Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Freya

Der Name Ferragut begann unter den Kapitänen der spanischen Häfen berühmt zu werden. Ulysses verdankte diese Popularität jedoch nur zum geringen Teil seinen überstandenen Abenteuern, denn alle diese Seeleute hatten böse Gefahren durchgemacht; und wenn sie zu ihm aufblickten, so lag das an dem instinktiven Respekt, den energische und einfache Männer gegenüber einem Geist empfinden, der sie ihrer Ansicht nach überflügelt. Sie, die nur die für ihren Beruf unentbehrlichen Bücher kannten, sahen mit Staunen die zahlreichen Werke in Ferraguts Kajüte, von denen manche Materien behandelten, die ihnen mysteriös erschienen. Um das Prestige ihres Kameraden noch mehr zu heben, verstiegen sich einige sogar zu der Behauptung:

»Und dieser tüchtige Seemann ist obendrein noch ein großer Jurist.«

Sein Vermögen trug gleichfalls zu dieser allgemeinen Wertschätzung bei. Er war einer der Hauptaktionäre der Schiffahrtsgesellschaft, bei der er Dienst tat, und seine Kameraden veranschlagten mit stolzer Übertreibung den Reichtum seiner Mutter auf mehrere Millionen.

Auf jedem Schiff, das die spanische Flagge führte – ganz gleich zu welchem Heimathafen es gehörte und woher seine Besatzung stammte –, traf Ferragut Freunde.

Alle mochten ihn gern: die baskischen Kapitäne, wortkarg, rauh und schnell mit dem vertraulichen Du bei der Hand; die asturischen und galicischen – stets verliebt und verschwenderisch –, die mit ihrem Charakter den Geiz und die Traurigkeit ihrer Provinzen Lügen strafen; die andalusischen, in deren anmutiger Sprache ein Reflex des weißen Cadiz und seiner leuchtenden Weine zu liegen scheint; die valencianischen, die auf der Brücke ihres Schiffs von Politik und der Marine der künftigen Republik reden; die Kapitäne Kataloniens und Mallorcas, die von Geschäften ebensoviel verstehen wie ihre Reeder. Und jedesmal, wenn sich die Notwendigkeit ergab, gemeinsame Rechte zu verteidigen, dachten alle sofort an Ulysses. Niemand verstand, ein Schriftstück so aufzusetzen wie er.

Als seine Mutter starb, schwankte Ulysses, ob er weiter zur See fahren oder sein Leben von Grund auf ändern sollte. Seine Verwandten in Barcelona, die tüchtigen Kaufleute, denen es nicht schwer wurde, ein Vermögen zu taxieren, zählten das Erbe von Vater und Mutter zusammen, fügten die Hinterlassenschaft Labartas und des Arztes hinzu und errechneten ungefähr eine Million Pesetas … Und ein Mann mit so viel Geld wollte noch leben wie ein armer Kapitän, der für sich und seine Familie auf das Gehalt angewiesen ist? …

Cinta äußerte kein Wort, um ihren Gatten nicht irgendwie zu beeinflussen. Sie war die Tochter eines Seemannes und hatte willig einen anderen zum Gatten genommen. Außerdem faßte sie die Ehe nach der guten, alten Tradition auf: die Frau absolute Herrin im Hause, aber alle anderen Angelegenheiten dem Willen des Mannes überlassend. Der Gedanke, die Aktionen des Familienoberhauptes auch nur zu kritisieren, wäre ihr unverständlich gewesen.

So gelangte Ulysses aus sich heraus zu dem Entschluß, sein Seemannsleben aufzugeben. Ein kleiner Disput mit einem Direktor der Reederei bot ihm den willkommenen Anlaß, und weder Bitten noch Erklärungen der übrigen Herren konnten ihn umstimmen.

In den ersten Monaten seiner Landrattenexistenz berührte ihn die Unbeweglichkeit der Sachen seltsam und mißliebig. Die Welt war von einer starren, antipathischen Stabilität, und bei der Feststellung, daß alles dort blieb, wo er es ließ, ohne sich die geringste Bewegung, die leiseste dynamische Laune zu erlauben, überkam ihn etwas wie die ersten Anzeichen der Seekrankheit. Wenn er morgens die Augen öffnete, genoß er zwar das angenehme Gefühl verantwortungsloser Freiheit. Der Gang dieses Hauses bekümmerte ihn in nichts; das Leben derer, die in den anderen Stockwerken über ihm und unter ihm schliefen, war seiner Obhut nicht anvertraut … Aber nach wenigen Tagen spürte er, daß eines der größten Behagen seines Lebens fehlte: die Macht, das Recht zu befehlen.

Zwei Hausmädchen kamen auf sein Klingeln eiligst herbei – wenig genug für jemanden, der Dutzende von Männern kommandiert hatte.

Niemand befragte ihn jetzt, während auf dem Meer alles seine Befehle einholte und – wie oft! – seinen Schlaf störte. Das Haus konnte ganz gut existieren, ohne daß er es täglich vom Keller bis zum Dach besichtigte, ohne daß er jede Einzelheit bis zum letzten Wasserhahn revidierte. Vor den rücksichtslosen Besen und Scheuereimern der Mädchen mußte er morgens in sein Arbeitszimmer flüchten, ohne wie früher den betreßten Arm heben zu können: »Halt!«

Ulysses fühlte sich klein, degradiert, beiseitegeschoben und dachte an Herkules, der, als Frau verkleidet, am Spinnrocken sitzt. Aus Liebe zur Familie hatte er auf das Leben des starken Mannes verzichtet.

Nur die liebevollen Aufmerksamkeiten seiner Gattin machten ihm seine Lage erträglich. Auch freute es ihn, sich mit den Arbeiten seines Söhnchens, das ins Gymnasium aufgenommen werden sollte, zu beschäftigen.

Aber all das war von kurzer Dauer. Die Gesellschaften in seinem Hause und bei seinen Verwandten langweilten ihn, diese ewigen Unterhaltungen mit Onkeln, Vettern und Neffen über Geschäfte oder die Nachteile des tyrannischen, zentralisierenden Verwaltungssystems. Nach ihrer Meinung war Madrid schuld an allen Kalamitäten im Himmel und auf Erden.

Wehmütig erinnerte sich Ulysses seines Lebens als Kapitän eines Überseedampfers: immer neue Horizonte und eine kosmopolitische Menge. Kam er an Deck, so bestürmten ihn Gruppen eleganter junger Damen, noch einen Ball zu veranstalten. Auf Schritt und Tritt begegnete er wehenden weißen Kleidern, farbigen Wolken flatternder Schleier, fröhlichem Lachen und dem musikalischen Spanisch des lateinischen Amerikas – dem ganzen spielenden Lärm eines mit tropischen Vögeln gefüllten Käfigs.

Die Expräsidenten der südamerikanischen Republiken, die sich in Europa erholen wollten, erzählten ihm auf der Brücke mit napoleonischem Ernst von den Haupttaten ihrer Regierung. Geschäftsleute vertrauten ihm ihre verblüffenden Pläne an: Ableiten ganzer Ströme, Eisenbahnen quer durch den Urwald, riesige Elektrizitätskräfte aus kilometerbreiten Fällen, innerhalb von Wochen in die Wüste ausgespiene Städte – Wunder eines jungfräulichen Kontinents, der sofort zu verwirklichen wünscht, was die Einbildungskraft ihm vorzaubert.

Und er war Herr dieser kleinen, schwimmenden Welt!

An den heißen Abenden am Äquator genügte ein Befehl von ihm, um die Apathie der Menschen und Dinge zu verscheuchen. »Die Kapelle an Deck und Sorbets serviert!« Ein paar Minuten später drehten sich die Paare im Tanz, blitzten die Augen, lächelten die Schönen. Manch junges Mädchen, das, den Kopf voll romantischer Ideen, zum erstenmal nach Europa reiste, fühlte sich enttäuscht, wenn es erfuhr, daß dieser junge, elegante Kapitän schon Frau und Kind hatte. Alleinreisende Damen, mit einem Buch in der Hand im Liegestuhl ausgestreckt, ordneten bei seinem Nahen hastig ihre Röcke, jedoch in solcher Überstürzung, daß immer noch etwas mehr sichtbar wurde. Und stets begann die Unterhaltung auf gleiche Art:

»Wie ist es möglich, daß Sie es so jung schon zum Kapitän gebracht haben?« Ah, dieses Elend! … Er, der jahrelang auf dem Atlantik inmitten einer reichen, lebensfrohen, parfümierten Welt gelebt hatte, den Kaprizen der Frauen aus Klugheit Widerstand leistend oder bisweilen diskret auf sie eingehend, sah sich jetzt auf die Bewunderung des vulgären Stammes der Blanes angewiesen!

Frühmorgens begann sofort das Unbehagen. Das erste, was seine Augen wahrnahmen, war eine »unpersönliche« Wohnung, der nichts von ihm anhaftete und die die Mädchen zwar mit peinlichster Sauberkeit, aber auch mit einem vollkommenen Mangel an Logik aufräumten, der jeden Moment die Gegenstände ihren Platz wechseln ließ. Oh, glückliche Jahre in der engen Kajüte, wo alles so trefflich angeordnet gewesen, wo nichts dem Blick entgangen war! …

Er liebte sie, wie der Mönch seine Zelle; nur irrte diese Zelle durch die Welt. Und ob er sie nach einer auf der Brücke zugebrachten Sturmnacht oder nach einem Ausflug in irgendeinem Hafen betrat – niemals hatte sich in ihr etwas verändert: weder die Bücher und Papiere auf dem Tisch, weder die Haken mit den aufgehängten Uniformen noch die festgeschraubten Photographien an den Wänden. Es wechselte das Schauspiel von Meeren und Küsten, es wechselte die Temperatur und die Stellung der Gestirne. Menschen in Wintermänteln kleideten sich eine Woche später in Weiß und suchten am Himmel die neuen Sterne der anderen Erdhälfte. Doch seine Kajüte blieb sich immer gleich; fast wie ein Winkel eines abseitigen Planeten, unempfindlich gegen die Veränderungen dieser Welt.

Dort sah er sich beim Erwachen eingehüllt in ein weiches, grünliches Licht, als hätte er auf dem Grunde eines verzauberten Sees geschlafen. Auf dem Weiß der Decke und seiner Bettücher zeichnete die Sonne ein Netz von unruhigem Gold, dessen Maschen unaufhörlich hin und her wogten: der Reflex des unsichtbaren Wassers. Lag der Dampfer vor Anker, so tönte durch das Bullauge das Rasseln der Winden, das Geschrei der Stauer, die Unterhaltung aus den Booten, die um das Schiff lagen, indes auf hoher See das sonore Schweigen der Unendlichkeit seine Kajüte füllte. Eine Brise von absoluter Reinheit – vielleicht kam sie vom anderen Ende des Planeten, Tausende von Meilen über Salzwüsten, ohne einen Fäulniskeim gestreift zu haben – glitt in Ferraguts Kehle wie leichter Wein, moussierend, trunken machend. Dieser Schluck Leben weitete seine kräftige Brust, während das leuchtende Blau des Horizontes seine Augen blendete.

