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Jemand schien sehr aufmerksam auf ihn geworden. Schon zum drittenmal lud ihn der greise Metternich nach Johannesberg ein, und Otto folgte noch vor Johannas Ankunft dem ehrenvollen Rufe. Der einstige Schiedsrichter Europas empfing ihn mit der Zierlichkeit eines petit maître des Ancien Regime und der Geschwätzigkeit eines Greises, der sich freut, einen verständigen Zuhörer zu erwischen. Er begann mit den ältesten Zeiten vor der Revolution, seine Anekdoten schweiften bis 1788 zurück und sprangen auf 1848 über, zwischendurch verschmähte er als gewiegter Causeur, der Abwechslung liebt, auch nicht Weinbau und Forstkultur. Ottos Zerstreutheit, der schwermütig an Nanne und die mehrfach kranken Kinder dachte, nahm er für hingenommene Stille ehrfurchtsvollen Zuhörens, wie dies ja auch anderen Redseligen zustößt. Er setzte voraus, der junge Politiker müsse begeistert auf Orakel des Meisters lauschen, so wie der große Humboldt viel von Otto hielt, weil dieser ihn endlos reden ließ und dabei wertvolle Aufschlüsse herausholte.

»Revolutionen sind wie Erdbeben, sie haben ihre Zeit sich auszurasen, kehren auch sporadisch wieder, zerstören allerlei, doch sind sie vorüber, ist's als wäre es nie gewesen, sie hinterlassen keine Spur. Wie anders das Gottesgnadenrecht der Souveräne! Es wandelt hoch über allen, unantastbar, unwandelbar wie die Planeten in unverrückter Bahn. Selbst die Kometen stören nicht, wir sahen ja einen solchen losgelassen, den heillosen Bonaparte. Verpufft in alle Winde!«

»Und Euer Durchlaucht, sein politischer Besieger, thronen noch hier in der Fülle Ihres Ruhmes.« Ottos Stimme ließ nicht den leisesten Anflug von Ironie spüren.

Der alte Mephisto verneigte sich dankend und nahm eine Prise aus einer Emailledose. »Sie tun mir zu viel Allein-Ehre an, mein Hochverehrter. Wir Staatsmänner der Koalition arbeiteten Hand in Hand. Da war der Kanzler Nesselrode für Rußland, der treffliche Talleyrand für Frankreich, Lord Castlerough für England und der Herzog v. Wellington, dessen gesunde Einsicht ich auf dem Wiener Kongreß bewundern lernte.« Weil er Preußen den Daumen aufs Auge drückte. Und Stein schweigt er natürlich tot, der gilt ihm nichts in seiner doppelten Eigenschaft als Preuße und Reformer. »Kannten Sie Cobenzl? Ach nein, das war vor Ihrer Zeit. Ein tüchtiger Staatsmann von der besten alten Schule.«

»Ich erinnere mich nur,« bemerkte Otto trocken, »daß der General Bonaparte ihm eine Vase vor die Füße warf. Darf ich mir die Frage erlauben, ob die Fama recht hat, der Kaiser Napoleon habe in Dresden Euer Durchlaucht seinen Hut an den Kopf geworfen?«

»Wie beliebt? Kaiser? Kenn' ich nicht: Bonaparte war sehr explosiv«, erwiderte Metternich etwas ärgerlich. »Über meine letzte Zusammenkunft mit dem korsischen Parvenü sind allerlei Fabeln in Umlauf gesetzt. Er warf seinen Hut in die Zimmerecke, und ich hob ihn nicht auf, voilà tout. Ich verweigerte ihm einfach die submissen Formen, die man sonst gegen ein gekröntes Haupt beobachtet. Das war ich meinem Charakter schuldig!« Otto unterdrückte ein Lächeln. So sprach ein Mensch, dem der Schlachtendonnerer nicht ohne Grund den Hohn, wenn nicht den Hut, ins Gesicht warf: Was zahlte Ihnen England? Ein Mensch, der zehn Jahre lang als Botschafter in Paris oder Premierminister zu Füßen des Gewaltigen kroch. O Menschheit! Der alte Geck hier hat wirklich Napoleon gegenübergestanden, hätte den historischen Hut mit Händen greifen können, und von dieser weltgeschichtlichen Begebenheit trägt seine Erinnerung eine solche Ausbeute heim! »Bonaparte ist sehr überschätzt worden. Er war im Grunde eine gewöhnliche Wachtstubennatur ohne jede Feinheit. Seine ganze Staatskunst war die Gewalt mit Blut und Eisen, zartere Fäden diplomatischer Kombinationen blieben ihm versagt. Mon dieu, der deutsche Napoleonkultus überspannter Schwärmer! Kannten Sie Gentz? Pardon, auch vor Ihrer Zeit. Dieser echtdeutsche Mann ließ sich nie vom Korsen blenden, er schrieb Dolche.« Die Zeile zu soundso viel Gulden. Napoleon hätte ihn jederzeit kaufen können, wenn er gewollt hätte. »Dagegen der begabte Heine... wer hätte das geahnt, als er so vielversprechend anhob! Sein erster Gedichtband, so liebenswürdig romantisch und weltschmerzdüster, kam nie von meinem Toilettentisch. Leider hab' ich den Band weggeschenkt an einen jungen Briten Noel, Neffen des Lord Byron, der in der hohen Wiener Gesellschaft eingeführt war und an dem ich Gefallen fand. Ich wollte ihm zeigen, daß auch wir Deutschen byronisch sein können. O, auch ich, mein Hochverehrter, bin ein poetisches Gemüt.«

