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Adios

Als Ferragut den Hafen von Barcelona verließ, war die Wunde an seiner Schulter schon verharscht. Lästige Verhöre über die Schießerei hatte ihm Tòni erspart, der der Polizei versicherte, daß man an Bord weder etwas gehört noch gesehen habe, und diese hielt es nicht für notwendig, wegen eines unbekannten, anscheinend im Streit von seinen Kumpanen erschossenen Ausländers eingehende Nachforschungen anzustellen.

Während der nächsten Monate fuhr die Nereide in Konvois, und chiffrierte Depeschen riefen Ferragut bald nach Marseille oder Saint-Nazaire, bald nach Brest oder einem anderen Hafen der atlantischen Küste.

Zwanzig bis dreißig Schiffe der verschiedensten Klassen und Nationalitäten wurden in diesen Häfen zu einer Flotte zusammengestellt: aristokratische Jachten mit scharfgeschnittenem Bug, schlanken Schornsteinen und einem Rest ihres ehemaligen blendendweißen Anstrichs – degradiert wie die edlen Rennpferde, die jetzt in einer Schwadron traben mußten; frühere Postdampfer, deren Schnelligkeit berühmt war und die sich nie hätten träumen lassen, daß man sie mit gewöhnlichen Frachten behelligen würde, und schmutzige, klappernde, eilig reparierte Kasten mit einem schwindsüchtigen Schornstein auf dem plumpen Rumpf.

Erst im Moment der Abfahrt durfte Ferragut den versiegelten Umschlag mit den Befehlen des Konvois-Chefs öffnen. Er enthielt den Namen des Bestimmungshafens, die Reihenfolge der Schiffe in Einzel- oder Doppellinie, und zum Schluß die Instruktionen für den Fall eines Angriffs durch Unterseeboote. Kein Schiff hatte aus der Reihe herauszusteuern, kein Schiff hatte sich um den Feind oder um Schiffbrüchige zu kümmern. Blind und taub für alles, was um sie her vorging, mußten sie ihre Fahrt fortsetzen.

Schlimmer aber als die Furcht vor den Unterseebooten, schlimmer als falscher Alarm und das Feuer der begleitenden Torpedoboote war der Nebel. Die Schiffe, die nur fünfhundert Meter Abstand hielten, sahen sich plötzlich durch eine dicke, weiße Wand getrennt, und mit ihr kam die Gefahr, auf das Vorderschiff aufzulaufen oder von dem folgenden zerschnitten zu werden.

Solche Fahrten widerstrebten Ferragut. Es behagte ihm nicht, seine schnelle Nereide dem gemächlichen Tempo der alten Tramps anzupassen, und noch weniger, von einem kurz angebundenen, herrisch auftretenden Marineoffizier abhängig zu sein.

Infolgedessen erklärte er bei seiner Rückkehr nach Marseille, daß er wieder allein fahren möchte, und da man angesichts der Knappheit an Schiffsraum ungern auf seine Mitwirkung verzichtet hätte, wurde sein Wunsch erfüllt.

Als er sich eines Morgens ankleidete, um an Land zu gehen, riß sein erster Offizier plötzlich die Tür auf;

»Sie ist hier«, sagte er lakonisch.

Ferragut sah ihn fragend an. »Wer ist diese ›sie‹?«

»Wer soll es wohl sein? … Die von Neapel! Diese verteufelte Blondine, die uns Unglück bringt … Vielleicht müssen wir ihretwegen wieder Monate stillliegen.«

Dann entschuldigte er sich, als habe er eine Nachlässigkeit im Dienst begangen. Von der Nereide führte ein Laufsteg zum Kai – eine Tòni sehr unsympathische Verbindung, weil auf ihr jedermann ohne weiteres an Bord kommen konnte. So hatte er die Dame erst bemerkt, als sie schon nahe bei den Kajüten war.

