Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nadine

Als in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre Melas in den Kreis ihres Lebens trat, hatte Nadine schon Männer aller Art gekannt und sagte von ihnen, daß sie sich nur im Vorgehen und in der Beredsamkeit unterschieden, sonst in nichts. Männer seien alle ganz gleich dumm, sentimental und unbegabt. Verlangte die Arbeit des gewöhnlichen Mannes nur halb soviel geistige Agilität wie die Arbeit der gewöhnlichen Prostituierten, so befände sich der Mann unausgesetzt am Rande des Verhungerns. Aber nicht als ob Nadine das nur gesagt hätte aus Schöngeisterei, sondern es war solches Wort durchaus der Ausdruck ihrer Haltung und ohne innern Widerspruch geführte Regel ihres Daseins so sehr, daß sie den Gedanken an eine männliche Ausnahme als eine Möglichkeit niemals dachte oder in weicheren nachgiebigeren Stunden mit solcher Möglichkeit im Gefühl spielte. Vielleicht war es diese Erfahrung aus dem Liebes- und Mannsabenteuer, was Nadine älter aussehen machte, als sie war. Oder es kam das dem raschen Blick nur vor, weil Nadines Züge und Gehaben nicht wie sonst bei Mädchen der Großstadt jene Spannungen und Entspannungen zeigten, welche den Erwartungen und Enttäuschungen Begleiter zu sein pflegen und über welche sich, um zu verbergen, jenes artifizielle lächelnde Email legt, mit dem die jungen Mädchen spazieren, unschuldig wissend oder gedämpft mänadisch, immer zum Manne hin in Sprung oder in gespielter, vermeint nötiger Abwehr eines Angriffs aus dem Blauen der von nichts als der Liebe erfüllt geglaubten Welt. Ein Kunstkenner aus Nadines Bekannten hatte entdeckt, daß sie Rembrandts Machteld van Doorn gleiche, deren Bild beim Baron Rothschild in Frankfurt hänge, nicht in der Figur gleiche, die bei Nadine natürlich jünger und schlanker sei, aber im Gesichte: es habe denselben sinnlichen Ausdruck, der sich weder spiele noch spielen könne, denn er sei völlig Natur, und zu diesem Ausdruck trete in apartem Widerspruch etwas Mutterhaftes, Kinderpflegendes in der großen Ruhe dieser Augen und dem sehr Bestimmten einer ausgesprochen richtigen Nase, wie sie junge Mädchen fast nie hätten, weil sie sich zu schneuzen genierten. Man konnte dem Kunstkenner, der diese Ähnlichkeit fand, manchmal recht geben. Zum Mütterlichen paßte nur nie ganz das kupferige und reichliche Haar, sowenig zum Kunstwerk Nadine es auch coiffierte, weil es zu schwer dazu sei, wie sie sagte.

Sie war noch nicht ganz fünfzehn Jahre alt gewesen, als sie von einem älteren lasterhaften Klavierlehrer ohne sonderliche Widerstände noch Folgen zur Frau gemacht wurde. Es kopulierte sich dieses hingenommene Faktum spielerisch mit den Fingerübungen auf dem Fortepiano und schien dem schmächtigen und etwas blutarmen Kinde irgendwie mit dem Klavierspiel zusammenzugehören, dies und das andere getrieben, um über die Zeit bis zum Erwachsensein wegzukommen, wo dann das eigentliche Leben anfinge. Worunter sie sich nichts als ihr eigenes vorstellte, ohne Genaueres bei diesem eigenen zu denken. Wie alle Kinder ihres Alters, die nach fremden Wünschen leben müssen. So war Nadine hinsichtlich der Liebe ins Laster geboren, saß darin wie eine Maus im Käse und bohrte sich mit ihren scharfen Zähnen ein Loch. Ihre Klugheit wehrte sich mit einem phlegmatischen Zynismus gegen Illusionen der Gleichaltrigen, die sie dummes Geschwätz nannte, womit sie sich bald aus dem Mädchenverkehr herausstellte. Ohne an den Gymnasiasten Geschmack zu finden, deren Schulbücher sie weit lieber las als Gespräche anhörte, die von Lehrern, Aufgaben und erwachsen tuenden Zweideutigkeiten handelten. Lieber wäre Nadine Umgang und Gespräch mit solchen Burschen gewesen, die zerlumpt, aber auch bewußt ordinär sich vor kleinen Kinobuden herumtrieben, oder wie sie sie in kleinen Trupps zu weiß Gott für Abenteuern in den Prater ziehen sah oder mit der ablösenden Musik in den Burghof. Aber das ging nun nicht für die Tochter eines wenn auch kleinen staatlichen Beamten, sowenig der auch merkte, daß Nadine nicht, wie er glaubte, einen Handelsschulkursus besuchte, sondern eine Tanzschule, was Einfall und Rat jenes Klavierlehrers war, welcher sich damit empfahl. Der seit Nadines Geburt verwitwete Vater lebte, hoch in den Fünfzigern, mit der Frauensperson, die ihm die Wirtschaft führte, in einer Art Ehe, leicht dazu von dem Dienstboten gewonnen, der nur an den Tag dachte, an dem Nadine irgendwie das Haus verließ, denn am nächsten Tag, das hatte ihr der Mann versprochen, würde er sie heiraten, schon wegen der Witwenpension, die er, zurückgesetzt sich glaubend, dem Staate nicht schenken wolle. Daß sie nur aus dem Haus käme, so oder so, verheiratet oder für einen Beruf oder, wie sie innerlich überzeugt war, als eine Schlampe, war alles Interesse, das die heirats- und pensionssüchtige Magd an Nadine nahm, die von ihr und damit auch vom Vater aus Freiheit hatte, soviel sie wollte. Nicht immer schlief sie zu Hause, und die Magd gab schweigend ihre Zustimmung. Sie wußte, daß auf die Nächte doch bald der Tag folgen mußte, da das Mädchen aus dem Hause blieb. Und der Tag kam.

An ihrem achtzehnten Geburtstag sagte Nadine zu ihrem Vater:

»Ich bin seit zwei Wochen Mitglied des Ballettkorps. Ist's auch kaiserlich, so verträgt es sich doch nicht gut mit deiner Stellung, Papa. Ich habe darum auch einen andern Namen genommen. Und meine eigene Wohnung. Ich verlasse heute nachmittag das Haus. Ich bin dir diese Rücksicht schuldig.«

Es sollte das nicht Einleitung zu einem Gespräch darüber sein, denn Nadine ging, kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, auf den hilflos zwinkernden Mann zu, küßte ihn flüchtig wohin zwischen Backe und gelbgraue Bartsträhnen, und mit einem »Leb wohl, Papa« war sie draußen, bevor der Alte recht verstand, von dessen weiterer Existenz Nadine übrigens nicht die geringste Notiz nahm. Etwas später pflegte sie zu sagen, sie sei ein Findelkind, womit sie ihren Familienstand radikal zu vereinfachen glaubte.