»Eure Durchlaucht gehören ja selbst zum Volk der Dichter und Denker«, bestätigte Otto mit unerschütterlichem Ernst. »Ihre Wiege stand näher dem Rhein als der Donau.«

» Certainement, ich kam als blutjunger Edelmann nach Österreich, wohin mich mein politisches Sehnen zog.« Gott bewahre, es zog ihn das Bedürfnis des Abenteurers an, einen Korruptionsherd als Tummelplatz seiner Listen und Lüste zu erkiesen. In diesem Augenblick rauschte die Fürstin Metternich herein, eine ganz große Dame, voll Bildungseifer. Nachdem der Preuße ihr mit untadeliger Verbeugung die Hand küßte, rief sie heiter: »Da sehe ich also den merkwürdigen Mann, auf den Clemens so gespannt war! Eure Exzellenz können sich etwas darauf einbilden, Clemens ist sonst so wählerisch und wird so überlaufen, daß er alles abwehrt.«

»Ich sitze als Schüler zu den Füßen des Meisters.«

»Ein Kompliment tout à fait Parisien! Kennen Sie Paris? Unsere Schwiegertochter Fürstin Pauline behauptet, nur dort könne man leben. Clemens will freilich davon nichts wissen, er spricht von der steifen Prunksucht des Empire, und Madame Josefine sei weder hübsch noch elegant gewesen, nur ein so rüder Notürier wie der Korse habe sie aus Liebe heiraten können. Nur Caroline Bonaparte, die sogenannte Königin von Neapel, hat vor Clemens' verwöhntem Geschmack Beifall gefunden.«

Der alte Bösewicht warf Bismarck einen neckisch verständnisinnigen Blick zu. Der kannte doch sicher auch das weltgeschichtliche Ereignis, daß Botschafter Metternich der Liebhaber dieser hohen Dame gewesen sei und den Seiltänzerkönig Murat zum Hahnreih machte. Dabei fiel ihm etwas Ähnliches ein: »Meine Liebe, wir sprachen soeben von dem berüchtigten Heine und seinem verheißungsvollen Debut. Ich machte Progranda dafür in den Salons und las einmal den ganzen Band meiner geistvollen Freundin, der Herzogin von Sagan, vor.« Seine Gemahlin zog die Stirn in Falten. Im Boudoir der genannten vornehmen Buhldirne hatte Metternich sicher etwas anderes zu tun als Verse vorzulesen. »Dagegen war Frau v. Krüdener nicht sehr von unserer gottlosen Literatur erbaut. Ach, diese schöne Seele hätten Sie kennen sollen, die Pythia der Heiligen Allianz! Der hochselige Zar war wie bezaubert von ihrer Seelenschönheit. Unter uns, ihr eigener Roman, den sie später drucken ließ, ist eigentlich nicht mehr gottselig, immerhin sublimierte Erotik. Ach, das war eine Zeit erhabener Schwärmerei, reinsten Aufschwungs! So etwas blüht nicht mehr in dieser nüchternen Gegenwart, die ich als fremder Zuschauer betrachte.« Die ganze nichtswürdige Ära seiner Metternichtigkeit lebte in seinen Gesprächen wieder auf, wo verschrobene, verlogene Mystik die ärgste Verlotterung und grausamste Unterdrückung mit einem Nonnenschleier umkleidete. Dazwischen erzählte er zum Gegensatz Anekdoten von seiner Schwiegertochter Pauline, so häßlich und so gutherzig mit ihrer Krinoline in alles hineinfegend und trotz ihrer Salonprotektorschaft für alle hilfsbedürftigen verkannten Genies nicht ohne gesunden Menschenverstand, der sich in drolligen naiven Bemerkungen offenbarte. Das erschien ihm wahrscheinlich plebejisch, sofern auf eine Fürstin Metternich ein solches Beiwort angewendet werden konnte. Jedenfalls ergab es einen Gegensatz von einst und jetzt, der augenverdrehenden Heuchelei von dazumal und der heutigen praktischeren Nüchternheit.

Otto hörte schweigend zu und zog nur manchmal am Glockenstrang der unerschöpflichen Redelust, um sie im Schwingen zu erhalten. Als sich der Gast empfahl, sprach Fürst Clemens weihevoll: »Ein Staatsmann der Zukunft mit den besten Prinzipien!« Die Fürstin stimmte bei: »Recht angenehm und überaus geistreich.« Er ließ sie nämlich allein reden.

