hysterischer – und nicht eher das Gegenteil dieser Typen der Entartung?

Und endlich: war es denkbar, daß er sich einer Beeinflussung durch den Willen seiner Gattin dauernd und mit vollem Bewußtsein ausgesetzt hätte? Zu welchem Zweck? Ein Mann wie Mengershausen spielte nicht mit seelischen Phänomenen wie dem Hypnotismus ... solcher Mann gab sich überhaupt nicht willenlos dem Einfluß eines andern Menschen hin – und sei es selbst die Frau gewesen, die dem alternden Manne ersichtlich eine neue Jugend, wenigstens eine solche seelischen Aufschwungs gegeben hatte ... selbst wenn die Fama recht behalten möchte, daß ihr erotisches Temperament den Jahren ihres Gatten zuviel zugemutet haben sollte. Nein – ein solcher Mann gab sich nicht mehr zu Erziehungsversuchen her ... und schon gar nicht zu hypnotischen ...

Das alles waren Unmöglichkeiten. Und wenn Gustav Herold aus der flüchtigen Übersicht über die Stellungnahme der Wissenschaft zu der ihn beschäftigenden Frage, die er sich heute verschafft hatte, das Resumé zog, dann hatte er keine Veranlassung zu ernster Besorgnis. Freilich – zu allzu großer Siegeszuversicht ebensowenig.

Auf jeden Fall galt es ein eingehendes Studium der hypnotischen Probleme. Und Gustav Herold übertrug die gesamten Literaturnachweise, die er in seinen Quellen gefunden hatte, aus seinem Notizbuch auf Bestellzettel der Königlichen Bibliothek, steckte sie in ein Kuvert, das er an die Bibliothek adressierte, und sprang dann wiederum ins Auto, sein Büro aufzusuchen. Ein Rechtsanwalt hat ja schließlich auch noch andre Sachen zu vertreten als die schöner, unschuldig verhafteter Freundinnen ...

*

Der Landrichter Doktor Alberti war mit seinem Adjunkten wiederum in das Speisezimmer hinübergeschritten und hatte sich dort mit seinen Akten an dem großen Mitteltisch zur Vernehmung eingerichtet. Seinen Gerichtsschreiber nahm er indessen, wie er es stets zu tun pflegte, nicht mit an den Tisch, an dem er selber saß. In dem großen, luxuriös eingerichteten Zimmer befand sich in der Ecke ein Sofa, im Winkel gestellt, mit einem kleinen, sechseckigen Tisch davor. Dort brachte er seinen Referendar unter. Von der Decke baumelte zur Mitte dieses Tisches an einem Schnurpendel eine besondere elektrische Birne herunter, die zum Schreiben Licht gab. Herr Alberti legte Wert darauf, den Gerichtsschreiber möglichst in den Hintergrund zu verbannen, um mit den Personen, die er zu vernehmen hatte, sich gewissermaßen unter vier Augen zu befinden ... Das erhöhte seiner Erfahrung nach die Mitteilsamkeit der Inquirenten ... Der Gerichtsschreiber durfte der Vernehmung nicht einmal das Gesicht zuwenden ... auch pflegte der Richter ihm nicht, wie die meisten seiner Kollegen, das Protokoll zu diktieren, erwartete vielmehr von ihm, daß er gewandt genug sei, den wesentlichen Inhalt der Verhandlungen ohne Diktat festzuhalten. Die etwa notwendig werdende Redaktion ließ er selber dem so entstandenen Protokoll zuteil werden, wenn er es hernach der vernommenen Person vorlas. So sah sich denn Fräulein Anna Krölke wenige Minuten später unter dem milden Lichte der mit weißer Seide gedämpften Beleuchtung einem gemessen, doch nicht unfreundlich dreinschauenden Manne gegenüber, dem es nur darum zu tun schien, sich einmal ganz vertraulich mit ihr über die Zustände im Hause ihrer verflossenen Herrschaft auszusprechen.