»Sie erinnert sich noch gut an den Weg zum Salon und wollte schnurstracks dorthin. Aber ich ließ sie durch Caragòl einen Augenblick zurückhalten, um dich benachrichtigen zu können.«

»Mein Gott!« murmelte Ferragut ratlos. Gleich darauf ging seine Überraschung in Wut über. »Fort mit ihr! Zwei Mann sollen sie an Land bringen – wenn nötig mit Gewalt!«

Da Tòni, betroffen über den harten Befehl, zögerte, stürzte der Kapitän aus der Kajüte, um seine Anweisungen selbst zu geben.

Doch im gleichen Moment, als er den Salon betrat, öffnete sich die zum Deck führende Tür. An dem feisten Caragòl vorbei drängte sich eine Dame.

»Du!« sagte eine jubelnde Stimme. »Ich wußte, daß du hier warst, trotz der Ausflüchte dieser beiden Männer.«

Tòni und Caragòl verschwanden, sehr zur Beruhigung des Kapitäns, dem es peinlich gewesen wäre, wenn Freya in Gegenwart der beiden die Szene in Barcelona erwähnt hätte.

Stumm betrachtete er sie eine ganze Weile. Ihr Gesicht war blaß und schmal geworden, und demütig blickten die schönen Augen Ferragut an.

»Was machst du hier?« fragte er.

Sie blickte unruhig umher, um sich zu überzeugen, daß niemand sie belauschte.

»Die Frau Doktor hat mich nach Frankreich gesandt, damit ich in den Häfen gewisse Nachrichten sammle.«

»Und wie kamst du über die Grenze?«

»Mit einem südamerikanischen Paß.«

Verzagt, eingeschüchtert durch seinen barschen Ton, trat sie zurück und setzte sich müde in einen Sessel.

»Ulysses, ich mußte gehorchen. Aber du weißt ja, daß ich schon vor dem Kriege in Frankreich tätig gewesen bin, und kannst dir denken, in welcher Todesangst ich hier lebe. Und ich bin sicher, sie werden mir eines Tages auf die Spur kommen. Hilf mir, Ulysses. Behalte mich bei dir, auf deinem Schiff! Ich will nicht sterben, Ulysses … Ich bin zu jung zum Sterben. Mir fehlt auch die Begeisterung der Frau Doktor, die fähig ist, sich für ihr Land aufzuopfern. Ich habe Visionen … sehe torpedierte Schiffe … Ach, Ulysses, wie mich mein Gewissen martert!«

Flehend hob sie die Hände.

»Ich kann nicht mehr, Ulysses. Frankreich, ich ahne es, wird mein Tod sein.«

Ferragut fühlte Mitleid.

»Wenn du Geld brauchst, um von hier fortzufahren, werde ich es dir geben. Du kannst selbst die Summe bestimmen, genug, um deine Zukunft zu sichern. Aber den Gedanken an ein gemeinsames Leben schlag dir aus dem Kopf. Was verbindet uns? … Nichts!«

»Geld?« Freya war zusammengezuckt, als er von Geld sprach. »Nein, Ulysses, deshalb kam ich nicht.«

»Dann geh«, brüllte er sie an, »und laß mich in Frieden!«

Als er sah, daß sie still sitzenblieb, streckte er seine mächtigen Arme aus. In seiner rasenden Wut war er nahe daran, sie zu packen und wie ein Bündel über Bord zu werfen …

Doch sofort schämte er sich dieser Geste. Sollte er sie jedesmal mißhandeln wie ein Zuhälter, der Liebe und Schläge mischt? Und um dieser Unterredung ein Ende zu bereiten, ergriff er die Flucht. Er eilte in seine Kabine und warf die Tür hinter sich zu. Freya sprang auf … aber schon drehte sich drinnen der Schlüssel im Schloß.

Verzweifelt hämmerte sie mit ihren Fäusten gegen die Tür.