In späterer Zeit erkundigte sich Thun: »Welchen Zauber haben Sie um den alten Meister gewoben? Er hat in Sie hineingeschaut wie in einen goldenen Becher und belehrte mich, Sie und ich müßten prächtig miteinander auskommen.« So wurde ein Frieden oder wenigstens ein Waffenstillstand besiegelt. Otto dachte ironisch: Er hat mir segnend die Hände aufgelegt wie ein Prophet des Alten Bundes, doch ich zweifle sehr, ob ich sein Jünger bin. Das ist der unaufgeklärte Despotismus, der einen Kindermord von Bethlehem an allen neugeborenen Gedanken verüben möchte. Die wahre Kunst einer heutigen Konterrevolution soll aber darin bestehen, die aus allen Ufern tretende Flut des Modernen den alten Deichdämmen des historisch Gewordenen anzupassen. Die Vergangenheit gehörte Herrn v. Metternich, den man in Deutschland Mitternacht taufte, die Zukunft muß Preußens Erbschaft sein. Könnte der verbrauchte Routinier in mich hineinschauen, so würde er mich als Ketzer verfluchen, der ein Schisma begründen will. Er wird wohl der letzte dieser Staats-Leibärzte sein, die sich mit schwachen Purganzen für äußerliche Symptome begnügen, statt je die Sonde tiefer zu senken und zum Sitz des wahren Übels vorzudringen. Für seine Heilmittelchen und hippokratischen Formeln von Diagnose und Rezept ist die Zeit dahin, man hat zu viel Licht über das Laboratorium der Regierungen ergossen. Neulich, als zu Ehren des Kaisers von Österreich sich beim Staatsdiner 20 000 Taler in Goldepauletten und Goldlitzen zu Tische setzten, schaute das Volk grimmig zum Fenster herein.

*

Unter den schwebenden Fragen stand die des Zollvereins im Vordergrund, dessen wirtschaftliche Führerschaft Österreich von Preußen abschwindeln wollte. Ebenso zähe und heimtückisch hintertrieb es Preußens Wünsche auf anderen Gebieten. Äußerlich schienen in Frankfurt die Räder etwas besser mit dem Öl geselliger Höflichkeit geschmiert, seit Otto eine offene persönliche Aussprache mit Thun herbeiführte und ihm freimütig seine Sünden vorhielt. »Sie werfen absichtlich Hindernisse in den Weg unserer diplomatischen Relationen durch Ihre ausgesprochene Unhöflichkeit und Nichtachtung.« Der geschmeidige Österreicher schluckte die bittere Pille dieses Freimuts knirschend herunter, erging sich in Entschuldigungen und Versprechen, und begann auf einmal viele Rücksichten zu nehmen. Wohlgemerkt nur gegenüber diesem gefährlichen Unhold, denn sonst beharrte er bei kavaliermäßiger Be- oder Mißhandlung der Bundesmitglieder. Heimlich kochte er natürlich vor Wut und hetzte das Wiener Kabinett auf. Otto täuschte sich nicht im mindesten über den nur äußeren Waffenstillstand. »Ich kam her ohne jugendliche Illusionen,« äußerte er im Familienkreis, »doch sicher nicht als entschlossener Opponent. Aber ich müßte keinen Tropfen preußischen Bluts im Leibe haben, wenn ich auch nur eine mäßige Vorliebe für dies Österreich bewahrte, wie seine gegenwärtige Regierung es darstellt.«

Im November kam die Nachricht, daß Ernst August von Hannover starb, Mitgründer eines Steuervereins, der sich gegen Preußens Zollunion richtete. Den neuen König zu überrumpeln, der als Blinder gewiß keine Übersicht hatte, schien Thun so leicht, daß er Baron Nell hochgemut zurief: »Jetzt haben wir das Spiel gewonnen.« Er wußte nicht, daß der blinde König mit großer Anstrengung sich auf dem laufenden erhielt und in seinem Welfenstolz eine hartnäckige Selbstbehauptung vollführte, die geradeso wenig wie von Preußen von Österreich abhängen wollte. Als daher Thun bei längerer Unterhaltung über die Zollpolitik ironische Andeutungen machte, öffnete ihm Otto ein wenig die Augen. »Sie sind schlecht informiert. Seine Majestät macht den physischen Defekt durch strengen Fleiß wieder gut und vertieft sich in alle Gegenstände. Übrigens käme jede Abänderung zu Ihren Gunsten zu spät, denn es ist kein Geheimnis mehr, daß unsere Regierung schon im September einen Geheimvertrag mit Hannover schloß über Fusion des Separatvereins mit der sonstigen Union.«

Thun wurde purpurrot vor Zorn. »In der Tat, so? Und was werden die anderen Mitglieder dazu sagen, daß man über ihren Kopf weg so verfuhr?«

Bismarck verneigte sich. »Ein weites Feld für Ihre Aktivität, Exzellenz.«

»Und die Ihre. Das ist wieder Ihr Werk, verehrter Kollege, ich erkenne Ihre gediegene Handschrift. Doch ich gestatte mir die freundschaftliche Warnung, daß Österreichs Geduld nicht unerschöpflich ist. Wir sind nun mal der leidende Teil, aber nicht immer.«

»Sie leiden gewiß grenzenlos als Opferlamm, das weiß ich aus Erfahrung.« Otto warf ihm einen scharfen Blick zu. »Doch darf ich Eure Exzellenz fragen, wohin diese Warnung zielt?«

»Jessus-Maria-Josef, Sie verlangen etwas viel Offenheit. Schauen's, Preußen kommt mir vor wie ein Mann, der einmal das Große Los in der Lotterie gewann und nun seinen Haushalt so einrichtet, als müßte sein Glück sich jährlich wiederholen.«