Ihrem Beruf oblag Nadine mit der Gleichgültigkeit junger Mädchen, die, in der achten Quadrille des Opernballetts tanzend, weder Ehrgeiz noch Talent in die vorderen Reihen rückt und die ihre Gönner auch nicht dazu mißbrauchen, ihnen durch Protektion das Fehlende zum Nachvornekommen zu ersetzen. Nadine hätte ebensogut Stenotypistin oder Telefonmädchen sein können wie Tänzerin. Ohne jeden sozialen Instinkt erlag sie keinerlei Bestimmung durch Beruf oder Milieu und entfaltete ihre vagabundierende Intelligenz zu keinerlei Aufgabe oder Vorsatz irgendeines Einrangierens. Nicht einmal den Jargon ihrer Umgebung nahm sie an. Sie ging von nichts aus, nahm keinen Weg, weil sie um jedes Ziel ratlos gewesen wäre, nicht vor der Wahl unter vielen möglichen Zielen ratlos wie vielmehr davor, daß es so etwas wie einen Sinn oder Zweck des Lebens überhaupt geben solle, worauf hin man sich unter dem Beifall oder Mißfall der andern sein Leben einrichtet. Das schien ihr eben die wesentliche Dummheit der Männer auszumachen, daß sie ihre blöden Betätigungen als Geschäftsleute, Politiker und Bankkassierer so ernst nahmen, so ernst, daß sie mit einer Frau gar nicht darüber sprechen wollten. Ja, weil die Frau sie eben auslachte, dachte Nadine. In Büchern sich auskennend, hätte sie einen alten Autor zitieren können, daß das Leben eine zerbrechliche Sache sei, aber nun besonders vorsichtig damit umzugehen, dieser Schluß lag der Achtzehnjährigen ganz fern. Größte Sorgfalt gab sie nur der Pflege ihres Leibes, nicht weil er ihr schön oder zu verschönern nötig vorkam, sondern weil sie die pedantische Regelmäßigkeit seiner Besorgung in Waschen, Füttern, Schlafen, Kleiden wie die Feder ansah, welche das Uhrwerk in Gang hielt. Möglich, daß sie einer ihrer ersten Bekannten eindrucksvoll auf diese Notwendigkeit aufmerksam gemacht hatte, möglich auch, daß es Beobachtung an den Mädchen der Straße war oder rasche Einsicht aus einem gehörten Gespräch von Kolleginnen, wahrscheinlich aber wohl, daß völliger Gleichmut, Unbekümmertheit ihrem seelischen Leben gegenüber dieses sich wenigstens einige Sicherheit des Leibes, seiner Herberge, gab und hierin Genauigkeit verlangte bis ins Äußerste. Denn Nadine lebte, wie es damals ein Beobachter hätte ausdrücken können, wäre ein solcher in ihrem Umgang gewesen, eine Korruption ihres Herzens so sehr, daß ihr völliger Verlust drohte. Aus dem sie sich nach einem Jahr solchen Daseins in die einzige Position rettete, die solche Art zu leben noch bot, nämlich in die betonte Absicht, so zu leben. Sie machte daraus einen überlegten Plan, den sie, und eben darin lag ihre vorläufige Rettung, auch in der schlimmsten Ausschweifung nicht verlor, und zu dessen Durchführung sie, wenn nötig, Asche gegessen hätte. Mit unschuldsvollstem Gesicht hatte sie angehört, was ihr die Kulissenfreunde ihres Berufes, selber darob fast errötend, sagten, und Nadine dankte diesen älteren und alten Herrn die sehr wichtigen Kenntnisse der Schamlosigkeit, welche das Schmieröl ist für die kreischenden Angeln des erotischen Schreckens. Sie bekam aus solcher Kenntnis einen sicheren, doch nie falsch verwandten Zynismus, der sie vor jedem sentimentalen Hereinfall schützte und ihr eine außerordentliche Herrschaft über die Situation gab. Von Ort, Umstand und seelischer Verkleidung her konnte ihr in ihrem späteren Leben nichts mehr passieren. Aber nicht intellektuelle Routine wurde ihr das Wissen, sondern instinktgeübte und körperlich sichere Geläufigkeit.

Nadine war zwanzig, als sie in diese ihre Sicherheit eintrat wie in ein Haus, zu dessen Einrichtung sie ein Jahr gebraucht hatte und dessen Winkel und Luken sie nun blind gefunden hätte. Nicht eigentlich schön, kaum gefallend, bekam ihr blaßgelbes Gesicht, sowie die Nacht einfiel, eine schimmernde Durchsichtigkeit, über welche die grauen, leicht halbgeschlossenen, dunkelbewimperten Augen wie weiche Pfötchen einer Katze strichen und streichelten, und in welchem Hellen aus dem kaum geschwungenen Kinn sich Lippen fest und straff, wie mit tiefroter Seide überspannt, sehr scharf abhoben. Nie brauchte sie einen Lippenstift. Und nie ein Korsett für die harten kleinen Brüste. Ich bin erst des Nachts: sie wußte das, und es galt nicht nur von ihrem leiblichen Wesen. Sie mied des Tages ihre Freundschaften, wenn irgend möglich, worin ihr die Freundschaften um so lieber nachgaben, als sie am Tage anderes zu tun hatten und oft genug auch, zu Nadines Zufriedenheit, die Nacht für ihre Geschäfte, oder um sich davon auszuruhen, brauchten.

Es ergab sich aus Nadines Zugehörigkeit zum Ballett ganz von selbst, daß sie ihre Freunde nicht zu ihrem eignen Vergnügen wählte und deren Vergnügen sich möglichst hoch bezahlen ließ. Lasterhaft, wie sie war, fand sie, ohne zu suchen, die zu ihr Ausdauerndsten unter der Gesellschaft von echten Lebeleuten, bei denen sie lernte, und von unechten, die sie lehrte, wobei sie aber so tat, als lernte sie auch von ihnen. Zu ihrer die Männer festhaltenden Sinnlichkeit, welche die echten entzückte, hatte sie die im Verkehr mit den unechten nicht schwierige, aber nötige Kunst erworben, diese Rasenden, ohne daß sie es merkten, wie eine Frau zu führen, welche die Kokotte macht aus geilem Übermut.