»Vor allem also, mein liebes Fräulein,« sagte der Richter, »möchte ich von Ihnen wissen, wie Sie eigentlich dazu gekommen sind, die Herrschaft zu belauschen. Hatten Sie denn irgendeinen – irgendeinen Verdacht ...?«

»Verdacht –? Nein, Herr Richter, auch nicht den geringsten.«

»Also warum sonst haben Sie sich denn in das Badezimmer geschlichen?«

Anna Krölke schlug die Augen nieder. Ihre Hände in den nicht ganz sauberen grauen Wildlederhandschuhen spielten unruhig im Schoß. Sie schwieg. Ein halb verlegenes, halb freches Lächeln zuckte unwillkürlich um ihre Lippen.

»Ich verstehe – Sie waren ein bißchen neugierig, nicht wahr? Nun – Sie können das mir gegenüber ruhig zugeben. Ich bin nicht Ihr Seelsorger. Ich habe hier nur die Pflicht, herauszubringen, wie es in Wirklichkeit gewesen ist. Wenn's also so war, dann geben Sie es doch ruhig zu – nicht wahr?«

»Ja – so wird's wohl gewesen sein ...« sagte Anna Krölke und tat einen raschen Augenaufschlag – eine dummdreiste Vertraulichkeit ... ein tastender Versuch lag darin, den einzigen Rapport, den sie Männern gegenüber zu kennen schien, zwischen sich und dem noch immerhin stattlichen Herrn ihr gegenüber herzustellen ...

»Schön – ist nun zwischen den beiden Ehegatten während des Schlafengehens irgend etwas besonderes vorgefallen?«

»... Ja ... na ja ... vorgefallen ist irgend etwas ...«

Wiederum zuckte das Gassenmädelgrinsen um die rotbetupften Lippen der Zofe.

»Ach so – Sie meinen ... das, was Sie eigentlich hatten belauschen wollen – nicht wahr?!«

»Das ... das können Sie sich doch wohl denken, Herr Richter –!« sagte Anna Krölke leise.

»Schön. Und dann – dann wurde es also still im Schlafzimmer, nicht wahr? Und warum entfernten Sie sich noch nicht?«

»Weil ich erst warten wollte, bis die Herrschaften richtig eingeschlafen waren.«

»Natürlich. Sie wollten es vermeiden, sich etwa bemerkbar zu machen. Und dann – was war dann?«

»– hat der Herr Geheimrat sogleich zu schnarchen angefangen. Er schnarchte immer sehr stark.«

»Und dann –?«

»– dachte ich: nun wird sie wohl auch eingeschlafen sein ... nun kann ich mich drücken ... Da hörte ich auf einmal –«

»Was hörten Sie –?«

»Auf einmal hör' ich, wie sie anfängt zu sprechen. Artur – schläfst du? sagte sie. Du schläfst – schläfst ganz fest ... es ist dir unmöglich aufzuwachen ... sagte sie ganz langsam ... ganz laut und langsam ... Du hörst, was ich dir jetzt befehle ... sagte sie. Sie sagt ihm, er soll die ganze Nacht ruhig schlafen ... und wenn er dann wach wird ... dann soll er sich hinsetzen ... an seinen Schreibtisch ... und soll einen Brief an sie schreiben ... den will sie ihm jetzt vorlesen ... na – und dann hat sie ihm vorgelesen, was auf dem Zettel steht, den die Polizei gefunden hat ... in der Nachttischschublade ... nicht einmal – nee, dreimal hat sie'n ihm vorgelesen, von Anfang bis zu Ende ... und dann – –«

Doktor Alberti war völlig abgehärtet gegen das dämonische Grauen, mit dem die Witterung des Verbrechens ungepanzerte Seelen umengt. Aber auch er fühlte, wie bei der Vorstellung dieser nächtlichen Eheszene ein fröstelnder Schauer seinen Nacken herunterlief. Seine sonst so klare Stimme hatte einen ungewohnt heiseren Klang, als er die verstummende Zeugin zur Fortsetzung ihrer Aussage aufmunterte ... Entweder diese widerwärtige Person da sprach die unbedingte Wahrheit – oder sie war der raffinierteste Satan, den er jemals unter die Finger bekommen hatte ...