»Leben wir auf so großem Fuß? Ich dachte, das wäre die Eigentümlichkeit anderer Staaten.« Thun zuckte bei der boshaften Mahnung an Österreichs stets latenten und immer wieder geflickten Staatsbankerott. »Welche Lotterie denn?«

»Halt die, wo man Kanonen einsetzt. Der Siebenjährige Krieg, der sogenannte Befreiungskrieg, wie die Preußen es nennen.«

»Gewannen wir da das große Los? Die Lotteriekollekteure beim Wiener Kongreß verschwiegen uns das, haben sie die große Gewinnummer unterschlagen, auf die wir Anspruch hatten? Nun, wenn Ihre Ideen, mein lieber Graf, von Ihrem Kabinett geteilt werden, so sehe ich ein Hasardspiel mit hohen Einsätzen voraus. Preußen wird dann wohl noch mal die erwähnte Lotterie versuchen müssen, und ob wir dann nur Nieten ziehen, steht bei Gott. Ich empfehle mich, Exzellenz, meinen Handkuß an die Frau Gräfin.«

Thun schäumte vor Wut: »Ein überaus gefährlicher Mensch.« Seinen Clique-Kollegen schilderte er den langen Preußen dagegen als »harmlosen Polterer«. Er wußte nur zu gut, daß Österreich allen Grund hatte, es auf ernsten Bruch mit Preußen nicht ankommen zu lassen und nur durch Bluffen ein zweites Olmütz erzwingen wollte. Beim diplomatischen Poker verliert aber nicht, wer seine Karten fest in der Hand hält und sein Gegenüber durch und durch schaut.

Dieser unheimliche Anfänger lebte sich auch schon ganz in die »Geschäfte« ein. Seine Feder stand niemals still, unablässig zeichnete er Menschen und Dinge in Depeschen nach Berlin, nicht die kleinste Einzelheit entging ihm, kein Detektiv und Zeitungskorrespondent pürschte je eifriger nach »Indizien« und »Informationen«. Er hatte seine Augen überall, auch auf Dinge, die ihn nichts angingen, wie später den Kirchenstreit in Baden, wobei er sehr antipäpstliche Grundsätze verfocht, oder die Spielhöllen, deren Aufhebung er später durchsetzte. Die radikale Presse der freien Reichsstadt bekam seinen Arm zu fühlen, als ein Blatt das schwarz-rot-goldene Banner auf dem Bundespalais mit einem Jungfernkranz über einem Bordell verglich. Der Vizepräsident Otto v. Bismarck tat dem Senat von Frankfurt kund und zu wissen, daß er solchen Schimpf nicht auf dem Bundestag sitzen lasse, und der sonst sehr steifnackige Magistrat unterdrückte unterwürfig diese Zeitung. Sein eignes »Preußisches Preßbureau« in Frankfurt leistete freilich auch Erkleckliches in Untergrabung des österreichischen Ansehens, während das Österreichische geheime Preßbureau die Lorbeeren des preußischen nicht schlafen ließen und es seine Fäden bis Berlin spann, sich zu Majestätsbeleidigungen verstieg.

Im Dezember bekam man als Weihnachtsbescherung einen Donnerschlag aus heiterm Himmel, den Staatsstreich Louis Napoleons. Man lief ihm mit der betäubenden Nachricht die Türe ein.

»Dieser Massenmörder ist der größte politische Verbrecher«, entrüstete sich Herr v. Schele. Doch der Mecklenburger Junker Oertzen schüttelte den Kopf:

»Mir ist der Mann sympathisch. Der hat mal die Parlamentsschwätzer gründlich geknebelt. Jammerschade, daß wir im Norden die Hände in den Schoß legen, während der Giftpilz wächst und wächst.«

»Sie als der enragierteste Stadtvertilger sollten sich eigentlich freuen,« meinte v. Scherff halbironisch, »daß man die Straßen des ewig unruhigen Paris mit Bürgerblut tränkte.«

Otto sagte lange kein Wort, dann meinte er bedächtig: »Nun ja, ich schätze den Mut des kühnen Prinzen.« (Auf einmal hieß er Prinz, früher Abenteurer. Hätte er übrigens damals schon geahnt, wie wenig Mut zu diesem Loslassen einer bestochenen Soldateska auf Wehrlose gehörte, würde er sich wohl sein Lob verkniffen haben.) »Doch ich bin nur das Mundstück meines Herrn, des Königs, und darf keine Stellung nehmen, ehe ich nicht dessen Intentionen kenne. Jedenfalls hat das Ereignis weitere Folgen. Wenn der Prinz-Präsident sich zum Staatsoberhaupt auf fünfzehn Jahre ernennen ließ, so wird er dabei nicht stehenbleiben.«

»Sie meinen, er will die Traditionen der Dynastie Bonaparte auffrischen?«

»So ungefähr. Ich wünschte, wir wären mit Österreich im reinen, so oder so, Freund oder Feind. Diese Politik der Nadelstiche führt zu nichts als zu neuer unheilbarer Spaltung.«

»Sechsunddreißig Staaten, groß und klein, lassen sich eben nicht unter einen Hut bringen«, seufzte Schele.

