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Die Künste der Circe

Ein Geräusch von Schritten, das die Rückkehr des Wärters ankündigte, trennte ihre Gesichter und löste ihre Arme. Freya faßte sich zuerst. Nur auf dem Grunde ihrer Augen glimmte noch ein letztes Flackern des eben erlöschenden Feuers.

»Adieu … Ich werde erwartet.«

Hastig verließ sie das Aquarium, gefolgt von Ferragut, der sie mit Bitten und Fragen vergeblich bestürmte.

»Bis hierher, weiter nicht!« sagte sie am Eingang einer der Straßen von Chiaia. »Wir werden uns wiedersehen. Ich verspreche es, ernsthaft … Jetzt aber lassen Sie mich!«

Und sie verschwand, das Gesicht so klar und ruhig, als wäre in ihr auch nicht die kleinste Erinnerung an ihre leidenschaftliche Aufwallung zurückgeblieben.

Dieses Mal hielt sie ihr Versprechen. Ferragut sah sie jeden Tag. Vormittags trafen sie sich in der Nähe des Hotels, und bisweilen betrat sie auch den Speisesaal des Albergo, immer mit einem liebenswürdigen Lächeln für Ferragut, der zu seinem Verdruß weit entfernt von ihr saß. Nachmittags gingen sie spazieren, plauderten, und Freya lachte gutmütig über die zärtlichen Worte und Liebesschwüre des Kapitäns … und das war alles.

Dank der Geschicklichkeit, mit der Frauen es verstehen, die Männer auszuforschen, ihre eigenen Geheimnisse aber für sich zu behalten, lernte sie allmählich alle Einzelheiten aus Ferraguts Leben kennen. Sobald dieser jedoch aus einem natürlichen Gefühl der Gegenseitigkeit heraus das Gespräch auf Java lenkte, auf die mysteriösen Tänze vor Sivas Statue oder die Forschungen in den Anden, meinte sie zerstreut: »Ah! … Ganz recht!«, um dann sofort von etwas anderem zu sprechen. Manchmal war Ulysses so weit, sich zu fragen, ob nicht ein Traum ihm die Szene im Aquarium vorgegaukelt hätte.

Eines Tages sah der Kapitän endlich einen seiner Wünsche verwirklicht. Obwohl Freya ihm versicherte, daß sie ihre Zeit außerhalb des Hotels nur im Hause der Frau Doktor zubrächte, war er eifersüchtig auf diese unbekannten Freunde, mit denen sie meistens ihre Mahlzeiten einnahm.

»Lassen Sie uns doch Ausflüge in die schöne Umgebung Neapels machen«, drängte er, »und bei der Gelegenheit in einer dieser lustigen Trattorias frühstücken.«

Am nächsten Morgen führte sie die Drahtseilbahn des Monte Vomero zu den Höhen, die vom Sant-Elmo-Kastell und der Sankt-Martins-Kartause gekrönt werden. Nachdem sie im Museum der Abtei die Kunstschätze aus der Zeit der Bourbonenherrschaft und der Regierung Murats bewundert hatten, suchten sie ein in der Nähe liegendes Restaurant auf. Die Tische standen auf einer luftigen Terrasse, von der der Blick über das unvergeßliche Bild des Golfs bis zum Vesuv und den Bergketten schweifte, die sich als unbewegliche Wellen von dunklem Rot am Horizont türmten.

Ein riesiges Hufeisen, lag Neapel am bogigen Saum des Meeres und warf aus seiner schimmernden, weißen Masse die Häuserblöcke der Vorstädte wie Schaumkronen empor.

Ein Austernhändler, braun, mager, mit glühenden schwarzen Augen und einem enormen Schnurrbart, bot neben der Tür der Trattoria Muscheln feil, deren intensiver Geruch kundtat, daß sie Tage gebraucht hatten, um auf die Höhen des Vomero zu gelangen. Die typische Schönheit des Händlers und die feurigen Blicke, mit denen er alle Damen, die das Restaurant betraten, gewohnheitsmäßig auszeichnete, entlockten Freya ein Lächeln. Der richtige Fund für fremde, nach Lokalkolorit dürstende Reisende!

Hinter der Veranda saß ein kleines Orchester, das abwechselnd allein spielte oder einen Tenor begleitete, wobei es in echt neapolitanischer Übertreibung die Melodien schmachtend in die Länge zog und durch eigenes Beiwerk verbrämte.

Trunken von der Höhenluft, bewunderte Freya mit kindlicher Freude das leuchtende Panorama, das die blumengefüllte Kristallvase auf ihrem Tisch entzweischnitt.

Sie speisten mit dem Appetit, den der Frohsinn verleiht. Einige Tische weiter aber vergaß ein junges Paar die vollen Schüsseln, um sich unter dem Tischtuch die Hände zu drücken und Knie an Knie zu pressen; lächelnd schauten die beiden auf die Landschaft, schauten einander lächelnd in die Augen. Vielleicht ein junges Ehepaar, vielleicht flüchtige Liebende, die in ihren Träumen wohl schon oft hier geweilt haben mochten.

Auch zwei bereits ergraute Ärzte eines englischen Lazarettschiffes vernachlässigten ihr Frühstück und skizzierten mit skrupulöser Exaktheit dasselbe Panorama, das die Postkarten des Restaurants wiedergaben.

Die dickbäuchige, langhalsige Flasche im Strohgehäuse lockte Freyas Hände. Sie amüsierte sich über die Mäßigkeit Ferraguts, der das rötliche Schwarz des italienischen Weins mit Wasser mischte.

»So müssen Ihre Vorfahren, die Argonauten, getrunken haben«, neckte sie ihn. »So trank unzweifelhaft Ihr Ahne Ulysses.«

Und indem sie mit übertriebener Genauigkeit des Kapitäns Glas mit Wein und Wasser füllte, rief sie fröhlich:

»Den Göttern ein Trankopfer!«

Diese heiligen Trankopfer häuften sich, und Ulysses durchrieselte ein warmes Wohlsein, ein Gefühl von Ruhe und Vertrauen, als stände es ganz außer Frage, daß ihm diese Frau schon gehörte.

Die Stimme der jungen Witwe führte ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Ulysses, heute haben Sie mir noch gar nicht gesagt, daß Sie mich lieben!«

Und wieder einmal brachte er trotz ihres ironischen Tons all seine Versprechungen, all seine Wünsche vor. Der Wein gab seinen Worten ein Beben der Erregung; das Seufzen des Orchesters stimmte ihn sentimental … Als wäre sie das Echo dieser Empfindungen, schmetterte die Stimme des Tenors eine schwermütige Romanze aus dem »Fest von Piedigrotta«, einen Sang an den Tod – diese letzte Zuflucht hoffnungslos Liebender.

»Alles Lüge!« lachte Freya. »Was für Komödianten sind doch diese Südländer, wenn es sich um Liebe handelt!«

Ungewiß, ob ihre Worte sich auf ihn oder den Sänger bezogen, sah Ulysses auf.

»Liebe … Liebe«, fuhr sie fort, »in diesen Ländern spricht man von nichts anderem. Beinahe ist es eine Industrie, etwas für die gläubigen und einfachen Menschen des Nordens sorgfältig Vorbereitetes. Alles repräsentiert die Liebe: dieser schreiende Sänger, Sie … bis zum Austernhändler.«

Dann wurde sie boshaft:

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie einen Rivalen haben. Geben Sie acht, Ferragut!«

Sie wandte den Kopf, um nach dem Austernhändler zu schauen. Er war in die Betrachtung einer korpulenten älteren, schmucküberladenen Dame versunken, die ihrem Gatten gegenübersaß und scheinbar gar keine Erklärung fand für das mörderische Liebäugeln des Händlers. Zwischendurch strich er über seinen Schnurrbart, zupfte seinen Anzug aus englischem Stoff glatt und schnippte ein paar Staubkörnchen ab. Ein hübscher, als sittsamer Kaufmann verkleideter Pirat! Als er Freyas Interesse bemerkte, wechselte er die Richtung seiner Blicke und antwortete, sich in den Hüften wiegend, ihren prüfenden Augen mit dem Lächeln eines bösen Engels, das von seiner Verschwiegenheit sprach und seiner Geschicklichkeit, sich hinter dem Rücken von Gatten und Begleitern zu verständigen.