»Und dann ... dann hat sie gesagt – wenn er den Brief geschrieben hat ... dann soll er sich seinen Revolver nehmen ... und soll sich ... soll sich – –«

Es war, als sträube sich selbst die Zunge dieser ausgelernten Intrigantin, die ungeheuerliche Beschuldigung zu wiederholen, die sie ausgeheckt ... oder war dies Verstummen – das unruhige Flackern der Hände in den nicht ganz sauberen grauen Handschuhen – das unrastige Auf und Nieder der langbewimperten Brauen über den graugrünlich schillernden, unruhig hin- und herzuckenden Pupillen – war das alles am Ende doch ... echt –?! Der Richter dünkte sich erfahren genug, den Seelenzustand der Inquirentin bis ins Tiefste zu durchleuchten.

»Schön – als Sie nun hörten, was die Frau Geheimrat da auf ihren schlafenden Mann einredete – was haben Sie sich denn nun dabei eigentlich gedacht –?«

»Na – da hab ich doch natürlich sogleich gewußt, daß das Hypnose ist ...« sagte das Mädchen, nun wieder ganz sicher, mit erleichtertem Aufatmen. Sie sprach aus: Hippnose ...

»So –?! Ah, das ist ja interessant ... also Sie wußten schon, daß es möglich ist, einen Menschen durch gewisse Mittel in einen bewußtlosen Zustand zu versetzen ... und ihm in diesem Zustand allerhand Dinge zu befehlen, die er dann später nach seinem Erwachen sozusagen willenlos ausführen muß –? daß es so etwas gibt, das war Ihnen bereits bekannt?«

»Aber – Herr Richter – ich bin doch ein gebildetes Mädchen –!«

»Oh bitte – ich zweifle durchaus nicht an Ihrem Bildungsgrade, mein Fräulein. Aber ich kenne sehr viele feingebildete Menschen, die von diesen Dingen keine oder nur eine sehr dunkle Ahnung haben. Ich möchte wissen, woher Sie das denn überhaupt erfahren haben, daß so etwas möglich ist?«

»Da ... da hab' ich mal von gelesen ...«

»Wo haben Sie davon gelesen?«

»Da kann ich beim besten Willen mich nicht mehr drauf besinnen, Herr Richter ... kann sein, in einer Zeitung ... kann auch sein, es hat mir mal wer davon erzählt ...«

»Wer ... könnte Ihnen davon erzählt haben –?«

»Ja, Herr Richter – wenn man in Berlin sieben Jahre in Stellung gewesen ist, dann ist man mit so vielen Menschen zusammengekommen – ich kann wahrhaftig nicht sagen, wo ich das herhabe ... ich meine aber, ich hätte es wo gelesen.«

»Hm. So so. Und ... haben Sie früher schon einmal bemerkt, daß Ihre ... daß Frau Geheimrat Mengershausen sich mit solchen Sachen befaßt hat –?«

»Ja gewiß, Herr Richter! Da fällt mir eben ein – die Frau Geheimrat ... ich habe früher schon einmal etwas gehört ... schon vor ein paar Wochen ... da hat sie mal jemand anders hypnotisiert ... eine Dame ...«

»Eine Dame –?! Sie kennen sie?!«

Ohne Erröten gab Anna Krölke zu, daß sie schon früher einmal ihre Herrin belauscht habe, und zwar bei einem Nachmittagstee, bei dem Frau Mengershausen in Gegenwart der Frau Helene Herold die bekannte Frau Mirjam Bogdanski zum Objekt hypnotischer Experimente gemacht habe.