In den Anschauungen des Ballettkorps charakterisierte den echten Lebemann die Phantasie, Geld auszugeben. Es begreift sich aus der schließlichen Erschöpfbarkeit der Mittel, daß die echten weit seltener sind als die andern, die nichts als reich, aber noch unecht sind. Diese reagieren nun wie Vollblütige auf Blutegel: sie fühlen sich, um Geld gebracht, sehr angenehm erleichtert. Die große und vergebliche Anstrengung einer erfindungslosen Phantasie, wie und wofür Geld auszugeben, wogegen sich bei diesen Männern rationale Übung, Geld zu machen, wehrt, findet glücklich Erlösung in der Mätresse, die ihnen mit dem Gelde die Mühe abnimmt, besonders wenn sie es so geschickt wie Nadine verstand, daß der Mann den Eindruck haben konnte, diese Frau mache eigentlich für ihn Kapitalsanlagen, indem sie sich Schmuck, Häuser und Wertpapiere geben lasse. Nadine hatte es bald gemerkt, daß die Verpflichtung zur weiblichen Gegenleistung in dem Maße abnimmt, als die geldliche Leistung des Mannes zunimmt, und daß die an eine Frau verschwendeten großen Summen männlicher Eitelkeit ebenso schmeicheln, wie sie seltsamerweise die männliche Sinnlichkeit befriedigen. Je billiger das Straßenmädchen ist, desto mehr muß sie dafür leisten. Die Dummheit der Männer, so fand es Nadine wieder bestätigt, vermag zwischen Schein und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden; sie sind doch immer kleine Buben mit Bart. Ohne Mühe arbeitete sie bei wachsenden Einkünften mit einem Minimum von persönlicher Leistung, als welche sie schon ihre Anwesenheit bei mehr lächerlichen als anstrengenden Gelagen in Rechnung stellte. Denn die armseligen Ausschweifungen dieser kurzdatierten Elegants, die Monotonie der Zote im billigen Format der Zweideutigkeit oder eines nacherzählten Witzes und mittendurch übergangsloses Reden von Geschäften, das die Männer untereinander führten, machten Nadine mit ihrer geistigen Anwesenheit flüchtig aus der Gesellschaft und, da sie nirgends weder Ort noch Stelle hatte, wohin sie sich mit leidlich angenehmem Gefühl bringen konnte, war ihr Last und Leistung, hier in dem Partikulier an dem Tische mit denen sitzen zu müssen und Rolle zu spielen. Auch dieses gab ihr nicht immer rasch nötige Ruhe, daß sie in solchen Augenblicken sich wieder um tausend Prozent teurer machte. Und daß sie, wenn auch aus feindlichem Gefühl gegen diese Männer, Zahl, Ziffer, Rechnung wurde und damit sich doch recht eigentlich zum Wesen dieser Männer gesellte, das in einem Bankkonto ausdrückbar auch dann noch blieb, wenn sie liebten -- diese paradoxe Lächerlichkeit wurde Nadine einmal beim schwarzen Kaffee eines Mahles zu dritt so deutlich, daß sie sich rasch auf die Toilette entfernen mußte, wo sie erbrach. Nach diesem krassen Aufstand der Seele, diesem drastischen Ausrufezeichen, blieb Nadine acht Tage zu Bett bei verschlossenen Türen. Besah ihr Leben, wendete es nach allen Seiten, versuchte sich in Entschlüssen und kam zu nichts, das sie mit einem Sprunge das Bett zu verlassen gezwungen hätte, aus ihm geschleudert hätte in einen neuen Tag. Denn sie stellte nur einiges ab. Und das waren Kleinigkeiten. Suchte sie den wirkenden Ersatz, faßte sie schon ins Leere. Sie gab nur auf, woran sie länger schon kein Teil mehr nahm, warf nur Verbrauchtes weg, trennte sich von nichts, das sie, wenn auch nur kürzeste Zeit, entbehrt hätte. Dem Theater schickte sie ihre Kündigung. Wie dem letzten, der sich gerade ihr Freund nannte. Sie verabschiedete ihre Zofe, da sie merkte, wie die niedrige, kupplerische Person der abgestellten Wirtschaft mehr anhing als der Herrin, und nahm ein Mädchen aus der strengen Schule des Schwesternhauses in Dienst, das jeden Morgen um sechs zur Messe ging. Der Koch nahm Abschied mit der Zofe. Eine runde ältere Frau ersetzte ihn; daß sie mit einem Kanarienvogel und zwei Katzen einzog, war Nadine angenehm. Drei Tage lang hatte sie das Telefonrohr abgehängt, kam in Strafe deswegen und bestellte das Telefon ab. Ebenso die tägliche Masseuse, deren Aufgabe es gewesen war, das alkoholische Fett wegzufingern. Bleibe ich noch länger im Bett, so zünde ich das Haus an, dachte Nadine am achten Morgen, als ihr das Mädchen den bestellten Besuch des kleinen alten Herrn meldete, der seit zwei Jahren und, wie er sagte, für seine väterlichen Gefühle als Entschädigung, das Glück genoß, Nadines Vermögensangelegenheiten in Ordnung zu halten. Nadine war dieses früheren Bucketshopers nicht einzige Kundin, denn nichts sonst als solcher Dienst in den Geldaffären konnte den äußerst häßlichen Alten mit dem von Pusteln roten Gesicht in die Nähe und den Umgang mit jenen Frauen bringen, ohne deren Geruch er nicht leben konnte. Den lüstlich schnuppernden Mann bei klaren Gedanken und deutlichen Worten zu halten, war heute mehr als sonst noch nötig, darum ihn im Schlafzimmer zu empfangen unmöglich. Der Geruch des warmen zerlegenen Bettes hätte ihm den Speichel aus dem Munde getrieben, und er hätte sich geschäftliche Auskünfte nur widerlich erpressen lassen. Rasch ließ sich Nadine ankleiden. Wie ein Präsent hatte der Alte in der Zeit des Wartens Nadines Papiere auf dem Tisch ausgelegt, und sie wußte sich nach wenigen Minuten vermögender, als sie geglaubt hatte. Ihr vergessene Posten kamen überraschend zum Vorschein, andere waren günstiger, als sie gedacht, und auf den gegen früher doppelten Ertrag aus zwei Mietshäusern in der Vorstadt, in denen der Alte besser rentierende Kleinwohnungen an Proletarier eingerichtet hatte, war Herr M. F. Friedmanns Bankgeschäft besonders und so sehr stolz, daß er sich den Dank dafür selber holte, indem er seine zur Schnute vorgestülpten Lippen Nadine in die Achselhöhle wühlte. Der von dem Alten erregt erwartete Klaps von Nadines Hand blieb diesmal aus. Das Adieu sagte sie zur Türe hin.

