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Merkwürdigerweise lud man ihn zu einem ständischen Zweckessen ein, wo außer den Berliner Stadthonorationen alle liberalen Deputierten aufmarschierten. Wie kam Saul unter die Propheten?! Offenbar wollte man ihn ärgern, isoliert unter dieser Gesellschaft, die den Krefelder Fabrikanten Beckerath hoch leben ließ. Als er aber tags darauf bei dem Schwager seines Bruders, Fanninger, dinierte und drei liberale Abgeordnete traf, benahm er sich so liebenswürdig, daß die Herren ihm begeistert die Hände drückten, überzeugt, daß sie alle miteinander gleicher Meinung und einträchtige Ehrenmänner seien. Auch einige dicke Kommerzdamen fanden, der Teufel sei ganz charmant und gar nicht so bös, wie die Zeitungen ihn malten. Der Junker Otto befand sich in kreuzfidelem Wohlbehagen und frönte auch seiner Liebhaberei für kräftige Bewegung und freie Natur. So ritt er nach Treptow, fuhr Kahn nach Stralau, erfreute sich des roten Sonnenunterganges auf grauem Gewässer und der roten Krebse zu braunem Kulmbacher. Die laue Luft umsäuselte ihn: Herz, was verlangst du noch mehr! Stark und gesund, wohlhabend, glücklich verliebt und die werte Eitelkeit auch ziemlich gestreichelt durch das Aufsehen, das er im Landtag machte. »Morgen haben wir den 15. Juni, da werd' ich wohl endlich über die Judenemanzipation zu Worte kommen, nachdem dreißig ungewaschene Phraseure sich totgeredet. Nachher darf ich nicht durch die Königsstraße gehen, die hebräischen Mitmenschen lynchen mich sicher.« Und der Junker besah vergnügt seine Fäuste.

Die Rede stieg, beginnend mit höflichem Spott in ernsten Formen. Er gehöre jener Richtung an, welche der geehrte Abgeordnete für Krefeld gestern als finster und mittelalterlich bezeichnete, und dem unintelligenten großen Haufen, dem der geehrte Abgeordnete aus Posen so viele schöne Epitheta anhängte. Der geehrte Abgeordnete der Grafschaft Mark, hier verbeugte er sich vor Georg v. Vincke, habe das Evangelium und das allgemeine Landrecht verglichen, und er gebe zu, daß der Staat nicht gerade die christlichen Heilswahrheiten realisiere. Aber die christliche Grundlage sei wenigstens vorhanden und danach müsse verfahren werden. Ein geehrter Redner der schlesischen Ritterschaft – Graf Renard – habe ganz eifrig erklärt, er wolle die Juden emanzipieren, wenn sie selbst die trennenden Schranken niederrissen. Er merke von Unterdrückung der Juden nichts weiter, als daß sie nicht in den Hafen der Bureaukratie einlaufen oder Generäle, Kriegs- und Kultusminister werden können. Dazu beglückwünsche er Preußen. Die äußerst klare und formell vortreffliche Rede schloß: »Ich möchte den Herren, die so gern ihre Ideale jenseits der Vogesen suchen, eins zur Richtschnur empfehlen, was den Engländer und Franzosen auszeichnet. Das ist das stolze Gefühl der Nationalehre, das sich nicht so leicht dazu hergibt, nachahmenswerte Vorbilder im Ausland zu suchen.« Nach lebhaftem Bravo der einen, Unterbrechungen und Ungeduld der anderen Hörer sah sich der konservative Dunkelmann von liberaler Seite gekennzeichnet, daß man in ihm »den engherzigen Mittelaltergeist gleichsam in Fleisch und Blut verkörpert vor sich habe«. Das tat dem blutigen Judenverfolger so wohl, daß er sich gleich unter der Säulenhalle des Weißen Saales hinsetzte, und zwar nicht mit Blut, aber mit roter Tinte an seine Braut allerhand Allotria schrieb. Sein Blick schweifte über den Lustgarten, Museum und Zeughaus hin, und das Klingeln des Landtagmarschalls, die Tiraden des Herrn v. Auerswald und die wütenden Ausfälle des Stolper Abgeordneten Gottberg, dessen bodenlosen Jakobinismus er schon früher nach Pommern meldete, auf alle Junker und Junkergenossen störten ihn nicht in einem Mittagschläfchen.