»Ulysses, öffne!«

Vergeblich ihr Flehen. Und wie ein verlassenes Kind, schwach und schutzlos, begann sie zu weinen. Ihr Wille war gebrochen.

Mit bebenden Fingern fuhr sie über das lackierte Holz, tastete an den Füllungen, als hoffte sie, ein Loch, eine Ritze zu finden – irgend etwas, das ihr erlaubt hätte, bis zu dem Mann auf der anderen Seite der Tür zu gelangen. Niederkniend legte sie den Mund an das Schlüsselloch.

»Öffne, mein Geliebter! Verlaß mich nicht! Bedenke, daß ich in den Tod gehe, wenn du mir nicht hilfst.«

Ferragut vermochte diese Klage nicht länger anzuhören, und durch das runde Fenster seiner Kajüte, das aufs Deck ging, befahl er einem Matrosen, Tòni zu holen.

»Don Antòni! Don Antòni!« ging der Ruf suchend über das ganze Schiff.

Tòni kam und näherte seinen Kopf dem Fenster.

»Warum habt ihr euch davongemacht?« fuhr ihn Ferragut an. »Die Frau verläßt sofort das Schiff; du bist mir dafür verantwortlich.«

Unruhig an seinem Bart zerrend, entfernte sich der erste Offizier. Verfluchte Sache!

»Rette mich, Liebster!« bettelte es hinter der Tür. »Vergiß die Frau, die ich bin. Denk nur an die von Neapel … an die, die du in Pompeji kanntest. Erinnere dich an unser verschwiegenes Glück; erinnere dich auch, wie oft du mir geschworen hast, mich nie zu verlassen.«

Die Stimme verstummte für einen Augenblick. Ferragut hörte Schritte.

Wieder begann das demütige Flehen, noch inniger, noch dringender.

»So sehr haßt du mich? … Und hast mir so oft beteuert, nie vorher so glücklich gewesen zu sein. Ulysses, ich kann das Glück wieder auferstehen lassen. Alles kann ich tun, um dir das Leben schön zu gestalten … Und du läßt mich zugrunde gehen?«

Ein Stoß gegen die Tür, ein kurzer Kampf: Tòni war eingetreten, gefolgt von Caragòl.

»Genug, Señora«, sagte der Steuermann mit grimmiger Stimme, die seine Bewegung verbergen sollte. »Sie merken doch, daß der Kapitän Sie nicht sehen will. Kommen Sie mit!«

»Ulysses, man jagt mich fort!« rief sie verzweifelt. »Ulysses, erlaubst du das? … Du, der mich so geliebt hat?«

Auch dieser letzte Appell fand kein Echo. Die Tür blieb verschlossen.

»Adiós«, schluchzte sie leise. »Vielleicht wirst du eines Tages weinen bei dem Gedanken, daß es in deiner Macht gelegen hätte, mich zu retten …«

Sehr zart legte Caragòl seinen Arm um ihre Hüfte, und Freya, die Tònis Hände empört zurückgestoßen hatte, ließ sich willig von dem dickbäuchigen Koch hinausführen.

»Nicht weinen, gute Dame! Glauben Sie an Gott, er spendet Trost für alles. Warum stellen Sie dem Kapitän nach, der zu Hause seine Frau hat? … Es gibt ja so viele freie Männer, mit denen Sie sich verständigen können, ohne eine Todsünde zu begehen.«

Ein barmherziger Gedanke wurde in ihm wach. Hatte er nicht ein Mittel gegen den Schmerz dieser schönen Frau?

»Kommen Sie mit mir, Señora … haben Sie Vertrauen zum Onkel Caragòl!«

Behutsam führte er sie in seine Küche. Und Freya setzte sich, ohne zu wissen, wo sie sich befand.