»Von denen vierunddreißig fünfzehn Stimmen zusammen haben und Preußen nur eine«, betonte Bismarck bedeutungsvoll. »Ich sage offen, meine Herren, dieser Zustand wird unerträglich. Über die Flottenfrage werden wir alle stolpern. Das gibt Ringkämpfe bis zu völliger Erschöpfung, denn Österreich hat da schon wieder eine Hand im Spiel, wie sie sich mit Fair Play beim Ringen und Boxen nicht verträgt.«

»Jaja, es möchte direkte oder indirekte Gewalt über die Nordseeflotte bekommen, ohne daß es die geringsten pekuniären Opfer dafür brächte«, bemerkte Schele.

»Aber ist sie der Nation unentbehrlich, diese Säuglingsarmada?« fragte Scherff. »Es sind doch nur«, er zählte an den Fingern der Hand, »drei Dampfer, zwei Segelfregatten, sechs Dampferkorvetten, siebenundzwanzig Kanonenboote, ein Transportschiff, und die Bemannung reicht nicht mal aus, nur neunhundert Mann.«

»Gerade genug, um Geld zu fressen. Wer kommt für den Unterhalt auf? Preußen verdanken die Schifflein ihre Existenz, denn hauptsächlich durch Sparpfennige preußischer Bürger sind sie bezahlt. Wir begreifen alle, daß Preußen niemals Österreichs Einmischung zulassen kann.«

»Nun gut, meine Herren, ich stelle morgen den Präliminarantrag, daß vorerst alle Rückstände von Quoten beglichen werden, die jeder deutsche Staat für die Instandhaltung der Flotte versprach, wie ja feierlich stipuliert.«

»Das wird böses Blut machen«, bemerkte Oertzen.

»Doch ich wittere den diplomatischen Schachzug«, lobte Schele. »Zahlt man nicht, dann steht der Bundestag vor der Nation blamiert, zahlt man, so will man natürlich einiges Anrecht behalten und wird die Flotte nicht an Österreich ausliefern. In jedem Fall steht Preußen als Förderer patriotischer Gemeininteressen da.«

Ein Berg von Protokollen türmte sich auf. Der schlaue Thun stellte sich manchmal an, als stehe er auf Preußens Seite, dann wechselte er die Front und griff Preußen an der Spitze der Kleinstaaten an. Zuletzt rückte die österreichische Partei im Bundestag mit dem Ansinnen heraus, Aufwand und Rückstände durch Anleihe bei Rothschild zu decken, auf die Sicherheit der Bundesgelder in seiner Bank. Doch Otto erhob nicht nur strenge Verwahrung gegen solchen Ausweg, sondern bedrohte Rothschild: »Wenn Ew. Hochwohlgeboren dem Bundestag Gelder auszahlen, die dort vertragsmäßig für bestimmte Zwecke deponiert sind, so tun Sie dies auf eigene Gefahr und Risiko.« In grimmer Aufregung bezeichnete der Ränkeschmied diesen Protest »als Insulte gegen den ganzen Bundestag und Mißachtung seiner Beschlüsse«. (Denn man hatte auch die nicht österreichisch Gesinnten teilweise zu einem Beschluß herumgekriegt, weil niemand gern neu einzahlen wollte.)

»Wir lassen uns auf keinen Kompromiß ein«, erklärte der Preuße bestimmt. »Die Flotte ist eine organische Institution und eine Nationalangelegenheit, dafür bedarf es Einstimmigkeit der Voten. Ihre Majorität gilt überhaupt nicht für Fragen, die Ihre Kompetenz überschreiten. Die Absurdität einer Mehrheit springt hier ins Auge. Österreich, Preußen und die vier Königreiche haben sieben, alle kleineren Staaten zusammen acht Stimmen, sie könnten also jedem Beschluß der sechs Hauptmächte opponieren, selbst wo es sich um Sein oder Nichtsein der Nation handelt. Ich lege mein Veto ein und damit basta.« Er verließ erhobenen Hauptes die Versammlung.

»Verstehen Sie,« raunte Nostitz dem Württemberger zu, »der abscheuliche Kollege will die öffentliche Meinung aufreizen, die ganze Basis des Bundestags sei unmöglich. Der zielt auf nichts Geringeres hin, als die Sprengung des Bundes.«

Wie hätte ihn erst die Blasphemie entsetzt, mit der Bismarck auf weitem, einsamem Spaziergang, wobei er mit dem Spazierstock mehrere Disteln köpfte, vor sich hinsummte: »O Bund, du Hund, bist nicht gesund.« Er genierte sich auch nicht, zu Hause vor seinem diplomatischen Personal diesen Vers Heines zu wiederholen: »Das wird noch die deutsche Nationalhymne werden.« Trotzdem trat Waffenruhe ein, weil Thun auf Wink aus Wien einlenkte. Plötzlich erschien der russische Geschäftsträger am Stuttgarter Hof mit einer Vollmacht für den Bundestag und scharwenzelte dort längere Zeit herum. Er war ein sehr kleiner, beleibter, rosiger Herr, Fürst Gortschakow, Inhaber einer bestrickenden Freundlichkeit und eines tadellosen Französisch, in dem er gern längere Reden hielt. Dazu ergriff er die Gelegenheit am Schopfe, kaum daß er die Lage übersah, indem er den geschäftigen Mittler zwischen den grollenden Brüdern affektierte und sich hochbeglückt im Salon der Meyendorf die fetten, kleinen Hände rieb: »Meine persönliche Mediation brachte dies Friedenswerk zustande, nicht durch meine eigene schwache Stimme, sondern als schwaches Echo der Stimme des Zaren.«

»Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen«, brummte Otto in den Bart und widersprach nicht, als er diese Fopperei hörte. »Der wird's weit bringen, ein echtes diplomatisches Talent ... von der älteren Schule. Herrgott, wie diese Schlauberger sich einbilden, mit ihren vorgeschützten Staatskünsten etwas auszurichten! Die Dinge bleiben unverrückt die gleichen, die Kausalität geht ihren Gang, und die Logik der natürlichen Verhältnisse wird durch keine künstliche Einmischung geändert.«

Er setzte seine offiziellen Besuche bei den Nachbarhöfen fort und wählte besonders Darmstadt als Feld für Charakterstudien. Die dort regierende Dame empfand dies als aufdringlich und äußerte einmal im vertrauten Zirkel, von wo es Bismarck natürlich erfuhr: »Er ist immer hier und benimmt sich, als wäre er ein so großer Herr wie der Großherzog selber.« Äußerlich ließ sie natürlich nicht blicken, daß er ihr lästig falle, wie der gehaßte Preuße stets dem beargwöhnten und selbst so mißtrauischen alten Rheinbundstaat auf den Leib rückte.

»Ihre Frau Gemahlin hat einen so guten Blick«, beehrte ihn die Großherzogin Mathilde von Hessen auf einem Staatsdiner in Darmstadt, Frau Johanna zu loben. Diese saß ganz stattlich in blauweißem Atlaskleid und ließ ihre sonore Stimme ertönen, da der harthörige Erbprinz und der stocktaube Premierminister ein lautes Reden benötigten. Zwischen Hessen und Preußen waren also gute Beziehungen angebahnt. Otto, sehr empfänglich für jedes seiner Frau gespendete Lob, berechnete indessen doch im stillen: Drei Regimenter guter Truppen, berühmt unter Napoleon, Kurhessen, Baden, Württemberg jedes ebensoviel, Nassau zwei macht ungefähr zwei Korps, dazu das bayerische. Stehen Hannover und Thüringen zu uns, könnten wir rasch die Sache deichseln, gestützt auf Mainz, ehe ein k.k. Hilfskorps am Bodensee erscheint. Man kann nie wissen, wie der Hase läuft. Wir müssen die Zollunion durchsetzen, koste es, was es wolle. Da sitzen wir jetzt schon zehn Monate hier, und die Einheit ist nicht um eine Stunde näher gerückt.

Das stimmte nicht ganz. Man tat einen ersten, breiten Schritt vorwärts, indem er beim Bundestag den Vorschlag Preußens zur Zollunion mächtig förderte. In dieser Angelegenheit wurde er oft nach Berlin befohlen und saß nur zu oft auf der Bahn, um mit Wehmut bei Bockenheim das stille Licht seines Hauses und die letzte Taunusspitze hinter sich aus dem Gesichtskreis zu verlieren. In Berlin entdeckte er, daß er jetzt ein leidlich großes Tier sei, vom König verzogen, vom Hofe umschmeichelt, von der Presse beschimpft. Mit kühler Gelassenheit bedachte er, daß dies nur ein Schützenfest sei, wo der Schützenkönig mit Talmi-Goldblech stolziert, um morgen in der Versenkung zu verschwinden, daß seine Stellung lediglich von Gunst und Gnade des Königs abhänge. Der Premierminister Manteuffel, der sich, Gott weiß warum, den Spitznamen Fra Diavolo erwarb, hielt sich fest im Sattel, und die Reaktion tobte sich immer noch aus.

Im April gab es einen neuen Coup d'Etat, aber nicht vom Präsidenten Louis ausgedacht, der mit Macht auf die Kaiserkrone lossteuerte, sondern vom Weltpräsidenten Tod. Der allmächtige Minister Schwarzenberg starb. Als Otto dem englischen Gesandten die Kunde brachte, drückte sich dieser auf Französisch trocken aus: »Im Grunde ein Glück!« Als das diplomatische Korps sich zu einer Trauermesse für den hohen Verblichenen versammelte, schloß sich Otto kühl aus: »Das ist wirklich zu viel verlangt.«