Sein Haus in Barcelona? … Ein katalonisches Gebäude, überladen und unförmig; ein Gemisch von persischen Blumen und gotischen Säulen, von Baumstämmen mit Vierfüßlern und Schlangen zwischen Laubwerk aus Zement. Von der Höhe der Balkone sanken beim Ausklopfen die Staubwolken der Teppiche, und der Trugpalast schluckte mit der Unverschämtheit des Neureichen den ganzen Himmel und die ganze Sonne, die Ferragut zukamen.

Eines Abends überraschte er seine Verwandtschaft mit der Eröffnung, daß er wieder zur See ginge. Cinta hatte für diesen Entschluß, den sie vielleicht schon geahnt haben mochte, nur ein schmerzliches Schweigen. Etwas Unvermeidliches, ein Verhängnis, dem man sich beugen mußte!

»Ich will von neuem ein Schiff befehligen«, erklärte Ulysses, »ein Schiff, das mir gehört, so daß ich unabhängig von den Reedern bin. Diesen Luxus kann ich mir ja ruhig erlauben. Ich denke an eine Art Jacht – nur viel größer –, für die ich mir nach meinem Belieben Fracht und Fahrt aussuche. Vielleicht gesellen sich im Laufe der Jahre zu diesem Dampfer noch andere, und es entsteht eine Dampfergesellschaft, deren Leitung dereinst mein Sohn übernehmen kann.«

Zwei Monate später traf aus England die Nachricht ein, daß er einen schnellen Postdampfer von dreitausend Tonnen gekauft hätte, der zweimal wöchentlich den Dienst zwischen London und einem schottischen Hafen versah.

Ulysses schrieb begeistert über den billigen Kauf. Der »Fingal« hatte einem schottischen Kapitän gehört, der trotz schwerer Krankheit sich nicht zur Abgabe des Kommandos entschließen konnte und an Bord gestorben war und dessen Erben das Schiff so schnell wie möglich zu jedem nur irgend annehmbaren Preise abzustoßen wünschten.

Als der neue Besitzer den Salon betrat, wurde er überall an den Toten erinnert. Auf die Täfelung waren die Helden der schottischen Ilias gemalt: der Barde Ossian, auf seiner Harfe spielend, Malvina im Schmuck der goldenen Locken; schnurrbärtige Krieger mit geflügeltem Helm, deren Schwerthiebe auf den Schild des Gegners das Echo der grünen Seen weckte. Vor einem Kamin öffnete ein weicher, tiefer Lehnsessel seine Arme. Dort hatte der Herr des Schiffes seine letzten Jahre zugebracht. Herzkrank, mit gichtgeschwollenen Beinen, hielt, er von diesem Sitz aus einen Kurs, der sich jede Woche wiederholte, einen Kurs quer durch die Nebel, quer durch die Wogen, die oft Bruchstücke von Eisbergen mit sich wälzten. Nahe dem Kamin stand ein Piano, auf dessen Deckel vergilbte Noten lagen: die Somnambule, Lucia, Tostis Romanzen, neapolitanische Lieder – leichte, gefällige Melodien, die die alten Saiten des Instruments mit dem dünnen Kristallton einer Spieldose wiedergaben. Und der arme Seefahrer mit den Stein gewordenen Beinen hatte sehnsüchtig das Meer des Lichts gesucht. Unter dem trüben, grauen Himmel zauberte diese Musik ihm die von Orangen- und Zitronenbäumen bedeckten Hügel Sorrents und die blühenden, duftenden Küsten Siziliens vor.

Ulysses bemannte das Schiff mit Leuten, die ihm nahestanden oder lange unter seinem Befehle gefahren waren. Sein erster Offizier hatte auf Fischerbarken angefangen. Aus demselben Dorf wie Ferraguts Großeltern stammend, bewahrte er dem Doktor ein respektvolles Gedenken. Als der kleine Ulysses mit seinem Onkel fischen ging, war Tòni schon Vollmatrose auf einem Küstensegler gewesen und redete den Buben, wenn er ihn traf, mit Du an. Jetzt, da aus dem Kinde sein eigener Kapitän geworden war, hielt er es für angezeigt, mit dieser alten Gewohnheit zu brechen. Doch Ulysses gab es nicht zu. Verbanden nicht alle Bewohner der Marina lange Jahrhunderte isolierten Lebens und gemeinsamer Gefahren? …

Als eigener Reeder lernte Ferragut mannigfache Sorgen kennen, von denen er bisher nichts geahnt hatte, und er erlebte an sich dieselbe Unruhe bringende Umwandlung wie der Künstler, der zum Impresario, wie der Literat, der zum Verleger wird. Es war ihm nicht mehr vergönnt, sich ausschließlich seiner romantischen Liebe zum Meer und seinen Abenteuern zu überlassen. Jetzt mußte er sich um Kohlenverbrauch und Kohlenpreise kümmern, um die wütende Konkurrenz, die die Frachtsätze mehr und mehr drückte; mußte ständig auf der Lauer liegen nach baldiger und gewinnbringender Ladung.

Denn der Fingal, der zum Andenken an den Triton in »Nereide« umgetauft worden war, erwies sich trotz seines niedrigen Preises als eine bedenkliche Erwerbung. Ulysses, den echten Seemann, hatte der hohe, scharfe Bug bestochen, wohl geeignet, um der schwersten See zu trotzen, der schlanke Rumpf, der Schnelligkeit verriet, sowie die für einen Frachtdampfer ausnahmsweise starken Maschinen – alles Eigenschaften, die einem Postdampfer sehr zustatten kamen. Aber das Schiff verzehrte zu viel Kohlen, um beim Warentransport guten Gewinn abzuwerfen, und bald dachte der Kapitän auf seinen Fahrten nur noch an die Kessel. Immer schien ihm die Nereide zu schnelle Fahrt zu machen.

»Mit halber Kraft!« befahl er durchs Sprachrohr.

Doch trotz dieser und manch anderer Vorsichtsmaßregel tauchte bei der Bilanz jeder Fahrt der Kohlenverbrauch mit einer Riesenziffer auf, die jeden Verdienst verschluckte. Die Schnelligkeit der Nereide war gering, verglichen mit der eines modernen Passagierdampfers, aber absurd im Verhältnis zu den Frachtschiffen mit großem Schiffsraum und kleiner Maschine.

Sklave der überlegenen Geschwindigkeit seines Schiffes und in ständigem Kampfe mit ihr, bemühte sich Ferragut, seine Fahrten ohne allzu große Verluste fortzusetzen. In allen Gewässern des Planeten sah man die Nereide mit den sonderbarsten Frachten, und dank ihr wehte die spanische Flagge in Häfen, die sie nie zu Gesicht bekommen hatten.

An den einsamsten Küsten Syriens und Kleinasiens tauchte sie auf; löschte in sandverwehten phönizischen und griechischen Häfen, deren armselige Häuser am Fuß von Ruinenhügeln erbaut waren, aus denen sich Marmorsäulen wie geköpfte Palmen reckten; wagte sich dicht vor die verheerenden Brandungen der Westküste Afrikas, um unter einer Sonne, die das Deck knistern ließ, Kautschuk, Straußenfedern und Elefantenzähne zu laden.

Gab es keine solchen Fahrten abseits der gewöhnlichen Schiffsrouten, so nahm die Nereide Kurs nach Amerika, resigniert mit Engländern und Norwegern, den Fuhrleuten des Ozeans, an Billigkeit wetteifernd. Tonnage und Tiefgang erlaubten ihr, die großen Ströme Nordamerikas bis zu den Städten des Innern hochzufahren, wo lange Reihen Fabrikschlote am Ufer eines zum Hafen umgewandelten Süßwassersees rauchten.

Im Süden dampfte sie auf dem rötlichen Paraná nach Rosario und Colastine und lud argentinisches Getreide. Sie ankerte in dem bernsteinfarbigen Wasser des Uruguay, gegenüber von Paysandú und Fray Ventos, und füllte ihren Bauch mit Kuhhäuten für Europa und Salzfleisch für die Antillen oder lief aus dem Stillen Ozean in den Guayas ein, um nach einer Fahrt durch eine tropische Vegetation Kakao von Guayaquil zu frachten.

Aber diese Reisen, die Ferragut früher in Enthusiasmus versetzt hatten, endigten jetzt mit Enttäuschungen. Immer zahlreicher wurden die Frachtschiffe, immer billiger die Frachten, und Ulysses konnte sich mit seiner eleganten Nereide nicht halten gegen die wortkargen, alkoholisierten Kapitäne des Nordens, die für den Schildkrötenmarsch ihrer schmutzigen Kähne sich mit jedem Preis zufrieden gaben.

»Ich mache ein Ende«, sagte er traurig zu seinem Ersten. »Wenn ich einen Reflektanten finde, verkaufe ich den Dampfer.«

Da änderte eine unerwartete Nachricht jählings seine Lage. Die Nereide war mit argentinischem Mais und getrockneter Luzerne in den Hafen von Teneriffa eingelaufen, und Tòni kam vom Hafenamt zurück, wo er die Schiffspapiere hatte beglaubigen lassen.

»Krieg!« schrie er, noch ehe er an Deck stand.

Ulysses nahm die Neuigkeit gleichgültig auf.

»Krieg? … Was für ein Krieg soll das sein?«

Und als er hörte, daß die Mittelmächte die Feindseligkeiten gegen Frankreich und Rußland eröffnet hatten, daß England zugunsten Belgiens intervenierte, machte er sich daran, die politischen Konsequenzen dieses Weltbrandes zu erwägen. Etwas anderes sah er nicht.

Doch den praktischen Tòni beschäftigte die Zukunft des Dampfers.

»Vorbei mit dem Elend! Dreizehn Schilling pro Tonne, schon heute! … Fortan brauchen wir nicht mehr in jedem Hafen nach Fracht zu suchen, als bäten wir um Almosen! Man wird uns mit Angeboten bestürmen, und die Nereide wird ihr Gewicht in Gold wert sein.«

Sehr bald sollten diese Voraussagen, denen Ferragut skeptisch gegenüberstand, in Erfüllung gehen. Die Schiffe wurden rar auf dem Meere. Aus Furcht vor feindlichen Kreuzern flüchteten sich manche in neutrale Häfen, während der größte Teil von den Regierungen gechartert wurde, um das für den modernen Krieg erforderliche ungeheure Material zu transportieren.

Der Frachtpreis stieg von dreizehn Schilling auf fünfzig, auf sechzig, und schnellte einige Tage später auf hundert.

»Das ist die Grenze«, meinte der Kapitän Ferragut.

»Noch lange nicht!« widersprach sein Erster mit grausamer Freude. »Ich sehe die Tonne schon auf hundertfünfzig, auf zweihundert … Wir werden reich!«

Tòni redete in der Mehrzahl, obgleich es ihm nicht einen Augenblick in den Sinn kam, eine Peseta mehr zu fordern als seine monatlichen fünfundvierzig Duros. Das Los Ferraguts und seines Schiffes stand an erster Stelle für ihn, der sich glücklich schätzte, wenn es ihm nicht an Tabak mangelte und er seiner Frau das ganze Gehalt senden konnte.