»Trinken Sie dies, meine Tochter!« bot er ihr ein Glas mit einer seiner berühmten Mischungen an. »Trinken Sie ohne Bedenken! Dieser Medizin widersteht kein Kummer!«

Freya trank und trank. Das starke Gebräu ließ sie das Gesicht verziehen, aber allmählich versiegten ihre Tränen. Aus ihrem Magen stieg eine sanfte Wärme auf; die Wangen bekamen neue Farbe.

»Sehen Sie, Señora, wie gut das tut. Ich werde Ihnen das Rezept aufschreiben.«

Doch während er noch nach einem Stück Papier suchte, sprang Freya plötzlich auf und sah sich befremdet um. Weshalb war sie hier? Was hatte sie mit diesem dicken, halbnackten Mann zu schaffen, der zu ihr sprach, als wäre er ihr Vater?

»Vielen Dank!« sagte sie hastig und ging hinaus. Draußen entnahm sie ihrer goldenen Tasche einen Spiegel und die Puderdose. Als sie mit der Quaste über ihr Gesicht fuhr, bemerkte sie in dem kleinen Oval des geschliffenen Glases Tòni, der ungeduldig wartend hinter ihr stand.

»Bestellen Sie dem Kapitän Ferragut, daß ich ihn nicht wieder belästigen werde«, begann sie hochmütig. »Vielleicht wird er eines Tages von mir sprechen hören, aber sehen wird er mich nicht mehr.«

Und ohne den Kopf zu wenden, verließ sie raschen Schritts das Schiff.

Die nächsten Tage setzte der Kapitän keinen Fuß an Land. Er wollte nicht die Gefahr einer abermaligen Begegnung heraufbeschwören, denn im geheimen fürchtete er, ihren Tränen schließlich doch nicht widerstehen zu können.

Eine Woche später steuerte die Nereide nach Korfu, mit einer Ladung Granaten für die sich dort sammelnden Serben.

Auf der Rückkehr von dieser kurzen Fahrt wurde sie angegriffen. Als Ferragut seinen ersten Offizier eines Morgens ablöste, sahen beide zu gleicher Zeit das, was zu allen Stunden in ihren Vorstellungen spukte. Ihr Glas zeigte ihnen, noch weit entfernt, das Ende eines schwarzen, aufrechten Pfahls, der die von der Morgensonne rosig gefärbten Wogen durchschnitt und einen weißen Schaumstreifen hinter sich ließ.

»Unterseeboot!« rief der Kapitän.

Tòni sagte nichts, stieß aber den Mann am Steuer beiseite und änderte, in die Speichen greifend, brüsk den Kurs – rechtzeitig, denn Sekunden später sauste in rasender Karriere ein dunkler Rücken auf den Dampfer zu.

»Torpedo!«

Die angstvolle Erwartung dauerte nur einen Augenblick. Das Projektil fuhr in sechs Meter Abstand am Heck vorbei und verlor sich in der Unendlichkeit. »Ganze Kraft!« befahl der Kapitän durch das Sprachrohr, um sein Glas dann wieder auf das Periskop des Unterseebootes zu richten. Dieses Rohr wuchs und wuchs, wurde zu einem Turm, unter dem eine stählerne, gischtübersprühte Plattform auftauchte, und endlich konnte man ein langes, scharfgeschnittenes Boot unterscheiden.

An seinem Heck ging eine Flagge hoch: die deutsche Kriegsflagge.

»Geradeaus!« rief der Kapitän seinem Offizier zu. »Das Zickzackfahren ist jetzt nutzlos. Sie werden uns aus ihren Geschützen beschießen.«

Tòni gehorchte. Stärker rauschte das Wasser am Bug, und das ganze Schiff bebte unter den Stößen der mächtig arbeitenden Maschinen.

Eine Wassersäule sprang nahe am Bug auf … noch eine … und noch eine. Dann durchlief die Nereide ein langer Schauer: die vierte Granate war mitschiffs eingeschlagen.