Sie war allein. Stand am Tisch, die Hände darauf gestützt, und sah mit fast geschlossenen Augen das Tun zweier Jahre festgehalten in Aktien, Mietverträgen, Obligationen, Hypotheken, Scheinen, Rechnungen und fragte sich ohne Antwort, ob dies nun viel sei, was sie bekommen, oder jenes viel, das sie gegeben, hob leicht die Hände, bewegte sie wie wägend leise auf und ab, die rote Zungenspitze aus den Lippen schiebend wie einer Waage Zünglein. Aber sie öffnete nun Mund wie Augen, als sie dessen auf einmal innewurde, daß ihr so Maß wie Waage fehlten, und nicht einmal eine Spur jenes Hurenstolzes in ihr sich regte, von dem sie wußte, daß es ihn gäbe.

Sich im Undeutlichen irgendwelcher Gefühle zu behausen und schmerzlich genießend darin wohl zu fühlen, war gar nicht Nadines Art. Aus ihren ganz privaten Erlebnissen allgemeine Schlüsse auf Welt, Menschen und Ablauf zu ziehen, den Bereich des ihr wirklich Erfaß- und Haltbaren zu verlassen, das wäre ihr wie dumme Feigheit vorgekommen, wie ein Verstecken vor sich selber. Sie blieb in allen ihren Gedanken und Überlegungen immer und ganz bei sich selber, gab nicht ein Zollbreit von sich auf und nannte, moralisch indifferent, wie sie war, das eine dumm, das andere gescheit, nie aber mit den Vokabeln aus der sozialen sittlichen Sphäre das eine recht, das andere unrecht. Sie sah sich und jeden andern Menschen im natürlichsten Kampfe mit seinesgleichen, unterliegend, wenn er dumm, gewinnend, wenn er es nicht war. Nichts anderes.

An dem Tage, da sie mit ihren Geldfreunden Schluß machte, war in ihr nicht die Spur von dem, was man moralischen Katzenjammer nennt. Daß sie Waage und Maße nicht hätte, Geldbesitz und Leib gegeneinander zu wägen, das erledigte sich ihr ohne Anstrengung zum Zynismus damit, daß hier von vornherein das eine so viel oder so wenig wert sei wie das andere, und daß nur, wer schlechte Geschäfte gemacht habe und sich betrogen glaube, nach der Waage schreie. Sie reckte ihren festen Körper, daß es knackte, dehnte die Arme, spannte die Brust, schlug das feste Gebiß klirrend aufeinander und fand sich um nichts vermindert und um ein Wissen reicher aus diesen zwei Jahren, eben dieses, daß sie so gescheit geworden war, jetzt und in diesem Augenblick etwas zu endigen, das weiter zu treiben ohne Verstand gewesen wäre. Sie erinnerte sich an jenes Speien vor Ekel und dachte: sogar mein Magen denkt.

Wie neu war wieder die Welt vor ihr und sie voll gespannten Sinnes in die neue eintretend. Als läge sie in einem kohlensauren Bad, so kitzelte sie Prickeln in Waden und Schenkeln, lief es ihr perlend im Rücken, fühlte sie knisterndes Haar. Sie warf die Decke ab und, auf Nacken und Fußsohlen gestützt, machte sie hohles Kreuz, daß Bauch und Scham sich hohlwölbten wie eine Tempelkuppel.

Der intelligenten Geschicklichkeit Nadines gelang es in kurzer Zeit, in den Umgang mit jenen Männern zu kommen, deren gesellschaftlich immer etwas problematische Stellung ihr Erholung sein sollte vom klassifizierten Korrekten ihres bisherigen Kreises, den wesentlich die Finanz bestimmte, mit Männern sogenannter freier Berufe. Was sie bisher davon kennengelernt hatte, als Garnierung reicher Tische geladen, genügte, daß sie sich von der geistigen Verderbtheit dieser »Bohemiens« etwas romanhafte Vorstellungen machte. Die vermeinte größere Verschiedenheit dieser Männer, ihre angenommene Einzelheit sollte ihr den Tag weniger monoton machen. Gab es nun auch solche Verschiedenheit, so hatte doch Nadine keinen Sinn dafür, da sie nur Gradunterschiede des Talents sah, womit die einzige Aufgabe, die sie sich stellte, gelöst wurde. Sie kam hier bald zu dem festen Glauben, daß die einzig mögliche und innerlich wahre Beziehung zur Welt und ihren Gegenständen bei der Frau, die obenauf bleiben wollte, die sinnliche Beziehung sein müsse, da es die vom Manne gemachte Welt einmal wolle, daß die Frau zwar dumm, aber sinnlich sei. Das künstliche Wesen Dame, das der Mann wünschte, um sich leichter in seiner Insuffizienz des Intellekts zu behaupten, verstand Nadine um so leichter zu spielen, als sie ihren Leib dazu nicht zu überreden brauchte, sinnlich zu sein. Aber sie bekam in dieser Gesellschaft einzelhafter Männer den Stachel, wirklich zu allen Dingen diese sinnliche Beziehung zu erreichen, den Mann gewissermaßen wörtlich zu nehmen. Und das steigerte ihre Klugheit zu Verstand, ihren Witz zu Geist und ihren sexuellen Appetit zu einer ihr Wesen durchdringenden, angenehm vergiftenden Feinschmeckerei, mit deren unausschaltbarer und mehr erfühlten als gemerkten Präsenz sie herrschte, wie sie wollte.

In solchem Leben bleiben wollen und es nicht ertragen, sondern wahrhaft führen, dazu gab es als einzige Sicherung die Haltung, die für Nadine etwa so ausgedrückt wäre: sie wollte die Kapazität der Seele auskundschaften, sehen, was alles an Ungeheuerlichem darin Platz habe. Hartwandig wurde sie dabei wie jene Gefäße, in denen man Sprengstoffe ausprobiert. Denn die als notwendig erfaßte Haltung zu behaupten, war nur mit äußerster Anspannung und Steigerung aller dafür als mobil in Betracht kommenden Kräfte möglich -- ein Nervennetz ebenso elastischer wie unzerreißbarer Stahlbänder umgab eine Spiritualität, die sich in dem Maße ausdehnen und verdichten mußte, als Nadine in der Richtung ihres im also Sinnlichen bestimmten Wesens lebte.