Seine Sehnsucht war die aller bescheidenen Seeleute: ein Stückchen Land für die alten Tage. Die baskischen Piloten träumten von Wiesen, Apfelbäumen und vielen Kühen; Tòni dachte an einen Weinberg nahe der Küste, ein schneeweißes Häuschen mit schattiger Laube, in der er seine Pfeife rauchen und zusehen wollte, wie Kinder und Enkel die Trauben zum Trocknen auf dem Rohrgeflecht ausbreiteten.

In seine bronzefarbige Haut hatte die Salzluft, nicht die Jahre, tiefe Furchen eingegraben. Und überall wuchsen ihm Haare, sowohl in den Ohren als auch in den breiten Nasenflügeln, die bei jeder Erregung zitterten. Doch wurde diese Häßlichkeit durch zwei sanfte Augen gemildert, die mit der Ergebenheit eines treuen Freundes an Ferragut hingen, wenn dieser sich über Tònis Anschauungen lustig machte.

Denn Tòni war ein Mann mit eigenen Ideen. Nur vier oder fünf, aber diese waren kristallisiert, hart, unbeweglich wie Mollusken, die, am Felsen klebend, schließlich selbst zu einem steinernen Auswuchs werden. Im Laufe seiner fünfundzwanzigjährigen Küstenschiffahrt im Mittelmeer hatte er alle radikalen Zeitungen gelesen, auf die er seine Hand legen konnte.

Betrat er nach längerer Abwesenheit eine Hafenstadt Südamerikas, so bewunderte er die rapiden Fortschritte der jungen Völker; die riesigen, innerhalb eines Jahres erbauten Kais; die endlosen Straßen, die bei seinem letzten Besuch noch nicht existierten, und die schönen, schattigen Parkanlagen auf trockengelegten Lagunen.

»Ganz natürlich«, erklärte er kurz und bündig, »wir sind ja auch in einer Republik.«

Hingegen genügte in den spanischen Häfen die geringfügigste Unannehmlichkeit beim Festmachen des Schiffs, irgendeine Auseinandersetzung mit der Hafenpolizei oder ein schlechter Ankerplatz, um ihm die bitteren Worte zu entlocken:

»Unglückliches Land! … Alles das kommt von Thron und Altar!«

In London oder an den Hamburger Kais neckte der Kapitän seinen Steuermann gelegentlich:

»Hier gibt es keine Republik, Tòni! Und trotzdem, das hier ist doch allerlei …«

Doch Tòni gab sich nicht für besiegt. Er zog das behaarte Gesicht zusammen und dachte angestrengt nach, im Bemühen, für seine unbestimmten, verschwommenen Gedanken eine Form zu finden.

»Ich kann mich nicht klar ausdrücken, mir fehlen die Worte … Aber ich glaube, daß es das Volk ist, das all dies schafft.«

Als er in Teneriffa die Nachricht vom Kriegsausbruch erfuhr, faßte er, lakonisch wie ein Triumphator, all seine Doktrinen in eine Formel zusammen.

»Es gibt in Europa zu viele Könige … Diese Kalamität mußte kommen.«

Und dieses Mal wagte Ferragut nicht, die Einfalt seines Ersten zu verspotten.

Die gesamte Mannschaft der Nereide jubelte über die guten Geschäftsaussichten. Bisher schweigsam, als hätte sie geahnt, daß ihr Kapitän dieser nutzlosen Fahrten überdrüssig werden würde, arbeitete sie nunmehr mit wahrer Lust.

Überfluß herrschte jetzt auf dem Vorschiff, wo sich Küche und Logis befanden, das unbestrittene Reich von Onkel »Caragòl Schnecke«. Der Alte hatte mit Ulysses Freundschaft geschlossen, als dieser die Hörsäle schwänzte, um im Hafen zu rudern, und er selbst, wegen zunehmender Kurzsichtigkeit zum Verzicht auf die Küstenschiffahrt gezwungen, zu der Stellung eines kleinen Kahnfischers herabsteigen mußte. Sein würdiger Ernst und seine Korpulenz gaben ihm etwas Priesterliches; er war der fettleibige Typ der Mittelmeerküsten: kleiner Kopf, dicker Hals und dreifaches Kinn. Aber am Bug seines Nachens wirkte er wie ein römischer Patrizier auf dem Thron seines Dreiruderers.

Sein kulinarisches Talent litt an Eklipsen, sobald der Reis nicht als Hauptthema seiner Kompositionen figurierte. Alles, was dieses Nahrungsmittel hergeben kann, kannte er bis zum letzten Tüttelchen. Wenn die Mannschaft sich in tropischen Häfen Bananen, Ananas und Aguacates leid gegessen hatte, präsentierte er entweder eine große Schüssel Reis mit Stockfisch und Kartoffeln, oder gebackenen Reis, dessen goldige Kruste das rötliche Gesicht der Kichererbsen und der schwarze Rücken der Blutwürstchen durchbrachen. Andere Male weckte er den Gedanken an die ferne Heimat durch den köstlichen Reis mit Mangold oder ein fetttriefendes Gemenge mit Rüben und Bohnen.

An den Festen der valencianischen Heiligen, denen Onkel Caragòl den obersten Platz im Himmel anwies, erschien jedoch die dampfende Paella, eine riesige Arena aufgequollener Körner, in der das mitgekochte Geflügel begraben lag. Hierzu überraschte er die Matrosen mit dem fürstlichen Geschenk umfangreicher roher Zwiebeln, deren Schärfe dem Auge Tränen entlockte. Ein Fausthieb machte sie mürbe, und abwechselnd mit einem Löffel Reis, knirschte ein Zwiebelbissen im Munde und rutschte die Kehle hinunter wie ein Stückchen Weißbrot.

Ankerte die Nereide in einem fischreichen Hafen, so machte er sich an das ganz große Werk – einen »arroz abanda«. Alle Fische, die er auftreiben konnte, lieferten zusammen mit Hummern, Miesmuscheln und anderen Schaltieren die Brühe für den Reis, von dem jedes Körnchen sich mit der ganzen konzentrierten Meeressubstanz vollsog. Feierlich überreichte der Koch dazu halbe Zitronen, da der »arroz abanda« nur mit diesem duftenden Tau gegessen werden darf. Unglückliche, die im Binnenlande leben und alles mögliche Reis à la Valenciana nennen, wissen von diesem Genuß nichts!

Nicht weniger wichtig als der Reis war ihm das Öl. In den knappen Zeiten, als der Kapitän Sparsamkeit vorgeschrieben hatte, behütete Caragòl die riesige Kruke in der Küche wie seinen Augapfel, und da er argwöhnte, daß die Küchenjungen und Leichtmatrosen sein Öl als Haarpomade benutzten, hielt er jeden Kopf, der in den Bereich seiner Arme kam, fest, um ihn an seine Nase zu führen. Der leiseste Hauch von Olivenöl entfachte seinen Zorn. »Ha, du Langfinger!« Und seine enorme Hand, weich und schwer wie ein Fechthandschuh, fiel nieder auf den Missetäter.

Trotz seiner schwachen Augen erkannte er sofort die Nationalität der in der Nähe der Nereide ankernden Schiffe. Traurig schnüffelte seine Nase: »Nichts! Fade Schiffe! Fahrzeuge aus dem Norden, die ihr Essen mit Fett zubereiten; wahrscheinlich protestantische Schiffe …«

Andere Male ging er bedächtig, als folge er einer Spur, an der Reling hin, bis er sich der nachbarlichen Küche gegenüber befand, von wo ein köstlicher Duft herüberwehte. »Holla, Kameraden! …« Unmöglich, daß er sich irrte! Das waren Spanier; und wenn nicht, kamen sie aus Marseille, Genua oder Neapel – also immerhin Stammesverwandte, die unter allen Breiten essen und leben wie daheim. Alsbald entspann sich eine Unterhaltung in dem Mittelmeeridiom, jenem Mischmasch aus Spanisch, Provenzalisch und Italienisch, das die Bastardvölker der afrikanischen Küste von Ägypten bis Marokko erfunden haben. Man tauschte bisweilen wohl auch Geschenke aus, meist Früchte der Heimat, doch ebensogut konnte ohne ersichtlichen Grund eine jähe Feindschaft entbrennen. Dann schossen drohend die Fäuste über die Reling; es wetterte Beschimpfungen, bei denen unweigerlich nach jedem zweiten Wort die Jungfrau und ihr heiliger Sohn aufs Tapet kamen.

Das war für den sehr religiösen Onkel Caragòl das Signal, mit hochmütigem Schweigen in seine Küche zurückzukehren. Tòni spöttelte über die frommen Gefühle des Alten. Aber die materiellen, gefräßigen Leute vor dem Mast, die sich sagten, daß ihm allein die Verteilung des Weines und der leckeren Happen oblag, horchten mit gut gespielter Andacht wohl zum hundertsten Male auf seine Historie vom Christus del Grao Grao ist die Hafenvorstadt Valencias., dessen Bild am sichtbarsten Platz der Küche hing: wie einst vor vielen, vielen Jahren, als der Hafen von Valencia nur aus ein paar elenden Hütten bestand, die auf einer Leiter ruhende heilige Statue an Bord eines Schiffes ankam, das sich sofort nach dem Ausladen der wunderbaren Fracht in Rauch verflüchtigte.

Jahrzehnte hindurch hatte Caragòl barfüßig an Festtagen die heilige Leiter tragen helfen. Jetzt genossen andere Seeleute diese Ehre, während er, alt und schwachsichtig, unter den Zuschauern die Prozession erwartete, um mit seinen Kleidern wenigstens das Holz der riesigen Reliquie zu streifen.

Alles, was er am Körper trug, war durch diese Berührung geheiligt worden. Nicht eben viel, denn er ging an Bord sehr leicht gekleidet, wie ein Mann, der über menschliche Vorurteile hinaus ist. Ein Hemd mit ewig flatternden Zipfeln; ein Paar durch einen einzigen Knopf geschlossene Hosen, je nach dem Wetter aus Baumwolle oder gelbem Flanell, und ein Hut aus Palmblättern, den er niemals abnahm, nicht einmal beim Hantieren mit den Kasserollen.

Sein Glaube an den Schutzheiligen der valencianischen Seeleute stand felsenfest. Wenn bei Sturm die Wogen das Deck von vorn bis achtern fegten und sich auf den Gesichtern der Matrosen Unruhe spiegelte, steckte er seinen Kopf aus der Küche heraus.

»Mut, Jungens! Der Christus von Grao beschirmt das Schiff. Uns kann nichts passieren …«

Die einen faßten Vertrauen; andere sprachen in häßlichen Worten von seiner Statue und der heiligen Leiter, worüber der Alte indes nicht ergrimmte. Weiß doch der liebe Gott, der den Seeleuten die Gefahren sendet, daß ihre Flüche nicht böse gemeint sind!

Sein religiöser Sinn erstreckte sich auch auf die Tiefen. An die Fische des Ozeans verschwendete er kein Wort. Genau wie diese duftlosen Schiffe, die kein Olivenöl kannten, ließen sie ihn gleichgültig. Es mußten Ketzer sein!

Aber die Fische des Mittelmeers! Und ihnen zu Ehren erzählte er an heißen Tropenabenden das Wunder des Peixòt Riesenfisch..