Seiner Braut schrieb er in halbironischem Tone, er werde bei Hofe von den hohen Herrschaften verzogen, eine Notlüge, um nicht das Frauengemüt zu ängstigen. Im Gegenteil mied der König bei den Festlichkeiten, zu denen die Deputierten geladen, den Ultra in einer für jedermann sichtbaren Weise. Beim Empfang sprach er kein Wort mit ihm, im Cerkel richtete er an jeden höfliche Worte, brach aber ab, sobald er Bismarck bemerkte, kehrte sich um und schwenkte quer durch den Saal ab, als entweiche er aus der Nähe eines Aussätzigen. »Demonstrativ und ostentativ!« murmelten die Parteifreunde, und Bismarck selbst glaubte nicht anders, als daß seine den Gegner provozierende Haltung die königliche Billigung nicht gefunden habe. So wenig kannte er noch den Monarchen, dem es an einer gewissen listigen Verstecktheit nicht fehlte, was er für machiavellistisch feine Diplomatie hielt. Wenn aber die männlich vornehme, ernste Erscheinung des Prinzen von Preußen sich dem Junker Heißsporn freundlich näherte, wobei beide zusammenstehend um Haupteslänge die meisten Beiwohnenden überragten, so geschah auch dies nur flüchtig und mit einer gewissen Verlegenheit. Denn seine Gemahlin, die Weimaranerin, in voller Blüte ihrer edlen und hoheitsvollen Schönheit, hatte kein Wort der Huld für diesen ihr von Anfang an unheimlichen Recken, den sie trotz seiner guten Manieren als einen plumpen deutschen Bären verachtete. Wie konnte man von einem solchen höhere Bildung und englischen Liberalismus erwarten, den sie und somit auch ihr Gemahl zu vertreten sich beflissen! Nicht nur äußerlich nach der üblichen dynastischen Taktik, wonach der Thronfolger die dem Regierenden entgegengesetzte Partei streichelt, damit so das monarchische Interesse in beiden Lagern herrsche. Sondern Prinz Wilhelm war auch innerlich weit mehr als der König einem modernen Verfassungsleben zugeneigt, wofür er in England das Muster zu sehen glaubte. Seine hohe Gemahlin aber schwärmte für alles Weststaatliche mit besonderer Abneigung gegen Rußland, obschon sie selber eine russische Großfürstin zur Mutter hatte. Böswillige, die an keine Objektivität beim Weibe glauben, schoben dies auf häusliche Nebenbuhlerschaft von Mutter und Tochter. Hierin tat man jedoch der geistig sehr beweglichen Fürstin unrecht, die allein den Maßstab ihrer vorzüglichen ästhetischen Bildung anlegte und sich vom arroganten Barbarentum des Zaren Nikolaus naturgemäß abgestoßen fühlte. Leider verband sich damit verkehrte übertriebene Vorliebe für die Westmächte, was auch ihre politischen Absichten beherrschte. Wohl tat sie sich etwas darauf zugute, daß sie als Kind zwischen Goethes Knien gespielt habe, und hielt die Weimarer Klassikertradition hoch. Doch englisches und französisches Wesen schien ihr, besonders in dem für Frauen so bestechenden äußeren Schliff, dem deutschen weit überlegen, sozusagen von vornehmerem Geblüt. Den pp. Bismarck würdigte die hohe Frau keines Blickes der Gnade, sie hielt ihn für einen verkappten Bärenhäuter, obschon er einen guten Schneider und eine gute Kinderstube hinter sich zu haben schien. Sie säuselte an ihm nichtachtend vorüber, es wäre ja kompromittierend gewesen, einen Menschen zu grüßen, der weder liberal noch populär war, welche beiden Eigenschaften für die Auffassung der Prinzessin Augusta in eins zusammenfielen. Gleichwohl dachte das prinzliche Paar, obschon es die Mode des Verfassungsstrebens voll Überzeugung mitmachte, le dernier cri, très-chic, nicht im entferntesten daran, die königliche Macht ernstlich schmälern zu lassen. Vielmehr ruhten die Blicke des Prinzen, der in der sogenannten Herrenkurie des Vereinigten Landtages sah, wohlgefällig auf der stattlichen Erscheinung des kühnen royalistischen Kämpen. Bei vereinigten Sitzungen beider Kammern zeichnete er diesen sogar durch vertrauliche Anreden aus, etwa so: »Bravo, mein lieber Bismarck! Mir ganz aus der Seele gesprochen!« »Die Haltung, welche Sie hier annehmen, macht Ihrem Herzen wie Ihrem Verstande Ehre!« »Recht wie ein alter Edelmann von echtem Schrot und Korn!« Bei Hofe aber verhielt er sich zurückhaltend und ließ sich keineswegs darauf ein, durch äußere Zeichen seine Billigung des Ultraroyalismus zu bekunden.