»Ruhig Blut, Tòni! Solange sie nicht den Maschinenraum treffen, macht es nichts aus.«

Auch die nächste Granate schlug ein, diesmal am Heck. Aber der Dampfer gewann sichtlich Distanz, denn die beiden nächsten Schüsse fielen schon in sein Kielwasser.

Das Feuer wurde eingestellt, und langsam verschwand das Unterseeboot aus dem Gesichtsfeld von Ferraguts Glas.

»Das passiert mir nicht wieder«, grollte er. »Ein zweites Mal lasse ich mich nicht unbewaffnet angreifen!«

Zwei Wochen lagen sie in Marseille. Der Kapitän wohnte während dieser Zeit im Hotel, doch kam er verschiedentlich mit einigen Herren an Bord, die das Schiff einer peinlich genauen Besichtigung unterzogen.

»Er scheint es verkaufen zu wollen …«, grübelte Tòni.

Nur die allernotwendigsten Reparaturen waren ausgeführt, als Ferragut den Dampfer schon klarmachen ließ.

»Wir gehen nach Brest«, erklärte er kurz. »Es ist unsere letzte Fahrt.« Und die Nereide dampfte ohne Ladung ab, als hätte sie irgendeine Spezialmission zu erfüllen.

Die letzte Fahrt! … Tòni sah sein Schiff mit anderen Augen als bisher. Immer neue Schönheiten entdeckte er und beklagte wie ein Verliebter die schnelle Flucht der Tage, die den schmerzlichen Abschied näher und näher brachte.

Niemals hatte der erste Offizier derartige Wachsamkeit bekundet. Abergläubisch wie die meisten Seeleute, fürchtete er, daß sie noch zu guter Letzt ein Unglück treffen möchte. Tag und Nacht stand er auf der Brücke, um erleichtert aufzuatmen, als er durch eine der drei Passagen des Klippengürtels fuhr, der die Reede von Brest halbkreisförmig abschließt.

Unterwegs hatte der Kapitän, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nichts über seine Absichten verlauten lassen, so daß Tòni hinsichtlich des Schicksals der Nereide völlig im Dunkeln tappte. Wer würde der neue Herr des Schiffes sein? …

Es regnete. Schwarz glitzerte das Meer, dessen kurze, dicke, schaumgekrönte Wogen wie eine springende Hammelherde auf und nieder tanzten. Die Panzerkreuzer schickten sich an, diesem schlechten Wetter die Stirn zu bieten – aus ihren dreifachen Schornsteinen quoll dichter Rauch. Höher ging die See, und unruhig tanzte die Nereide an ihrem Anker.

Nachmittags kam Ferragut aus der Stadt zurück und ließ Tòni rufen. Als dieser den Salon betrat, erkannte er am Gesicht seines Kapitäns, daß die Entscheidung gefallen war.

»Ich habe den Dampfer an die Franzosen verkauft«, begann Ulysses, »die mir ohne jedes Feilschen den verlangten Preis bewilligten: fünfzehnhundert Francs pro Tonne, also rund vier und eine halbe Million für das Schiff.« Und im Gedanken an die zwei Millionen, die ihm seine Fahrten seit Kriegsausbruch eingebracht hatten, schloß er: »Tòni, ich ersticke förmlich im Geld!«

Er sagte es traurig. Wozu dieser ganze Reichtum? … Seine Frau würde mit vollen Händen für wohltätige Zwecke spenden und ihren Nichten eine stattliche Mitgift geben können. Aber sonst? … Der Tote blieb tot.

Um sich selbst und Tòni über die Schwere des Abschieds hinwegzuhelfen, sprach er weiter im Kommandoton:

»Morgen übernehmen die Franzosen das Schiff. Du kannst natürlich gehen, wann du willst, aber je eher, desto besser!«

Dann fuhr er mit dem Finger über die Landkarte, die ausgebreitet auf dem Tisch lag, um Tòni wegen seiner Heimreise zu instruieren. Denn dieser Seebär kroch zaghaft zusammen, sobald es sich um Eisenbahnfahrpläne und Zugwechsel handelte.