»Als die Galeere Alfonsos V. von Aragonien den Golf von Neapel verließ, stieß sie nahe der Insel Capri auf eine verborgene Klippe, die ihr den Rumpf aufriß. Trotzdem machte das Schiff kein Wasser. Alle Segel entfaltet, flog es dahin vor dem Winde, mit dem König, den Damen seines Hofes und dem Gefolge in Eisen gehüllter Hidalgos an Deck. Zwanzig Tage später kam es in Valencia an, gesund und heil wie jeder, der im Moment der Gefahr die Jungfrau del Puig anruft. Wie nun die Schiffszimmerleute den Rumpf der Galeere untersuchten, sahen sie, daß ein ungeheurer Fisch sich von ihm löste, mit der Würde einer ehrenhaften Person, die ihre Pflicht erfüllt hat. Es war ein Delphin, von der heiligsten Madonna entsandt, damit er seinen Rücken gegen das Leck preßte. Und so war er wie ein Pfropfen von Neapel bis Valencia mitgeschwommen, ohne einen Tropfen Wasser durchzulassen.«

Der Koch gestattete weder Kritik noch Proteste. An diesem Wunder, von dessen Wahrheit er sich persönlich überzeugt hatte, wagte man zu zweifeln? Hatte er nicht mit eigenen Augen – damals, als sie noch gut waren – auf einem alten Gemälde im Kloster del Puig alles gesehen, den König, den Peixòt und die Jungfrau, die vom Himmel herab den Befehl erteilte?

Bei dieser Erzählung kam es vor, daß die Brise den Hemdzipfel des Alten hob und ein Riesenbauch, durch einen strammsitzenden Knopf in zwei Hälften geschieden, sichtbar wurde.

»Vorsicht, Onkel Caragòl!« rief ein Spottvogel. »Er wird dir entschlüpfen!«

Der fromme Mann lächelte mit der seraphischen Ruhe dessen, der jenseits von Pomp und Eitelkeiten dieser Welt steht.

»Laß nur! Wegfliegen kann er ja nicht.«

Und er begann ein anderes Wunder zu erzählen …

Ferragut führte die inbrünstigen Gemütswallungen des Kochs und die leichte Kleidung, die er zu jeder Jahreszeit trug, auf die gleiche Ursache zurück: in Caragòls Innerm brannte ein unaufhörlich erneutes Feuer. An kalten, nebligen Tagen erschien er auf der Brücke mit Schalen eines dampfenden Getränks. »Calentet« nannte er es. Nichts Besseres für Männer, die lange Stunden wachsam in rauhem Wetter verbringen müssen, als dieser Kaffee, mit Zuckerrohrschnaps gemischt, aber zu ungleichen Teilen – der Alkohol herrschte in der schwarzen Flüssigkeit bei weitem vor. Tòni leerte hastig so viele Schalen, wie man ihm anbot. Da Ferragut jedoch abwehrend reinen Kaffee verlangte, mußte Caragòl alle die vom Kapitän verschmähten Calentets austrinken, unbeschadet der anderen, die er sich selbst in dem Mysterium seiner Küche zusammenbraute. An schwülen Tagen wieder trug er Refresquets auf, halb aus Rum, halb aus Wasser bestehende Erfrischungen mit einem dicken Bodensatz von Zucker, die den Alten blitzschnell, ohne Zwischenstufen, von vulgärer Ruhe zu himmlischer Trunkenheit führten.

Der Kapitän kanzelte ihn ab, wenn er seine roten, entzündeten Augen sah. »Willst du vielleicht gänzlich erblinden? …« Doch dieses Schreckgespenst störte den Koch nicht. Er mußte den Wohlstand der Nereide auf seine Weise feiern. Und was ihn an diesem Wohlstand am meisten interessierte, war seine Macht, Öl und Rum in verschwenderischer Menge verbrauchen zu können, ohne daß bei der Rechnungsvorlage Ermahnungen drohten.

»Heiliger Christus von Grao, möchte dieser Krieg doch ewig dauern! …«

Dreimal machte die Nereide die Fahrt nach Südamerika. Beim letzten Mal löschte sie Getreide und Rohhäute in Neapel, kollidierte aber bei der Hafeneinfahrt mit einem englischen Hospitalschiff, das ihr Heck beschädigte und obendrein noch einen Schraubenflügel zerbrach.

Tòni schnaubte vor Ungeduld, als er hörte, daß sie längere Zeit stilliegen müßten. Wenn auch Italien am Kriege noch nicht teilnahm, belegten doch seine Defensivmaßregeln die gesamte Schiffsindustrie mit Beschlag; infolgedessen war vor vier Wochen mit der Beendigung der Reparatur nicht zu rechnen. Ferragut, für den in Barcelona wertvolle Fracht lagerte, kalkulierte, was dieser Zeitverlust ihn kosten würde. Und nur zur Beruhigung seines Steuermannes äußerte er häufig:

»England wird uns entschädigen … Die Briten sind großzügig.«

Um über seine Verstimmung hinwegzukommen, ging er an Land, bewunderte in den Museen griechische Statuen und ausgegrabene Gegenstände, die einen Blick in das intime Leben der Antike gewährten, und schlenderte durch die ärmeren Stadtviertel. Krumme, abschüssige Straßen, die Treppenabsätze bildeten, wurden von schmalen, hohen Häusern eingefaßt. Überall Balkone mit quer über die Straße gespannten Leinen, auf denen Wäsche in allen Farben zum Trocknen hing. Vor den Garküchen unter freiem Himmel drängten sich die Kunden und aßen mit den Fingern heiße Makkaroni oder gebratene Fleischstückchen. Der melodische Ruf fliegender Händler pries allerlei Waren an, und von den Balkonen schwebte an einer Schnur ein Körbchen herunter: Feilschen und Kauf nahm seinen Weg direkt von der Gasse bis zum vierten Stockwerk. Durch dieses Gewimmel kletterten die Ziegen gewandt die Stufen hinauf, um sich gleich an Ort und Stelle die Euter leeren zu lassen.

Aus dem Häusergewirr der unteren Stadt reckten die Kirchen Neapels ihre mit grünen und gelben Glasurziegeln gedeckten Kuppeln und Türme – mehr an die Dächer orientalischer Bäder als an christliche Kirchen gemahnend.

An den Kais traf Ferragut einige Überbleibsel des früheren Hafens. Das geeinte Italien hatte zwar viel niedergerissen, viel neu erbaut; aber noch standen etliche Reihen kleiner Häuser mit weißer oder rosa Fassade, grüner Tür und niedrigem Dach, deren weitvorspringendes Erdgeschoß einer von hölzernem Geländer eingefaßten Galerie als Stütze diente. Durch die Fenster erblickte man bunte Riesenmuscheln, auf altmodischen Kommoden thronend, an den Wänden kindlich ausgeführte Bilder von Fregatten. Häuschen, wie sie sich in allen Mittelmeerhäfen wiederholen.

Neben dem alten Hafenamt, dem ehemaligen Palaste Karls V. – weiß und blau, mit einem Bild der unbefleckten Gottesmutter –, waren die Lastkarren aufgereiht, dieselben originellen Gespanne, die Ferragut schon vor Jahren gesehen hatte. In der Deichsel ein weißer Ochse mit mächtigen, weit abstehenden Hörnern, rechts von ihm ein Pferd, links ein großer, magerer Esel. Und diese unharmonische Dreiheit wiederholte sich bei allen Karren, die längs der Kais unbeweglich vor den Schiffen harrten oder ihre schwerfälligen Räder nach der oberen Stadt zu drehten.

Nach wenigen Tagen schon war Ferragut Neapels und seines Lärms überdrüssig. In den Cafés der Toledostraße und der Galerie Umbertos I. mußte er einige beunruhigende Burschen in weit ausgeschnittener Weste, mit Schmetterlingskrawatte und schräg auf den Locken sitzendem Filz abwehren, die ihn mit leiser Stimme zu unerhörten, eigens für die Fremden organisierten Vorführungen einluden.

Er hatte genug Skulpturen und Hausrat aus den verschütteten Städten gesehen, und die Schlüpfrigkeiten der Geheimkabinetts begannen ihn zu ärgern. Immer wieder der Phallus als Hauptmoment …

So nahm er eines Morgens den Zug, der sich an der Berglehne des rauchenden Vesuvs entlang schlängelte und ihn durch rosige, von Weinbergen umrahmte Dörfer nach Pompeji führte.

Aus den vereinsamten Hotels und Restaurants am Bahnhof schwärmten wie ein plötzlich aufgescheuchtes Bienenvolk Scharen von Führern, jammernd, daß der Krieg den Reiseverkehr völlig lahmlegte. »Signore! Ganz gleich, was Sie bezahlen wollen!« Doch Ferragut lehnte ab. Stets hatte er, wenn er sich Pompejis erinnerte, das Verlangen gehabt, es noch einmal zu sehen, jedoch allein, ganz allein, um einen ungeteilten Eindruck seiner Vergangenheit zu erhalten.

Sein erster Besuch lag siebzehn Jahre zurück. Steuermann auf einem katalonischen Segler, der im Hafen von Neapel ankerte, hatte er an seinem freien Sonntag die billigen Fahrpreise benutzt und ganz Pompeji besucht, aber in Gesellschaft einer Herde Reisender, von denen jeder den Führer aus nächster Nähe hören wollte.

An der Spitze des Trupps war ein junger, eleganter Geistlicher, ein Monsignore aus Rom in seidener Soutane, mit zwei sehr hübschen Ausländerinnen gegangen, die sich stets auf dem höchsten Punkt aufstellten und dabei ihre Kleider aus Angst vor den flinken, in den Ruinen umherhuschenden Salamandern hochrafften. Ferragut hielt sich hinter ihnen und erblickte alles durch ihre Beine hindurch. »Ah, wenn man dreiundzwanzig ist! …« Sprach man ihm später von Pompeji, so vermischten sich die Bilder seiner Erinnerung. »Sehr schön, höchst interessant!« Er sah Straßen, Paläste, Tempel – aber als unklaren Hintergrund. An erster Stelle standen vier schlanke, wunderschöne Säulen in schwarzer, durchbrochener Seide.

Jetzt fand er die so oft ersehnte Einsamkeit. In den Ruinen gab es kein Geräusch außer dem Summen der Insekten über den Frühjahrsblüten oder dem Rascheln unsichtbarer Eidechsen.

Ohne mit Erklärungen lästig zu fallen, ließ der Aufseher des kleinen Museums an der Porta Herculana ihn in Ruhe die Abgüsse der tausendjährigen Leichen betrachten – Pompejaner aus Gips, die für immer den panischen Schrecken bewahrten, in dem der Tod sie überrascht hatte. Kaum daß der Mann die Augen einen Moment von seiner Zeitung hob; die Nachrichten aus Rom, das diplomatische Intrigenspiel und die Möglichkeit von Italiens Kriegserklärung absorbierten ihn ganz.

In den stillen Straßen hallten die Schritte des Seemanns laut und lange wider wie in einer unterirdischen Totenstadt. Blieb er stehen, so regierte von neuem das Schweigen. »Ein Schweigen von zweitausend Jahren«, dachte Ferragut. Zwei Stunden lang konnte er sich für einen Bewohner des alten Pompeji halten, der während eines zu Ehren Pans vor den Toren gefeierten Festes allein in der Stadt zurückgeblieben war.

