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VIII

Batiste und seine Angehörigen waren zu tief in ihren Schmerz versunken, um gewahr zu werden, wie sich dieses unerhörte Ereignis vollzog und wer zuerst die kleine Brücke zu der geächteten Barraca überschritt.

Die Huerta kam zu ihnen. Sie erhoben keinen Einspruch, empfanden aber auch keine Regung der Dankbarkeit für diese unerwartete Annäherung.

Die Kunde vom Tode des Kleinen verursachte Batistes Nachbarn eine schlechte Nacht. Es schien, als hätte das Kind bei seinem Scheiden einen Stachel in ihren Gewissen zurückgelassen, und manche Frau wälzte sich unruhig auf ihrem Pfühl. Was würde der Ärmste dem lieben Gott wohl erzählen? …

Auf allen lastete ein Teil der Verantwortung, doch jeder schob mit scheinheiligem Egoismus die Schuld an der gehässigen Verfolgung, der das Kind zum Opfer fiel, auf den Nächsten. Und Reue, verbunden mit dem Wunsch, das begangene Unrecht nach Möglichkeit wieder gut zu machen, führten am anderen Morgen die Frauen der Huerta von allen Seiten zu Batistes Barraca.

Zwei alte Bäuerinnen huschten mit der Bitte, die kleine Leiche sehen zu dürfen, bei Tagesgrauen in das Haus, dessen Schwelle seit mehr als sechs Monaten kein fremder Fuss betreten hatte. Andere kamen nach – mehr, immer mehr. Sie umringten das Bett, dessen Decke die Umrisse des Körperchens kaum erkennen liess, und richteten zaghafte Worte an Teresa und ihre Tochter, die von Nachtwachen und Jammer überwältigt, mit trockenen Augen in einer Ecke sassen, apathisch diese endlose Prozession von Menschen betrachtend, die ihnen so zugesetzt hatten.

Nur der Hund schnüffelte feindselig an den fremden Kleidern, knurrte bösartig und zeigte nicht übel Lust, diese Eindringlinge zu beissen.

Batistet war nicht zu sehen. Er hockte mit verbissenem Gesicht im Pferdestall, um die Wunde des Schimmels nach den Anweisungen des noch in der Nacht geholten Tierarztes zu pflegen. Wie lieb er sein Brüderchen auch gehabt hatte, jetzt kam es vor allem darauf an, dass das Pferd nicht lahm blieb.

Für die beiden Kleinen jedoch bedeutete der Todesfall ein Ereignis, das ihnen Gelegenheit gab, ihren Gegnern aus Don Joaquins Schule alles heimzuzahlen. Heute war die Reihe an ihnen, und mutig im Schutz des eigenen Hauses, versperrten sie mit wichtiger Miene die Tür gegen die von Neugierde hergetriebenen Jungens. Die einen durften herein, andere wurden schroff abgewiesen, je nachdem sie sich bei den Kämpfen auf dem Heimweg benommen hatten.

Der Eintritt einer blassen, schmächtigen Frau liess bei Batiste alle bösen Erinnerungen blitzartig erwachen. Pepeta, die Frau Pimentós!

Batiste stand auf, um ihr das Haus zu verbieten, setzte sich dann aber, ohne ein Wort zu sagen, wieder auf seine Bank. Warum gegen ihr Kommen protestieren? … Mochte sie sich an dem Unglück hier weiden! Gott der Allmächtige würde dereinst jeden nach seinem Verdienst belohnen.

Pepeta drängte sich durch die Frauen hindurch. Sie hatte den Arm voll Blumen, die sie behutsam auf die Decke zu streuen begann, und in dem Zimmer, dessen schwere, nach Arzneien riechende Luft von Seufzern und Klagen gesättigt schien, verbreitete sich ein Duft von Frühling.

Doch vor dem Elfenbeingesichtchen, das die blonden Härchen wie eine Aureole umgaben, verlor sie, das elende Arbeitstier – deren Hoffnung auf Kinder in ihrer Ehe zugrunde gegangen war, die Fassung.

»Armes, liebes Kind!«

Weinend drückte sie einen Kuss auf die kalte Stirn, ganz zart, als fürchtete sie, den Kleinen zu wecken.

Die Gatten hoben überrascht den Kopf: das war echtes Gefühl. Und dankbar umarmten Mutter und Tochter die bedauernswerte Frau dieses verruchten Menschen.