Otto der Starke ließ sich darüber keine grauen Haare wachsen, sondern haspelte noch rasch eine Menge ständischer Geschäfte ab, wozu er unter anderem mit seinem Freunde Gerlach zum Minister Alvensleben auf dessen Gut Erxleben fuhr, wo man sich die Köpfe rot redete und trank. Von den Türmen dieses altertümlichen Schlosses sah man weit nach dem Harz hinüber, wo der Brocken blaute und sogar das Brockenhaus ohne Nebel sich zeigte. Die Giebel, Erker, Wendeltreppen, riesigen Himmelbetten machten ganz den Eindruck, als ob es hier spuke. Der nüchterne Märker schlief aber ungestört und gähnte morgens Gerlach zu, als er schon wieder im Bahnkupee saß: »Meine Braut will mit mir Jean Paul lesen am blauen Alpensee, und dazu soll ich mir einen schwarzen Samtrock beschaffen wie ein Künstler, das stände mir gut. Na, ich hab' manchmal auch solche romantischen Ideen, aber in meinem Hirn sieht es so staubig aus, wie auf einer ausgefahrenen Chaussee, so tintig und papieren wie ein Landtagsbeschluß, und die Alpen würde ich nicht ansehen, wenn die Preußische Allgemeine Zeitung danebenläge. Hol's der Henker, ich werde die märkische Prosa nicht los.«

»Sie bleiben immer der alte Kindskopf!« unterbrach ihn Gerlach und stürzte sich mit gewohnter Aufregung in allerlei politische Paradoxe, die er zäh verteidigte und nicht locker ließ. Doch, nachdem er sich lange ereiferte, hatte er den Schmerz, seinen schweigenden Zuhörer plötzlich fragen zu hören: »Sie, in welchem Kostüm holt man die Braut heim als Ritter nach langer Irrfahrt? In grünem Reitrock mit rotbraunen Handschuhen oder als Kavalier mit wallenden Straußenfedern und melodiöser Gitarre?«

»Ach, mit Ihnen ist nicht zu reden!« fuhr Gerlach ärgerlich auf. »Heirate endlich, daß wir den Schaden los werden! Übrigens fahr' ich im August mit Thadden und Blanckenburg nach München, um berühmte Leute zu sehen, die dort wild wachsen, ein hierzulande unbekanntes Kraut. Das wär' was für die Hochzeitsreise!«

»Berühmte Leute und andere große Geister betrachtet man am liebsten aus der Ferne wie Bergspitzen, da wirken sie am größten, in der Nähe langweilig. Unsereins wird doch nie berühmt, und wozu soll man sich künstlich noch neidischer machen! Bei Neid und Schadenfreude fällt mir unsere neue Zeitung ein, die Neue Preußische, die wir morgen endgültig gründen wollen. Die muß beißen, daß die liberale Presse alle Viere von sich streckt.«

*

Nun saß er wirklich mit seiner Hanna auf der Bank vor der Gartenstube in Schönhausen, den Arm um ihren Leib gelegt. Die Bäume standen still und hoch, in den Lüften schwamm ein Duft von Lindenblüten, hinten über Arneburg lag ein blaßroter Streifen von letztem Sonnenschimmer. Ein Inselchen in einem Gartenwässerlein, im Herbst verwachsen und naß, jetzt noch ein lauschiger Schmollwinkel mit Moossitz, lud sie zu noch verschwiegenerer Ruhestätte.

»Wie himmlisch ist die Luft«, hauchte sie an ihn geschmiegt. »Doch die Fledermäuse fliegen so.«

»Laß sie, die wollen auch leben. Das Leben ist voll solchen grauen Herumschwirrern und weniger harmlosen. Doch höre, wie im Busch die Wachtel schlägt! Auf den Feldern locken Rebhühner. Das Leben ist doch schön, und die Liebe erst recht.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Morgen fahren wir in die Heide. Da ist es so sonnig und der Himmel so klar, daß man Gott im Himmel sieht. Ich nehme die Büchse mit, vielleicht erfreue ich deine Küche mit einem Spießer. Aber wenn ich nur Hinden und Rehkälber treffe, dann gibt's nischt. Mutter und Babis trenn' ich nicht.« Sie verbarg errötend ihr dunkles Haupt an seiner breiten Brust. Die alte Uhr räusperte sich, um 8 Uhr zu schlagen. »Weißt, woran ich denke? An unser Berliner Schulgärtchen bei Plaman. Damals lag mir noch die bunte Erde mit blauen Bergen und Ritterburgen jenseits des kleinen Bretterzaunes. Dort lief ich durch die Kresse, jeder Obstbaum war ein alter Freund, und die Hühner gackerten mir ein Heimwehlied nach dem Stettiner Postwagen, der mich nach Kniephof entführen sollte. Ach, das Gärtchen war nur ein kleiner Fleck, und die Hasenheide, wo wir Sonntags spielten, ein schäbig kleiner Kiefernbusch, und hinter den Zäunen und Hecken war auch nichts besonderes los, so altklug bin ich heute, und von all den Erlebnissen, die meiner warteten, wie arm klein Jüngchen träumte, ist gar nichts wirklich geworden. Graue Welt, nüchternes Leben, darin nur eine Sonne und Poesie: du!« – –