Sie dünkte ihn kleiner in dieser Verlassenheit. Enge, mit vieleckigen blauen Lavablöcken gepflasterte Straßen, zwischen denen dichte, blütengesprenkelte Kräuterbüsche wucherten. Wagen, von denen nicht der Staub übriggeblieben war, hatten tiefe Geleise in das Pflaster eingegraben. An jeder Kreuzung stand ein Brunnen, dessen Fratze einstmals Wasser spie.

Die roten Aufschriften der Wände taten kund, wie die Kandidaten für das Amt der Ädilen oder Duumvirn um die Gunst der Wähler gebuhlt hatten. Manche Türen zeigten den Phallus, um den bösen Blick abzuwehren; andere ein Paar verstrickter Schlangen als Symbol des Familienlebens. In den Winkeln der Gassen bat ein lateinischer Vers die Passanten, den Ort nicht zu verunreinigen, und an den Mauern lebte noch das Werk der Straßenjungen aus Cäsars Zeit: Karikaturen und Sudeleien.

Der Boden, immer wieder von Erdstößen erschüttert, hatte keine massiven Häuser zugelassen. Noch standen die aus Ziegeln oder Zement aufgeführten unteren Stockwerke; jedoch die lediglich aus Holz erbauten oberen waren mit Ausnahme der steinernen Treppen von dem vulkanischen Feuer verschlungen worden.

In dieser liebenswürdigen, leichtlebigen Stadt, mehr griechisch als römisch, hatten fast alle Häuser der Plebejer ihre Erdgeschosse den Geschäftsleuten eingeräumt: quadratische Gewölbe wie die Basare der Araber, mit Türen in der ganzen Breite des Ladens, die von der Straße einen Blick bis in die letzten Ecken gestatteten. Bei vielen waren noch die Verkaufsbank aus Stein und ihre hohen Tonkrüge vorhanden. Die Fassaden der Privathäuser entbehrten jeder Verzierung. Ihre glatten, unzugänglichen Wände mit einer kleinen Pforte wurden nur hie und da nach Art orientalischer Paläste von einem hoch angebrachten, vergitterten Fenster unterbrochen. Das ganze Leben spielte sich in dem inneren Hof ab, dessen prächtige Fischweiher, Statuen und Blumenbeete den Reichtum des Besitzers verkündeten.

Den seltenen Marmor vertrat bemalter Stuck. Rot und gelb waren die von mehrfarbigen Kapitalen gekrönten Säulen aus Ziegelstein, und über den meist in Schwarz und Rot gehaltenen Wänden, deren Mitte ein kleines, mit erotischen Szenen geschmücktes Viereck einnahm, lief ein Fries, den Liebesgötter und Tritonen zierten.

Etwas erschöpft von seiner Wanderung setzte sich Ferragut auf die Steinbank eines Ruinentempels. Den Plan der toten Stadt auf seinen Knien ausgebreitet, las er halblaut die Namen der wegen eines Mosaiks oder eines Gemäldes besonders vermerkten Gebäude: die Villa des Diomedes, das Haus des Mellagros, des verwundeten Adonis, des Labyrinths, des Fauns. Und nicht weniger interessant klangen die Bezeichnungen der Straßen: Via der Thermen, Via der Gräber, Via des Überflusses, Via der Theater.

Ein Geräusch von Schritten ließ den Kapitän den Kopf heben. Zwei Damen, denen ein Führer voranschritt, kamen vorbei. Beide waren hoch gewachsen, ihre Gesichter von einem Schleier verhüllt. Die eine, etwas stärker und wohl die ältere, setzte ihre Füße, die in bequemen Stiefeln mit niedrigen Absätzen steckten, fest und sicher auf; anders ihre Begleiterin, mit deren graziösem Gang die zierlichen Stöckelschuhe harmonierten.

Ein halbe Stunde später verließ Ferragut seine Bank, müde dieser strengen Unbeweglichkeit vor seinen Augen. In der Via der Thermen lockte ihn die Villa Pansas, die prunkvollste von ganz Pompeji, so groß, daß sie für sich allein einen ganzen Block einnahm. Den hinter dem Hause liegenden Xystos hatte man wieder bepflanzt, und Gruppen von Zypressen und Lorbeer wechselten mit Rosen- und Veilchenbeeten.

Als Ulysses der Gartenmauer folgte, stieß er auf die Damen, die durch ein Torgitter die Blumen betrachteten, wobei die jüngere auf englisch ihre Bewunderung für einige purpurrote Rosen am Sockel eines verwitterten Fauns äußerte.

In Ferragut erstand das Verlangen, sich galant zu zeigen, durch eine kecke Geste das Interesse der Fremden zu wecken, und zur großen Überraschung der beiden Damen setzte er mit gewandtem Sprunge über die Mauer. Die ältere, ohne Zweifel nur an das Leben in disziplinierten Städten gewöhnt, wo jedes Verbot strikt befolgt wird, stieß einen kleinen Schrei aus und schien flüchten zu wollen, damit sie nicht in das Attentat dieses Unbekannten verwickelt würde. Doch schon tauchte der Kapitän wieder auf der Mauer auf. Im Glauben, Engländerinnen vor sich zu haben, überreichte er ihnen mit ein paar höflichen englischen Worten die beiden Rosen in seiner Hand; Blumen wie andere auch, in einem Erdreich gewachsen, das sich in nichts von anderer Erde unterschied. Aber der Rahmen der tausendjährigen Mauer, der Schatten der von Pansa zur Zeit der ersten Cäsaren erbauten Villa verlieh ihnen einen eigenen Wert.

Die schönste Rose reichte er der jungen Dame, und lächelnd nahm sie wie einen ihr gebührenden Tribut die Gabe an. Ihre Begleiterin jedoch verriet jetzt Ungeduld, von dem Unbekannten loszukommen. »Danke … danke!« Und den Arm der anderen nehmend, zog sie sie eilig mit sich fort. Hinter dem Brunnen der nächsten Ecke entschwanden sie seinen Augen …

Ulysses speiste mittags im Restaurant Diomedes und kam gerade noch rechtzeitig zur Station, um den Zug nach Salerno zu erreichen. Er wollte auch diese im Mittelalter wegen ihrer Ärzte und Seefahrer berühmte Stadt und anschließend die Tempelruinen von Paestum besuchen.

Beim Verlassen des Zuges bemerkte er, daß ein Wagen die beiden Fremden zur Stadt führte. Begegnungen waren in dem kleinen Ort im Laufe des Nachmittags unausbleiblich. So trafen sie sich am Hafen, den Bänke von Triebsand zu vernichten drohten, sahen sich in den Gärten am Meer, beim Denkmal Pisicanes, des romantischen Herzogs von San Juan – ein Vorläufer Garibaldis –, der in der Blüte seiner Jugend für die Freiheit Italiens fiel.

Abends brachte der Zufall sie wieder zusammen: sie wohnten im selben Hotel; und da der Tisch der beiden Damen in Ferraguts Nähe stand, konnte er sie nach einem kühl beantworteten Gruß in Muße betrachten.

Das Gesicht der älteren war so, wie er es sich trotz des Schleiers vorgestellt hatte. Vielleicht mochte sie früher einmal den Männern gefährlich gewesen sein, jetzt aber? …

Sie mußte die Vierzig überschritten haben, wenngleich ihr voller Körper, wohl dank Massage und Gymnastik, durchaus nicht schwerfällig wirkte. Nur die Haut unter dem Puder war schon etwas welk. Ohne Lorgnette hatten ihre kurzsichtigen Augen den friedlichen Ausdruck einer weidenden Kuh. Aber sobald die goldgefaßten Gläser sich zwischen sie und die äußere Welt stellten, blickten diese grünen Augen mit durchdringender Schärfe auf Menschen und Dinge. Bisweilen schienen sie hochmütig, eisig, eine Leere um sie herum zu schaffen, und man dachte unwillkürlich an den Kreis, den ein Degen beschreibt.

Die junge Dame war weniger abweisend. Sie drehte Ferragut das halbe Profil zu, doch in ihren Augenwinkeln glaubte er ein kleines Lächeln zu sehen, das für seine stumme Bewunderung dankte.

Wie eine Frau, die keine Indiskretionen ihrer Frisur zu fürchten hat, kümmerte sie sich nicht um einige unter dem Hut hervorkommende rebellische Locken ihres blonden Haares, dessen weiche, diskrete Nuance in starkem Widerspruch stand zu der Farbe der großen Augen. Schwarz und mandelförmig, waren es die Augen einer orientalischen Tänzerin. Geschickte Tuschstriche verlängerten sie noch und hoben den verführerischen Gegensatz zu dem Mattgold des Haares.

Der kurze Ärmel zeigte einen schneeweißen Arm, der Ausschnitt des Kleides ein von Sonne und Seewind rosiges Dreieck, auf dem eine Perlenkette schimmerte. Und in dem leichtgebräunten Gesicht ließ ein freimütiges Lachen schöne, aggressive Zähne sehen.

Ihre Blicke kreuzten sich, und einen Moment setzte Ferraguts Herz aus. »Aber diese Frau kenne ich doch! Wo habe ich sie nur gesehen? Wo? …« Und seltsamerweise sagte ihm ein mysteriöses Empfinden, daß sie dieselbe Entdeckung gemacht hatte. Häufiger schaute sie zu ihm hinüber, mit einem neuen Lächeln, vertrauter, spontaner, wie zu einem guten Bekannten.

Unmöglich jedoch, sich zu nähern! Die feindselige Lorgnette blitzte gebieterisch und trennte die beiden.

Am nächsten Tage fanden sich alle drei auf dem Bahnhof Salernos in einem Abteil erster Klasse. Wie sich die Unterhaltung entspann, wußte Ferragut nicht. Jedenfalls war er auf einmal im Gespräch mit der jüngeren Dame, auf englisch wie am Tage zuvor, und plötzlich fragte sie ihn, ob er zur See führe, ob er Spanier sei.

Bei seiner bejahenden Antwort schmolz die frostige Zurückhaltung der älteren Dame. Zum ersten Male gönnte sie ihm einen freundlichen Blick.

Derweile sann die jüngere angestrengt nach.

»Sie heißen – Sie heißen …«

Und stolz auf ihr Gedächtnis, triumphierte sie:

»Sie sind der Kapitän Ulysses Ferragut.«

Lächelnd, schweigend genoß sie eine Weile sein Erstaunen. Dann half sie ihm: »Auf dem Dampfer, den Sie befehligten, machte ich vor sechs Jahren die Überfahrt von Buenos Aires nach Barcelona. Nein, vor sieben Jahren.«

Trotzdem Ferragut als erster eine frühere Bekanntschaft geahnt hatte, gelang es ihm nicht, sein Gegenüber unter den unzähligen Passagieren, die seine Erinnerung füllten, unterzubringen. Nichtsdestoweniger glaubte er sich zu einer galanten Lüge verpflichtet.

»Nein, Kapitän!« wehrte sie ab. »Sie können sich meiner nicht erinnern. Ich reiste mit meinem Mann, und Sie haben nie nach mir geschaut. Alle Ihre Aufmerksamkeiten auf jener Fahrt galten einer auffallend schönen, brasilianischen Witwe.«

Sie sprach jetzt Spanisch, das weiche, etwas singende Spanisch der Südamerikaner, dem ihr fremder Akzent noch einen besonderen Reiz gab.