»Da ist Brest … Dieser Strecke folgst du bis Bordeaux; von Bordeaux fährst du hier entlang bis zur Grenze, und von da über Barcelona oder über Madrid nach Valencia.«

Schweigend hatte der Steuermann den Weg auf der Karte verfolgt. Jetzt blickte er auf und heftete seine treuen Hundeaugen auf Ferragut.

»Und du?«

»Ich bleibe. Der Kapitän der Nereide hat sich mit seinem Schiff verkauft. Ich werde ein Geschütz erhalten, eine Station für drahtlose Telegraphie und eine Mannschaft von der Kriegsmarine.«

»Und darf ich nicht auch bleiben?« fragte Tòni mit einer Stimme, die seine starke Bewegung verriet.

»Nein! Hinter dir steht eine Familie, die dich braucht. Du hast auch niemanden zu rächen. Und nun meine letzten Befehle: rufe morgen früh unsere Leute zusammen und zahle jedem eine volle Jahresheuer aus. Sie sollen gern an den Kapitän Ferragut zurückdenken. Was dich betrifft …«

Er holte ein geschlossenes Kuvert aus der Tasche.

»Nimm! Es enthält die Zukunft deiner Kinder.«

Verwirrt drehte Tòni das leichte Kuvert in seinen Händen und wollte es öffnen.

»Jetzt nicht!« befahl Ferragut. »Erst wenn du in Spanien bist, gehst du damit zur Bank.«

Haus und Hof der Vorfahren stiegen vor seinem Auge auf, die Weingärten, das ganze Erbe vom Triton, das er für den Ankauf der Nereide veräußert hatte.

»Kauf den alten Besitz zurück, Tòni. Der Gedanke, dich und die Deinigen dort zu wissen, würde mir große Freude machen. Vielleicht werde ich, wenn ich mal alt bin, den Sommer dort unten bei euch verleben. Wer weiß, ob ich nicht noch einmal mit dir, wie früher mit meinem Onkel, auf den Fischfang fahre!«

Doch diese optimistischen Aussichten verfehlten ihre Wirkung bei Tòni. Die Augen voll Tränen, verfluchte er den Unglückstag. Scheiden, plötzlich voneinander scheiden, nachdem sie so viele Jahre wie Brüder alles gemeinsam ertragen hatten!

»Geh jetzt, Tòni, um die Abrechnung der Mannschaft in Ordnung zu bringen«, mahnte der Kapitän, der fühlte, wie er weich wurde.

Aber schon eine Stunde später kam sein Erster, einen Scheck in der Hand, zurück.

»Das kann ich nicht annehmen, Ulysses! Zweihundertfünfzigtausend Pesetas … ein Wahnsinn! Womit hätte ich das verdient?«

»Ich wußte, daß du Umstände machen würdest, du Querkopf. Befahl ich dir nicht, den Brief erst in Spanien zu öffnen?« Ferragut tat sehr ärgerlich. Und noch einmal wiederholte er, um Tònis Skrupeln zu besiegen, seine Klage gegen das Schicksal: »Ich habe doch keinen Erben mehr. Was soll ich mit all meinem Geld anfangen?«

Am nächsten Morgen klopfte Onkel Caragòl an die Tür des Salons und bat, den Kapitän sprechen zu dürfen.

Mehr wegen des Dekorums als wegen der eisigen Winde von Brest, hatte er über seine spärliche Kleidung eine Pelerine geworfen, und seinen ewigen Sombrero aus Palmstroh von dem kurzgeschorenen Kopf ziehend, begann er:

»Ich möchte gern wissen, was dieser Befehl, in zwei Stunden das Schiff zu verlassen, bedeutet.«

Ferragut legte die Feder aus der Hand.