In Wien war's schön, sie wohnten im Grünen Lamm, im Kaffeehaus davor sah man in die Jägerzeil hinein, promenierten dann am Prater vorbei, wo die elegante Welt flanierte, die hohen Wälle entlang um die innere Stadt, stiegen auf das Roteturmtor und sahen die Sonne hinterm Leopolds- und Meinhartsberg freundlich untergehen. In einer Kolonnade, wo man Läden besichtigte, stieß eine geschminkte Huldin eine andere an. »Du, der is fesch!« Darüber maulte Johanna, und es entspann sich ein verfängliches Gespräch darüber, daß sie wohl keine Kinder haben würden. Doch endete der Liebeszwist damit, daß sie nach Schönbrunn hinausfuhren, wo sie schon im Mondschein die himmelhohen Taxushecken und die weißen Statuen im grünen Schloßpark bewunderten und in ein abgelegenes Gärtchen gerieten. Verstohlen und unvorsichtig eindringend, entwischten sie mit Not, als eine Schildwache steirischer Jäger mit Hahnenfeder am grauen Hut sie anrief. »Da bekämen wir ja noch ein rechtes Mondscheinabenteuer als Wegzehrung auf die Reise!« lachte Otto seelenvergnügt, als sie anderen Mittags im Dampfboot nach Linz fuhren, wo die Wachau und Kloster Melk ihnen noch katholischer vorkamen als der Stefansdom. In Salzburg, wo sie den Schaf- und Kapuzinerberg erkletterten, strahlte Johanna vor Heiterkeit und Gesundheit und bewarf ihn mit Pflaumen- und Pfirsichkernen. Plötzlich schoß ihm eine fatale Erinnerung durch den Sinn, er dachte an die englische Flamme in Wiesbaden. Recht gut konnte er sich vorstellen, wie Isabella bei der Abfahrt geseufzt haben mochte: » Poor fellow! He will always remember Auld Lang Syne«, worauf wahrscheinlich Miß Russel ihr das Wort abschnitt: »The moonshine of a German baron!« – –

»Aha, der Canal Grande!« Das junge Ehepaar, seinen Honigmond von Meran über den himmelblauen Gardasee in die grünlichen Lagunen hineintragend, gondelte durch die träge Flut.

»Die schwarze Gondel kommt mir wie ein Sarg vor«, flüsterte Johanna. »Es ist so still wie in einem Kirchhof.«

»Ja, diese alten Paläste sind wie steinerne Leichen.« Langsam glitten sie den Marmorwald entlang, wo die Bauten wie weiße Wasserlilien auf den Lagunen schwimmen und weißer Meerschaum, aus dem Venezia aufgestiegen, zu Marmorgiebeln erstarrte. Abendrot flimmerte vom Rialto zur Seufzerbrücke hinüber, weiche rosige Tinten lagen über der Riva degli Schiavoni und flossen über das dunkle Arsenal und Isola della Salute zum Lido hinaus, die Glocke hallte vom Kampanile, der Flügelleu runzelte die Stirn, und die Tauben von San Marco schnäbelten auf der Piazza, indes die farbigen Arabesken des Domes und die schimmernde Kuppel ein ewiges Wappen der Meereskönigin schienen, die aus Gold, Brokat und Atlas das samtweiche Glühen ihrer Prachtgemälde schuf.

