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IV

Es war Donnerstag, und nach einer seit Jahrhunderten bestehenden Sitte versammelte sich das Wassergericht, um an der Tür der Apostelkathedrale in Valencia Recht zu sprechen. In kleinen Gruppen standen die Leute aus der Huerta auf der Plaza herum oder sassen auf dem Rand des grossen, trockenen Brunnenbeckens, wo ihre blauen und weissen Mantas, roten und gelben Kopftücher und hellen Kattunröcke eine lustige Girlande bildeten.

Die Turmuhr von Miguelete zeigte einige Minuten nach zehn. Doch immer noch kamen Nachzügler. Die einen zerrten ihre Pferdchen mit den beiden grossen Dungkörben hinter sich her, froh über die reiche, in den Strassen gemachte Kollekte; andere baten die Stadtpolizisten, ihre leeren Wagen vor der Kathedrale auffahren zu dürfen. Die Alten sprachen über Preise und Wetter, während die jungen Leute sich die Zeit in der nahen Taverne mit einem Schnäpschen und einer Zigarre zu drei Centavos vertrieben.

Die ganze Huerta war mit ihren Beschwerden gekommen. Jeder gestikulierte finsteren Blicks, betonte sein unzweideutiges Recht und konnte die Zeit kaum abwarten, den »Richtern der sieben Bewässerungsgräben« seine Klage vorzubringen.

Der Gerichtsdiener, der fünfzig Jahre Kampf gegen diese unbotmässige Horde hinter sich hatte, liess in den Schatten des Portals ein langes, mit Damast bezogenes Sofa stellen, davor in geringen Abstand ein niedriges Gitter. Der Zwischenraum bildete den Sitzungssaal.

Die rötlichen Spitzbogen des Portals, erheblich angenagt vom Zahn der Zeit, gaben einen würdigen Rahmen für das ehrwürdige Gericht: ein Thronhimmel aus Stein für ein seit fünfhundert Jahren bestehendes Tribunal.

In dem Bogenfeld zeigte sich die Jungfrau Maria, umringt von sechs pausbäckigen Engeln in starrem Chorhemd, winzige Flügel an den Schultern. Mit riesigen Frisuren geschmückt, deren Ringellöckchen in die Stirn fielen, spielten sie Viola, Flöte und Schalmei oder schlugen die Trommel. An den drei übereinanderliegenden Spitzbogen entlang rankten sich Girlanden aus Putten, Königen und Heiligen, unter Baldachinen in durchbrochener Arbeit. Zu beiden Seiten des Portals standen die zwölf Apostel, doch so übel zugerichtet, dass selbst Jesus sie nicht erkannt haben würde – mit ihren zerschundenen Nasen, abgehauenen Händen und verstümmelten Füssen machten sie eher den Eindruck von Krüppeln, die sich wehleidig ihre beschädigten Glieder zeigen. Über ihnen öffnete sich die gigantische Rose aus buntem Glas, durch die das Innere der Kirche Licht erhielt. Fort waren die scharfen Kanten am unteren Teil der mit dem Wappen Aragoniens geschmückten Säulen, glattgeworden durch das Scheuern unzähliger Generationen.

Die vielen Zerstörungen verrieten, dass einst Revolte und Empörung hier vorbeitobten. Und wirklich, diese Steine hätten von den Tumulten vergangener Jahrhunderte erzählen können, wenn das Volk sich erhob, wenn der wutentbrannte Valencianer die Fahne des Aufruhrs entrollte. Schienen doch die verstümmelten Heiligen mit ihren zum Himmel erhobenen Köpfen noch immer auf die Revolutionsglocke der Union, auf die Musketenschüsse der gegen Carlos I. kämpfenden Germanias zu lauschen …

Neben dem Gitter stand der Gerichtsdiener, bereit, die Richter zu empfangen. Ganz schwarzgekleidet, mit weissen Hanfschuhen und seidenem Tuch unter dem breitkrempigen Hut, kamen sie feierlichen Schrittes heran, hinter jedem ein Gefolge von Grabenwächtern und Parteien, die versuchten, schon vor der Sitzung das Urteil zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Mit Ehrfurcht blickten die Bauern auf diese aus ihrem eigenen Stande hervorgegangenen Richter, gegen deren Entscheidung es keine Berufung gab. Sie waren die Herren des Wassers und hielten mit ihm das Leben der Huerta in ihren Händen. Und die Bewohner der weiten Ebene, die durch den Fluss wie durch eine unüberschreitbare Grenze in zwei Lager geteilt wird, nannten jeden Richter mit dem Namen des ihm unterstehenden Rieselgrabens.