Der Untersuchungsrichter konnte nur mühsam seine Fassung bewahren. Er stand auf, machte ein paar bedächtige Gänge durchs Zimmer, trat zum Fenster und starrte einige Minuten auf den dunklen Hof hinunter, in dessen finstren Schacht ringsum im Gevierte die erleuchteten Fensterreihen gelbe Vierecke hineinschnitten.

Dann kam er zurück, nun wieder völlig Herr der Situation, und ließ sich die genauen Namen und Adressen der beiden Damen angeben, die an jener Nachmittagsszene teilgenommen haben sollten. Und nun schien er für heute genug zu wissen. Er trat an den Tisch des Gerichtsschreibers, nahm ihm das Protokoll aus der Hand, las es der Zeugin langsam vor, brachte noch einige redaktionelle Änderungen an, ließ das Mädchen unterschreiben und schickte es dann hinaus mit dem Befehl, zu warten, ob er noch einer Ergänzung der Vernehmung bedürfe.

Dann wandte er sich zu seinem Referendar und fragte mit einer Ruhe, die zu eisig war, um echt sein zu können:

»Nun, Herr Kollege – welche zwei Möglichkeiten sehen Sie?«

Hans Fritze war der Vernehmung gefolgt, hin- und hergerissen von einem Schwall der Empfindungen, unter dem seine Finger beim Schreiben oft erlahmt waren, wie von einem jähen Krampf befallen. Nun sprang er auf, dankbar, sein inneres Toben endlich durch Reden entspannen zu dürfen, und rief:

»Ich sehe nur eine Möglichkeit, Herr Landrichter – nein, eine Gewißheit! Die Szene, von der das Frauenzimmer da zuletzt erzählt hat, die ist ohne Zweifel echt. Sie hat zwei Zeuginnen angegeben – kein Zweifel also, dieser Teeulk ist wirklich passiert! Und hier – hier haben wir den Ausgangspunkt für das ganze Phantasiegespinst, das die Person sich ausgeheckt hat! Jetzt brauchte sie nur noch am Tage nach dem Tode ihres Herrn die Abschrift des Briefes von der Hand seiner Frau zu finden – sie hat ja bei ihrer früheren Vernehmung angegeben, sie habe von der Existenz dieses Schriftstückes keine Ahnung, aber das glaube ich einfach nicht! Für mich ist die Sache klar: von dem riskierten Scherz, den Frau Mengershausen sich mit ihrer Freundin erlaubt hatte, ist die Person ausgegangen ... daher wußte sie, daß ihre Herrin sich früher einmal gelegentlich mit hypnotischen Experimenten befaßt hatte ... und daß sie ihr das sogar würde nachweisen können ... Als sie nun später den Brief gefunden hat, da konnte sie ohne allzuviel Phantasie auf den Plan kommen, den Brief und den Tee zu kombinieren – übrigens lass' ich mich hängen, wenn das Frauenzimmer nicht außerdem eine Leserin von Kolportageromanen ist!«

»Sie qualifizieren sich entschieden zum Verteidiger, lieber Kollege!« sagte der Untersuchungsrichter mit leisem Lächeln. »Solange Sie in richterlicher Funktion tätig sind, dürfen Sie sich nicht so einseitig auf den Standpunkt einer Angeklagten stellen – selbst dann nicht, wenn sie eine so schöne und interessante Frau ist, wie unsre heutige Angeschuldigte!«

Der kleine Referendar wollte errötend protestieren, aber sein Chef schnitt mit einer kurzen Handbewegung ab und fuhr fort:

»Ich will Sie in meinen Gedankengang einführen, damit Sie verstehen, aus welchem Grund ich die Vernehmung der Angeschuldigten so leite, wie Sie es mich gleich tun hören werden. Ich denke mir so: hat Frau Mengershausen in puncto der Hypnose ein schlechtes Gewissen, so wird sie den Vorfall bei dem Nachmittagstee verschweigen, da sie ja keine Ahnung haben kann, daß auch er von ihrer Zofe belauscht worden ist ... und auf ihre beiden Freundinnen glaubt sie sich wohl verlassen zu können ... Denn zwei Damen der Gesellschaft werden sich nicht ohne Zwang bereitfinden lassen, in einen Sensationsprozeß mit einem verhängnisvollen Belastungszeugnis einzugreifen, noch dazu einer Frau ihres nächsten Freundeskreises gegenüber. Also holen Sie gefälligst die Angeschuldigte.«