Auf sogenannte geistige Männer übte Nadine jetzt die stärkste Wirkung aus. Denn hier wurden alle ihre Kräfte lebendig, den Zusammenbruch der ihr immer nur utopisch scheinenden Geistigkeit des Mannes herbeizuführen oder doch zu fördern, Holz zum Stoß zu tragen, in die Flammen zu blasen. Des früheren Spiels, des Kampfes um das Geld der Männer, war sie als eines zu leichten überdrüssig geworden in dem Maß, als ihre Kräfte wuchsen. Der Bedrohte tat hier ja nur manchmal so, als wehrte er sich, um schließlich zu geben und dann nur ein Akzidentelles seiner Person, wenn auch ihr einzig Auszeichnendes: das Geld. Jetzt aber versuchte Nadine den Mann, der sich unteilbar vorkam. An ihrer unzerstörbar im Leiblichen gegebenen Einheit ihres Daseins, die beim Manne nur im reinen Denken als Fiktion vorhandene Synthese zum Zerfallen zu bringen, erschien Nadine als ihres Einsatzes nunmehr werte Aufgabe, die zu erfüllen mit der Schwierigkeit des Falles und der Steigerung der von ihr darangesetzten Kräfte ihr fast wie Pflicht wurde, lustvoll erfüllte Pflicht. Die Anstrengungen des Mannes, über das Faktum der Sünde hinwegzukommen, ihm die immer wieder versuchte Haltung zu nehmen, die sie als eine nichts als nur gedachte, niemals wirkliche verhöhnte -- dies war das aus ihrer ersten Verworfenheit geschaffene Mittel, sich zu behaupten. Sie lebte im Bösen und genoß es.

Es war Nadines Werk, daß der berühmte S. ins Kloster eintrat. Er professierte, wie man weiß, die Dogmatik einer ethischen Ästhetik, einer Verschmelzung der sittlichen Grundwahrheiten mit den Subtilitäten des Verstandes, der Sublimierung der Liebe in eine halb wissenschaftliche, halb christkatholische Kategorie. Nadine widerlegte ihn im Praktischen radikal, indem sie ihn unausgesetzt seine menschlichen Voraussetzungen erleben ließ, ihm seine Psychologie auf den Leib hetzte, nicht etwa diskutorisch, sondern durch die Heftigkeit ihres sinnlichen Appetites, durch eine naive Impertinenz, durch ein Gebot absoluter Keuschheit, das sie ihm für acht Wochen auferlegte, durch das Gewissen, das sie in ihm weckte und nicht zur Ruhe kommen ließ, darüber, daß er einmal eine ehebrecherische Frau umarmt habe und dessen Frucht dem Gatten unterschoben. Sie kombinierte aus Anzeichen in Wort, Miene, Geste Verdrängtes, Verborgenes, brachte es hervor, ließ es wirkend sein. Sie verführte seinen Blick auf zwölfjährige Mädchen, gab ihm Träume davon, bis er, selber erschreckt, Gefahr gestand und in Nadine, die nun ganz die Zwölfjährige spielen konnte, die Retterin sah und die Richterin zugleich fand. Als der intellektuelle Stolz dieses Denkers der Welt nichts mehr sonst wollte als Nadines letzter Hund sein, da schien es ihr soweit, ihm den Abschied zu geben. Denn nun war ihr Werk getan. Was von S. noch übrig war, ging zu den Trappisten die via negativa zur absoluten Kontemplation, die jedes Tun verweigert und mit dem Werden ein Ende macht, um ein Sein zu erreichen.

Nadine sagte damals von S. nichts als: »Sein Start war falsch.«

Irgendein Holzknecht war Nadines Sommererholung im Tiroler Gebirge, wo sie aus ihrer Ballettzeit ein kleines Landhaus besaß, Geschenk eines Wüstlings für ihre Virginität, die dritte oder vierte der damals Siebzehnjährigen. Der Knecht roch nach Schweiß, leise nach Schnaps und schneuzte sich in die Finger. Nahm die Frau ohne Umstände frühmorgens auf einer Waldlichtung, Rehe schauten mit neugierigen Augen und auf drei Beinen, das vierte fluchtbereit, und die Stalaktiten der Sonne standen im Walddunkel. Der Bursch besaß siebzehn Vokabeln und gebrauchte davon nicht vier, und seines einzigen Procédés war er ganz sicher, denn keine Kenntnis eines zweiten und dritten ließ ihn schwanken oder ausgleiten. Der gute Wast, dachte Nadine, der eine so einfache Sache so einfach läßt, wie sie ist, weil er Holz hackt, rauft, trinkt, wildert und sonntags in die Messe geht! Sie empfand dabei nicht die geringste Schwärmerei für Natur oder daß sie sich die Bergère vorgespielt hätte. Es war für sie, was sich da vollzog, weder idyllisch noch heroisch, sondern sie brachte so nur ihre Stadtnerven in Ordnung, verschrieb sich das wie kuhwarme Milch und Landbrot für eine kleine Zeit, deren Ende sie im Herbst nicht nur nicht bedauerte, sondern eher wie eine Erlösung von einem kleinen, aber notwendigen Übel empfand. Als die Waste in ihrem städtischen Kreis bekannt wurden, wollten einige junge Schwärmer in Nadine die Wiedererrichterin einer Sache sehen, die sie Matriarchat nannten.

Nadine fuhr diesmal in die Stadt zurück mit dem bestimmten und wohlgestärkten Vorsatz, Melas zu erledigen. Dies war ihr Wort: erledigen. Er hatte sich ihr im Frühjahr mit allen Deutlichkeiten des Verliebten gezeigt. Aber Melas brüskierte die erstaunte Nadine, indem er sich hartnäckig an der Peripherie hielt, obzwar sie jede Menge aus dem Kreis entfernt hatte und also Platz gewesen wäre. Ihr Eigensinn wurde lebendig, als er fast phlegmatisch gar nichts dergleichen tat, als ob er Lust hätte, je den Radius zu verkleinern. Entschlossen machte sie den ersten Schritt, lud ihn zum Tee ein. Melas blieb ein eher kalter als kühler Herr, der ohne jede Liebenswürdigkeit korrekt ist. Nadine zwang sich noch einen Schritt ab. Sie wechselte das Niveau des Stimmtons, kam damit näher an das nichts als Männliche. Melas schien verwirrt, verlegen, fürchtend, die Haltung zu verlieren. Sie merkte, daß sich die Lippen in dem knochigen Gesicht fester an die Zähne preßten und die Nase sich dadurch verschmälerte. Nadine wurde vorsichtiger. Denn diese Art, das wußte sie, konnte sich auf einmal in barbarischer Kühnheit entladen. Nadine bat ihn also neben sich, um die gefährliche Spannung in einer spielerischen Galanterie sich verpuffen zu lassen, den Mann damit zu erschöpfen, den Weg, der so bedrohlich gerade aussah, zu verwirren. Aber da stieg auch plötzlich ein feindliches Gefühl gegen diesen Menschen in ihr auf, von dem sie nichts wußte und den sie nicht erriet. Nadine wurde am Erfolg ihrer Vorkehrungen zweifelnd. Das Gespräch kam nicht in Gang. Melas gab, ohne daß man ein Interesse an dem Gesprochenen bei ihm merken konnte, zu direkte Antworten, die immer erledigten, so daß Nadine nicht immer vermeiden konnte, das Thema zu wechseln. Ich flattere ja wie ein Vogel, dachte sie, und wie heißt doch die Schlange ... Da, als sie sich niederbog, einen Faden vom Kleid zu lösen, nahm er sie. Und bevor Nadine sich auch nur wehren konnte, blieb ihr nichts mehr. Was sie auch versuchte, seine Hände hielten sie fest, und sie mußte sogar dieses noch, mußte sich in den Takt finden, den er angab. Nur die Lippen konnte sie von den seinigen wegwenden. Nichts sonst als die Lippen.