Der gekrümmte Alte, der sich mit schwielenbedeckten Händen zitternd auf einen Stab stützte, war Cuart Feitenar; der nächste, korpulent und majestätisch, mit kleinen, unter den starken, weissen Augenbrauenwülsten fast verschwindenden Äuglein, Mislata. Nach ihm kam Rascaña, ein stämmiger Mann in sorgfältig geplätteter Bluse, dessen feistes, rotes Gesicht dem eines Laienbruders glich; und kurz darauf folgten die anderen vier: Favara, Robella, Tormos und Mestalla.

Somit waren beide Flussufer vollständig vertreten: das linke, das Ufer der vier Gräben und der Huerta von Ruzafa, deren schattige Wege sich an den Grenzen der sumpfigen Albufera verlieren; und das rechte, das poesievolle Ufer mit den Erdbeeren von Benimaclet, den Erdmandeln von Alboraya und den üppigen Blumengärten.

Die Richter, die sich seit einer Woche nicht gesehen hatten, begrüssten einander mit grosser Zuvorkommenheit und unterhielten sich neben der Kirchentür von ihren persönlichen Angelegenheiten. Dann und wann öffneten sich die mit religiösen Anzeigen beklebten Windfangtüren; ein kühler, mit Weihrauch geschwängerter Luftzug drang auf die sonnendurchglühte Plaza.

Um elf Uhr, als die letzte Messe beendigt war und niemand mehr aus der Kathedrale herauskam, setzten sich die Sieben auf das alte Sofa. Sofort eilte alles herbei, drängten sich schweissige, nach Stroh und dicker Wolle riechende Körper vor dem Gitter, während der Gerichtsdiener sich würdevoll neben dem Mast aufstellte, an dessen Spitze ein bronzener Haken, das Symbol der Wasserjustiz, hing.

Die sieben Gräben entblössten das Haupt.

»S' òbri el tribunal.«

Mit diesen herkömmlichen Worten eröffnete der Älteste die Sitzung.

Ein tiefes Schweigen verbreitete sich unter dieser Menschenmenge, eine religiöse Andacht, als wohnte sie einem Gottesdienste bei. Das Rasseln der Wagen, das Getöse der Strassenbahnen, der ganze Lärm des modernen Lebens brauste vorbei, ohne diese ehrwürdige Institution irgendwie zu berühren, die ruhig wie jemand, der sich in seinem eigenen Hause befindet, unempfänglich gegen die durch die fortschreitende Zeit hervorgebrachten Änderungen und unfähig der geringsten Reform, ihren Pflichten nachkam.

Die Bauern der Huerta waren nicht wenig stolz auf ihren Gerichtshof. War das nicht wirkliche Justiz? … Sofort nach Anhören der Parteien Fällung des Urteils, ohne Schriftstücke, durch die ehrliche Menschen nur umgarnt werden.

Das Fehlen von Stempelpapier und Schreiber benagte diesen Leuten, die, zum grössten Teil des Schreibens unkundig, vor dieser Kunst eine gewisse Scheu hatten. Hier gab es weder Aktuare noch Federn, weder bange Tage in Erwartung des Urteils noch schreckenerregende Polizisten – hier galt nur das mündliche Wort.

Den Richtern haftete jede Aussage im Gedächtnis, und ihr Spruch erging mit der Autorität einer Behörde, die weiss, dass ihre Entscheidung ausgeführt werden muss. Wer sich ungebührlich gegen das Tribunal benahm, erhielt eine Strafe. Wer sich gegen das Urteil auflehnte, dem wurde für immer das Wasser zur Berieselung entzogen, und dem Unglücklichen blieb nichts weiter übrig, als vor Hunger zu sterben.