» Sic transit gloria mundi!« murmelte Bismarck, als er vom Hotelbalkon über diese schöne Leiche einstiger Größe hinschaute, vom faden Geruch der Lagunen wie von Verwesungshauch umspült. »Siehst du, Liebchen, jedes Jahr hat sich der Doge mit dem Meer vermählt auf dem Brautschiff Bucentaur, und wo ist heute der Doge? Nur das Meer bleibt ewig.«

»Das ist eine Warnung Gottes«, meinte die junge Frau. »So kann es jedem Reiche ergehen, das zu hoch hinaus will. Am Ende auch Preußen.«

»Das wollen wir nicht hoffen, und eine Stimme sagt mir: was auf Sand gebaut, auf märkischen Sand, steht länger, als was auf flüssigem Elemente stand.«

»Ach, hier wird man ganz poetisch. Hier hat Lord Byron gelebt, den wir so oft zusammen lasen.«

»Wenigstens einiges von ihm.« Es zuckte spöttisch um Bismarcks Mund, da er Johanna nicht die Illusion rauben wollte; vor Byrons Don Juan würde sie ja in Ohnmacht des Entsetzens fallen. »Ist mir heut doch unerquicklich, zu tragisch affektiert. Die Prosa der Wirklichkeit hat auch ihr Recht. Nun, bist du bereit? Wir gehen ins Theater.«

»Ist's denn wahr, daß unser König hier weilt?«

»Es steht so in der Zeitung. Seine Majestät wollen sich endlich mal Erholung von den Regierungsmühen gönnen und Italiens Kunststätten besuchen.«

»Wenn er dich sähe und anredete!«

»Bei Gott, dazu sind wir nicht hier. Ich hab' dir ja gebeichtet, daß er mich bei jeder Cour geschnitten hat. Na, da ich nicht mal einen Frack in unserem leichten Reisegepäck habe, wird wohl niemand glauben, ich sei nach Venedig gekommen für Audienzen!«

Doch Seine Majestät der Hazard, wie Friedrich der Große es nannte, hat seltsame Launen. Kaum saß das junge Paar im Theater Fenice, als sich ein Gewisper erhob: » Il re della Prussia!« und der König in einer Loge erschien. Als sein Blick durchs Parkett streifte, blieb er sofort auf Bismarck haften. Die Fürsten haben bekanntlich einen sechsten Sinn für einmal gesehene Physiognomien, die sie nach endlosen Jahren wieder erkennen. Hier also war es wahrlich kein Wunder, daß im Zwischenakt ein Adjutant erschien und höflich fragte: »Der Herr Abgeordnete v. Bismarck, nicht wahr? Seine Majestät befehlen Euer Hochwohlgeboren morgen zur Tafel.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, die Bismarck hervorstottern wollte, verbeugte er sich mit vorschriftsmäßigem Zusammenschlagen der Hacken.

»Da haben wir die Bredouille!« Die Vorliebe für Fremdwörter ward dieser urwüchsige Teutone sein Lebtag nicht los.

»Ich kann unmöglich in korrektem Anzug erscheinen.«

»Vielleicht wird ein Schneider –«

»O Italianissima, ich beneide deinen Optimismus. Für meine Statur binnen so wenigen Stunden einen Hoffrack zurechtzaubern, ist ein Ding der Unmöglichkeit.« –

Als der zur Tafel Befohlene eine Entschuldigung begann, wobei er in bester Haltung weder stammelte noch stotterte, unterbrach ihn der König: »Ah, bah, wir sind hier auch nur à la fortune du pot. Um so gemütlicher! Mir liegt daran, mit Ihnen vertraulich zu plaudern. Ich hatte stets ein Auge auf Sie und werde es mir angelegen sein lassen, Sie gleichsam als meinen Schüler heranzuziehen.«

»Ich hatte nicht gewagt, zu hoffen –«

»Sollten Sie wirklich nicht erkannt haben, daß ich gute Miene zum bösen Spiel machen muß? Das heischt die Politik, wie Sie eines Tages noch erfahren werden, wenn Sie Meister der Politik studierten.« Damit meinte der König sich selber. »Nun erzählen Sie mir mal, was Sie von unseren Verhältnissen denken. Apropos, hörten Sie von der Schrift des Herrn v. Radowitz, die er vorbereiten soll?«

»Zu Befehl. Mit sehr großem Interesse.«

»Begreiflich. Ich las die Debatten des Landtags recht sorgsam und Ihre Haltung erweckte bei mir eine gewisse Neugier, wenn vielleicht nicht immer meine Billigung. Natürlich nicht betreffs der Grundsätze, im Gegenteil, ich spreche Ihnen meine höchste Anerkennung aus für die ritterliche Rauflust, wenn ich so sagen darf, mit der Sie die Rechte meiner Krone vertreten. Sie sind gleichsam ein umgekehrter Quitzow, doch es ist derselbe Geist. Mit der gleichen adligen Gesinnung, mit der einst die Junker sich unserer Dynastie widersetzten, bilden sie heut eine Phalanx um den Thron. Das ist herrlich poetisch, eine Auferstehung der Ritterzeit, wo noch wahres Christentum sich in vornehmen Formen ausprägte. Geschwätzige Toren nennen dies Feudalismus. Es war viel mehr, gegründet auf tiefem Bedürfnis der Menschennatur. Kennen Sie ›Die Kronenwächter‹ von Achim Arnim? Nicht? Ein wunderbarer Roman, die romantische Schule empfand tief das innerste Wesen des Deutschtums. Sollten Sie lesen, die Arnims sind ja auch Verwandte von Ihnen, weiß schon, habe mich um Ihre Personalien bekümmert. Sie stammen aus alter Ritterfamilie, haben vererbte gesunde Instinkte. Was denken Sie nun eigentlich über Konstitutionalismus?«