»Aha!« kicherte Freya. »Was sagte ich? Ein neuer Verehrer …«

Ferragut hätte den braunen Verführer, den die skandalöse Offenkundigkeit, mit der diese Dame seine Annäherungsversuche aufnahm, sichtlich in Verwirrung brachte, am liebsten durch ein paar saftige Ohrfeigen auf seinen Muscheln ausruhen lassen.

»Seien Sie nicht lächerlich«, mahnte sie. »Dieser arme Kerl! Wahrscheinlich hat er eine Reihe von Kindern … Ein Familienvater, der gern mit etwas Geld heimkehren möchte.«

Doch Ulysses, verletzt durch die Leichtfertigkeit seiner Begleiterin, blieb stumm.

»Nicht böse sein!« begann Freya von neuem. »Lächeln Sie ein wenig, mein lieber Hai … Die Trankopfer haben schuld. Sind Sie beleidigt, weil ich Sie mit diesem Typ verglichen habe? … Aber Sie sind doch der einzige Mann, den ich ein wenig schätze! Ulysses, ich spreche ernsthaft, mit der ganzen Offenheit, die der Wein verleiht. Ich dürfte Ihnen das nicht sagen, trotzdem … Wenn ich überhaupt einen Mann lieben könnte, wären Sie dieser Mann.«

Sofort vergaß Ferragut seinen Ärger.

Eine weiche Musik, leicht wie das Klingen eines dünnen Kristallkelches, schwebte jetzt über die Terrasse. Freya folgte mit Kopfbewegungen dem Rhythmus der süßlichen Weise: Tosellis Serenade – ein Lamento der Passion, das die Frauenseelen in der Halle der großen Hotels betört! Und sie, die sonst über diese gekünstelte Musik gelacht hatte, fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

»Niemanden liebhaben können! … Allein durch die Welt schweifen!«

Da sie erriet, daß Ferragut seine Beteuerungen vorbringen wollte, hieß sie ihn durch eine Geste schweigen.

»Nein, Ulysses, Sie kennen mich nicht, wissen nicht, wer ich bin … Halten Sie sich fern von mir. Ich hasse die Männer, und es bekümmert mich nicht im geringsten, ihnen Böses anzutun. Vor kurzem waren Sie mir noch gleichgültig, aber jetzt flößen Sie mir ein gewisses Interesse ein, denn ich halte Sie für gut und aufrichtig, trotz Ihrer arroganten Äußerlichkeiten. Gehen Sie, suchen Sie mich nicht mehr! … Diese Bitte ist der beste Beweis von Zuneigung, den ich Ihnen geben kann.«

Sie sprach heftig, als sähe sie Ferragut einer Gefahr entgegeneilen, vor der ihr Ruf ihn retten könnte.

»Beim Theater«, fuhr sie fort, »gibt es die Rolle der verhängnisvollen Frau, und gewisse Künstlerinnen können keine andere spielen; sie sind dazu geboren, sie zu verkörpern … Ich bin solch eine verhängnisvolle Frau, aber in der Wirklichkeit. Ah, wenn Sie mein Leben kennten! … Doch besser nicht – ich selbst will nichts davon wissen. Glücklich bin ich nur, wenn ich mich an nichts erinnere … Ferragut, mein Freund, sagen Sie mir Lebewohl, und meiden Sie meinen Weg!«

»Sie meiden, die ich so liebe?« begehrte Ferragut auf, als hätte sie ihm eine feige Handlung vorgeschlagen. »Wenn Sie Feinde haben, werde ich Sie verteidigen. Wenn Sie Luxus wünschen – Millionär bin ich zwar nicht, aber …«

»Kapitän«, unterbrach Freya, »bleiben Sie bei den Ihrigen. Denken Sie an Ihre Frau, an Ihren Sohn! Ich bin keine Eroberung, um einige Wochen auszufüllen. Und niemand berührt mich ungestraft. Ich habe Saugköpfe wie die Tiere, die wir neulich sahen … steche wie die durchsichtigen Medusen im Aquarium. Fliehen Sie, Ferragut! Lassen Sie mich allein … allein!«

Und das Bild einer ungeheuren Leere als einzigen Zukunft ließ ihre verhaltenen Tränen endlich fließen.

Die Kapelle spielte nicht mehr. Regungslos, scheinbar in die Ferne blickend, lauschte ein Kellner ihrer Unterhaltung. Auch die beiden Engländer hatten ihre Malerei unterbrochen, um diesen Gentleman streng zu mustern, der eine Frau zum Weinen brachte.

Der Kapitän fühlte die nervöse Unruhe einer lächerlichen Situation.

»Lassen Sie uns gehen, Ferragut!«

Während Ulysses Kellner und Musiker zahlte, holte Freya aus ihrer goldenen Tasche Spiegelchen und Puderquaste hervor, um die Spuren der Tränen zu verwischen.

Langsam gingen sie durch einsame Straßen, zwischen Gartenmauern mit dem Gelb der Sonne auf der einen, dem Blau des Schattens auf der anderen Seite.

Freya war es, die Ulysses' Arm suchte, auf den sie sich mit vertraulicher Hingabe stützte: gleich nach den ersten Minuten schien die Ermüdung sie zu übermannen.

»Armes, tolles Köpfchen!« murmelte Ferragut und zog ihr Gesicht zu sich empor.

Er küßte sie, ohne daß sie Widerstand geleistet hätte. Auch sie küßte ihn, aber es war ein trauriger Kuß, ganz zart, der in nichts an die wilde Liebkosung im Aquarium erinnerte. Und ihre Stimme – eine Stimme wie aus weiter Ferne – wiederholte, was sie ihm in der Trattoria geraten hatte:

»Gehen Sie, Ulysses! Ich sage es zu Ihrem Besten. Es würde mir leid tun, wenn Sie einmal den Augenblick verfluchen sollten, in dem Sie mich kennenlernten.«

Doch Ferragut beantwortete ihre Einwände mit neuen Küssen. Willenlos, fast schlafwandelnd, hing sie an seinem Arm.

In des Kapitäns Hirn sang eine Stimme mit diabolischer Genugtuung: »Du hast sie soweit! Du hast sie soweit.« Und seines Triumphes sicher, führte er Freya weiter durch die stillen Straßen.

Vor dem Bahnhof der Seilbahn trat ein alter, respektabler Mann mit einer Stahlbrille auf sie zu. Er gab ihnen die Karte seines Hotels, wobei er nicht unterließ, die Vorzüge seiner Zimmer zu betonen: »Jeder moderne Komfort! Heißes Wasser …«

»Willst du? … Willst du?« Zum ersten Male duzte Ferragut seine Begleiterin.

Sie wachte auf, ließ brüsk seinen Arm fahren.

»Keine Torheit, Ulysses. Das wird nie sein … nie!«

Im selben Moment hatte sie ihre Haltung wiedergewonnen, und ohne sich darum zu kümmern, ob er ihr folgte oder nicht, betrat sie den Bahnhof.

Während der Fahrt zur Stadt fiel Freya, deren Entrüstung über seine Zumutung verraucht zu sein schien, in ihren alten ironischen Ton zurück, dem der Kapitän unter dem Gewicht seiner Niederlage eine grimmige Einsilbigkeit entgegensetzte.

Im Chiaia-Viertel trennten sie sich. Als Ferragut sich allein sah, fühlte er noch stärker die Wirkung des schweren italienischen Weins. Für einen Augenblick durchzuckte ihn der häßliche Wunsch, auf sein Schiff zu gehen: er mußte mit irgend jemandem streiten. Doch die Schwäche seiner Beine trieb ihn zum Hotel, wo er sich wie ein Sack auf sein Bett fallen ließ, zufrieden, daß er, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, sein Zimmer in korrekter Haltung erreicht hatte.

Sofort schlief er ein. Aber kaum war die Nacht auf seine Augen gefallen, so öffneten sie sich wieder – wenigstens glaubte er es –, um alles in einem Licht zu sehen, das nicht von der Sonne kam.