Es war die einfache, patriarchalische Justiz des guten Königs aus den Sagen, der am Tor seines Palastes über die Klagen seiner Untertanen entscheidet; es war das Urteil des Kabylenscheichs, der am Eingang seines Zeltes Recht spricht.

Den aufgerufenen Parteien nahm der Gerichtsdiener Stöcke und Gerten ab – nach seiner Meinung unvereinbar mit dem Respekt vor dem Tribunal – und stiess die zögernden Bauern vorwärts, bis sie vor dem ehrwürdigen Sofa standen, wobei er denen, die ihm zu langsam den Kopf entblössten, mit raschem Griff das Kopftuch herunterriss. Eine rauhe Behandlung! Aber konnte man mit diesen Dickköpfen anders umgehen?

Die verwickeltsten Angelegenheiten wurden von den Richtern mit bewunderungswürdiger Gewandtheit gelöst. Grabenwächter und die »Atandadores«, denen die Verteilung des Wassers oblag, machten die Anzeige, worauf die Beschuldigten ihre Verteidigung vorbrachten. Alte Leute liessen ihre Söhne, die sich mit mehr Energie auszudrücken verstanden, reden; Witwen erschienen in Begleitung von einem Freund des Verstorbenen.

Ohne ihren Sitz zu verlassen, steckten die Richter die Köpfe zusammen, und nach einem Augenblick des Tuscheins verkündete der Älteste ernst und feierlich das Urteil, bei dem die Strafe in »Libras« und »Sueldos« Libra = eine altspanische Goldmünze; Sueldo = eine frühere Rechenmünze festgesetzt wurde, als ob mittlerweile kein anderes Geld aufgekommen wäre, als ob jeden Augenblick der majestätische »Justicia« Beinamen des höchsten Gerichtsbeamten im alten Königreich Aragonien in roter Toga mit seiner Eskorte von Bogenschützen der Feder auf der Plaza erscheinen könnte.

Mittag war längst vorüber, – bei den sieben Gräben zeigten sich Spuren der Erschöpfung – als der Gerichtsdiener den Namen Batiste Borrull aufrief, angeklagt wegen Übertretung der Bewässerungsvorschriften.

Pimentó und Batiste schritten vor das Sofa, und neugierig schoben und drängelten sich die Bauern aus ihrer Nachbarschaft näher an die Schranken, um nichts von diesem interessanten Fall zu verlieren.

Batiste schaute blass vor Entrüstung bald auf die spöttischen Gesichter hinter der Schranke, bald auf seinen Feind Pimentó, der sich wichtigtuerisch vor dem Gericht spreizte.

Diesem Grosssprecher, der bei allen Wahlen agitierte und sich in der ganzen Gegend aufspielte, war es gelungen, zum Atandador seines Abschnitts ernannt zu werden, wodurch sein Ansehen erst recht befestigt wurde. Man schmeichelte ihm und lud ihn an den Tagen der jeweiligen Bewässerung ein.

»Parle vosté,« »Sprecht!« sagte der älteste Graben, mit dem Fuss auf Pimentó weisend, denn die uralte Sitte verlangte, dass das Tribunal anstatt der Hand den weissen Hanfschuh gebrauchte, um das Wort zu erteilen.

»Dieser Mann hier,« begann Pimentó in valencianischem Dialekt, »scheint zu glauben, dass die Wasserverteilung eine scherzhafte Sache ist, die er nach seinem Gefallen regeln kann. Ich hatte als Atandador unseres Grabenabschnittes zwei Uhr morgens für die Bewässerung seines Weizens bestimmt. Aber da sich der Señor wahrscheinlich zu dieser Stunde nicht erheben wollte, liess er seine Reihe vorbeigehen und zog um fünf Uhr die Schleuse, ohne Erlaubnis, – erstes Vergehen – wollte den Nachbarn, die dann an der Reihe waren, das Rieselwasser ableiten zum Nutzen seiner eigenen Felder – zweites Vergehen – und machte den Versuch, sich meinen Befehlen mit Gewalt zu widersetzen – drittes und letztes Vergehen.«

Dem dreifach Beschuldigten stieg das Blut in den Kopf.