In die Erstarrung einer Niobe versunken, saß Frau Susanne Mengershausen in dem behaglichen Dämmer des Dielenraums, bewacht von dem Schutzmann Fehse, der keinen Blick seiner glasigen Bulldoggenaugen von ihr verwandte. Sie schrak heftig zusammen, als der schlanke junge Herr mit einer Verbeugung an sie herantrat, als sei er Gast bei einem ihrer Empfänge:

»Darf ich bitten, gnädige Frau?«

Und dann kroch Hans Fritze wieder in seine Ecke, beugte sich über sein Protokoll ... Aber er war nun der Anweisung seines Vorgesetzten ungehorsam geworden und hatte sich so gesetzt, daß er der Angeschuldigten das Gesicht zuwandte. Und unter finster zusammengezogenen Brauen verfolgten seine Blicke jede Bewegung der schönen Frau, die nun an dem Tisch, an dem sie gewiß oft als Hausherrin inmitten eines Kranzes verehrungsvoller Gäste gesessen, sich gegen einen grausigen Verdacht verantwortete ...

Der Untersuchungsrichter ging gerade auf das Ziel los.

»Frau Mengershausen – Sie wissen, die Denunziation Ihrer Zofe wirft Ihnen vor, Sie hätten Ihrem Manne den verhängnisvollen Entschluß, sich selber das Leben zu nehmen, im Wege hypnotischer Suggestion aufgezwungen. Ich muß Ihnen nun eine außerordentlich naheliegende Frage stellen, die Sie mir gefälligst auf das gewissenhafteste beantworten wollen: haben Sie sich überhaupt jemals mit hypnotischen Experimenten befaßt?«

Hans Fritze fühlte, wie ihm das Herz bis in den Hals hinauf schlug. Hätte die Dame das angstvolle Flehen seiner Augen, das sich aus dem Halbdunkel seiner Ecke zu ihr hinübertastete, überhaupt wahrgenommen – es hätte sie gewiß stark irritiert, während die gemessene Ruhe im Auge des Richters auch ihr die Ruhe ließ. Sie errötete ganz leicht, ein befangenes Lächeln zog um ihre Lippen, wie das eines Menschen, der sich auf einer kleinen liebenswürdigen Schwäche ertappt sieht – einer Schwäche, für die man nur aufkommt, wenn es sich nicht recht vermeiden läßt ... und mit der gleichen liebenswürdigen Befangenheit antwortete sie:

»Allerdings, Herr Richter – ich muß gestehen, daß ich mich schon seit längerer Zeit mit derartigen Experimenten befaßt habe.«

Hans Fritze atmete so tief auf, daß er innerlich zusammenschrak – er meinte, sein Chef und die Angeschuldigte hätten es unbedingt hören müssen ... aber es schien ihnen entgangen zu sein, sie reagierten nicht. Gar wohl aber konnte er beobachten, daß auch der Untersuchungsrichter ein Gefühl der Erleichterung verspürte ... denn sein Ton war um mehrere Schattierungen milder, als er weiterfragte:

»Schön – erzählen Sie uns bitte etwas von diesen – Experimenten.«

Und mit derselben harmlosen Verlegenheit, mit der sie die Tatsache im Allgemeinen zugegeben, erzählte nun Frau Susanne Mengershausen den Vorfall jenes Teeabends, und zwar so eingehend, daß an der völligen Übereinstimmung ihrer Darstellung mit derjenigen der Zeugin nicht der leiseste Zweifel sein konnte ...