Jemand betrat sein Zimmer und näherte sich auf den Zehenspitzen seinem Bett. Ulysses, der sich nicht zu rühren vermochte, sah eine Frau, und diese Frau glich Freya. War sie es wirklich? …

Dasselbe Antlitz, das blonde Haar, die schwarzen, orientalischen Augen, dasselbe Oval des Gesichts. Es war Freya, und sie war es nicht – genau wie zwei in derselben physischen Form gegossene Zwillinge sich stets durch ein undefinierbares Etwas unterscheiden.

Ein schwerfälliger Vorgang, der seit langem in dumpfem Bemühen Ferraguts Unterbewußtsein minierte, kam plötzlich zur Explosion. Immer, wenn er die junge Witwe sah, regte sich diese unklare Empfindung, daß er sie längst vor ihrer transatlantischen Reise gekannt habe, und jetzt, unter diesem phantastisch schimmernden Licht, klärten sich die vagen Gedanken.

Der Schlafende sah Freya in einem mit goldenen Filigranknöpfen besetzten Leibchen und blumengestickten Rock, der nur bis zum Knie fiel; Brust und Ohren schmückte roh gearbeitetes Geschmeide. Es war die Tracht einer Bäuerin aus vergangenen Jahrhunderten, die er auf einem Gemälde gesehen hatte. Wo nur? … Wo? …

»Doña Constanza!«

Eine täuschende Ähnlichkeit bestand zwischen Freya und der Basileia von Byzanz. Vielleicht – in diesem Moment hielt Ulysses alles für möglich – war sie es selbst, die sich durch wunderbare Inkarnation verewigte.

Außerdem kümmerte ihn die Rationalität der Dinge wenig; wichtig war nur, daß sie existierten. Und Freya befand sich an seiner Seite. Freya und die andere, verschmolzen zu einer einzigen Frau in der Kleidung der griechischen Herrscherin des Votivbildes.

Nochmals wiederholte er den süßen Namen, der seine Kindheit mit romantischem Glanz verklärt hatte.

»Doña Constanza! Oh, Doña Constanza!«

Damit versank er endgültig in die Nacht, ohne eine weitere Vision, und glaubte, wie einst als Kind, in den Armen der jungen Witwe Vatatzes' des Häretikers zu ruhen.

In Freya schien der Ausflug nach den Höhen von San Martino keine Verstimmung zurückgelassen zu haben.

»Wie lächerlich müssen Ihnen meine sentimentalen Tränen vorgekommen sein! … Und Sie? Sie waren noch kecker als gewöhnlich! Das nächste Mal werden wir weniger trinken, mein Freund.«

Dieses nächste Mal bezog sich auf eine Einladung, die Ferragut täglich wiederholte. Er bat, ihr von Posillipo aus den Golf beim Sonnenuntergang zeigen zu dürfen.

Einige Tage später trafen sie sich in der Nähe des Hotels. Ferragut warf einen Blick nach dem nahen Droschkenstand, und dieser eine Blick genügte, daß sogleich in geschlossener Reihe, wie bei den Rennen im antiken Zirkus, vier Wagen unter Hufgeklapper, Peitschenknallen und wütenden Gesten der Kutscher heranrasten. Die Madonna anrufend, ergingen sie sich in wilden Drohungen und hatten scheinbar nicht übel Lust, einer den anderen umzubringen. Doch als das Paar den nächsten Wagen bestieg, kehrten die drei anderen Rivalen gemächlich zur Haltestelle zurück, um ihre gemütliche Unterhaltung fortzusetzen.

Eine riesige, aufrechtstehende Feder balancierte auf dem Kopf des Pferdes, und der sehr zuvorkommende Kutscher, der es als seine Pflicht erachtete, den Fremden als Cicerone zu dienen, wies eifrig mit der Peitsche auf die Sehenswürdigkeiten der Gegend hin.

»Dort liegt Piedigrotta. Unserer Santa Maria di Piedigrotta verdankt Karl III. seinen Sieg über die Tedescos bei Velletri. Die Herrschaften müßten das Fest der Madonna im September sehen! Kaum einer, der nicht auf dem Heimweg torkelt … Wenn Sie wünschen, fahre ich auf dem Rückweg bei dem Kirchlein vor. Viele fremde Damen besuchen es, um dort Blumen auf das Grab des Conde Giacomo Leopardi niederzulegen, eines kleinen Buckligen, der Verse verfaßte.«

Das Schweigen, mit dem seine Worte aufgenommen wurden, veranlaßte ihn, sich nach seinen Fahrgästen umzudrehen. Der Herr hielt die Hand der Dame und sprach leise auf sie ein.

In edler Großmut verzichtete der Kutscher trotzdem nicht darauf, ihnen weiter die Schönheiten seines Kataloges herzuzählen.

»Jene Kirche Santa Maria del Parto heißt auch Sannazaro. Dieser Sannazaro war ebenfalls ein großer Dichter, dem Friedrich II. von Aragonien eine Villa mit schönem Garten schenkte, damit er in Muße arbeiten konnte. Andere Zeiten, meine Herrschaften! Seine Erben machten aus der Villa eine Kirche und …«

Seine Stimme brach ab. Ohne den gelehrten Erklärungen Aufmerksamkeit zu schenken, unterhielt sich das Paar in einer fremden Sprache. Dummköpfe aus dem Ausland! … Er hüllte sich in beleidigtes Schweigen, mußte aber seiner neapolitanischen Geschwätzigkeit dann und wann durch Schelten mit seinem Pferde Luft machen.

Der sich am Golf entlangziehende neue Weg nach Posilipo, der sein Entstehen König Murat verdankt, stieg langsam hügelaufwärts. Den ganzen zum Meere abfallenden Hang bedeckten weiße oder rosarote Villen inmitten einer ewig grünen Vegetation, und über den Säulen der Palmen und den Schirmen der Pinien erhob sich wie ein blauer Vorhang der Golf.

Ein riesiges Gebäude, mitten ins Meer gesetzt, kam in Sicht. Ein unvollendeter Palast mit dicken Mauern, steingemeißelten Bogenfenstern, jedoch ohne Dach. Durch Türen und Fenster schaukelten die Wogen sanft in das Erdgeschoß, dessen Salons den Fischerbarken als Zufluchtsstätte dienten.

Sicherlich sprachen die beiden Fremden von dieser Ruine, und der Kutscher vergaß gnädig seinen Groll, um ihnen zu helfen.

»Viele nennen jenes Gebäude den Palast der Königin Juana. Ein Irrtum, meine Herrschaften! Es ist der Palast von Donna Anna, Donna Anna Caraffa, einer großen neapolitanischen Dame, für die der spanische Vizekönig, der Herzog von Medina, ihn baute.«

Er wollte noch mehr sagen … Ah, nein! Bei der Madonna! … Schon wieder schwatzten sie, ohne sich um ihn zu kümmern. Und sein Schweigen wurde ein endgültiges.

Ferragut schaute versonnen auf das blaue Meer. Liebte nicht auch er wie dieser ernste Vizekönig eine Frau aus einem anderen Volk? Hatte nicht auch er den Wunsch, für seine Liebe etwas Besonderes zu tun?

»Ich habe einst bei Nietzsche das Wort gelesen: Suche deine Frau außerhalb deines Landes«, wandte er sich an Freya. »Es ist wohl auch das beste.«

Sie lächelte traurig.

»Wer weiß! … Das bedeutet, die Liebe in die Vorurteile des nationalen Antagonismus zu verstricken – heißt, Kinder mit doppeltem Vaterlande zu zeugen, die schließlich gar keins besitzen und wie Bettler ohne Heim durch die Welt irren … Davon könnte ich erzählen.«

Die ersten Trattorien von Posilipo tauchten auf: Die Klippe der Sirene; Partenopes Freude; Das Blumengewinde … Langsam kletterte das Pferd den steilen Hang bis zur Höhe, wo Ferragut halten ließ. Hier hatte er einmal die berühmte Fischsuppe gegessen, und hier gab es die besten Austern von Fusaro. Das Restaurant, ein anspruchsvolles, modernes Gebäude, lag rechts vom Wege; ihm gegenüber zog sich der in Terrassen angelegte Garten bis zum Strand.