Ihre Tränen trocknend, schaute Pepeta erstaunt umher:

»Aber so darf das nicht bleiben – das Kind auf dem Bett und das ganze Haus in Unordnung. Ich werde jetzt mit zwei Freundinnen nach Valencia gehen, um das Totenhemd und den Sarg zu kaufen. Und ihr« hier wandte sie sich an die nächstwohnenden Nachbarinnen – »sorgt inzwischen für alles andere.«

Sogar Pimentó, der unsichtbar geblieben war, musste bei den Vorbereitungen helfen. Als seine Frau ihn unterwegs traf, trug sie ihm auf, die Musiker für den Nachmittag zu bestellen. Und dieser Raufbold duldete, unsicher und wie beschämt zu Boden blickend, ihren herrischen, befehlenden Ton ohne Widerrede.

Seit dem vergangenen Abend war seine Meinung von sich selbst erschüttert. Dieser Nachbar, der es mit ihm aufgenommen, der es gewagt hatte, ihn in seinem eigenen Hause eingesperrt zu halten wie eine Henne; seine Frau, die sich zum ersten Male in ihrer Ehe widersetzt und ihm die Flinte aus den Händen gerissen hatte; auch sein Mangel an Mut, der ihn hinderte, dem sein gutes Recht verteidigenden Gegner offen die Stirn zu bieten – alles das war mehr als genug, ihn ganz und gar in Verwirrung zu bringen. Er begann nachzudenken … War es vielleicht doch ein Verbrechen gewesen, diese Fremden derart zu verfolgen? Mit dem einzigen Resultat, dass ein unschuldiges Kind sterben musste? …

Doch wie immer, wenn sein Gewissen sich regte, ging er zur Taverne, um im Branntwein Trost zu suchen.

Als Pepeta gegen zehn Uhr aus der Stadt zurückkehrte, fand sie die Barraca voll von Menschen. Einige Bauern, stille Menschen, die nur Sinn für ihre Wirtschaft hatten, besprachen an der Tür mit Batiste die Ernteaussichten, während drinnen zwei Frauen unablässig grosse Gläser mit gezuckertem Wein anboten.

Doch der kleinen, couragierten Pepeta gelang es schnell, Ordnung zu schaffen. Sie schickte Gross und Klein nach Hause, bestimmte einige Nachbarinnen, Teresa und ihre Tochter mitzunehmen und begann, sobald das Haus leer war, den Leichnam aufzubahren.

In die Mitte des Zimmers rückte sie den weissgescheuerten, mit einem Bettlaken gedeckten Esstisch aus Fichtenholz und legte darüber eine spitzenbesetzte Steppdecke als Unterlage für den kleinen Sarg, der das Entzücken der Nachbarn erregt hatte: ein weisslackierter Schrein mit goldenen Leisten, im Innern wie eine Wiege gepolstert.

Behutsam öffnete sie das Paket, das Pilíns letzten Staat enthielt, das Totenhemdchen aus silberdurchwirkter Gaze, die Sandalen und ein Gewinde aus künstlichen Blumen, alles leuchtend in makellosem Weiss.

Mit der Zärtlichkeit steriler Sehnsucht drückte die arme Pepeta das kalte Körperchen an ihre Brust, steckte die starren Ärmchen, vorsichtig, als wäre es zerbrechliches Glas, in die Ärmel, küsste die eisigen Füsschen, ehe sie die Sandalen anstreifte, und legte das arme Vögelchen in sein weiches Nest.

Aber das Schönste fehlte noch, ein Mützchen aus weissen Blumen, dessen Gehänge über die Ohren fielen. Dann schminkte Pepetas fromme Hand die bleichen Wangen rosa, färbte die dunklen Lippen zinnoberrot. Aber vergeblich bemühte sie sich, die müden Lider hochzuhalten. Immer wieder sanken sie über die trüben, glanzlosen Augen.

Armer Pilín! Unglücklicher kleiner Bischof! Um wieviel rührender hatte das bleiche Köpfchen ausgesehen, als es noch auf der Mutter Kissen ruhte, ohne anderen Schmuck als die weichen, blonden Haare.

Nachmittags stellte sich das festlich gekleidete Trauergefolge ein, die Frauen in seidener Mantilla.