Es klang beinahe liebenswürdig, als der Untersuchungsrichter nun weiter fragte:

»Sie sind sich doch darüber klar, Frau Mengershausen, daß Sie durch dieses Geständnis ... der Anschuldigung, welche Ihre frühere Angestellte gegen Sie erhoben hat ... eine gewisse Stütze geben? ich will sagen ... wenn jemand, der wie Sie unter dem Verdachte steht, unter Ausnutzung des Phänomens der Hypnose ein Verbrechen begangen zu haben – wenn der zugeben muß, daß ihm die hypnotischen Tatsachen bekannt sind ... daß er sie sogar bereits – wenn auch nur in müßigem Spiel – experimentell ausgenutzt hat ... und dabei dargetan hat, daß er die Macht, andere Menschen hypnotisch zu beeinflussen, bis zu einem gewissen Grade sich zu eigen gemacht hat ... haben Sie nicht auch das Gefühl, daß der Betreffende dadurch seine Position einer solchen Anschuldigung gegenüber nicht unwesentlich verschlechtert?«

Auf Frau Susannes Lippen stand ein leichtes, liebenswürdiges Lächeln. Sie zuckte ein wenig mit den Achseln, als sie erwiderte:

»Ja – was kann das helfen –? Ich muß die Wahrheit sagen ... Aber ich habe Ihre Frage noch nicht vollständig beantwortet ... Jene Versuche damals ... jene Spielerei mit meinen Freundinnen ... das war überhaupt nur erst der Anfang ... durch den Scherz ist es mir erst zum Bewußtsein gekommen, daß ich überhaupt die Macht besitze – wie sagt man? die hypnotischen Wirkungen auszulösen ... damals war ich noch eine Anfängerin ... späterhin habe ich es noch viel weiter gebracht ... und zwar auf Veranlassung meines Mannes ... und unter seiner Anleitung ...«

Der Untersuchungsrichter saß ganz starr und steif, nur seine Nasenflügel vibrierten, die emporgesträubten Schnurrbartspitzen zuckten leise. Aber er bedurfte doch einiger Augenblicke, um seine Fassung wiederzufinden. Der kleine Referendar da hinten in der Ecke aber war unwillkürlich aufgesprungen ... so daß Frau Mengershausen einen überraschten Blick zu ihm hinübersandte ... zum Glück war dabei sein Tintenfaß ins Wanken gekommen, ein paar Tropfen waren auf das Protokoll gespritzt ... hastig war er bemüht, mit einem Löschblatt den Schaden soweit als möglich zu beseitigen und so durch anscheinende Ungeschicklichkeit seinen Mangel an Haltung zu verdecken ...

»Darüber ... möchte ich mir noch genauere Auskunft erbitten, Frau Mengershausen,« sagte der Untersuchungsrichter.

»Gewiß ... wenn es für Sie von Interesse ist ... wennschon ich gestehen will, daß es mir schwer fällt, Ihnen noch Genaueres aus dieser letzten, schwersten Zeit meiner Ehe zu erzählen ... richtiger gesagt, der einzigen Zeit meiner Ehe, in der ich zu leiden hatte ... Mein Mann war immer ein Urbild von Gesundheit gewesen ... bis etwa vor fünf Monaten. Da stellten sich die ersten Anzeichen jener ... jenes Niederganges ein ... dem er dann schließlich ... auf so schreckliche Weise zum Opfer gefallen ist. Er hatte niemals Rücksicht auf seinen Körper genommen ... Die Maschine habe zu funktionieren, wie der Wille es von ihr verlange ... das war einer seiner obersten Grundsätze ... und nun fing sie doch an, sich abzunutzen ... Das erste Symptom war Schlaflosigkeit ... die immer schrecklicher wurde. Zunächst bekämpfte er sie mit den üblichen Mitteln ... der Erfolg, der sich anfangs einstellte, blieb späterhin doch wieder aus ... und da – da erzählte er mir eines Tages, er wolle sich an einen seiner Kollegen wenden, an Geheimrat Aldringen, den Ordinarius für Psychiatrie ... von ihm wolle er sich gegen seine Schlaflosigkeit durch Hypnose behandeln lassen, sagte er mir ... Da faßte ich mir Mut und erzählte ihm von dem dummen Streich, den ich – es war wenige Tage vorher gewesen – mit meinen Freundinnen bei mir selber – da nebenan in meinem Zimmer – vorgenommen hatte, der uns allen beinahe so schlecht bekommen wäre ... Er amüsierte sich sehr darüber und meinte, ich könne meine Künste ja einmal an ihm versuchen ...«