Der alte Kellner, der sie empfing, warf einen fragenden Blick auf Ferragut. »Darf ich bitten, mir zu folgen?«

Durch die Laubengänge der Terrassen führte er das Paar zu einem geschlossenen, dämmrigen Pavillon, der nur ein einziges Fenster besaß.

Wie die Mücke zum Licht, eilte Freya sofort zu ihm hin, ohne dem Salon auch nur einen Blick zu schenken.

»Mein Gott, ist das schön!«

Inzwischen stellte der Kapitän das Menü zusammen, nicht ohne die diskrete Mimik des Kellners zu bemerken, der mit den Fingern einen enormen, vorsintflutlichen Riegel auf der Innenseite der Tür streichelte. Und Ferragut ahnte, daß dieser Riegel die Rechnung mit seinem ganzen Gewicht belasten würde.

Freya unterbrach ihr Schauen erst, als sie des Kapitäns Lippen fühlte, die ihren Hals suchten.

»Ruhig doch, Ulysses! Erinnern Sie sich an unsere Abmachung. Ich habe Ihre Einladung nur unter der Bedingung angenommen, daß Sie mich in Frieden lassen würden.«

Der Kuß irrte zur Wange und fand den Mund – eine Zärtlichkeit, die schon auf keinen Widerstand mehr stieß. Aber die Furcht vor Mißbrauch ließ Freya zurückweichen.

»Sehen wir uns lieber das Zauberschlößchen an, das mir mein Flirt versprochen hat«, rief sie fröhlich.

In der Mitte des Salons stand ein häßlicher Tisch, dessen rauh gehobelte Bretter noch kein Tuch verdeckte. Voll Widerwillen schweifte ihr Blick über die ordinäre Tapete an den Wänden, die billigen Buntdrucke in verstaubten Rahmen, bis er auf etwas Dunkles traf, das eine ganze Ecke des Raums einnahm. Ein Bett, ein Diwan? Oder ein Katafalk? Durch die darübergebreiteten grauen Decken gemahnte es irgendwie auch an eine Gefängnispritsche.

»Ah, nein!«

Sie eilte zur Tür. Unmöglich, neben diesem schmutzigen Möbel zu speisen.

»Ah, nein! Welch ein Ekel!«

Um weitere mißliche Entdeckungen zu verhindern, stellte sich Ulysses vor die Tür, so daß er mit seinem Rücken den Riegel verdeckte, auf den der Kellner so stolz war. Entschuldigungen stammelnd, wich er nicht von der Stelle, wodurch in Freya der Gedanke aufzuckte, daß er ihr den Ausgang versperren wollte.

»Kapitän, lassen Sie mich hinaus!« sagte sie zornig. »Sie kennen mich noch nicht. So etwas paßt für andere. Zurück, wenn ich Sie nicht für einen Rüpel halten soll.«

Unter dem Laubengang draußen blieb sie stehen, sofort beruhigt, als sie sich in freier Luft sah. Dann setzte sie sich an den entferntesten Tisch.

»Solch ein finsteres Loch! Kommen Sie her, Ferragut, hier sitzen wir ja viel schöner. Seien Sie kein Kind! Ich habe schon alles vergessen. Sie trifft ja gar keine Schuld.«

Der grauhaarige Kellner, der mit Tischtuch und Bestecken zurückkam, verriet nicht die kleinste Überraschung, als er das Paar auf der Terrasse wiederfand. Derlei Zwischenfälle waren ihm nichts Neues. Er mied die Augen der Dame und blickte den Herrn mit demselben bekümmerten Ausdruck an, den er bei der Mitteilung, daß ein Gericht von der Karte gestrichen sei, aufzusetzen wußte. Seine Miene stummer Protektion schien Ferragut trösten zu wollen: Geduld und Ausdauer! Ich habe schwierigere Siege unter meiner Kundschaft erlebt.

Bevor er das Diner servierte, stellte er eine bauchige Flasche auf den Tisch, einen Nektar von den Hängen des Vesuvs, dem ein ganz leiser Hauch von Schwefel anhaftete. Freya war durstig – dem Wasser dieser Trattoria mißtraute sie –, und Ulysses verspürte das Bedürfnis, seine eben erlittene Schlappe zu vergessen. So tranken sie beide, ohne daß ein Tropfen Wasser die satte Edelsteinfarbe des Weins beeinträchtigt hätte.

Eine Schar von Sängern und Tänzern überfiel die Terrasse. Ein schönes, aber schmutziges junges Mädchen mit kupferfarbigem Teint und rebellischem Haar tanzte in buntgestreifter Schürze zum Wirbel des Tamburins, indes zwei Knaben in der alten Tracht der Lazzaroni – rote Mütze und umgekrempelte Hosen – mit lauten Rufen diese ungestüme Tarantella begleiteten.

Der Golf färbte sich purpurn, als wüchsen unter den schrägen Strahlen der Sonne in seiner Tiefe ungeheure Korallenwälder. Das Blau des Himmels wurde rosig, und die Berge flammten im Widerschein des sterbenden Gestirns. Weniger weiß als am Morgen, schien der weiße Federbusch des Vesuvs das Feuer des Berginnern zurückzustrahlen.

Die Tänzerinnen hatten sich auf eine untere Terrasse begeben. Neue Gäste kamen, fast nur Paare. Einige stark geschminkte, von jungen Männern begleitete Damen führte der Oberkellner in den Pavillon, und bald drang durch die halboffene Tür brutales Gelächter und das erstickte Kichern gekitzelter Frauen.

Als man die bestellten Gerichte auftrug, war der ersten Flasche Vesuvwein schon eine andere gefolgt, die auch zusehends leerer wurde.

Ziellos ins Weite blickend, schwärmte Freya von einer kleinen Villa in Posilipo, von einem Leben ganz für sich allein …

»Und doch ist die Umwelt hier der Einsamkeit nicht günstig. Diese Landschaft gehört der Liebe. Ja, wenn man zu zweien alt werden könnte angesichts der ewigen Schönheit des Golfs! … Ein Jammer, daß ich niemals geliebt worden bin!«

Ihre Worte verletzten Ulysses.

»Und ich? Liebe ich Sie nicht? Bin ich nicht bereit, jedes Opfer zu bringen?«

»Alle Männer haben mir dasselbe gesagt«, wehrte sie ab, »alle versichern, daß sie sich töten werden, wenn ich sie nicht erhöre … Bei den meisten ist es nichts als eine Phrase leidenschaftlicher Rhetorik! Und sollten sie sich auch wirklich töten, was beweist das? Aus dem Leben scheiden ist der Entschluß einer Minute, den man nicht einmal mehr bereuen kann – ein einfacher Nervenanfall, eine Geste, die man häufig im Gedanken an das, was die Leute sagen werden, tut, mit dem Dünkel des Schauspielers, der in Schönheit enden will. Einst hat sich ein Mann meinetwegen erschossen …«

Ferragut fuhr hoch, als sie die letzten Worte sprach. Das macht drei! durchzuckte es ihn.

»Ich sah den Sterbenden auf einem Hotelbett liegen; die Binde um seine Stirn hatte einen roten Fleck. Er tötete sich aus verletzter Eitelkeit, als er merkte, daß ich ihm entglitt, aus Starrsinn – ein Theatercoup … Es war ein rumänischer Tenor, der damals in Rußland gastierte … Ich bin übrigens selbst vorübergehend Künstlerin gewesen.«

Beide schwiegen. Rasch brach die Dämmerung herein. Die eine Hälfte des Himmels hatte sich in Bernstein verwandelt, die andere zeigte das tiefe Blau der Nacht, in dem die ersten Sterne blinzelten. Der unter dem bleigrauen Mantel seiner Wasser schlummernde Golf atmete eine mysteriöse Frische aus, die sich Bergen und Bäumen mitteilte.

Kellner gingen von Tisch zu Tisch, um Papierlaternen aufzustellen, und die von der Dämmerung neubelebten Falter schwirrten um diese roten oder gelben Lichtblumen.

Verschleiert, als spräche sie im Traum, erklang Freyas Stimme von neuem.