»Gar nichts denke ich davon, halten zu Gnaden, Majestät. Der alte Napoleon hat gesagt: Bin ich ein konstitutionelles Mastschwein? Ich lebte selber früher in Irrtümern. Nachdem aber der selige Landtag von seinen Sünden erlöst ist, d. h. Eure Majestät ihn aufgelöst haben, werde ich kein Blatt vor den Mund nehmen. Diese sogenannten Parlamentarier sind lauter Dilettanten. Gibt man ihnen das Steuer in die Hand –«

»Was Gott verhüte!« fiel der König ein. »Und ich bin auch noch da!«

»Dann geht der Staat in Scherben. Lauter Ideologen – das Wort verdankt man auch dem verflossenen Bonaparte – ohne jedes Verständnis für historische Entwickelung. Die wollen im Mai Birnen schütteln. So geht das nicht. Eure Majestät haben allergnädigst viele Konzessionen gemacht, aber nicht nur die Kirche, wie Goethe sagt, hat einen guten Magen, sondern auch die Demokratie. Reicht man ihnen den Finger, wollen sie die Hand und hernach renken sie den Arm aus den Gelenken. Nicht weiter! Fest den Fuß vorgesetzt!«

»Na, Sie leben gewiß auf einem großen Fuß, nach Ihrer Statur zu schließen.« Der geistreiche König konnte nie unterlassen, einen Witz zu reißen. »Das is ja allens janz scheene. Aber Sie sind noch jung und in Ihrer Weise ein Idealist, was ich begrüße. Ein König von Gottes Gnaden, der nur Gott verantwortlich ist, aber ihm auch voll und ganz, darf nicht so sans gêne agieren. Lernen Sie, hohe Politik zu machen, vielleicht werde ich Ihr Lehrer sein.« Bismarck verneigte sich tief, ergriffen von so viel Herablassung eines geistig Überlegenen. »Dies Gespräch könnte zu Mißverständnissen führen. Kommen wir daher zu Herrn v. Radowitz, meinem Militärbevollmächtigten am Deutschen Bundestag. Seine Denkschrift, von der ich insgeheim Kenntnis erhielt, wird erscheinen. Er wird darin über die Untätigkeit des Deutschen Bundes klagen, was sowohl materiellen als noch größeren ideellen Schaden verursache. Allgemein herrsche das sehnende Streben nach einer deutschen Gemeinschaft, und dieser populären Stimmung, die sich aller Geister bemächtigte, müsse man Rechnung tragen. Dieser Drang stimmte überein mit Preußens Lebensbedürfnis. Was sagen Sie dazu?« brach der König rasch ab.

»Daß General v. Radowitz die Wahrheit sagt. Preußens Machtmittel sind unzulänglich, unser Leib zu schmal für unsere Rüstung, die wir unaufhörlich anschnallen müssen, um uns zu erhalten. Fester Verein mit dem übrigen Deutschland tut uns not, zum mindesten mit Norddeutschland.«

»Ganz gut«, unterbrach der König. »Aber meine Herren Vetter in Kassel und Braunschweig sind nicht gerade dazu angetan, die Sympathien der deutschen Nation zu gewinnen.«

»Dann muß man sie tunlichst eliminieren«, versetzte Bismarck kühl. »Ich möchte nicht sagen: beseitigen, was meinem monarchischen Empfinden zuwiderläuft, indessen quand même –« Er sah den König an und der lächelte. »Preußen muß sich mit dem besseren Geiste Deutschlands verbinden, d. h. die Führung übernehmen zu neuer Einigung im Geist des Jahrhunderts. Auf volkswirtschaftlichem Boden geschah es schon, wie der Zollverband lehrt.«