»Lüge! Dreimal verfluchte Lüge!« unterbrach er den Ankläger.

Den Gerichtshof empörte die unehrbietige Art, in der dieser Angeklagte protestierte. Man vermahnte ihn und drohte eine Geldstrafe an, wenn er nicht den Mund halten würde. Aber was wollten Ordnungsstrafen bedeuten gegen den aufgespeicherten Zorn dieses friedliebenden Menschen?

»Schlimm genug, wenn das Tribunal Lügner und Lumpen wie diesen Pimentó anstellt,« brüllte Batiste von neuem los.

Die sieben Gräben schäumten vor Entrüstung.

»Cuatre sòus de multa!« »Vier Sueldos Strafe.«

Jetzt erst kam Batiste das Verständnis für seine Lage. Er schwieg voller Bestürzung, während aus dem Publikum das ironische Lachen seiner Feinde erklang. Unbeweglich hörte er die weiteren Worte Pimentós an.

»Nunmehr sprecht Ihr,« befahl der Älteste, Doch in den Blicken der Richter lag wenig Sympathie für diesen Unruhestifter, der die Feierlichkeit der Verhandlungen so stürmisch gestört hatte.

Die Worte des zornbebenden Batiste überstürzten sich. Erst allmählich wurde er ruhiger und konnte zusammenhängend sprechen.

»Pimentó ist mein ausgemachter Feind und hat mich böswillig betrogen. Ich erinnere mich ganz bestimmt, dass er mir fünf Uhr morgens ansagte. Wenn er jetzt zwei Uhr angibt, tut er das mit der niederträchtigen Absicht, den Weizen, an dem das Leben meiner Familie hängt, vertrocknen zu lassen. Gilt hier das Wort eines ehrlichen Menschen? … Ich habe die lautere Wahrheit gesagt, aber Zeugen kann ich nicht bringen. Doch die Herren Richter sind alle ehrenwerte Männer und werden diesem Schuft, diesem Pimentó nicht glauben …«

Zeichnung: A. J. Welti

Die Worte des zornbebenden Batiste überstürzten sich …

Hier unterbrach ihn der weisse Hanfschuh des Präsidenten, der eine Flut von Respektsverletzungen ahnte.

»Calle vosté!« »Schweigt!«

Und Batiste schwieg, während das siebenköpfige Ungeheuer flüsternd beriet.

»El tribunal sentènsia …« sagte der älteste Graben.

Atemlos lauschte die Menge.

»Der Batiste Borull soll zahlen zwei Libras Strafe, dazu vier Sueldos wegen ungehörigen Benehmens.«

Ein Murmeln der Befriedigung begrüsste das Urteil. Einige alte Frauen liessen sich sogar zum Händeklatschen und Bravorufen hinreissen.

Mit gesenktem Kopf verliess Batiste die Sitzung; doch auf seinem Gesicht lag ein solch drohender Ausdruck, dass die Leute ihm schnell Platz machten und Pimentó es vorzog, in der Menge unterzutauchen. Höhnische Blicke folgten dem Verurteilten, der sofort Don Salvadors Söhne aufsuchte, um ihnen den unglaublichen Vorfall zu berichten. Beide sprachen ihm gut zu, und etwas gefasster machte er sich eine Stunde später auf den Heimweg.

Aber sein Martyrium war noch nicht zu Ende. Auf der holperigen Strasse von Alboraya zog die lange Prozession seiner Nachbarn, die mit Karren und Eseln nach der Huerta heimkehrten. Wenn er an ihnen vorbeischritt, bemühten sie sich, harmlos auszusehen, trotzdem die boshafte Freude aus ihren Augen blitzte. Doch kaum hatte er sie überholt, so ertönte ironisches Lachen, und bisweilen hörte er einen der jungen Leute die Stimme des Gerichtspräsidenten nachäffen: »Cuatre sòus de multa!«

Von weitem schon erblickte er vor der Tür vom »Vollen Gläschen« seinen Widersacher Pimentó, der, den Becher in der Hand, inmitten einer Gruppe von Bauern heftig gestikulierte. Ihr dröhnendes Gelächter war zu viel für Batiste. Verflucht! … Jetzt begriff er, dieser friedliche Mann und gute Vater, warum Männer sich töten! … Seine mächtigen Arme zitterten, in den Händen fühlte er ein grausames Prickeln.