Melas sprach irgendwoher aus dem Zimmer, das nun dunkelte: »Ihr Gehirn ist glücklicherweise nur in Ihrem Kopf, Nadine, und nirgends sonstwo. Die beiden getrennten Aspekte stehen Ihnen vortrefflich. Unbeweglich oben, beweglich unten, klarsichtig und passioniert. Das ist hübsch.«

Nadine hockte verkauert in der Diwanecke und hatte einen gedrückten Atem. Sie spürte die Verachtung in den Worten des Menschen wie eine Last, die er ihr zu tragen gab und die sie trug. Und sagte kein Wort. Sah nur manchmal, den Kopf unbewegt, den Mann, auf den nun irgendwelches Licht von draußen fiel, von unten herauf an, nicht weiter als bis zum Hals, als traute sie sich nicht an seine Augen. So hockte sie in den Kissen und hatte wie nie bisher ein Körpergefühl, war wie aus sich selber draußen, spürte ihren Leib als ihren und doch wie einen fremden bis ins einzelne Glied. Auch als er sich höflich verabschiedete, hatte sie kein Wort.

Eine Stunde später mußte die Zofe Nadine aus der Starre wecken, mit der sie noch immer in der Ecke kauerte, die Beine an den Leib gezogen, die Arme darum geschlungen, den Kopf darübergelegt. Das Haar war nach vorne gestürzt wie eine Welle Blut, und der Nacken lag hoch hinauf blank. Sie ließ sich nicht entkleiden. Tat das selbst. Die Neugier erstaunte sie gar nicht, mit der sie in der Wäsche eine Spur suchte wie eine überfallene Jungfrau. Und war überrascht, das Blut nicht zu sehen.

Damals, als Nadine rentengeschützt von den Geldleuten zu den Geistleuten wechselte, dem Boden entsagte, der ihr darauf wucherndes Dasein ihr zu üppig-träge werden ließ, so daß sie fürchtete, Fett anzusetzen, da schraubte sie sich in die dünne Luft einer Höhe, die sie, ganz Geschöpf der Tiefe bleibend, nur mit dem diätischen Korrektiv Tirols vertrug, um doch immer des Sturzes in die Tiefe gewärtig zu bleiben. War sie erst Parasit am Leib dieses Bürgertums gewesen, so war sie es nun an dessen Geist, dort nun sich versündigend gegen das, wozu sie da war. Theologisch gesprochen, könnte man sagen, Gott bediente sich dieses Melas als eines Werkzeuges, die übermütig gewordene abtrünnige Dirne zu strafen für Untreue gegen sich selber, da es die göttliche Ordnung der Welt verlange und immer durchsetze, daß Grenze und Funktion von jedem eingehalten und erfüllt werden müßten. Nadines Sturz in die Erde vollzog sich in einer geraden Flugbahn, widerstandslos und völlig.

Ihrem Tagdenken über diesen Menschen kuppelten sich Angstträume der Nächte. Im Haß glaubte sich Nadine von diesem Melas geliebt, und ihr Vergnügen an diesem vermeinten Haß war ohne Grenzen. Denn als Haß erschien ihr, daß Melas die Frau seinen kleinsten Wünschen gehorsam machte, sie ganz in seinen Willen faltete. Er haßte die Frau aber gar nicht. Denn er liebte sie gar nicht. Er nahm, was von ihr zu nehmen war, ließ alles andre und dachte vielleicht die noch unbestimmten Pläne, die er mit ihr hatte. So war er zärtlich oder brutal oder kalt. Stück um Stück ging Nadines geistiger Besitz in Fetzen. Sie, deren Witz über eifersüchtige Frauen unerschöpflich gewesen, wurde eifersüchtig. Worauf Melas nur sagte, daß er ginge. »Ja, weil du mich eben nicht liebst«, sagte sie, ganz wie jede Frau, und hatte Tränen, ganz wie ein Dienstmädchen. Seine Nicht-Liebe war wahrhaft ihre erste Liebe. Melas blieb völlig ungerührt und sagte nur: »Ich bin nicht für derlei Theater. Du weinst und setzt dich ins Werk, um mir deine dummen Lügen beizubringen. Kein Wort, das du sagst, denkst du auch wirklich. Mir ist lieber, du schweigst. Betrüge ich dich, so wirst du es nicht erfahren. Das ist alles, was drüber zu sagen ist.« Und er blieb drei Wochen unsichtbar für Nadine.

Nicht daß sie diesen Menschen irgendwie bewundert oder respektiert hätte. Ihre Liebe, die irgendwie Eifersucht und Tränen aus ihr preßte, nahm ihr nicht die Klarsicht in Melas' Fehler, aus denen dieser auch gar kein Hehl machte. »Du hast kein Herz, Melas, nicht einmal ein schlechtes wie ich«, sagte sie.