»Da sind wir völlig d'accord. Mein Freund Bunsen ist gleicher Meinung. Jawohl, Preußen muß in Deutschlands Wiedergeburt sich selbst erst recht finden.« Der König sprach dies mit feierlicher Salbung. Große romantische Visionen schwebten vor seinen Seheraugen. Eine unendliche Gedankenflucht unklarer Vorstellungen gaukelte an ihm vorüber. »Mein lieber Bismarck, Sie haben offenbar meine Intentionen begriffen, und ich danke Ihnen für Ihre Auseinandersetzungen.« Worauf Seine Majestät noch eine halbe Stunde zu deklamieren geruhten. Die Unterredung hinterließ gleichwohl einen tiefen Eindruck auf den ergebenen Vasallen, der seiner Frau versicherte:

»Der König ist dennoch ein bedeutender Mann. Überhaupt ... nichts drolliger als die demokratischen Einbildungen, die Fürsten seien geistige Nullen und im Volk schlummere die wahre Kraft. Zu guter Letzt waren auch Bonaparte und Robespierre aus den gebildeten höheren Ständen, Mirabeau erst recht, für den ich immer eine Schwäche hatte. Louis XVI. war kein normales Exemplar eines Monarchen, Karl I. hatte nur das Pech, einem Cromwell gegenüberzustehen, sonst war er gar nicht so übel. Man medisiert allerlei über die Fürsten, doch im großen ganzen stehen sie nach Geist und Charakter weit über ihrem Untertanendurchschnitt. Das kann auch gar nicht anders sein. Von Jugend an werden sie hart in die Fuchtel genommen – mit Respekt zu melden –, die Würde ihrer Stellung macht sie früh reif, sie eignen sich eine Unmenge Beobachtungen an, wie sie ein anderer nicht zu eigen bekommt. Unser Friedrich Wilhelm IV. ist sicher ein Kolossus, gemessen an Georg Vincke und Alfred Auerswald, von den bürgerlichen Schaumschlägern ganz zu schweigen. Mir wird übel, wenn ich an die Herren Roturiers der Phrase denke. Der praktische Camphausen aus Köln ist auch nur so a Kölner Junge, der weiß, wo für ihn Barthel den Most holt. Nein, ich habe volles Vertrauen zu Seiner Majestät, daß sein großer Geist die Dinge richtig lenkt. Allerhöchstderselbe hat mir befohlen, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden.« –

»Nun geht's heim!« In dämmernder Frühe beschauten sie den roten Dom der Bundesfestung Mainz. »Hier haben viele Kaiser gethront in ihrer Pfalz, der Reichstag Barbarossas sah hier den höchsten Glanz der deutschen Macht. Alles vorbei! Wir werden keinen Reichstag mehr sehen, und Barbarossa sitzt im Kyffhäuser fest. Bekämen wir Deutsche wieder einen Kaiser, dann müßt' es anstandshalber kein Rotbart sein, sondern ein Weißbart, ein Jüngling mit Greisenhaar, etwa wie der alte Blücher. Denn wir sind so alt geworden in vielhundertjährigem Warten. Vielleicht erleben's unsere Enkel.« Als sie über die Schiffsbrücke den Dampfer bestieg, hob ein Windstoß den leichten Sommermantel, den sie in Genf gekauft. Die Wogen des Rheines rauschten eintönig, grau und träge. Eine Färbung grämlicher Verdrossenheit lag über den sonst so fröhlichen Ufern, graue Regenstimmung schlang die Landschaft ein. Als sie an Biebrich vorüberfuhren, lehnte ein Herr mit Fernrohr in einer Fensternische des Schlosses. »Der Herzog von Nassau!« Der Kapitän grüßte ehrerbietig nach dem Schloß hinauf.

»Auch so'n kleiner Potentat, der nicht weiß, wo er hingehört und zu welcher Partei er sich schlagen soll«, raunte Otto ihr ins Ohr. »Und dabei bilden die Oranien-Nassau sich Gott weiß was ein. Gute Soldaten hier, unter Napoleon und Wellington sehr brav. Das müßten preußische Regimenter sein, wie die in Mainz.«

»Du möchtest alles in einen preußischen Sack stecken!« lachte sie belustigt. »Vergiß doch nicht, das sind auch Fürsten von Gottes Gnaden.«

Otto murmelte etwas Undeutliches. Untersuchte man ihn richtig, gab es für ihn nur einen von Gottes Gnaden: Seine Majestät von Preußen. Stolzenfels, Ehrenbreitstein, hoch durch den Regenflor aufragend mit steinernen Armen gen Himmel der Kölner Dom. »Hier beginnt der Kirchenstaat«, murrte er unwirsch. »Hier hat der Kaiser sein Recht verloren, hier regiert ein Fremder innerhalb unseres Staates. Überhaupt Vater Rhein, ein langweiliger Geselle! Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, die Lorelei trägt ein Kartoffelfeld statt goldenem Haar.«

Sie dachte an andere Etappen ihrer Reise.