Die beiden Justizbeamten hatten atemlos lauschend zugehört. Mit völliger Ruhe, ja mit einer gewissen schmerzlichen Heiterkeit hatte Frau Susanne erzählt. Es leuchtete auf ihrem Gesicht plötzlich wie süße Erinnerung an einen letzten Liebesdienst, den sie ihrem Hingeschiedenen noch hatte leisten dürfen, um ihm die sich zusammenbrauende Verdüsterung mit scheidendem Glanz freundlich zu vergolden. Hans Fritze meinte förmlich zu sehen, wie das regungslos angespannte Gesicht seines Chefs sich langsam erweichte ... wie ein ganz fremdes Leuchten des Mitgefühls aus seinen sonst undurchdringlichen Augen brach ... und seine junge Seele jubilierte in Erlösungsglück.

»Nun – und Sie sind seinem Wunsch nachgekommen? Und mit welchem Erfolge?«

»Mit dem denkbar erfreulichsten. Schon nach wenigen Versuchen ist es mir gelungen, meinen Mann aus vollem Wachen in hypnotischen Schlaf zu versetzen. Ich habe ihn dann etwa eine Woche hindurch Abend für Abend auf hypnotischem Wege eingeschläfert und ihm, ganz nach seiner Anweisung, den Befehl erteilt, die ganze Nacht hindurch ruhig und traumlos zu schlummern und am Morgen neugestärkt mit frischen Kräften zu erwachen ... Als ich das eine Zeitlang durchgesetzt hatte, haben wir wieder mit den Versuchen aufgehört, denn nun stellte sich der Schlaf auch von selber ein ... Selbstverständlich war das alles mit Wissen und Genehmigung des Professors Aldringen geschehen, den mein Mann in meiner Gegenwart auch über diese ganze Art von Behandlung konsultiert hat ... Und der auch seinerseits mich mit Unterweisungen für die hypnotische Beeinflussung versehen hat. Er war sehr zufrieden über die Resultate meiner Fähigkeit, sprach mir noch drei Tage vor dem ... vor dem schrecklichen Ereignis ... noch drei Tage vorher hat er mir gesagt, er glaube, die Krisis sei überwunden ... und dann ist das Fürchterliche doch geschehen ...«

Der Untersuchungsrichter stand auf.

»Ich weiß für heute genug, Frau Mengershausen. Haben Sie mit dem Protokoll einigermaßen folgen können, Herr Kollege?«

Errötend verneinte Hans Fritze. Selbst wenn er überhaupt zu einem Versuch des Schreibens gekommen wäre über dem angespannten Lauschen – seine zitternden Finger würden ihm den Dienst verweigert haben ...

So machte denn Doktor Alberti eine Ausnahme und diktierte mit ein paar knappen Sätzen den wesentlichen Inhalt der Bekundungen der Angeschuldigten. Dann las er ihr das Protokoll nochmal vor, reichte es ihr zur Unterzeichnung hinüber und dankte dann mit einer Wärme, die ganz ungewöhnlich an ihm war:

»Ich hoffe, gnädige Frau –« er sagte wirklich gnädige Frau – »ich hoffe, die Prüfung, die das Schicksal über Sie verhängt hat, geht ihrem Ende zu.«

In tiefen Zügen hob sich Frau Susannes Brust. Ihr Gesicht sank nach vorn, ein paar schwere Tropfen rannen aus ihren Augen und sprühten auf dem gelben Bogen des Protokolls, der vor ihr auf dem Tische lag, in tausend feine Perlchen auseinander.