»Ob sie den Mut haben werden, in meiner Gegenwart sich über mich lustig zu machen? …« Er verspürte ein Verlangen, in die Schenke einzutreten, um Auge in Auge mit seinen Feinden ein Glas Wein zu trinken. Aber da kam ihm die Erinnerung an die zwei Libras Strafe, und er verwarf seine Idee als verschwenderischen Luxus. Ah! diese zwei Libras! Sie stellten den dringend notwendigen Kauf neuen Schuhwerks für seine Kinder ernstlich in Frage, denn das von Teresa ersparte Häuflein Kupfermünzen würden sie wohl restlos verschlingen.

Als Batiste vorüberging, verschwand Pimentó unter dem Vorwand, sein Glas neu füllen zu lassen, im Innern der Taverne, und seine Freunde taten, als sähen sie den verhassten Fremden nicht, dessen Miene ihnen nichts Gutes verhiess.

Doch statt Befriedigung löste dieser Triumph nur Traurigkeit in ihm aus. Wie mussten diese Menschen ihn hassen! Die ganze weite Flur wandte sich gegen ihn, finster und drohend … War das noch Leben? … Bei Tage vermied er, Haus und Hof zu verlassen, um jeder Begegnung aus dem Wege zu gehen. Nachts lag er im Halbschlaf und stürzte, sobald der Hund anschlug, mit der Flinte hinaus. Schon mehr als einmal hatte er Gestalten forthuschen sehen … Hass trat ihm überall entgegen. Die Frauen drehten sich fort, ohne ihn nach Sitte der Huerta zu grüssen; die auf den Feldern arbeitenden Männer riefen sich unverschämte, auf Batiste gemünzte Worte zu; die Kinder johlten von weitem: »Schleicher! Jude!« Wehe ihm, wenn er nicht diese riesigen Fäuste und breiten Schultern gehabt hätte! Längst würde die Huerta mit ihm Schluss gemacht haben. So wartete jeder darauf, dass ein anderer anfangen sollte.

Er hörte bereits das Bellen seines Hundes, als sich am Wegrande ein junger Bursche von einem Bund frischgemähtem Gras erhob.

»Bòn dia, siñor Batiste!«

Wie gut tat dieser artige Gruss! … Erfreut schaute Batiste in die grossen blauen Augen des blonden Burschen, ohne im ersten Moment zu wissen, wen er vor sich hatte. Doch ja, es war der Enkel Tombas, ein braver Junge, der bei dem Schlächter von Alboraya arbeitete.

»Grasies, chiquet, grasies!« »Danke, Kleiner, danke!« dankte Batiste herzlich und schritt weiter zu seiner Barraca, freudig empfangen von dem Hund, der sein Fell zärtlich an den Hosen seines Herrn rieb.

Hier, im Angesichte seiner Felder, stieg der ganze wilde Zorn wieder auf. Sein Weizen hatte Durst. Deutlich verrieten es die welken, runzeligen Blätter – an Stelle des glänzenden Grüns ein durchsichtiges Gelb. Das Wasser fehlte, um das ihn der heimtückische Pimentó gebracht hatte. Und erst in vierzehn Tagen kam die Reihe wieder an ihn. Cristo! …

Ohne Appetit setzte er sich zu Tisch und erzählte seiner Frau den Verlauf der Sitzung. Arme Teresa! Sie fühlte einen Stich im Herzen bei dem Gedanken, den Strumpf, der die sauer ersparten Centavos barg, öffnen zu müssen.

»Heilige Mutter Gottes! Wollen uns diese Spitzbuben zugrunde richten? …« schluchzte sie und liess den Löffel in die Reisschüssel fallen. Jetzt fingen auch die durch die finstere Miene des Vaters ohnehin schon erschreckten Kinder an, so jämmerlich zu heulen, dass Batiste sich vor diesem Klagechor wütend ins Freie rettete.