»Onkel Caragòl«, sagte er, indem er sich dem Koch zuwandte, »wir sind alt und reif geworden für den Ruhestand. Ich werde dir ein Papierchen geben. Verwahre es wie ein geweihtes Skapulier, und wenn du es in Valencia vorzeigst, erhältst du dafür fünfzigtausend Pesetas. Mit dem Geld kaufst du dir ein Restaurant, das dank deiner wunderbaren Reisgerichte schnell berühmt sein wird. Oder wenn dir das nicht behagt, beteilige dich an der Schleppnetzfischerei. Denk, wie schön dein Leben sein wird: kannst aufstehen, wann du willst; gehst alle Tage ins Café und bekommst einen Ehrenposten bei allen Prozessionen …«

Es war das erstemal, daß Onkel Caragòl eine Ausführung Ferraguts nicht mit einem respektvollen »Richtig, Herr Kapitän« quittierte. Energisch schüttelte er den Kopf:

»Nein, Herr Kapitän! Was soll ich an Land? Wer wartet auf mich? Die anderen mögen gehen – alle! Aber ich bleibe. Erst wenn der Kapitän geht, geht auch der Onkel Caragòl.«

Vergeblich erzählte ihm Ferragut, daß die Nereide in Zukunft nicht mehr vor dem Feinde fliehen würde. »Wir fahren bewaffnet und werden den Kampf aufnehmen, wenn man uns angreift.«

Caragòl dachte an seine wundertätigen Heiligenbilder, an seine vielen Amuletts.

»Was schadet das? Der Nereide passiert kein Unglück«, sagte er zuversichtlich. Jetzt brachte Ferragut sein letztes Argument vor: »Aber wie willst du dich mit den Franzosen verständigen?«

»Ha!« meinte der Alte stolz. »Ich habe mich in allen Häfen der Welt mit den Menschen verständigt. Dann gebrauche ich eben außer der Zunge auch noch die Augen und die Hände. Ich bin wie unser großer Heiliger Vicente Ferrer. Der hat nur valencianischen Dialekt gesprochen und trotzdem die Sünder in halb Europa bekehrt.«

Und schließlich gab der Kapitän nach. Mochte also mit dem Alten ein Stückchen der Vergangenheit an Bord bleiben!

Im Laufe der Woche erschien die neue Besatzung. Zuerst meldeten sich zwei Offiziere in Uniform, die sie gleich hinterher mit Zivilkleidung vertauschten. Ihnen folgten fünfundvierzig Matrosen – Reservisten in der Bluse mit dem blauen Kragen und der Mütze mit der roten Quaste. Auch sie legten noch am selben Tage dieses Kriegskleid ab, um aus ihren Segeltuchsäcken das alte Seemannszeug hervorzuholen, das sie im Frieden auf Frachtdampfern, Seglern oder Fischerbarken getragen hatten.

Onkel Caragòl behielt recht. Zu gewissen Stunden war die Küche gedrängt voll von Männern, die ihm zuhörten. Einige verstanden sogar etwas Spanisch, das sie ihren Fahrten nach den Häfen Argentiniens, Chiles und Perus verdankten. Aber auch die anderen freuten sich über den amüsanten Koch, und diese Freude wurde noch belebt durch die flüssigen Schätze, über die Caragòl dank der Großzügigkeit des Kapitäns verfügen konnte.

»Habt ihr schon Ähnliches getrunken?« fragte der Alte stolz. »Ja, was wäre aus euch ohne Onkel Caragòl geworden!«

Einen der Matrosen schloß der Dicke bald ganz besonders in sein Herz. Voller Sehnsucht nach seiner Heimat, kam dieser junge Matrose eines Tages auf die Schönheit Morbihans zu sprechen, den waldumrauschten See mit seinen Fichteninseln und die alte gotische Kathedrale von Vannes, in der sich die Gruft des spanischen Heiligen Vicente Ferrer befindet.