»Nein. Ich habe keins. Es stimmt. Und habe ich eins, so spielt es in unserer Affenkomödie nicht mit.«

»Du hast auch sonst keinerlei Vorzüge.«

»Ich habe gar nichts, das den Mangel an Herz ersetzt. Meine Kenntnisse sind geringer, als ich sie brauchen könnte und wünschte. Ich arbeite sehr ungern. Selbstachtung Null. Auf die Intelligenz, diese mediokre Fähigkeit, die Beziehungen von Ursache und Wirkung zu erkennen, pfeife ich. Nein, Nadine, ich habe wirklich keinerlei respektable Qualitäten. Wenn du mich für deinen Ehrgeiz hast, kommst du nicht auf deine Rechnung. Wir wollen nicht mehr sprechen und in den Zirkus fahren. Boxmath Briefhover und Munsulla.«

Nadine widersprach Melas in dieser negativen Charakteristik seiner Person nicht nur nicht, sondern verstärkte sie noch, ohne dabei aber so deutliche Tatsachen zu verlügen wie Entschlossenheit, starken Willen, Bestimmtheit, die Melas so eigneten wie die Kräfte seines Körpers, dem keinerlei Ausschweifung etwas anhaben konnte. Aber aus seinen zugegebenen Fehlern folgerte sie andere, die sie sich ausdachte aus dem, was ihr an Melas unzugänglich und verschlossen war wie die Welt, in der er lebte, die Menschen, mit denen er zu tun hatte, die Gegenstände, mit denen er sich beschäftigte, wovon allem er nie ein Wort mit ihr sprach. Erst direkte Fragen danach lehnte er ab. »Was hat das damit zu tun, daß du mich, wie du sagst, liebst?« Später, vorsichtiger befragt, kam etwa die Antwort: »Wenn du es schon brauchst, so nimm an, ich sei Ingenieur ohne Stellung und schlage mich mit zweifelhaften Geschäften so lange durch, bis ein Coup gelingt.« Nadine war es Lust, das ihr Unbekannte dieses Lebens sich im Trüben, Gemeinen vollziehend zu denken, um das Grauen, das sie vor Melas empfand, zu verstärken und mit dem Grauen das Vergnügen, das sie aus dieser Liebe hatte. Als er sich das erstemal Geld von ihr lieh, einen nicht geringen Betrag, spürte sie ein ganz lokalisiertes Gefühl der Wollust. Er hatte ohne mehr Worte verlangt, als die Ziffer braucht, und im Tone fast eines Befehles. Sie bekam Schwäche in den Knien, als sie ihm die Scheine gab. Und sie war verstimmt, als ihr Melas das Geld am dritten Tage darauf wieder zurückgab. Ob er es denn nicht noch brauche? Und daß es doch keine Eile habe. Nein, er brauche es jetzt nicht mehr. Sie mußte sich sehr zusammennehmen, ihm nicht zu sagen: ich bezahle gern. Ein paar Tage darauf erbat Melas den doppelten Betrag. Die leichte Unsicherheit, die ihn »ich bitte dich« hatte sagen lassen, verließ ihn sofort, als er sah, wie der Wunsch Nadine glücklich machte, ihre Hand zitterte, als sie flüchtig und oberflächlich die Scheine auf den Tisch zählte, sich um zwei zu seinen Gunsten absichtlich verzählte. Er steckte das Päckchen ohne ein Wort in die Hosentasche. Wie einem innern Befehl, der sie aufhetzte, gehorchend, lockte sie den Mann, der gleich gehen wollte, mit dem Leibe zu bleiben. Sie schwelgte, da er blieb, nahm, da sie zum Ausgehen bereit gewesen war, den Hut nicht ab, als sie sich hingab.

Von dem Tag an fand Melas, wenn er sich zu Hause entkleidete, in den Taschen seines Anzuges immer Geld, das Nadine heimlich da hineingesteckt hatte, nach jedem Besuch. Sie hatte nur Angst, daß er einmal davon sprechen oder gar dafür danken könnte, mit einem Wort, einem Geschenk. Wie ein erleichterndes »also« war es ihr, als sie merkte, daß Wäsche und Garderobe des Mannes sich ins auffallend Feinere erneuerten. Tägliche Maniküre wurde erkennbar und das Fahren im Wagen so selbstverständlich wie das Vermeiden nicht ganz erstklassiger Lokale, wenn man etwa nach dem Theater gemeinsam soupierte. Mit kostbaren Geschenken tat Nadine dazu, was noch fehlte. Sie gab die Perle in den Schlips, das Rohr mit dem goldenen Knopf und den Pelz. Aber sie merkte, daß der Reiz solcher Bezahlung sich erschöpfte. Und im vorsichtigen Schutz einiger Gläser Champagner glaubte sie es wagen zu können, sich den Genuß ihrer Liebe damit zu schärfen, daß sie mit lachenden Händen, aber ernsten Mundes für die erwartete Liebesstunde einen Geldpreis aussetzte.

»Ich mach' es dir leicht, ihn zu gewinnen, die halbe Arbeit ist getan.« Auch bei Melas hatten rasch getrunkene Gläser gewirkt, und mehr noch als die schamlos Hingeworfene stachelte die Entehrung den Mann, so daß er in der Umarmung flüsterte: »Zahl das Doppelte.« Und ihm war dieses Gesagte lustvolle Peitsche wie ihr.

Wie ein anderes Wort, das Nadine erst nur ein paarmal wie im Scherz hinsprach: »Mein Zuhälter Melas.« Bis sie auch dieses Wortes lebendige Tatkraft auf die Probe stellen mußte. Daß er wirklich ihr Zuhälter werde, wurde Ehrgeiz ihrer Liebe, Stachel in ihrem haßvollen Begehren, so sehr, daß sie eine leicht sich ergebende Gelegenheit benützte, den raschen Blick des Einverständnisses mit dem äugenden Fremden am Nebentisch, unbemerkt von Melas, zu wechseln und durch die Bedienung die kurze briefliche Nachricht spedieren zu lassen. Melas merkte nichts -- oder tat so. Aber er hatte, so war Nadines Wunsch, wohl so zu tun, als merke er nichts, denn dies verlange der Erfolg, aber er müsse davon wissen. Denn ihn schlechthin zu betrügen, war in keinem dieser Abenteuer irgend Absicht gewesen oder Quelle ihres Vergnügens. Wußte Melas nicht darum, so waren diese Passaden ja nichts als lästig. Daß sie ihm mit der verkauften Preisgabe ihres Leibes an fremde Männer diene, daß so groß ihre Liebe zu ihm sei, für ihn zu arbeiten, wie eine Frau ihrer Art eben arbeiten könne, dies mußte er wissen, damit sie in der Umarmung des fremden Zahlers lebhaft wurde. Alles andere war Komödie ohne Sinn, war Wäschewechsel aus albernstem Grund. Ihn zu zwingen, daß er solches dulde und ertrüge, war Äußerung ihrer um den Haß oszillierenden Liebe zu dem Manne, mit dem sie fertig werden mußte um jeden Preis. Denn noch wußte sie es nicht, aber ihre Sinne spürten es, daß sie fast schon nicht mehr die den Mann so Zwingende gegen seinen Willen war, sondern die schon fast so Bezwungene seiner Lust wegen. Widerstände fühlte sie bei ihm nicht nur geringer werden, sondern beseitigt dort, wo sie sie erwartet hatte. Es mußte also noch mehr geschehen, um die Macht zu behaupten, die zu besitzen sie noch glaubte.