»Es gibt ein Opfer, das einzige, welches eine Frau davon überzeugen kann, daß sie geliebt wird. Männer werten die Ehre höher als das Leben. Nur der, der sie aufs Spiel setzen, der ganz tief hinabsteigen würde, ohne den Willen zum Weiterleben zu verlieren, der allein könnte mich überzeugen.«

Ulysses wurde unruhig. Welches Opfer mochte diese Frau von ihm wollen? Oder waren ihre Worte nur Hypothesen einer ungeordneten, krankhaften Vorstellung?

Seine Gedanken spiegelten sich so klar in seinen Augen, daß Freya sie erriet. »Keine Angst, Ferragut! Ich denke nicht daran, von Ihnen etwas Derartiges zu fordern. Was Sie hörten, sind Phantasien, denen ich die Zügel schießen lasse, damit die Leere meiner Seele ein wenig ausgefüllt wird.«

Die Nacht war gekommen. Die kleinen Laternen des Restaurants warfen purpurne Flecken auf die weißgedeckten Tische, um die herum die Gesichter der Gäste im seltsamen Spiel von Licht und Schatten auftauchten. Aus den geschlossenen Pavillons drang das Geräusch von umgestoßenen Stühlen und lauten Küssen …

»Gehen wir!« befahl Freya.

Der Lärm dieser vulgären Orgien beleidigte sie, die Majestät der Nacht schien ihr entweiht.

Am Gartentor boten sich verschiedene Kutscher zur Rückfahrt an. Doch Freya zog vor, zu Fuß nach Neapel zurückzukehren, obwohl sie wußte, was das bedeutete. Aber ihrer selbst sicher, fühlte sie sich durchaus fähig, ihren Verehrer in den von ihr bestimmten Schranken zu halten.

Eine solch günstige Gelegenheit glaubte Ferragut noch nie gehabt zu haben: ein Tete-a-tete im geheimnisvollen Weben der Nacht, und so viel Zeit vor sich! Sein einziger Verdruß war der Zwang, weitergehen zu müssen, denn weder Küsse noch Schwüre vermochten Freya zu bewegen, sich mit ihm am Rande des Weges niederzusetzen.

Eine neue Hoffnung bestimmte Ulysses zu resignieren. Dort unten, in der Lichterkurve am Golf lag das Hotel, und dem Seemann winkte es wie ein Ort der Glückseligkeit.

»Sag ja«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Heute nacht …«

Sie gab keine Antwort. Die Augen zu ihm aufgeschlagen, ließ sie ihm den Mund.

Und wieder triumphierte die Stimme in seinem Hirn: Sieg! Sieg!

Um der Helle der elektrischen Bogenlampen in der Via Caracciolo zu entgehen, führte er die schwer an seinem Arm hängende Frau durch den dunklen Park der Villa Nazionale bis in die Nähe des Hotels.

»Adieu, Ulysses!« Jäh war sie stehengeblieben. »Ich werde bei der Frau Doktor schlafen.«

Der Kapitän prallte vor Überraschung einen Schritt zurück. Sollte das ein Scherz sein? … Aber nein, er konnte nicht zweifeln – Freyas Ton bekundete klar genug die Festigkeit ihres Entschlusses.

Demütig, inbrünstig flehte er, während ihn gleichzeitig der Gedanke beherrschte: sie spottet deiner! … Mach ein Ende. Laß sie die Gewalt des Mannes spüren …

Es war brutal, gemein. Unversehens fiel Ulysses über sie her, preßte sie in seine Arme und drängte sie roh zu einer Bank, auf die sie beide keuchend niederfielen.

Der Kampf dauerte nur einen Moment: Ferragut sprang zurück und hob beide Hände an seine linke Schulter. Er fühlte einen stechenden Schmerz, als wäre ein Knochen zerbrochen … Mit einem geschickten Jiu-Jitsu-Griff hatte sich Freya seiner entledigt.

»Ah, du infames Weib!« knirschte er.

Von neuem warf er sich auf sie. Zu seinem Begehren gesellte sich der Wunsch, sie zu mißhandeln, zu erniedrigen, zu knechten … Aber diesem wilden Stierangriff bereitete ein eisiger Druck auf seiner Stirn ein jähes Ende.

Er schielte hin: ein kleiner Revolver, ein mörderisches Spielzeug aus blitzendem Nickel! Den Zeigefinger am Hahn, fixierte Freya den Kapitän unverwandt, und man erriet, daß sie mit der Waffe umzugehen wußte.

Ulysses' Unentschlossenheit dauerte nur Sekunden. Hätte er es mit einem Manne zu tun gehabt, so würde er sich – ohne Furcht vor dem Revolver – dieser drohenden Hand bemächtigt und sie bis zum Brechen gedreht haben. Aber eine Frau stand ihm als Gegner gegenüber …

»Zurück, mein Herr!« befahl Freya, förmlich wie zu einem Fremden.

Doch sie war es, die schließlich zurückwich, als Ulysses nachdenklich stehenblieb. Bevor sie fortging, murmelte sie noch etwas, das er nicht verstand. Es mußten böse Worte sein, und gerade weil sie sich einer ihm unbekannten Sprache bediente, traf ihn ihre Verachtung um so tiefer.

»Zu Ende! Für immer zu Ende! …«

Wieder und wieder sagte er auf dem Wege zum Hotel diese Worte vor sich hin. Ja, sie verfolgten ihn sogar bis in seinen unruhigen, von Alpdrücken heimgesuchten Schlaf, aus dem er am nächsten Morgen durch die Hörner der Bersaglieri geweckt wurde.

Kurz darauf bezahlte er seine Rechnung und gab dem Portier ein letztes Trinkgeld, mit der Anweisung, das Gepäck später einem seiner Matrosen auszuhändigen.

Er war fröhlich – doch war es die erzwungene Fröhlichkeit derer, die sich den Ereignissen anpassen müssen – und gratulierte sich zu seiner Freiheit, als hätte er diese Freiheit aus freien Stücken erworben.

Seine Fröhlichkeit wurde erst aufrichtiger, als er das Deck der Nereide betrat. Hier allein konnte er leben, fernab von den Verwicklungen und Lügen des Lebens an Land.

Die Mannschaft, die in den vergangenen Wochen jeden Besuch ihres schlechtgelaunten Kapitäns gefürchtet hatte, schmunzelte, als sähe sie nach einem bösen Sturm die Sonne wieder zum Vorschein kommen. Ferragut verteilte freundliche Worte, schüttelte seinen Offizieren die Hand. Die Reparaturen sollten am nächsten Tage beendet werden? … Sehr gut! Da konnte man binnen kurzem wieder in See gehen!

Vom Deck machte er sich auf den Weg zur Küche, um Väterchen Caragòl guten Tag zu sagen. Das war einer, der das Leben verstand! Alle Frauen der Welt wogen für ihn nicht eine Schüssel leckeren Reis auf. Ein weiser Mann! … Sicherlich würde er hundert Jahre alt werden!

Nicht weniger Bewunderung zwang ihm Tòni ab, dieses Muster von Disziplin, schweigsam und treu wie Gold. Unbeirrt folgte er dem schmalen Weg der Pflicht, schaute weder rechts noch links und kannte nur eine einzige Frau: seine eigene, die dort unten an der Marina seiner Heimkehr harrte.

Irgendwie hatte Tòni von Anfang an den geheimen Grund für die wechselnden Stimmungen seines Kapitäns erraten. »Gott sei Dank! er hat mit der Frau gebrochen«, sagte er sich, als er jetzt Ferraguts philosophische Kommentare über das ruhige, ungestörte Leben an Bord anhörte. Und in dieser Meinung bestärkten ihn noch des Kapitäns Pläne.

»Man hat mir Fracht für Barcelona angeboten«, berichtete dieser seinem ersten Offizier. »Läßt sie aber auf sich warten, so fahren wir statt ihrer mit Ballast ab. Immer begehrter wird der Schiffsraum, und wir müssen die Chancen ausnutzen.«

Schmuck und verjüngt, ohne eine Spur der schweren Havarie, verließ die Nereide das Trockendock und legte am Kai des Handelshafens an.

Zwei Tage später, als der Kapitän mit Tòni erwog, ob sie in derselben Nacht die Anker heben oder dem Wunsch des Reeders gemäß noch vier Tage auf die angekündigte Fracht warten sollten, betrat der dritte Offizier ganz erregt den Salon.