»Ich kenne Sie, Kapitän«, sagte sie neckend. »Immer noch der gleiche! … Das mit der Rose in Pompeji war sehr hübsch … ganz Ihre Art.«

Hier mischte sich die andere Dame ein, der es Mühe machte, der spanischen Unterhaltung zu folgen.

»Oh, Spanien!« meinte sie auf englisch. »Das Land der Caballeros! … Cervantes! Lope! Der Cid! …«

Ihre Bewunderung suchte nach mehr. Und indem sie einen Arm des Kapitäns ergriff, rief sie energisch, als hätte sie eine Entdeckung gemacht:

»Calderon de la Barca!«

Ferragut verbeugte sich. »Jawohl, gnädige Frau.«

Die jüngere Dame glaubte jetzt vorstellen zu müssen.

»Frau Doktor Fedelmann … eine Gelehrte auf dem Gebiet der Philologie und Literatur.«

»Die Dame ist eine Deutsche?« wandte sich Ferragut etwas indiskret an seine schöne Nachbarin.

»Nein, meine Freundin ist Russin, oder besser gesagt, Polin.«

»Und Sie auch, Señora?« fragte er auf spanisch weiter.

»Nein, ich bin Italienerin.«

Sprach sie die Wahrheit? … Der Kapitän bezweifelte es, trotz der Sicherheit, mit der sie ihm geantwortet hatte.

Wieder mischte sich die Frau Doktor in die Unterhaltung, um das Lob seiner Heimat zu singen, dieses Mal auf französisch, das sie besser beherrschte als Ferraguts Muttersprache.

»Ah, wie Spanien an seinen edlen Traditionen festhält! …« Und als wollte sie ihre Worte durch einen Vergleich noch unterstreichen, wies sie mit der Hand auf die vor dem Fenster vorbeihuschende Landschaft: »Ein Land von Banditen und Drehorgelspielern, ohne Wort, ohne Dankbarkeit …«

In Battipaglia mußten sie aussteigen, um den Zug nach Paestum zu erwarten, und da die Zeit lang wurde, lud Ferragut in das Bahnhofsrestaurant ein, einen nach Harz und Wein riechenden Holzschuppen, der die junge Frau an die Baracken Südamerikas erinnerte.

»Mein Mann war Naturwissenschaftler, und ich begleitete ihn ein Jahr lang auf seinen Forschungsreisen in Patagonien. Er starb bald nach unserer Rückkehr nach Europa.«

Und dann erzählte sie von den endlosen Pampas, die sie zu Pferde durchstreiften; von Nächten in primitiven Ranchos, deren Dach Wolken blutdürstiger Insekten barg, oder von Lagern auf freiem Felde, den Sattel als Kissen, den Poncho als einzigen Schutz gegen Wind und Wetter; von Hunger und Durst, wenn die nachfolgenden Packtiere sich verirrten. So erforschten sie die Andenseen zwischen Argentinien und Chile, die in ihrer Unberührtheit noch das Mysterium der ersten Schöpfungszeit bewahren.

Die Vagabunden dieser jungfräulichen Erde, Hirten und Räuber, sprachen ihnen von gigantischen, bei der Abenddämmerung am Seeufer auftauchenden Bestien, und wie manche andere Gelehrte hatte der Professor an die Möglichkeit geglaubt, in diesem unerforschten Winkel des Planeten einem überlebenden prähistorischen Tier begegnen zu können.

Wohl fanden sie in den Schluchten der Cordillera Skelette von vielen Metern Länge, wohl zeigten ihnen die Führer in der Nähe des Wassers riesige Haufen einer vertrockneten Materie, die wie Exkremente eines Monstrums aussahen – doch wie sehr sie auch die Einsamkeit durchsuchten, nirgends stießen sie auf einen lebenden Abkömmling der prähistorischen Fauna.

Der Seemann hatte zerstreut zugehört. Ganz plötzlich erkundigte er sich:

»Und wie heißen Sie, gnädige Frau?«

Diese unerwartete Frage wirkte so komisch, daß die beiden Damen lachen mußten.

»Ich heiße Freya. Freya Talberg. Wenn Sie Wagner lieben, ist Ihnen mein Name begegnet.«

Ferragut konnte nichts mehr erwidern, ihr Zug rasselte in die Station.

Die Landschaft änderte sich. Eine sumpfige Ebene, auf der Büffel, klobig wie mit der Axt gehauen, weideten. Frau Doktor Fedelmann begann von Paestum zu sprechen, dem alten, sechs Jahrhunderte vor Christus von den Griechen gegründeten Poseidonia, dessen Handel die gesamte Küste beherrschte. Und diese Stadt, die Monumente aufwies wie Athen, schwand mit ihrem ungeheuren Reichtum jählings dahin, ohne daß das Meer sie verschlungen, ohne daß ein Vulkan sie mit dem Leichentuch seiner Asche bedeckt hätte.

Die tödliche Lava dieses Pompeji war das Fieber, waren die Miasmen der Sümpfe. Die Giftluft vertrieb die Bewohner; die wenigen, die im Schatten ihrer alten Tempel ausharrten, mußten vor den Einfällen der Sarazenen flüchten und gründeten in den benachbarten Bergen eine neue Heimat: das bescheidene Dorf Capaccio Vecchio. Und aus der verlassenen Stadt schleppten später die normannischen Könige Säulen und Skulpturen fort.

Alle mittelalterlichen Bauten des Königreichs Neapel enthielten Beute aus Paestum. Frau Doktor Fedelmann erinnerte an die gestern besuchte Kathedrale von Salerno, die Ruhestätte Hildebrands, des hartnäckigsten und ehrgeizigsten aller Päpste. Ihre Sarkophage, ihre Säulen, ihre Reliefs stammten aus der jahrhundertelang vergessenen Griechenstadt, deren alter Ruhm erst in der Neuzeit wieder von Altertumsforschern und Künstlern zur Geltung gebracht wurde.

Auf dem Bahnhof von Paestum betrachtete die Frau des einzigen Beamten verwundert diese ausländischen Touristen, die sich durch den Krieg nicht abschrecken ließen.

»Im Frühling ist es noch erträglich«, erzählte sie, als Freya, durch ihr hinfälliges Aussehen veranlaßt, ein paar freundliche Worte an sie richtete. »Aber wenn der Sommer naht, flüchten sowohl die Ruinenaufseher als auch die bei den Ausgrabungen beschäftigten Arbeiter vor dem giftigen Stich der Moskitos und dem Sonnenbrand in die Berge. Nur wir beide müssen aushalten, zwei Jahre, bis mein Mann abgelöst wird.«

An einem zerfallenen Aquädukt entlang kamen die drei zu dem Tor der Sirene, einem Rest des alten Walls. Dann machte der Weg eine Biegung, und vor ihren Augen lag das imposante Bild der toten Stadt, fortlebend in den wunderbaren Proportionen ihrer Tempel.

Drei Tempel, deren Säulen emporstrebten wie Maste von Schiffen, die auf einer grünen Insel aufgelaufen waren; der Tempel des Neptun, der Tempel der Ceres sowie der, den man ohne jeglichen Grund Basilika genannt hat.

Über ihrer Größe und Schönheit vergaß man die Bauwerke Roms. Nur Athens Akropolis konnte sich mit diesen Tempeln streng dorischen Stils messen. In dem des Neptun standen die hohen Säulen so dicht wie die Stämme einer Baumschule, enorme Schäfte aus Stein, die noch das hohe Gesims trugen, das vorspringende Karnies und die beiden dreieckigen Giebel seiner Fassaden. Der Stein hatte den rötlichen Farbton, den die glühende Sonne südlicher Länder verleiht und den die dunkle Patina des Regens nicht zu zerstören vermag.

Über Stufen aus bläulichen Blöcken stiegen sie zum Tempel empor. Oben, zwischen den vier Säulenreihen, war das Heiligtum, die Cella.

Plötzlich stieß Freya einen Schrei aus und wies nach dem Fuß des alten Altars. Eine Schlange, schwarzglänzend wie Ebenholz, mit rotgesprenkeltem Rücken, entrollte bedächtig, feierlich ihre Ringe. Ferragut hob seinen Stock, doch ehe er zuschlagen konnte, hielten zwei nervöse Hände seinen Arm fest. Freya drängte sich an ihn, blaß, mit bittenden Augen.

»Nicht doch, Kapitän! …«

Ein leiser Schauer überlief ihn bei dem engen Kontakt mit ihrem Körper, bei dem weichen Hauch, der sein Gesicht streifte. Lange hätte er so verharren mögen, aber die junge Frau ließ ihn los, um sich der Schlange zu nähern – leise raunend, die Hände ausgestreckt, als wollte sie ein Haustier streicheln.

Langsam glitt der schwarze Schlangenleib in einen Spalt zwischen zwei Fliesen und verschwand.

Freya blickte ihren Begleiter zornig an. Das Reptil war sicher die Gottheit des toten Tempels, die in dieser Gestalt in seinen Ruinen weiterlebte. Durch Ferraguts Schuld hatte sie es nicht in ihre Hände nehmen, nicht mit ihm sprechen können, wie sie mit anderen Schlangen sprach …

Die Frau Doktor bereitete der Szene ein Ende. Zu ihren Füßen lag, vibrierend unter dem schrillen Gezirp der Grillen, ein Dickicht von Akanthus und Farren, das in ihr die Erinnerung an die vielbesungenen Rosen von Paestum weckte, und von Begeisterung hingerissen zitierte sie einige lateinische Verse zum Ruhme dieser Blumen.

Zwei Stunden wanderten sie durch die Wege der Stadt, sahen die Ruinen des Amphitheaters, dann die Porta Aurea, hinter der die Gräberstraße liegt. Durch die Porta di Mare erstiegen sie die aus ungefügen Kalkblöcken erbauten Mauern, die noch in einer Länge von fünf Kilometer aufrecht standen.

Und von hier oben zeigte sich ihnen das Meer, sonst nur als schmales, blaues Band sichtbar, in leuchtender Unendlichkeit. Ein verlassenes Meer, ohne eine Rauchwolke, ohne ein Segel, nur von Möwenschwärmen belebt.

Da die Frau Doktor vorausging und eifrig in ihrem Führer blätterte, benutzte Ulysses die Gelegenheit, sich Freya zu nähern. Diese kapriziöse Frau zu erobern, deuchte ihn ein leichtes. Bewies es nicht ihr Lächeln, die neckische Koketterie, mit der sie auf seine Galanterien antwortete, zur Genüge? … Behutsam nahm er, während sie von der Schönheit des einsamen Meeres sprach, ihre Hand, die sich ihm ohne Widerstand überließ. Und mit einem heuchlerischen Seufzer legte er einen Arm um Freyas Taille und beugte sein Gesicht auf den Ausschnitt, als wollte er die Perlen küssen.

Eine heftige Bewegung ließ ihn zurückweichen. Vor ihm blitzten ein Paar feindliche Augen, die er noch nicht kannte.