»Wie schön er aussieht! So natürlich, als ob er schliefe!« bewunderten die Bäuerinnen Pepetas Werk.

Und Blumen überall! Blumen und Blütenzweige, die von den Tischkanten wie eine Pyramide zum Sarg strebten und das weisse Hemdchen unter sich vergruben. Die ganze blühende Huerta war gekommen, um Pilín einen bunten, duftenden Gruss zu bringen …

Langsam näherte sich am Rande des Wegs, den Staub in der Mitte wie eine Todsünde vermeidend, ein imposanter Besuch: Don Joaquin und Doña Pepa. »Auf Grund des unseligen Ereignisses« hatte der Lehrer den Unterricht ausfallen lassen.

Die »Señora« umhüllte eine riesige, gelbe Mantilla, während der »Maestro« den nur für ganz grosse Tage reservierten Gehrock trug. Seine Hände, die in schwarzen Handschuhen steckten – die Farbe spielte infolge hohen Alters stark ins Grünliche – gestikulierten unaufhörlich, um ja die Aufmerksamkeit der Bauern auf dieses ausserordentliche Zeremoniell zu lenken.

»Niemand kennt Gottes Ziele, Señor Batiste. Ergebung lehrt uns das Leben,« sagte er feierlich und drückte Batistes Hand. Dann fuhr er mit leiser Stimme fort: »Sehen Sie diese vielen Menschen? Gestern wurden Sie von ihnen verflucht, heute überhäuft man Sie mit Sympathie. Glauben Sie mir, im Grunde haben sie ein gutes Herz. Brutal, das ja, aber das Unglück rührt sie.«

Nachdenklich schaute er eine Weile zu Boden.

»Wie sollten sie auch anders sein, wenn sie wie die Tiere aufwachsen? Was hier nottut, ist Unterricht, Belehrung – die gegen die Unkultur der Huerta kämpfende Fackel des Wissens.«

Vorsichtig warf er einen Blick umher, um sich zu vergewissern, dass niemand seine Worte hören konnte, und schloss sodann mit Nachdruck:

»Alles wäre anders, Señor Batiste, wenn man mehr Kinder in meinen Tempel – ich wollte sagen, meine Schule – senden wollte, und wenn die Väter Sonnabends pünktlich zahlten, statt sich in der Taverne zu betrinken.«

Nach diesen Ausführungen setzte sich Don Joaquin würdevoll ans Fenster, von wo er seine Rangen draussen beobachten konnte.

»Es ist Zeit! Der Herr Kaplan wartet schon mit dem Sakristan und den Chorknaben am Kirchhofseingang,« mahnte Pepeta. Von den anderen Frauen unterstützt, führte sie die jammernde Mutter mit Gewalt von der Leiche ihres Lieblings fort.

Vier junge Mädchen, deren schwarze Mantilla die Augen überdeckte, ergriffen jetzt die Tischbeine. Sobald sie in der Tür erschienen, setzte die Musik ein. Ein Walzer erklang, und hurtig formierte sich zu den lustigen Weisen der Trauerzug.

Zuerst kamen paarweise die Schüler, jeder mit einem grossen Strauss Basilienkraut, – Don Joaquin verstand, so etwas zu arrangieren! – dann folgten die vier Mädchen mit Tisch und Sarg, hinter denen die Musik unter Vorantritt von Pimentó einschwenkte. Ihr nach in kleinen Gruppen die ganze Menge der Leidtragenden.

»Mein Kind! … Mein Liebling! …« schluchzte Teresa.

Langsam wand sich die lange, schwarze Schlange durch die grüne Ebene. Und die fröhlichen Kapriolen des Pistons klangen zur Barraca herüber wie ein teuflisches Lachen von Gevatter Tod, der mit dem Kleinen im Arm durch die blühende Huerta tanzte.

Batiste, regungslos an der Tür lehnend, blickte gedankenvoll auf die üppige, fruchtbare Ebene. Sie bot denselben Anblick wie sonst, ihm aber erschien sie jetzt schöner, friedfertiger … wie ein mürrisches Antlitz, dessen Falten sich zu einem Lächeln glätteten.

Alle waren unter seinem Dach gewesen, und ihre Schritte hatten den auf Barrets Boden lastenden Fluch getilgt.

Ein neues Leben begann, ohne Hass. Aber – um welchen Preis! …


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