In der dänischen Sache nichts Neues, sie ging den gewohnten Krebsgang. Das sogenannte Londoner Protokoll hatte als eine Art pragmatischer Sanktion die Erbfolge in den Erbherzogtümern geregelt. Doch da Österreich und Preußen selbstherrlich allein den Vertrag schlossen, verwarf ihn der erboste Bundestag, der mit Fug sein Anrecht geschmälert sah, in deutschen Dingen mit am Beratungstisch zu sitzen. So war de jure nichts entschieden, praktisch aber machte Dänemark sich das Abkommen zunutze, um eine Deutschenhetze, besonders in Schleswig, zu inszenieren. Preußen sah ruhig zu, der König betrachtete mit den Augen seines großmächtigen Herrn und Schwagers Nikolaus die deutschen Brüder als Rebellen, und damit erreichte Österreich den Zweck, Preußen erneut in Deutschland verhaßt zu machen, dessen Verrat an Deutschlands Ehre die öffentliche Meinung mit Verachtung strafte. Des Königs ursprünglich gutartige Natur geriet immer mehr auf schiefe Ebene, seit ihn jene Reaktionsclique von Junkern und Pastoren in den Klauen hatte, die ihre Regierungsfähigkeit täglich durch Preußens Unehre erwies, allzeit Mehrer des Reichs der Lüge. Des Königs reicher und durchgebildeter Geist zeigte schon lange Schäden und Risse. In seiner Korrespondenz mit dem vertrauten Bunsen, preußischen Gesandten in London, kam Jahr für Jahr in keinem Briefe das Wort Schleswig-Holstein vor, dafür auf jeder Seite zweimal unterstrichen das grause Wort Revolution. Er schwärmte pathologisch, er werde sich mit dem Zaren auf Tod und Leben gegen diesen Drachen der Unterwelt verbünden, der bei ihm förmlich mystische Umrisse annahm, wie ein Tier der Apokalypse. Er pries Gott für die Gnade, daß er ihn würdige, bei jeder Unpäßlichkeit des geliebten Zaren tiefbetrübt zu sein. Auch um die Habsburger schwebte ihm eine apostolische Weihe. Und da einer der neuen Wiener Minister, Bruck, preußischer Herkunft war, so fehlte es an Verbrüderung nicht.

Wegen der selig entschlafenen deutschen Reichsflotte der Revolutionszeit, die armselig in Bremerhaven faulte, konferierte Otto mit Prinz Adalbert, der von Schaffung einer preußischen Flotte träumte. »Mit welchen Häfen? Stettin oder Danzig? Die genügen nicht. Und die Reichsschiffchen in Bremerhafen fressen unnütz Geld, man sollte sie unter den Hammer bringen.«

»Der Große Kurfürst wollte auch schon eine Flotte haben.«

»Wozu? Kolonien haben wir nicht, unser bißchen Seehandel braucht keinen Schutz. Mit einer großen Seemacht bekommen wir schwerlich Händel, und unsere Zukunft liegt nicht auf dem Wasser.«

»Leider! Nur so wird man eine wirkliche Großmacht. Sehen Sie Holland in der Vergangenheit, das war doch unendlich kleiner und schwächer als wir und doch die erste Seemacht der Welt.«

»Bis der größere Raubstaat England es auffraß. Erstens war Holland reich, zweitens hatte es günstigere Bedingungen zu Lande. Wir sind Landmacht und Militärstaat. Jeden Taler, den wir für Flottenzwecke wegwerfen, entziehen wir der Armee. Die deutsche Frage wird nicht mit Schiffen gelöst, sondern mit Bataillonen.«

»Sie erschrecken mich, Exzellenz. Deuten Sie wirklich darauf hin, daß wir je, was Gott verhüte, in Deutschland selber kriegerisch auftreten müßten?«

»Durchaus nicht, nur eine Hypothese. Aber vielleicht gegen das Ausland, das jede noch so platonische Einheit der deutschen Staaten mißgünstig ansieht.«

»Ah, Sie zielen auf den Usurpator in Paris hin. Der sucht vielleicht Abenteuer als richtiger Bonaparte«, fiel der Prinz von Preußen ein, der sich verspätet hinzugesellte.

»Verzeihen Königliche Hoheit, aber ob der einen Tropfen napoleonischen Blutes in den Adern hat, weiß niemand ... am wenigsten wußte es sein angeblicher Vater Louis, weiland König von Holland. Oder vielmehr er glaubte es nur zu gut zu wissen, denn er erließ eine Warnung an den Papst: Wie ich höre, läuft hier ein junger Mensch herum, der sich Louis Napoleon nennt. Ich hatte das Unglück, mit einer Messaline verheiratet zu sein und desavouiere jede Verwandtschaft mit dem genannten Individuum. Ein edles Vaterherz!«

»Pfui Teufel! Seine schmutzige Wäsche an die höchste Stange aufhängen! Aber wer ist denn der Vater?«

»Das weiß höchstens die Frau Mama, die legendäre Hortense. Graf Flahaut und Admiral Verhuel streiten sich um die Ehre ... beide aus guten Gründen.«

»Wie pikant!« lachte Prinz Adalbert. »Das muß ich bei Hof verbreiten. Von Ihnen hört man doch immer was Nettes.«

»Frankfurt ist die Setzmaschine für die Chronique scandaleuse von Europa. Wir medisieren für sämtliche Hauptstädte. Der französische Gesandte ist entzückt, jetzt heißt er endlich wieder Monsieur le Marquis de Tallanay. Die vornehme Welt Frankreichs jubiliert, daß die Republik für immer erdrosselt sei.«

Aber Prinz Wilhelm murrte bitter: »Und so was nennt sich Kaiser der Franzosen! Noch nicht, aber allem Anschein nach kommt es dazu, die Berichte unserer Agenten stellen es außer Zweifel. Ich hoffe, daß die Höfe ihn nicht anerkennen werden in geschlossener Gemeinschaft. Wie könnten Zar Nikolaus und der Kaiser von Österreich dies zulassen! Meinen Sie nicht auch?«