Auf der Flucht vor seinen quälenden Gedanken ging er in den Hof, um an dem neuen Schweinestall weiter zu bauen. Doch die Arbeit kam trotz des besten Willens nicht von der Stelle. Er glaubte, zwischen den engen Wänden ersticken zu müssen … Unwiderstehlich zog es ihn nach seinen Feldern, und die Hände noch lehmbeschmiert, stand er bald wieder vor seinem welken Getreide.

Nur wenige Meter entfernt murmelte das rötliche Wasser, floss das lebenspendende Blut der Huerta aber für andere Felder, deren Besitzer nicht gehasst wurden.

Die Sonne stand tief am Horizont, dem verzweifelten Bauern jedoch dünkten ihre Strahlen senkrecht zu fallen und alles mit ihrer Glut zu verbrennen.

Die ausgedörrte Erde barst auseinander, öffnete Risse und Spalten, tausend Munde, die nach Wasser lechzten.

Noch vierzehn Tage! Bis dahin war sein Weizen vertrocknet, tot, das tägliche Brot seiner Familie vernichtet. Fürwahr, Elend genug! Und obendrein noch diese schwere Strafe! Und dann wundert sich die Welt, wenn eine Familie zugrunde geht? …

»Ah, Pimentó! Wenn es keine Polizei gäbe!«

Und wie der in der Wüste Verschmachtende fruchtbare Oasen und sprudelnde Quellen zu erblicken vermeint, sah der Bauer vage Bilder von üppigen, grünen Getreidefeldern, von leuchtenden Wasserfaden, die mit sanftem Glucksen die dürstende Erde erlösten.

Der rote Sonnenball war verschwunden, und Batistes Brust hob sich in einem Seufzer der Erleichterung, als wäre das glühende Gestirn nun für immer untergegangen und seine Ernte gerettet.

Langsam ging er in der Richtung zur Taverne. An die Polizei dachte er nicht mehr, hingegen malte er sich mit einem gewissen Vergnügen die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit Pimentó aus, der sicher nicht weit von der Kneipe zu finden sein würde.

Ein bläuliches Licht hüllte die Huerta ein. Die Wolken über den dunklen Bergen vor ihm leuchteten mit dem roten Schein einer fernen Feuersbrunst, und vom Meere her zitterten die ersten Sterne auf dem unendlichen Blau. In das monotone Quaken der Frösche und das Zirpen der Heimchen mischte sich das Knarren unsichtbarer Räder.

Auf dem Fahrweg kamen Batiste die von der Fabrik heimkehrenden jungen Mädchen entgegen. Als letzte, ganz allein, ging seine Tochter, doch schien es ihm, als spräche sie mit einem Mann, der ihr in kurzem Abstände folgte, wie es die Sitte der Huerta, die eine vertrauliche Annäherung als sündhaft ansieht, ihren Liebespaaren vorschreibt. Sobald der Mann Batiste erkannte, verlangsamte er seinen Schritt und liess Roseta allein weitergehen. Aber Batiste blieb stehen, um den Unbekannten zu erwarten.

»Bòna nit, siñor Batiste!« erklang dieselbe zaghafte Stimme vom Nachmittag. Wieder war es Tombas Enkel. Wusste der Bursche nichts Besseres zu tun als auf allen Wegen herumzulungern? …

Der Bauer schaute auf seine Tochter, die unter seinem Blick errötend die Augen senkte.

»Marsch, nach Hause! Dir werde ich's beibringen …«

Und mit der ganzen Autorität des spanischen Vaters, dieses absoluten Herrn über seine Kinder, dem es wichtiger erscheint, Furcht einzuflössen als Zuneigung zu gewinnen, schritt er der bebenden Roseta voraus zur Barraca, wo ihr, wie sie mit Sicherheit annahm, eine derbe Tracht Prügel bevorstand.

Sie irrte sich. Ihr armer Vater hatte in diesem Augenblick nur ein einziges Kind, seinen kranken, welken Weizen, der nach Wasser schrie. Zu Hause kümmerte er sich nicht mehr um seine Tochter, die sehr geschäftig tat, um den Ausbruch des Gewitters, vor dem sie jeden Moment bangte, hinauszuschieben.