»Keine Kindereien, Kapitän! … Bei mir ist das verlorene Mühe.«

Ihre Kälte und Einsilbigkeit im Verlauf des weiteren Spaziergangs gaben dem Seemann die Größe seines Irrtums zu verstehen. Wie sehr er sich auch bemühte, an ihrer Seite zu bleiben, stets wußte sie die Frau Doktor in die Mitte zu bringen.

Am Bahnhof flüchteten sie vor der Hitze in einen kleinen Warteraum mit staubigen Plüschsesseln. Um sich die Zeit zu vertreiben, zog Freya ein goldenes Zigarettenetui aus ihrer Tasche, und der Rauch des opiumhaltigen ägyptischen Tabaks kräuselte in feinen Wölkchen durch die Sonnenstreifen, die durch die angelehnten Fensterläden drangen.

Als Ferragut, der sich nach dem Zuge erkundigt hatte, zurückkehrte, blieb er überrascht an der Tür stehen. Er hörte ein angeregtes Geplauder in einer Sprache, die er von Hamburg und Bremen her kannte. Deutsch! … Neugierig fragte er die junge Witwe, wie viele Sprachen sie beherrschte.

»Nur sechs. Aber Frau Doktor kennt wenigstens zehn, darunter verschiedene tote.«

Das sagte sie ernst, ohne ihn anzusehen, als sei das kokette Lächeln, das Ferragut so mißverstanden hatte, für immer erstorben.

Im Zuge kroch das Gespräch schwerfällig dahin. Die beiden Damen beabsichtigten, von Salerno eine Wagenfahrt am Golf entlang bis Amalfi zu unternehmen. Dann sollte es weitergehen nach Sorrent und vielleicht nach Capri.

Ulysses war nahe daran zu behaupten, daß er dieselbe Tour geplant hätte, zweifelte aber sehr, ob man ihm einen Platz im Wagen anbieten würde.

Als Freya seine betrübte Miene wahrnahm, ging sie ein wenig aus ihrer frostigen Zurückhaltung heraus.

»Drei Tage, länger bleiben wir nicht fort von Neapel.«

Der Abschied in Salerno war kurz.

»Wahrscheinlich werden wir uns irgendwo mal wiedersehen«, meinte die Ältere lakonisch. »Nur die Berge begegnen sich nie.«

Gut, daß Freya im Laufe der Unterhaltung wenigstens das Hotel am Santa-Lucia-Strand erwähnt hatte, in dem sie wohnte!

Als sich der Zug, der Ferragut nach Neapel zurückbrachte, in Bewegung setzte, drehte sich die junge Frau noch einmal um und hob drohend den Zeigefinger, gerade so, wie man einem unartigen Kinde droht.

Des Kapitäns Rückkehr an Bord wurde zu einer Plage für die Besatzung. Er war launisch und unverträglich, gab Tòni und den beiden anderen Offizieren die Schuld, daß die Reparaturen nicht schneller vonstatten gingen, um kurz darauf jedes Drängen zu verbieten, damit die Arbeit nicht schlecht ausgeführt wurde. Auch Caragòl gehörte zu den Opfern dieser Gewitterstimmung, die sich in grimmigen Standpauken gegen das Gift des Alkohols Luft machte.

So atmete auf der Nereide alles erleichtert auf, als der Kapitän nach zwei Tagen an Land übersiedelte. Das Schiff lag an einer unangenehmen Stelle, nahe bei den Kohlenschütten. Überdies hatte man sein Heck gehoben, um die Schraube reparieren zu können, und von morgens bis abends dröhnten die Hämmer der Arbeiter, die neue Planken einsetzten. Warum diesen abscheulichen Lärm anhören? Und flugs sandte er sein Gepäck zum Albergo Partenope auf dem alten Strand von Santa Lucia.

Ein Fünflireschein machte den braunen, schnurrbärtigen Zimmerkellner gesprächig. Jawohl, die Signora Talberg logierte im Hotel und wurde von einem Moment zum anderen zurückerwartet.

Ulysses, nunmehr sicher, daß sein Warten nicht vergeblich sein würde, verlebte den ersten Tag in beschaulicher Ruhe. Vom Balkon seines Zimmers übersah er den Golf, zu seinen Füßen lag die mit dem Festlande durch eine Brücke verbundene Insel dell' Ovo. Ihr altes Kastell – ein Bau des Vizekönigs Don Pedro von Toledo – diente den Bersaglieri als Kaserne, während sich vormals von seinen dunkelroten Türmen die Feldschlangen der spanischen Garnison auf Neapel richteten, wenn es sich gegen neue Steuern zu empören wagte. Die Mauern standen auf den Ruinen einer Burg, in der Friedrich II. seine Schätze verwahrt und deren Kapelle Giotto ausgemalt hatte. Und diese Burg war ihrerseits wieder auf dem Palast des Lucullus errichtet worden, dem Mittelpunkt seiner berühmten Gärten auf dieser kleinen, damals Megaris genannten Insel.

Die Hörner der Bersaglieri klangen dem Kapitän wie ein triumphierender Einzugsmarsch. »Sie kommt! Sie kommt …« Er blickte hinüber nach dem doppelten Berg von Capri, der sich gleich einer dunklen Barrikade vor den Golf legte, blickte nach der Küste von Sorrent, geradlinig wie eine Mauer. »Dort ist sie …« Und liebevoll verfolgte er den Kurs der kleinen Dampfer, die die weite blaue Schale mit ihrem Kiel furchten und rastlos ein immer neues Schaumdreieck um sich her öffneten. Einer von ihnen mußte Freya bringen.

Der erste Tag war Gold und Hoffnung. Die Sonne strahlte aus einem wolkenlosen Himmel; der flimmernde Golf lag unbeweglich unter der stillstehenden Luft, nicht der leiseste Windhauch kräuselte seine Oberfläche. Schlank und kerzengerade stieg der Rauch des Vesuvs auf, um sich am Horizont wie eine weiße Pinienkrone auszubreiten. Unter Ulysses' Balkon sangen umherziehende Musikanten schwüle Barkarolen und Liebesserenaden … Und sie kam nicht!

Der zweite Tag war Silber und Verzweiflung. Nebel verhüllte den Golf, und die Sonne war weiter nichts als eine rote Scheibe, die man ohne zu blinzeln ansehen konnte. Die Berge trugen ein bleigraues Kleid, Wolken verbargen den Vulkan, das Meer schien aus Zinn zu sein, und ein kalter Wind bauschte Segel, Röcke und Mäntel. Die Musiker sangen, aber mit melancholischen Seufzern, in einer Ecke Schutz suchend vor den wütenden Böen der See. »Morir … morir per te!« schluchzte unter Harfen und Violinen eine Baritonstimme. Und sie kam!

Als der Zimmerkellner ankündigte, daß die Signora Talberg eingetroffen sei, verfiel Ulysses in eine quälende Unruhe. Was würde sie sagen, wenn sie ihn in ihrem Hotel einquartiert fand?

Die Tischzeit nahte, und er wartete ungeduldig auf die täglichen Zeichen, um den Speisesaal aufzusuchen. Zuerst hinter dem Albergo ein Dröhnen, das die Scheiben klirren ließ: der mittägliche Kanonenschuß vom Fort Sant Elmo. Fröhlich antworteten die Hörner der Bersaglieri, und jetzt stieg auch der Lärm des Gongs die Hoteltreppen hinauf.

Vergeblich durchforschten Ferraguts Blicke den Speisesaal. Doch vielleicht war sie, eben erst zurückgekehrt, noch mit ihrer Toilette beschäftigt.

Er speiste ohne Appetit, die große, mit Barken und Möwen bemalte Glastür unablässig bewachend, und jedesmal, wenn sich diese bunten Scheiben öffneten, blieb ihm der Bissen in der Kehle stecken. Langsam trank er seinen Kaffee. Sie kam nicht.

Wieder in seinem Zimmer, sandte er den schnurrbärtigen Kellner als Kundschafter aus … Die Signora hatte nicht im Hotel gespeist, die Signora war kurz nach ihrer Rückkehr ausgegangen.

Während des Abendessens dieselbe unruhige Erwartung: sobald eine weibliche Silhouette sich hinter der Glastür zeigte, glaubte er Freya erscheinen zu sehen.

Unmutig an seiner Zigarre kauend, ging er eine lange Zeit in der Halle auf und ab, bis er endlich den Entschluß faßte, sich an den Portier zu wenden. Der Mann in der blauen, mit goldenen Schlüsseln bestickten Uniform sah alles, vernahm alles, obgleich er hinter seinem Pult zu schlafen schien.

Bei Ulysses' Nahen fuhr er hoch, als hätte er schon das Rascheln eines Geldscheins gehört. Seine Informationen waren genau: die Signora Talberg speiste nur selten im Hotel; meist verbrachte sie den ganzen Tag im Hause ihrer Freunde im Chiaiaviertel, bei denen sie bisweilen auch über Nacht blieb … Und mit einer Verbeugung dankte er für den Schein, dessen Kommen er geahnt hatte.

Nach einer schlechten Nacht beschloß Ferragut, Freya am Eingang des Hotels aufzulauern. Schon sehr zeitig frühstückte er in der Halle und las die Zeitungen. Erst die Staubwolken und Besen der morgendlichen Säuberung jagten ihn vor die Tür, wo er großes Interesse für die Straßensänger heuchelte, die ihm mit erwartungsvollen Augen den Hut hinhielten.

Langsam schlenderte er zu der langen, am Strande entlang führenden Partenopestraße, und während er ständig das Hotel im Auge behielt, betrachtete er an den Ständen der Austernhändler die riesigen Schneckenmuscheln, in deren Kehlen – wie die Verkäufer sagen – das Flüstern des Meeres weiterlebt, prüfte mit kritischem Blick die Motorboote, Regattasegler und Fischerbarken in dem kleinen Hafen der Insel dell' Ovo und beobachtete die waagerechten Angelruten einiger behäbiger Bürger.

Endlich! …

Als Freya ihn bemerkte, blieb sie einen Moment unschlüssig stehen, kam dann aber quer über die Straße auf ihn zu.

»Was machen die Reparaturen Ihres Dampfers, Kapitän?« fragte sie lächelnd im ruhigsten Tone der Welt.

Diese Sicherheit verwirrte ihn.

»Sind Sie denn gar nicht überrascht, mich hier zu sehen?«

»Aber nein! Sie wohnen ja jetzt drüben im Hotel. Gestern bei meiner Rückkehr sah ich Ihren Namen in der Liste. Es gehört nämlich zu meinen Gewohnheiten, sie mir anzusehen; ich mag gern wissen, wer mit mir unter demselben Dach wohnt.«

»Und deshalb kamen Sie nicht in den Speisesaal?«

Ulysses hoffte, wenigstens aus Höflichkeit ein Nein von ihr zu hören.

»Allerdings, das war der Grund«, antwortete Freya. »Ich ahnte, daß Sie eine neue Begegnung herbeiführen wollten. Deshalb kam ich nicht – und so wird es bleiben.«

»Oh! …« Das war alles, was Ulysses in seiner Bestürzung hervorbrachte. Keine andere Frau hatte mit solcher Offenheit zu ihm gesprochen.