Sie machte zu Geld, was sie an Wert besaß. Sie verkaufte Schmuck, Kleider, Möbel. Auf die beiden Zinshäuser der Vorstadt nahm sie Hypotheken bis zur äußersten Belastung, die letzte zu Wucherzinsen. Was Nadine im Erwerb ihres Vermögens nicht getan hatte, das tat sie jetzt, als sie verschwendete: sie rechnete. Genau rechnete sie den Tag aus, an dem sie nichts mehr haben würde, um dann das letzte zu tun, was sie in dieser Raserei um die Herrschaft über den Mann tun zu müssen glaubte. Melas gab das Geld aus, sinnlos, wie sie ihn hieß. Sie wachte darüber, daß er sich nichts beiseite schaffe, denn solche Tendenz des bürgerlichen Geldes, wieder bürgerlich solid zu werden, merkte sie an dem kleinen Bäuchlein, das Melas bekam und das sie ihm abhetzte wie jeden Versuch einer Unterschlagung zugunsten eines Bankdepots. Daß das Geld wieder dahin zurückkehre, woher es ihr gekommen war, das ging ihr gegen die Ehre der Arbeit. Ihr Arbeitslohn sollte nicht wieder Kapital eines Bürgers werden.

Es kam der Tag ihres Triumphes. Sie hatte mit Melas bei Sacher diniert. Auf der leeren Seite der Note machte sie dem Mann mit ein paar Zahlen deutlich, daß es nun an der Zeit seines Amtes sei, dafür zu sorgen, daß sie gut zahlende Liebhaber bekäme. Er habe nun, so sagte sie, lange genug auf dem stummen Klavier geübt, um sein erstes Konzert geben zu können. Zudem sei sie ja keine schwierige Anfängerin, und die Sache würde einfacher gehen, als er vielleicht denke. Sie zerbrach ein Sektglas, das sie hielt, mit den Fingern, und es floß kein Blut, so erregt war sie.

War dieser Irgendeiner, dieser Mensch, der sich Melas nannte, schon weiter und schlug Nadine in diesem seltsamen Rennen nach Himmel oder Hölle? War seine Aufgabe, um den Preis seiner wohl wenig wertvollen Seele, getan? Er verlor das Gesicht, das er bis jetzt für Nadine gehabt hatte, verlor es wie ein Mensch, wenn sich ihm sein Schicksal erfüllt oder kurz vor dem Tode. Er wurde ganz undeutlicher, namenloser Funktionär des ihm Geheißenen, befohlener Begleiter, Wandschirm, Aufpasser, Diener, träger Schlafbursche einer Dirne, der er die rückwärts geschlossene Taille gähnend knöpfte, wenn sie auf den Strich ging. Er zählte das Geld, teilte mit der Hand schiebend ab, verschwand in Cafés, wartete da, köderte, spielte Karten mit Genossen. Tage und Nächte waren einander gleich, wie sie kamen und gingen, und Nadine hatte es vergessen, daß sie den Mann so gewollt hatte. Alles, was war, schien ihr, als ob es nicht gewesen wäre, oder wie eine umständliche Reise. Nun, endlich war sie da. Gott sei Dank. Was für Todesängste hatte sie ausgestanden! Endlich ist das vorbei.

Sie selber nicht, nur eine Polizei hätte die Tage addieren können, welche Nadine so angstbefreit lebte, in guter einfacher Tätigkeit, sich und ihrem sie schützenden Kerl das tägliche Brot zu verdienen. Es war Ununterscheidbares, nach Brauch gemessen genau dreiundzwanzig Tage. Denn am vierundzwanzigsten flog der eine Teil aus der Bahn, was eine Störung ins Licht verursachte. Melas mußte, da das Land einen Krieg erklärt hatte, zu seinem Regiment als Feldwebel einrücken. Wie es alle Mädchen taten, begleitete sie ihn, das kleine Köfferchen tragend, zum Scherz auch manchmal das Gewehr, zum Bahnhof. Ein Abschied wie alle andern Tausende Abschiede, nachdem man in dem überfüllten stinkenden Wartesaal Bier und Schnaps getrunken hatte, drei Stunden lang.

Es war dunkle Nacht, als Nadine den Bahnhof verließ. Aber die Bänke in dem Park vor dem langen Gebäude waren behockt und belegen von Burschen, aus der Umgegend der Stadt hergekommen, um in der Nacht oder am frühen Morgen mit der Bahn weiterbefördert zu werden, zu ihren Regimentern oder an die Front oder weiß Gott wohin, wer kennt sich in den Befehlzetteln aus. Die Nacht war dampfend heiß, voller Staub und blauer Schwärze. Hatten Hände sie auf die Bank gezogen, auf der keiner Platz machte, so daß Nadine den Burschen auf den Schenkeln saß, die wippend flogen, daß sie sich an den Köpfen, den Schultern halten mußte? Wer küßt mich denn? Du? Ja, du auch. Und du ... Ja, hier auf dem Beet hinter der Bank lag es sich besser. Ja, ja, alle! Ich tu es euch gut. Die Bank, hinter der Nadine, von jedem der Männer, die über sie herfielen, tiefer in Buchs und Vanille gedrückt, die Bank, die immer jeweils einer verließ, hinter ihr in dem Weißen von Wäsche und Leib zu verschwinden, es zuzudecken, die Bank wurde nicht leer, denn immer füllte sie sich wieder von den andern Bänken. Nadines Stimme aber hörte man nicht mehr. Nur mehr zuweilen Grunzen und Aufstöhnen eines Mannes. Bevor ihr die Sinne vergingen, fielen ihr zwei kleine weiße Mäuse so lebhaft ein, mit denen sie als ganz kleines Kind gespielt hatte. Sie glaubte, sie halte sie wieder jede in einer Hand und drücke sie winzig zusammen zu kleinen Papierkügelchen. Hab' ich Geld in den Händen? Es waren die weichen Blüten der Vanille.

Am frühen Morgen fand ein Arbeiter den zermalmten, verrenkten Leib Nadines, in zertretene Blumen und Erde halb gestampft, das unverletzte Gesicht überdeckt von beiden fest darüber geschlossenen Armen. Er ließ sie liegen und lief zu einer Polizeistation. Eine Vierzehnjährige stand einiges entfernt davon und kam nun nah. Beugte sich in halben Schritts Abstand steif über den Kadaver und schaute mit atmenden Nasenflügeln neugierig hinauf und hinunter, was da lag. Blickte dann, vorsichtig ausschauend, nach rechts hin, wo der Weg war, bog sich rasch nieder und zerrte der Toten die prächtigen roten Strumpfbänder über Waden und Schuhe. Hinter einem Fliedergebüsch fand sie, daß sie ihr köstlich paßten.


 << zurück