»Sie werden Ihr schönes Heim ja nun leider wieder verlassen müssen,« sagte der Untersuchungsrichter, und es war plötzlich, als stände er der Frau nicht mehr als Richter, sondern als ein Gast ihres Hauses gegenüber ... »aber ich hoffe mit Bestimmtheit ... doch nein ... es steht mir nicht an, darüber eine Ansicht zu äußern ... auch sind ja für die Entscheidung der Frage ganz andre Faktoren als ich zuständig. Aber ich gehe wohl nicht zu weit, wenn ich Ihnen mein Bedauern ausspreche, Ihre Bekanntschaft unter so trüben Umständen gemacht zu haben ...«

Er brach plötzlich ab, unterdrückte die Hoffnung, sie unter günstigeren Bedingungen wiederzusehen ... das hätte denn doch geheißen: zu sehr aus der Rolle fallen ... aber das konnte er sich nicht versagen, der Dame, die er so bitter hatte quälen müssen – seit fünf Minuten war sie für ihn wieder eine Dame – die hagere Rechte hinzustrecken ... und mit einem ungewohnten Rauschgefühl genoß seine ausgedörrte Paragraphenseele den Strom von Lebenswärme, der von der weichen, schlanken Hand in seine knochige, hagere hinüberströmte ...

Und dann schritt Frau Susanne hinaus ... dorthin, wo der Schutzmann Fehse ihrer harrte ... die beiden Herren aber verneigten sich vor ihr wie vor einer Fürstin.

»Ja, Herr Kollege – was fangen wir nun noch an? Man könnte schließlich noch eine ganze Menge tun – die beiden Damen vernehmen, mit denen Frau Mengershausen den hypnotischen Ulk da aufgeführt hat ... den Professor, der ihren Mann behandelt hat ... was kann groß dabei herauskommen? Sie werden alles bestätigen, was die Angeschuldigte uns schon freiwillig mitgeteilt hat. Und schließlich bleibt nichts andres bestehen, als die Aussage der p. Krölke ... und wie die Dinge heute stehen, ist das denn doch ein bißchen dünn ... aber das kann mir ja natürlich gleichgültig sein ... ich habe ja nicht zu entscheiden, ob das Hauptverfahren eröffnet oder die Angeklagte außer Verfolgung gesetzt werden soll ... Jedenfalls habe ich nach dem Gesetz die Voruntersuchung nicht weiter auszudehnen, als bis das Material für die Entscheidung beisammen ist – und meiner Ansicht nach ist es jetzt beisammen ... ich werde also schließen. Die Staatsanwaltschaft mag tun, was sie will – ich habe keine Lust, noch weiter am Narrenseil der Dame Krölke zu zappeln.«

Vor der Türe des Gerichtsgebäudes trennte sich der Landrichter von seinem Ausbildungszögling. Hans Fritze war glücklich. Aber über die Hoffnung hinaus, sein Idol von der fürchterlichen Anklage entlastet und frei zu sehen, griffen seine Gedanken noch ein andres Ziel. Hier war ein Mensch, ein Weib, eine Dame – war ... sie ... gequält, gehetzt, bis in die tiefsten Tiefen ihrer adligen Seele hinein gekränkt und verleumdet ... Das forderte Rache ... diese fuchshaarige Bestie sollte nicht umsonst an einer Heiligen gefrevelt haben ...

Hans Fritze wußte gar wohl, daß es einen Paragraphen im Strafgesetzbuch gab, der die wissentlich falsche Anschuldigung mit Gefängnis nicht unter einem Monat und mit Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bedrohte. Das sollte ihr nicht geschenkt werden, dieser tempelschänderischen Kanaille ... Hans Fritze hatte ihr Rache geschworen, und er dünkte sich Manns genug, Vollstrecker dieser Rache zu sein.


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