»Herr Kapitän, eine schöne, sehr elegante Dame« – der junge Andalusier betonte voller Bewunderung diese Details – »legte eben bei und kletterte ohne Erlaubnis an Bord. Die Dame tut, als gehöre ihr das Schiff.«

Tònis braunes Gesicht wurde blaß. Cristo! … Die Frau aus Neapel! Er wußte nicht, wer diese Frau aus Neapel war, hatte sie nie gesehen. Aber er ahnte, daß ihr Kommen fatale Konflikte mit sich bringen würde. Und das gerade jetzt, da alles gut ging!

Ferragut ließ seinen Drehstuhl herumsausen und stand mit ein paar Sätzen an Deck.

Das außerordentliche Ereignis hatte auch die Matrosen alarmiert, die, wie von einer unwiderstehlichen magnetischen Kraft aus ihren Kojen, aus dem Lade- oder dem Maschinenraum, aus dem Bunker hervorgezogen, sich alle oben befanden, wo sie Kupferteile polierten oder sich sonst mit irgendeiner Extraarbeit zu schaffen machten. Sogar Onkel Caragòl steckte sein Bischofsgesicht aus der Küchentür heraus, mit einer Hand seine kurzsichtigen Augen beschattend.

Freya, in einem blauen Jackett von seemännischem Schnitt, reichte dem Kapitän die Hand, ganz schlicht, als hätten sie sich erst tags zuvor in voller Freundschaft getrennt.

»Sie haben sich nicht über mich zu beklagen, Ferragut! Da ich Sie nicht mehr im Hotel traf, gelüstete es mich, Sie auf Ihrem Schiff zu besuchen … Ich mußte doch einmal Ihr schwimmendes Haus sehen.«

Ulysses bemerkte sofort die große Veränderung, die innerhalb der letzten Tage mit ihr vorgegangen war. Ihre Augen blickten keck und herausfordernd; ihr Lächeln, ihre Worte, ihr Gang – die ganze Frau schien sich anzubieten.

Im Salon stellte Ferragut ihr seinen ersten Offizier vor, und der rauhe Tòni starrte nicht weniger verblüfft als vorher die Mannschaft diese blendende Erscheinung an. Was für eine Frau! … Und sofort verstand er, entschuldigte er das Benehmen seines Kapitäns. Dennoch lag in seinem Blick eine sorgende Unruhe, als ließe Freyas Gegenwart ihn um das Geschick des Dampfers zittern.

»Also hier wohnen Sie, geliebter Hai?« wandte sie sich an Ulysses, als Tòni sich mit einer ungeschickten Verbeugung verabschiedet hatte. »Ich muß alles sehen! Alles, was zu Ihnen gehört, interessiert mich. Sagen Sie, werden Sie nicht eitel, wenn die Damen Sie sogar auf Ihrem Schiff aufsuchen? …«

Sie unterbrach ihr halb verliebtes, halb ironisches Geplänkel, um Ulysses sanft abzuwehren.

»Später … später! Jetzt möchte ich meine Neugier befriedigen – ich bin wirklich neugierig wie ein Kind.«

Zuerst setzte sie sich an das Klavier, das alte Klavier des schottischen Kapitäns. Es hatte einen dünnen, zitterigen Ton und erinnerte, wie Freya sagte, an vertrocknete Rosen. Dann öffnete sie der Reihe nach alle Türen, die vom Salon zu den Kajüten führten. Nur die Kapitänskajüte weigerte sie sich zu betreten. Mit gelindem Zwang versuchte Ferragut sie hineinzuschieben, doch sie ließ den bronzenen Drücker nicht los.

»Nein, hier nicht! Für nichts auf der Welt. Ich werde dir gehören … mein Wort«, stammelte sie, »aber wann ich will und wo ich will. Bald, Ulysses!«

Und dieses mit zärtlicher und fügsamer Stimme gegebene Versprechen machte Ferragut geduldig.

Das Klopfen eines Akoluthen von Onkel Caragòl gab ihnen ihre Haltung zurück. Der Junge brachte zwei enorme Gläser mit einem rosigen, schäumenden Cocktail, der Quintessenz der Kenntnisse, die der Koch dem Umgang mit Trinkern aller Herren Länder verdankte.

Freya probierte und kniff die Augen wie eine leckermäulige Katze zusammen. Feierlich hob sie dann ihr Glas.

»Eros, dem besten der Götter!«

Und Ferragut, dem die höllischen Mischungen seines Kochs stets ein gewisses Grauen eingejagt hatten, leerte sein Glas auf einen Zug.

»Heute nachmittag erwartest du mich im Park der Villa Nazionale«, befahl sein schöner Gast. »Wir werden der Frau Doktor einen Besuch machen. Seit sie weiß, daß du mich liebst, interessiert sie sich sehr für dich, mein Pirat. Jetzt aber zeige mir dein Schiff!«

Wie eine regierende Fürstin inspizierte sie, unter Vorantritt des Kapitäns und gefolgt von den Offizieren, die beiden Decks, blickte von den eisernen Laufbrücken in den Maschinenraum und beugte sich über den quadratischen Abgrund der Luken, aus denen die dumpfe Luft der Laderäume stieg. Auf der Brücke streichelte sie die Bronzekappe des Kompasses und fingerte übermütig an den goldig blitzenden Navigationsinstrumenten.

Von der Brücke ging es zu Onkel Caragòls Reich, wo sie an dem Suppentopf der Mannschaft schnupperte und eine beklagenswerte Unordnung unter seinen säuberlich aufmarschierten Kasserollen anrichtete.

Doch den Alten störte das Parfüm dieser Dame. »Hübsch ist sie … das läßt sich nicht leugnen! Aber ob ehrbare Frauen wohl so riechen?« dachte er verwirrt. Und kaum war er allein, so wedelte er wütend mit einem Scheuerlappen, um die Luft seiner Küche zu reinigen.

Auch Tòni schaute dem Boot, das Freya an Land zurückbrachte, finster nach.

»Möge dich samt all deiner Schönheit das Meer verschlingen!«

Wiederum trug ein Matrose Ferraguts Gepäck zum Albergo am Santa-Lucia-Ufer, und der Portier, der die Wünsche dieses Gastes mit der offenen Hand zu erraten schien, quartierte ihn ein Stockwerk tiefer ein, dicht neben dem Zimmer, das die Signora Talberg bewohnte.

Um vier Uhr trafen sie sich im Park und wanderten von dort dem Chiaia-Viertel zu. Endlich würde Ulysses erfahren, wo die Frau Doktor ihre majestätische Erscheinung verbarg!

Durch das Vestibül eines alten Palastes folgte er Freya in einen fliesenbelegten, von Säulengängen umrahmten Patio, auf den geschweifte Balkons hinabsahen. Eine riesige Treppe mit schmiedeeisernem Geländer und mit breiten Ausbuchtungen an jeder Wendung, die den Sänftenträgern vergangener Epochen das Ausweichen ermöglicht hatten, führte nach oben. Als Erinnerung an die Herren in weißer Perücke und die Damen im weiten Reifrock standen auf den Absätzen klassische Büsten und enorme Laternen, deren mattgewordenes Gold erblindete Scheiben zusammenhielt.

Im ersten Stock machte Freya vor einer lederbezogenen Tür halt, neben der ein messingnes Firmenschild glänzte. Die Frau Doktor wohnte in einem Büro! … Wie hätte Ulysses sie da je finden können?

Der erste Raum war wirklich ein Büro – Kartothek, Geldschrank, zwei Pulte. Ein Angestellter mit einem knabenhaften Gesicht und gestutztem Schnurrbart erhob sich respektvoll.

»Guten Tag, Karl«, grüßte ihn Freya und schritt Ulysses voran zu einem Salon, dessen Ausstattung die geschickte Hand von Menschen verriet, die an Reisen gewöhnt sind und sich ein improvisiertes Heim zu schaffen verstehen. Mit vielen Kissen belegte Diwane, unechte Orientteppiche und Guanacofelle sowie ein paar hübsche neapolitanische Statuetten gaben dem Raum eine gewisse Behaglichkeit.