Das Abendessen wurde aufgetragen, und die Kinder fielen mit solcher Gier über die dampfende Schüssel – Stockfisch und Kartoffeln – her, dass die Mutter leise seufzend einen Vergleich zog zwischen der fabelhaften Summe, die man ihr nahm, und dem Eifer, mit dem alle fünf ihre Kinnbacken bewegten. Der Älteste, Batistet, bemächtigte sich sogar mit gemachter Zerstreutheit der Brotration seiner kleinen Brüder, und Roseta entwickelte aus reiner Angst einen ungeheuren Appetit.

Noch nie war Batiste so klar zum Bewusstsein gekommen, welche Last auf seinen Schultern ruhte. Womit diese hungrigen Mäuler füttern, wenn das Getreide draussen verdorrte? …

Und was war schuld an allem? Falschheit und Lüge eines einzigen Menschen! Nein! das liess er sich nicht gefallen … Zu allererst kam seine Familie. Fühlte er sich nicht stark genug, sie vor jeder Gefahr zu schützen? Hatte er nicht die Pflicht, für ihren Unterhalt zu sorgen? Lieber stehlen, als die Seinigen hungern lassen! Und hier handelte es sich nicht um einen Diebstahl, nur um die Rettung seiner Ernte.

Der Gedanke an das draussen vorbeifliessende Wasser, das er nicht benutzen durfte, peinigte ihn immer heftiger, immer unerträglicher. Plötzlich sprang er auf:

»A regar! A regar!« »Ans Berieseln!«

Seine Frau schrak zusammen.

»Por Dios, warte lieber ab, Batiste,« flehte sie, die ganze Gefahr seines verzweifelten Vorhabens erfassend. »Man wird dich zu einer noch grösseren Strafe verurteilen. Wer weiss, ob das Tribunal dir das Wasser nicht für immer sperrt!«

Doch ihr Mann war eine dieser bedächtigen, phlegmatischen Naturen, die schwer in Zorn geraten, aber auch ebenso schwer ihr verlorenes Gleichgewicht wiederfinden.

»A regar! A regar!«

Fröhlich wiederholte Batistet seines Vaters Worte, ergriff die Hacken und eilte mit seiner Schwester und den drei Kleinen zum Graben. Alle wollten teilhaben an dieser Arbeit, die ihnen wie ein Fest erschien.

Die ungeheure Ebene verlor sich in der blauen Dämmerung. Rauschend wiegte sich das Rohr, und am Himmel funkelte Stern neben Stern.

Ehe noch Batiste die Schleuse hochgezogen hatte, waren seine Frau und die beiden ältesten Kinder schon dabei, nach allen Seiten Rillen zu öffnen.

Das Wasser kam … Die Erde sang mit frohem Gluck – Gluck, das ihnen das Herz weitete. Und mit blossen Füssen patschten sie durch den Schlamm, um nachzusehen, ob das Wasser auch überall hingelangte.

Batiste stöhnte in der wilden Befriedigung, die der Genuss des Verbotenen erzeugt. Ein Gewicht fiel von ihm ab! … Mochte das Tribunal nun kommen und nach Belieben dekretieren. Seine Felder tranken, das war das einzig Wichtige!

Und da sein geübtes Ohr ein sonderbares Geräusch im Röhricht vernahm, stürzte er zur Barraca.

Die Flinte im Arm, den Finger am Hahn, hielt er dann neben der Schleuse Wache.

Vielleicht beschwerten sich die abwärts wohnenden Anlieger beim Atandador, vielleicht strich Pimentó jetzt in der Nähe umher, empört über diese freche Gesetzesübertretung. Wenn auch! … Er war entschlossen, dem ersten, der die Hand an das Wehr zu legen wagte, eine Ladung Blei zu schicken.

Und eine solche Wildheit lag in der Haltung dieser unbeweglichen, riesigen Silhouette, die sich schwarz von dem mattschimmernden Wasserspiegel abhob, dass niemand aus dem Röhricht hervorkam.

Noch seltsamer aber: am folgenden Donnerstag liess ihn der Atandador nicht vor das Wassergericht laden.


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