»Übrigens vermutete ich Sie hier«, fuhr sie fort. »Ich kenne die kleinen Listen der Männer. Da er mich im Hotel nicht sprechen konnte, wird er heute irgendwo in der Nähe auf mich warten, sagte ich mir. Ich hätte eben in die Seitenstraße einbiegen können, habe aber vorgezogen, Ihnen nicht auszuweichen, um einer falschen Situation ein Ende zu machen.«

Instinktiv wandte sie den Kopf zum Hotel. Der Portier stand an der Tür, scheinbar in den Anblick des Meeres vertieft.

»Begleiten Sie mich ein Stückchen«, forderte Freya den Kapitän auf. »Vielleicht trennen wir uns doch noch als Freunde.«

Schweigend folgten sie der Partenopestraße bis zu den Gärten des Chiaia-Ufers, die sie vor der Neugier des Hotels schützten. Ferragut hätte die Unterhaltung gern wieder aufgenommen, fand aber schwer die ersten Worte, aus Furcht, lächerlich zu erscheinen.

Seine bewundernden Blicke musterten ihre von neulich so ganz verschiedene Erscheinung. Statt des dunklen Kostüms trug sie ein blauweißes Seidenkleid, einen Blaufuchs über den Schultern und einen breitrandigen Hut mit einem Reiherstutz. Die Tasche aus schwarzem Leder war durch ein Täschchen aus grünlich schimmerndem Gold ersetzt. Die Ohren schmückten zwei große viereckige Smaragden, und an den Fingern blitzte ein halbes Dutzend kostbarer Brillantringe. Und wieder leuchtete die Schnur edler Perlen matt auf dem Ausschnitt ihres Kleides … der Pomp einer reichen, in ihre Juwelen verliebten Frau, die ohne diesen Kontakt nicht leben kann und sich, sobald sie ihren Fuß aus dem Bett streckt, mit ihnen schmückt, ohne einen Gedanken an die Vorschriften des guten Tons zu verschwenden.

Doch der Kapitän empfand nicht das Unpassende dieser Luxusentfaltung zu so früher Stunde. Ihm erschien alles bewundernswert.

Er begann zu sprechen – sagte immer das gleiche mit anderen Worten. Seine Gedanken waren ohne Zusammenhang, gruppierten sich aber alle um dieselbe unaufhörlich wiederholte Versicherung seiner Liebe, seiner grenzenlosen Liebe.

Stumm ging Freya neben ihm her. Ein Ausdruck von Mitleid lag in ihren Augen und um die Mundwinkel. Ihrem Frauenstolz schmeichelte es, diesen starken Mann verwirrt wie ein Kind stammeln zu hören. Doch gleichzeitig wurde sie ungeduldig angesichts der Monotonie seiner Beteuerungen.

»Hören Sie auf, Kapitän«, unterbrach sie ihn. »Was Sie sagten, habe ich schon oft vernommen, und den Schluß errate ich. Sie schlafen nicht, Sie essen nicht – alles meinetwegen. Ein Leben ohne mich ist unmöglich … Noch einige dieser Phrasen, und Sie werden mir mit Selbstmord drohen, falls ich nicht die Ihrige werde. Alte Musik! Alle bringen dasselbe vor. Es gibt kein Geschöpf mit so wenig Originalität wie Männer, die etwas wünschen …«

Sie bogen in die breite Allee ein, durch deren Palmen und Magnolien man auf der einen Seite ein Stück von dem leuchtenden Golf, auf der anderen die prächtigen Villen von Chiaia sah.

»Also gut, verliebter Seebär«, fuhr Freya fort, »schlafen Sie nicht, essen Sie nicht, schießen Sie sich tot, wenn es Ihnen paßt! Ich, ich kann Sie nicht lieben und werde Sie niemals lieben. Geben Sie jede Hoffnung auf! Das Leben ist keine Tändelei, und ich habe an ernste Sachen zu denken, die meine ganze Zeit in Anspruch nehmen.«

Trotz des scherzenden Lachens, das ihre Worte begleitete, erriet Ferragut einen sehr festen Willen.

»Also ist alles nutzlos?« fragte er entmutigt. »Auch wenn ich die größten Opfer brächte? … Auch wenn ich Ihnen unerhörte Beweise meiner Liebe gäbe? …«

»Alles nutzlos«, antwortete sie kurz und bündig.

Sie waren bis zu dem weißen, säulengetragenen Tempelchen am Ende der Allee gekommen, unter dessen Kuppel die Büste Virgils steht – ein enormer Kopf von etwas femininer Schönheit.

Auf seiner Rückkehr von Griechenland war der Dichter in Neapel gestorben, »dem süßen Partenope«, und sein Leichnam vielleicht hier an diesem Fleck zu Staub geworden. Neapels Volk hatte ihm im Mittelalter alle möglichen Wunder zugeschrieben: in einer einzigen Nacht erbaute er die Burg dell' Ovo und ließ sie auf einem Riesenei ins Meer hinausschwimmen; auch öffnete er durch seinen Hauch den alten Tunnel von Posilipo, in dessen Nähe ein von einem Weinberg umgebenes Grab liegt, das jahrhundertelang als letzte Ruhestätte des Dichters besucht wurde.

»Weiter nicht!« befahl Freya, haltmachend. »Ich gehe nach Chiaia. Doch bevor wir uns als Freunde trennen, müssen Sie mir Ihr Wort geben, mir nicht zu folgen, mich mit weiteren Liebeserklärungen zu verschonen und sich nicht mehr irgendwie in mein Leben einzudrängen.«

Ulysses gab keine Antwort. Seine Enttäuschung war riesengroß. Hinzu kam das Gefühl verletzten Stolzes. Wie anders hatte er sich das erste Zusammensein unter vier Augen vorgestellt!

Freya spürte eine Regung von Mitleid.

»Seien Sie kein Kind … Auch dies wird vorübergehen. Denken Sie an Ihre Geschäfte, an Ihre Familie, die Sie in Spanien erwartet. Und dann, die Welt ist voll von Frauen – ich bin nicht die einzige …«

Ferragut hob den gesenkten Kopf. Doch, sie war die einzige, die eine!

Er sagte es mit solch einem Ton der Überzeugung, daß seine Hartnäckigkeit sie ärgerlich machte.

»Kapitän, ich kenne Sie zur Genüge. Sie sind Egoist wie alle anderen. Ihr havariertes Schiff hält Sie für die Dauer eines Monats hier fest. Da führt uns der Zufall zusammen, und Sie sagen sich: eine glänzende Gelegenheit, diese langweilige Wartezeit angenehm zu gestalten … Glaubte ich Ihren Beteuerungen, dann würde in ein paar Wochen der Held meiner Liebe, der Paladin meiner Träume, ruhig wieder in See gehen und mir vielleicht als letzten Gruß den Gedanken senden: Adieu, du Dummkopf!«

Ulysses protestierte erregt.

»Wenn es davon abhängt, will ich die Nereide aufgeben und ganz in Neapel bleiben.«

»Und was habe ich mit Neapel zu schaffen?« unterbrach sie ihn. »Ich bin ein Zugvogel, gerade wie Sie. Wir sahen uns zum ersten Male auf dem Meer der anderen Erdhälfte, und jetzt begegneten wir uns in Italien wieder. Das nächste Mal treffen wir uns vielleicht in Japan, in Kanada oder am Kap … Folgen Sie Ihrem Kurs, liebestrunkener Hai, und überlassen Sie mich dem meinigen. Denken Sie sich, daß wir zwei Barken sind, die sich in einer Windstille begegnen und einander gute Reise wünschen, um dann, jede nach ihrer Seite, weiterzufahren.«

Doch Ulysses schüttelte den Kopf. Sie vielleicht für immer aus den Augen zu verlieren, damit konnte er sich nicht abfinden.

»Sie sind mir sympathisch, Kapitän«, fuhr Freya fort, »und trotzdem werde ich Sie schließlich noch hassen – hören Sie mich, schwerfälliger Argonaute? –, weil Sie sich nicht als Freund benehmen, weil Sie nur von dem einen sprechen, weil Sie eine Romanfigur sind, ein Lateiner, für andere Frauen wahrscheinlich sehr interessant, aber für mich unerträglich.«

Ihr Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck von Geringschätzung und Mitleid. »Ah, diese Lateiner! Sie sind sich alle gleich, alle für dieses eine geboren, ob Spanier, Italiener oder Franzosen. Kaum sehen sie eine hübsche Frau, so erachten sie es als eine Pflichtverletzung, wenn sie nicht sofort ihre Liebe fordern, mit allen Rechten … Können Mann und Frau nicht einfach Freunde sein? Können Sie mich nicht als guten Kameraden behandeln?«

»Nein«, rief Ferragut, »das ist unmöglich. Ich liebe Sie, und wenn Sie mich tausendmal grausam zurückstoßen!«

Freyas Stimme wurde scharf, schneidend. Ihre Augen hatten einen krankhaften Glanz.

»Nun gut, damit Sie es wissen: ich verabscheue die Männer, verabscheue sie, weil ich sie kenne. Ich wünsche ihnen den Tod, allen! … Wieviel Böses haben sie in mein Leben hineingetragen! … Ich möchte schön sein, die schönste Frau der Welt, mit allem Wissen der Weisen in meinem Hirn, und reich, ungeheuer reich, damit die Männer der ganzen Welt zu meinen Füßen lägen. Und dann würde ich meinen Fuß mit eisernem Absatz heben und würde die Köpfe zertreten … so … so …«

Sie stampfte mit den kleinen Halbschuhen auf den Sand, die Lippen fest zusammengepreßt.

»Sie würde ich vielleicht ausnehmen … Mit all Ihrer Arroganz des Maulhelden sind Sie ein harmloser, einfacher Mensch. Mir scheint sogar, daß Sie all die Lügen, die Sie auf eine Frau niederprasseln lassen, selbst glauben. Aber die anderen, wie ich sie hasse! …«

Nachdenklich schaute sie nach dem Palast des Aquariums, das hinter den Bäumen in reinem Weiß auftauchte.

»Ich möchte eines dieser Meerestiere mit Zangen und Scheren sein, die ihresgleichen verschlingen.«

Ihr Blick glitt weiter zu einem Zweig, an dem ein silbriges Gewebe hing.

»Oder lieber noch eine Spinne, eine ungeheure Spinne, und alle Männer müßten als Fliegen unwiderstehlich in mein Netz getrieben werden! Mit welchem Genuß würde ich sie zwischen meinen Beinen ersticken, ihnen das Blut aus dem Herzen saugen, bis zum letzten Tropfen …«

Ulysses erschrak. Die Unruhe und Besorgnis, die sich in seinen Augen spiegelten, gaben Freya die Fassung zurück. Langsam, wie von einem Alp erwachend, strich sie mit der Hand über ihre Stirn.

»Adieu, Ferragut. Lassen Sie mich nicht weiterreden, sonst kommen Ihnen Zweifel an meinem Verstand … Also: Freunde! Weiter nichts als Freunde. Und zwecklos, an etwas anderes zu denken. Folgen Sie mir jetzt nicht, aber Sie sollen mich wiedersehen. Adieu!«

Hastig ging sie fort, wie auf der Flucht vor den Worten, die ihr Mund vor dem kleinen Tempel des Dichters gesprochen hatte.


 << zurück weiter >>