»Ich erlaube mir zu zweifeln. Den sogenannten Onkel, den Großen, hat man anerkannt auch nach dem Mord an Enghien, und der hatte nicht mal einen weiland Kaiseronkel, auf den sich heut der Neffe, der Kleine, berufen kann. Man wird endlich doch nachgeben müssen, Frankreich ist zu stark.«

»Das wäre ein Affront für alle anständigen Dynastien. Ist ja doch nur ein Ableger der Revolution. Was ist denn sein blutiger Staatsstreich, sein grausiger Dezemberputsch? Auch nur Revolution, meineidiger Rechtsbruch, wenngleich vermittels der Armee.«

»Gewiß, aber Gewalt geht vor Recht. Ein stehendes Heer, sogar jedes Heer, man denke an Cromwells Puritaner, die ihn zum König machen wollten, ist seinem Wesen nach monarchisch. Übrigens, da sehen Königliche Hoheit, wie schwach jede Demokratie ohne Heer! Das sollte man nun endlich lernen, eingedenk der traurigen Märztage.«

»Erinnern Sie mich nicht daran!« unterbrach ihn der Prinz heftig. »Das waren irregeleitete Rebellen, aber nie möchte ich das unschuldig vergossene Blut selbst in solchem Falle auf dem Gewissen haben, womit sich der Prinz-Präsident befleckte. Und diese Armee, die einer Republik den Fahneneid schwur, ist geradeso eidbrüchig vor der militärischen Ehre, als ob sie einem angestammten Herrscher den Eid bricht. Die Art, wie man harmlose Zivilisten, Weiber und Kinder auf den Boulevards geschlachtet hat, ist ewige Schande für die Trikolorenfahne.«

» Le brave Canrobert!« spottete Bismarck. »Von diesem Bayard mit langwallendem Lockenhaar hat Tallanay immer geschwärmt. Eh bien wie dieser Ritter ohne Furcht und Tadel den Kriegsgerichten präsidierte und Tausende ohne Recht und Urteil nach Cayenne schickte, erfüllt mich mit demütiger Freude vor Gott, daß ich ... kein Franzose bin.«

»Ich begreife nicht recht,« warf Prinz Adalbert ein, »die Franzosen nennen sich doch das Volk der Freiheit.«

Otto lachte höhnisch. »Wahrscheinlich weil niemand weniger weiß, was das ist. Napoleon kannte diese Hammelherde. Glanz wollen sie, Befriedigung ihrer unersättlichen Eitelkeit, Phrasen und Gloire, und wer ihnen das bietet, das ist ihr Mann. Der Neffe des Onkels wird sich darauf verstehen.«

»Das heißt, Sie fürchten einen europäischen Krieg?« folgerte Prinz Wilhelm mit seiner ruhigen, klaren Verstandeslogik. »Die Zeiten sind doch wohl vorüber, wo Frankreich allein allen Mächten den Fehdehandschuh hinwarf. Dazu gehört ein Genie, wie es der Korse hatte.«

»Deshalb wird der neue Gewaltherr Unfrieden zwischen den anderen säen und eine Koalition unmöglich machen. Er wird nur einen auf einmal angreifen, verlassen sich Hoheit darauf, und die andern ... werden zusehen.«

»Ich will nicht hoffen, daß Sie vermuten,« der Prinz von Preußen richtete sich hoch auf, »Preußen werde Gewehr bei Fuß solche Überfälle zulassen.«

Bismarck verbeugte sich ernst und ruhig. »Ich bin kein Prophet, unser Gott hat mich nicht bei der Vorsehung angestellt. Doch ich hoffe, Preußen wird immer einfach tun, was seine praktischen Interessen gebieten, ohne Rücksicht auf ritterliche Aufwallungen, die nie Dank ernten. Hoheit sollten bedenken, wie die deutschen Dynastien uns unsere selbstlose Beihilfe gegen die Revolution gelohnt haben.«

Der Prinz schwieg betroffen und nachdenklich, dann sagte er: »Ich verstehe Ihren Standpunkt. Aber Sie sind ganz und nur Preuße, der König und ich sind, daß ich es nur sage, Deutsche, ja deutsche Fürsten. Wenn Frankreich sich an Deutschland vergreift, an irgendeinem des Deutschen Bundes, wird Preußen sich auf keine Verlockung mit eigener Vergrößerung einlassen.«

Otto stand still und ruhig da. »Allerdings bin ich in erster Linie Preuße, und Ew. Königliche Hoheit machen vielleicht einen richtigen Unterschied. Eins kann ich nur sagen: wenn Kaiser Louis sich am eigentlichen Deutschland und an eigentlichen deutschen Interessen gütlich tun will, dann werde ich als Preuße auch ein Deutscher sein.«

Den Prinzen fiel das Wort »eigentlich« auf, und sie wollten fragen, ob dies etwas bedeuten solle, doch ihre Zeit war um, und sie verabschiedeten gnädig den Gesandten. In Bismarcks düsteren Auge stand eine unheimliche Flamme.

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