Durch den geöffneten Türvorhang zum nächsten Zimmer sah Ulysses die Frau Doktor an einem amerikanischen Schreibtisch sitzen. Sie hatte zu seinem Empfang große Toilette gemacht. Ein grünes Seidenkleid umspannte prall ihre üppigen Formen und wurde durch einen weißen Tüllschal, übersät mit silbernen Pailletten, ergänzt.

Frau Doktor Fedelmann schien sowohl die frostige Verabschiedung auf dem Bahnhof von Salerno als auch das bewußte Verheimlichen ihrer Adresse vergessen zu haben, denn mit ausgestreckten Händen kam sie auf Ferragut zu:

»Mein lieber Kapitän! So viele Wochen vergingen, ohne daß ich Sie sah!«

Und er, von dieser liebenswürdigen Begrüßung überrascht, küßte dankbar die Hand der imposanten Dame, die Freya zärtlich die Locken zu streicheln begann – mehr eine Mutter als eine Freundin.

»Freya spricht nur noch von Ihnen, Kapitän … Seien Sie gut zu ihr. Das Leben hat sie sehr grausam behandelt.«

Eine wohlige Atmosphäre von Familiarität nahm Ulysses gefangen, als man ihn so herzlich wie einen Schwiegersohn bewillkommnete.

In diesem Moment wurde der Türvorhang beiseitegerafft, und ein Herr von Ferraguts Alter, etwas kleiner und weniger gebräunt, trat über die Schwelle. Sein grauer Flanellanzug, zu dem er Krawatte und Strümpfe von derselben Farbe gewählt hatte, saß ausgezeichnet; die braunen Halbschuhe verrieten dem Kenner sofort, daß sie aus einer erstklassigen Werkstatt stammten.

Ulysses, der ihn für einen Engländer hielt, wunderte sich, daß dieser sehr korrekt gekleidete Gentleman nicht glattrasiert war, sondern einen kurzgeschnittenen Spitzbart trug, wie ihn die Offiziere fast aller Kriegsflotten der nordischen Länder bevorzugten.

Der Ankömmling küßte beiden Damen die Hand.

»Graf Kaledine … Kapitän Ferragut«, stellte die Frau Doktor vor, und die Unterhaltung nahm ihren Fortgang auf englisch, das die Herrin des Hauses im Verkehr mit Ulysses meist gebrauchte.

»Sind Sie Seemann, Herr Graf?« fragte dieser, um seiner Zweifel enthoben zu sein.

Das Monokel seines Visavis zuckte nicht, aber eine ganz schwache Überraschung schien in seinem Auge aufzuglimmen.

»Der Graf ist Diplomat, augenblicklich seiner Gesundheit wegen auf Urlaub«, kam ihm die Frau Doktor zuvor. »Die Kaledines sind eine alte russische Familie und mir seit vielen Jahren befreundet.«

Dann schwieg sie, damit Kaledine Gelegenheit hätte, sich an dem Gespräch zu beteiligen.

Anfänglich zeigte sich der Graf sehr zurückhaltend, doch allmählich schmolz seine Kälte.

»Männer der Tat interessieren mich ungemein, Kapitän. Daher hat meine sehr verehrte Freundin, Frau Talberg, mir bereits manches von Ihren Erlebnissen erzählen müssen.«

Und liebenswürdig lächelnd ließ er das Englische beiseite, um zum freudigen Staunen von Ulysses ins Spanische zu verfallen.

»Ich tat einige Zeit in Mexiko Dienst«, erklärte er diese Sprachkenntnis; »auch die Philippinen habe ich gründlich kennengelernt. Als ich in Japan war, benutzte ich die Gelegenheit, hinüberzufahren.«

Ferragut kannte die Meere des Fernen Ostens wenig. Nur zwei Fahrten hatte er nach chinesischen und japanischen Häfen unternommen, wußte aber immerhin genug, um die Unterhaltung mit diesem Reisenden, der einen feinen künstlerischen Geschmack bezeigte, im Gange zu erhalten. Während einer halben Stunde defilierten im Salon Bilder des Orients: riesige Pagoden mit aufeinandergeschachtelten Dächern, deren Glöckchenreihen im Winde wie eine Harfe ertönten; aus Gold, Bronze oder Elfenbein gearbeitete Monster-Idole; Häuser aus Papier; Bambusthrone; Möbel mit Perlmuttereinlagen; Wandschirme, auf die der Pinsel Züge fliegender Störche gemalt hatte.

Gelangweilt von einem Dialog, dem zu folgen sie Mühe kostete, verschwand die Frau Doktor, während Freya mit träumerischen Augen, die Hände um ein Knie gefaltet, aufmerksam lauschte, bis eine Hand am Vorhang winkte. Ihre Hilfe wurde erbeten, um den Teetisch zuzubereiten.

Allein die angeregte Unterhaltung zwischen den beiden Männern beeinträchtigte das nicht. Kaledine hatte die asiatischen Meere verlassen und war zum Mittelmeer übergegangen, wo er sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit verankerte – ein Grund mehr für Ferragut, den Russen sehr sympathisch zu finden.

Jetzt war es nicht mehr der Graf, der erzählte. Mit ganz präzisen Fragen – fast wie in einem Examen – verstand er, Ferragut zum Sprechen zu bringen und ihn besonders über die Beschaffenheit des westlichen Beckens auszuholen.

Mochte er fragen, soviel er wollte … Meile für Meile wußte Ulysses aufs gründlichste Bescheid über alle Eigenheiten der spanischen, französischen und italienischen Küste, über Oberfläche wie Tiefe.

Vielleicht weil er sich gerade in Neapel aufhielt, kam Kaledine immer wieder auf das Tyrrhenische Meer der Alten, das Gebiet zwischen Sardinien, Süditalien und Sizilien, zurück.

»Kennen Sie auch die wenig besuchten Inseln gegenüber von Sizilien, Kapitän?«

»Alle!« bestätigte dieser stolz.

Und er begann dem Wißbegierigen von den Liparischen Inseln mit ihren Schwefel- und Bimssteinminen zu erzählen, einer Gruppe aus den Tiefen des Meeres aufsteigender vulkanischer Gipfel, wohin die Antike den Wohnsitz von Äolus, dem Herrn der Winde, verlegt hatte.

»Östlich von ihnen liegt ganz isoliert in einem klippenlosen Meer Ustica, das die Phönizier besiedelten und das später ein Nest der sarazenischen Piraten wurde. Ein Eiland, auf dem es außer fossilen Muscheln, die höchstens von Männern der Wissenschaft beachtet werden, kaum etwas Erwähnenswertes gibt.«

Auch den Archipel der Ägaden, den Schauplatz der Thunfischfänge, hatte Ferragut besucht, desgleichen die halbwegs zwischen Sizilien und Afrika gelegene Insel Pantellaria, deren aus großen Blöcken errichtete prähistorische Bauten an diejenigen der Balearen erinnern.

»Zwischen Pantellaria und Sizilien«, fuhr der Kapitän fort, »steigt der Meeresboden so beträchtlich an, daß das Wasser stellenweise nur zwölf Meter Tiefe aufweist. Das ist die große »Bank der Abenteuer« – eine untergegangene Insel, das submarine Postament Siziliens …«

»Sie kennen Ihr Meer wahrlich gut!« lobte der Graf, den die Bank der Abenteuer in gleichem Maße wie die unbedeutende Insel Ustica zu interessieren schien.

Weitere Schilderungen Ferraguts vereitelte indes die Rückkehr der beiden Damen, die das Teeservice und einige Schüsseln mit Gebäck brachten. Ulysses war durch das offenkundige Fehlen jeden Dienstpersonals nicht sonderlich überrascht: zu der Frau Doktor und ihrer schönen Freundin paßte eine etwas eigenartige Lebensführung.

Die Unterhaltung wurde wieder allgemein und streifte allerhand Gebiete; doch wurde weder des Krieges noch der Haltung Italiens Erwähnung getan, das in diesem Augenblick noch schwankte, ob es neutral bleiben oder am Kriege teilnehmen sollte. Man hätte sich einbilden können, an einem weltentlegenen Orte zu leben, Tausende von Meilen entfernt von menschlichem Haß und Hader …

Als Ferragut aufstand, verabschiedete sich auch der Graf, mit einem liebenswürdigen Dank, daß die Frau Doktor die Bekanntschaft mit dem Kapitän vermittelt habe. Diese Gelegenheit benutzte Freya, um Ulysses, kaum die Lippen bewegend, zuzuflüstern:

»Ich komme spät … Erwarte mich!«

Ihre Augen und der Druck ihrer Hand sagten ihm mehr.