Caragòls Herz flog. Nie hatte er sich darum bekümmert, wo der berühmte valencianische Apostel bestattet war. Also in Vannes, in der Bretagne! Welch heiliges Land mußte das sein, wenn der wundertätige Heilige dort von seiner Pilgerfahrt erlöst wurde … Und fortan ging der junge Bretagner niemals an der Küche vorüber, ohne daß ihm die erfreuliche Einladung entgegenklang:

»Eine Erfrischung gefällig?«

Die Nereide lag jetzt im Kriegshafen, diesem engen Meeresarm, der sich in das Innere der Stadt hineinwindet und sie in zwei Hälften teilt. Eine gewaltige Drehbrücke verband die beiden Ufer, an denen sich Marinewerkstätten, Arsenale, Trockendocks und Depots drängten. Ohne Unterlaß wühlten Hochseeschlepper das grüne, schlammige Wasser auf, langsam zogen schwerbeladene Kohlenschuten ihren Weg, und vom Morgen bis zum Abend dröhnten die Hammerschläge auf havarierten Schiffen. Dann und wann flitzte unter der Drehbrücke auch die flinke Jolle eines Kriegsschiffs durch, dessen dienstfreie Mannschaft den Sprung an Land johlend begrüßte.

Das Geschütz war montiert, die drahtlose Station funktionierte. Und an einem trüben, regnerischen Morgen, dessen dichter Nebel die Fahrt durch den Klippengürtel noch schwieriger machte, verließ die Nereide die Reede von Brest, passierte die düstere »Bai der Verschiedenen«, den Friedhof der Segelschiffe, und nahm Kurs nach Süden.

Befriedigt betrachtete der Kapitän von der Brücke herab sein verändertes Schiff. Er hatte nicht mehr das Gefühl, ein Sklave des Zufalls zu sein. Apparate, die knisternd mit unsichtbaren Freunden Zwiesprache pflogen, wachten für ihn, und hinten am Heck stand unter seiner Wachstuchhaube das Geschütz.

Fast sah er die Träume seiner Kindheit, als er noch Geschichten von Korsaren und kühnen Seehelden verschlungen hatte, verwirklicht. Durfte er sich jetzt nicht mit Fug und Recht »Capitan de Mar y Guerra« nennen? Seine Abenteurerlust fieberte nach einer Begegnung mit dem Feind. Ein Seegefecht, das war es, was noch in seinem Leben fehlte …

Aber dieser Wunsch des Kapitäns Ulysses Ferragut sollte noch nicht in Erfüllung gehen.

Zwei weitere Fahrten nach Saloniki verliefen glatt. Die verschiedenen Marconistationen gaben dem Dampfer wertvolle Winke: Gibraltar riet, dicht an der afrikanischen Küste entlangzufahren, Malta und Bizerta kündigten an, daß sich zwischen Tunis und Sizilien kein Feind befände, und das ferne Ägypten sandte beruhigende Meldungen, als sie schon zwischen den griechischen Inseln dampften.

Nach Marseille zurückgekehrt, beschloß Ferragut am ersten Nachmittag, sein Stammcafé an der Cannebière wieder einmal aufzusuchen.

In dem überfüllten Lokal nahm er am Tisch eines Bekannten Platz, der, über dieses Wiedersehen freudig überrascht, seine Zeitung sofort beiseitelegte. Es war eine Pariser Zeitung, und zufällig streifte Ulysses' Blick die fettgedruckte Überschrift eines kurzen Artikels. Herrgott, war das möglich? … Wieder entzifferte er den Namen. Kein Zweifel, dort stand klar und deutlich: Freya Talberg.

Ferragut mühte sich, seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben.

»Wer ist das?« fragte er seinen Freund, auf den Artikel weisend.

»Eine Spionin. Sie ist zum Tode verurteilt worden, und die Zeitung protestiert, daß das Urteil noch nicht vollstreckt ist. Traurig, eine Frau zu füsilieren, aber … c'est la guerre!«


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