Nachdem sie durch Salzkammergut und Brenner zur Brenta gelangten, bogen sie auf der Rückfahrt nach der Schweiz aus und sahen den Sonnenuntergang auf dem Rigi.

»Wie groß sind die Werke Gottes!« rief Johanna begeistert, und er erweiterte den Gemeinplatz: »So leuchtet die Vorsehung auf Gerechte und Ungerechte, und eine Sonne von Austerlitz scheint auch im Dezembernebel. Wie dies Licht hier vom Gipfel her alle Täler durchdringt, so mag wohl ein großer Gedanke, ein Genius, plötzlich alles bestrahlen, was vorher in Nacht und Eis begraben lag.«

Sie sahen den Montblanc im Genfer See sich spiegeln. »Hier hat Byron die Haroldstrophen gedichtet, die ich dir damals schickte. Freilich auch das ›Fahrewohl und wenn für immer‹ an seine geschiedene Frau. Beide sahen sich niemals wieder. Möge Gott in Gnaden jeden vor solchem Unheil behüten! Und führe uns nicht in Versuchung, denn dein ist das Reich. Amen.« Und er drückte sie innig an sich. In Chillon ließ er sich den Namenszug Byrons an der Mauer zeigen, der hier in zwei Tagen bei Regensturm den »Gefangenen« schuf. »Es ist doch ein eigentümliches Gefühl, das ein solches einfaches Merkzeichen hinterläßt: Hier stand ein großer Mann, seine Hand hat hier den Stein beschrieben. Wir gewöhnlichen Sterblichen können nur nachfühlen, was es bedeuten muß, ein großer Mann zu sein, dessen Name nie vergessen wird. Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch! singt Schiller, der es ja wissen mußte. Aber ist das wahr? Wenn der Leib in Staub zerfallen, was hilft der große Name! Leichen kann man nicht mit Nachrufen füttern. Freilich wissen wir denn, ob die Seelen der Abgeschiedenen nicht noch über uns weilen und so noch ihren späten Ruhm genießen? Ach, Unsinn! Was in das Jenseits eintrat, verachtet alle Eitelkeit der Eitelkeiten.«

»Aber Otto, kann man sich das nicht anders denken? Wenn einer etwas Großes für die Menschen tut, dann ist seine Seele glücklich, auf den Segen zu schauen, der weiterwirkt.«

»Wie wahr! O Nanne, dein kluges Frauenherz!« Er sah sie warm an. »So wird's wohl sein. Wenn ich mir vorstelle, ein Deutscher hätte für sein Volk – denn Menschheit ist immer ein vager, hohler Begriff – etwas getan, was dankbar nie vergessen wird, solange noch deutsches Blut in den Adern rollt, ja, das wäre wohl eine Seligkeit, im Tode und nach dem Tode zu schauen auf sein Werk. Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn ... ne, Ruhm is nischt, dafür fehlt mir das Verständnis bei meiner allgemeinen Wurschtigkeit, aber so! Übrigens, glaube mir, hat noch nie ein Großer etwas des Ruhmes wegen getan, dann wäre es schon kein Großer, sondern der Sache wegen und um sich auszuleben. Ne, führe uns nicht in Versuchung! Wir kleinen Leute sollten uns nicht damit abgeben, über Größe zu spekulieren. Das ist ungesund. Wir haben bloß zu beten: Unser täglich Brot gib uns heute!« –

In Heidelberg langte Johanna leidend und erschöpft an als junge Frau nach der Hochzeitsreise. Doch sie entzückte sich an den duftigen Waldbergen und rief: »Sieh doch den herrlichen Efeu am Schlosse!« Otto zitierte Byron: »Ich bin wie Efeublätter, die um Schloßruinen blühn, verwelkt und grau nach innen, ob außen frisch und grün! Wie oft hab' ich das in den Bart gemurmelt in einer schlimmen Zeit! Doch seit du, sanfter Efeu, mich bröcklige Ruine umschlingst, da grün' ich von innen.« Sie warf sich ihm in die Arme, er küßte sie lange. Dann lachte er: »Dieser Byron! Singt da in Chillon: ›Eternal spirit of the boundless mind, brightest in dungeons, Liberty, thou art!‹ Ob das unsere Demokraten auch denken, wenn sie hinter Schloß und Riegel sitzen? Freiheit, der ewige Geist der Seele? Was heißt denn Freiheit, und was ist frei! Jeder ist nur sein eigener Knecht!«

*


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