Bis zum Hotel begleitete ihn Kaledine, und Ulysses meinte, nie einen angenehmeren Spaziergang gemacht zu haben. Die Stimme seines Begleiters dünkte ihn köstlich wohllautend, der nichtigste Satz ein Produkt tiefer Weisheit. Alles fand er liebenswert: die Menschen, die ihnen begegneten, den lauten neapolitanischen Straßenlärm, das nächtliche Meer, das ganze Leben … Den Rest des Abends verbrachte er in ungeduldiger Erwartung. Appetit hatte er nicht, doch als er an seinem Tische saß, aß er rein mechanisch mehr als sonst.

Er sehnte sich spazierenzugehen, mit irgend jemandem zu plaudern, um über die Wartezeit schneller hinwegzukommen. Und dennoch zog er sich gerade heute früher als sonst auf sein Zimmer zurück, in der abergläubischen, vernunftwidrigen Annahme, daß Freya dadurch eher eintreffen würde.

Wie die Stunden schleichen für den, der wartet! Im Zimmer auf und ab schreitend, steckte er eine Zigarre nach der anderen an und riß hernach hastig alle Fenster auf, damit der Rauch abzöge: sie liebte nur türkische Zigaretten … Da der Geruch der schweren Havanna jedoch nicht weichen wollte, kramte er aus seinen Koffern ein längst vergessenes Fläschchen Parfüm hervor, dessen Inhalt er im Zimmer versprühte.

Plötzlich quälte ihn der hartnäckige Zweifel, ob Freya die Nummer seines Zimmers bekannt sei. Wenn sie sich nun irrte? … Diese Befürchtung jagte ihn auf den Korridor. Sobald aber das Geräusch von Schritten oder das Surren des Fahrstuhles hörbar wurde, scheuchte ihn jedesmal ein kindischer Schreck in sein Zimmer zurück.

Endlich blieb er drinnen, ließ jedoch die Tür offenstehen – das hellbeleuchtete Rechteck auf der gegenüberliegenden Wand würde Freya den Weg weisen.

Doch auch auf diese Taktik mußte er schließlich verzichten, nachdem verschiedentlich nur in einen Kimono gehüllte Damen – stets dieselbe Richtung einschlagend – einen ärgerlichen Blick auf seine indiskrete Tür geworfen hatten.

Er nahm ein Buch, war aber nicht imstande, zwei Sätze hintereinander zu lesen. Seine Uhr zeigte auf Mitternacht.

»Sie wird nicht kommen! … Sie wird nicht kommen!« murmelte er verzweifelt.

Da half ihm eine neue Idee. Unmöglich, daß eine Frau wie Freya sein Zimmer betrat, solange sie Licht unter der Tür durchschimmern sah! Liebe braucht das Dunkel, das Geheimnis.

Er drehte das Licht aus, und die Finsternis wirkte belebend auf seine Hoffnungen.

»Sie wird kommen … jeden Moment kann sie erscheinen …«

Noch einmal stand er auf, weil der Gedanke an das mögliche Knirschen der Klinke ihn beunruhigte, öffnete behutsam die Tür und ließ sie angelehnt.

Nur jetzt nicht einschlafen! Das durfte er nicht, das wollte er nicht …

Und eine halbe Stunde später lag er in tiefem Schlaf.

Jäh wachte er auf, als hätte man ihm einen Schlag aufs Gehirn versetzt. Es summte in seinen Ohren. Doch nicht allein die Unruhe hatte ihn aufgescheucht. Etwas Wirkliches kam im Schweigen der Nacht näher. Die Tür bewegte sich sacht … ein dunkler Schatten, schwärzer als die Dunkelheit, stand auf der Schwelle. Ferragut machte eine Bewegung.

»Ruhig«, hauchte eine feine Stimme, eine Stimme aus einer anderen Welt, »ich bin es!«

Doch Ulysses war schon aufgesprungen und schaltete instinktiv das Licht ein. Freya! Aber nicht die Freya, die er immer gesehen hatte. Das reiche Haar fiel ihr bis zu den Hüften; der Körper schimmerte weiß durch eine duftige, asiatische Hülle. Es war nicht der Allgemeingut gewordene japanische Kimono, sondern ein mit phantastischen Blumen bestickter, hindostanischer Schleier, durch dessen feines Gewebe Ulysses ihre kühle Haut fühlte.

Mit einem leisen Protest streckte sie ihre Hand zum Schalter aus … es wurde dunkel.

Zwei herrische Arme schlangen sich um seinen Hals, ein Mund bemächtigte sich des seinigen wie damals im Aquarium … Ohne Gedanken, den Rest der Welt vergessend, sank er tiefer und tiefer in einem Meer neuer Sensationen – ein mit seinem Schicksal zufriedener Schiffbrüchiger … Doch dieses Mal gelangte er bis zum Grund.

Ein Sonnenstrahl, der über sein Gesicht huschte, weckte ihn. Das Fenster war blau; blau der Himmel und blau das Meer.

Und neben ihm? … Niemand! Einen Augenblick glaubte er geträumt zu haben. Aber das Kissen hauchte noch immer den zarten Duft ihres Haares aus, und wie an eine Vision erinnerte er sich, daß ein Körper sanft und behutsam über ihn hinweggeglitten war, daß ein leiser Abschiedskuß ihn die Augen für einen Moment öffnen ließ …

Halblaut sang er eins der Volkslieder von Neapel. O einzig schönes Land! Du schönster Fleck der Erde! … Am liebsten hätte er die Wogen, die Stadt und den Golf umarmt.

Er klingelte nach seinem Frühstück, ungeduldig – der Kapitän Ferragut war hungrig. Doch als er sich gerade der appetitlichen Platte widmen wollte, trat Freya, frisch und rosig vom Bade kommend, herein.

Den indischen Schleier hatte ein Pyjama aus violetter Seide ersetzt, aus dessen Brusttasche der Zipfel eines Taschentuches hervorlugte. Die nackten Füße steckten in weißen Morgenschuhen.

Ferragut vergaß sein Frühstück beim Anblick dieses reizenden Pagen. Aber sie wehrte seinen Zärtlichkeiten. Ein fragender Ausdruck lag in ihren Augen, die Unruhe jeder Frau am nächsten Tage. Sie wollte Gewißheit haben, daß der Rausch sich nicht verflüchtigt hatte.

Während Ulysses auf ihr Geheiß zu seinem Frühstück zurückkehrte, setzte sie sich auf die Chaiselongue und steckte eine Zigarette an. Dann schaute sie, den linken Arm um die hochgezogenen Knie gelegt, eine Weile unverwandt aufs Meer.

Schließlich sprach sie, langsam, dann und wann ihre Augen auf Ferragut richtend, um die Wirkung ihrer Worte zu ermessen …

Ulysses ließ sein Frühstück endgültig im Stich. Er ahnte, daß er etwas Schwerwiegendes erfahren würde.

»Du hast mir geschworen, alles zu tun, um was ich dich bitte, Geliebter … und ich glaube, du möchtest mich nicht verlieren …«

»Verlieren? … Ich kann nicht leben ohne dich.«

»Ich kenne deine Vergangenheit, Ulysses; du hast mir alles erzählt. Doch du weißt nichts von mir … Jetzt aber, da ich dein bin, mußt du auch von mir wissen.«

Ferragut nickte zustimmend.

»Ich habe dich belogen, Ulysses … Ich bin keine Italienerin.«

Er lächelte. Wenn das die ganze Lüge war! Seit ihrem ersten Gespräch auf dem Wege nach Paestum hatte er an dieser Nationalität gezweifelt!

»Meine Mutter war Italienerin, ich schwöre es dir. Aber mein Vater nicht …«

Sie stockte einen Moment. Der Kapitän horchte interessiert auf.

»Ich bin eine Deutsche und …«


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