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Vater Okeanos

Allmählich kamen dem Notar Don Esteban Ferragut doch Zweifel, ob aus seinem Sohn wirklich der berühmte Jurist werden würde, von dem er ständig träumte. Ulysses war jetzt achtzehn Jahre alt und hörte auf der Universität. Doch anstatt die Vorlesungen zu besuchen, verbrachte er oft ganze Tage im Boot.

Ganz abrupt wechselten Perioden emsigen Studiums mit liebevoller Betätigung im Hafen, als eine Lungenentzündung seinen Vater plötzlich hinwegraffte.

Aus ihrer ersten schmerzlichen Betäubung erwacht, schaute Doña Cristina befremdet um sich. Warum in Valencia bleiben? … Des Mannes beraubt, der sie hierher verpflanzt hatte, entschloß sie sich, im Kreise der ihrigen zu leben und dem Dichter Labarta die Sorge für ihr Vermögen zu überlassen, das, wenn auch nicht so groß, wie man nach den Erträgen des Notariats hätte erwarten können, immerhin genügte, ihr in Barcelona ein sorgenloses Dasein zu sichern.

Die einzige Unannehmlichkeit beim Einrichten ihres neuen Lebens war die Rebellion von Ulysses, der sich weigerte, sein Studium fortzusetzen, und darauf bestand, auf Grund seiner Steuermannsprüfung sofort an Bord zu gehen.

Vergeblich rief Doña Cristina Verwandte und Freunde zu Hilfe – außer dem Triton, dessen Antwort sie ahnte. Der reiche Bruder in Barcelona drückte sich kurz und bestimmt aus:

»Wenn es ihm Geld einbringt, ja.«

Die Briefe der an ihrem Kap hausenden Blanes diktierte Fatalismus.

»Falls der Junge sich berufen fühlt, ist es nutzlos, Widerstand zu leisten. Das Meer hält seine Auserwählten fest, und keine Menschenkraft kann sie ihm entreißen!«

Nur Labarta protestierte.

»Seemann? … Gut! Aber dann als Offizier der Königlichen Marine.«

Und der Dichter sah sein Patenkind schon in kriegerischer Eleganz: blauer Schoßrock, goldene Knöpfe und bei Feierlichkeiten tressenbesetzte Jacke mit roten Aufschlägen, Zweimaster und Degen …

Doch Ulysses tat das Bild dieser Herrlichkeiten mit einem Achselzucken ab. Für die Kadettenschule war er zu alt. Außerdem wollte er alle Meere befahren, während die Kriegsmarine nur Gelegenheit bot, wie Küstenschiffer von einem Hafen zum anderen zu gondeln, falls man nicht gar jahraus, jahrein im Ministerium saß. Einen Büroschemel scheuern! Das hätte er ebensogut im Notariat seines Vaters haben können.

Kaum befand sich Doña Cristina in ihrem neuen behaglichen Heim in Barcelona, wo ein kleiner Hofstaat von Neffen und Nichten der reichen Tante aus Valencia schmeichelte, so schiffte sich ihr Sohn auf einem Dampfer ein, der regelmäßige Fahrten nach Cuba und den Vereinigten Staaten machte.

Damit begann die Seefahrt von Ulysses Ferragut, die erst mit seinem Tode enden sollte.

Seine Familie hatte es als Ehrenpflicht betrachtet, ihn auf einem Postdampfer unterzubringen, einer dieser schwimmenden Luxusstätten, deren Offiziere etwas von Hoteldirektoren an sich haben, während die wirklich wichtige Rolle den Maschinisten zufällt, die ständig unten weilen und, wenn sie einmal zum Vorschein kommen, bescheiden den zweiten Platz einnehmen, getreu einem Rangsystem, das schon vor den Fortschritten der Technik aufgestellt wurde.

Ulysses passierte den Ozean mehrere Male, wie man im Expreßzug eilig durch eine Landschaft saust. Was blieb von der hehren Ruhe des Meeres bei diesem Schlagen der Schiffsschraube, bei dem dumpfen Stampfen der Maschinen? Mochte der Himmel auch noch so blau sein, immer wurde er durch den Rauchschleier aus den Schornsteinen getrübt. Und voll Neid blickte er auf die Segler, die sein Dampfer überholte. Ihn dünkten sie nachdenkliche Spaziergänger, die sich der Landschaft liebevoll hingeben und in seelischen Kontakt mit ihr treten.

Infolgedessen ging er nach Beendigung dieser Probefahrten als zweiter Steuermann an Bord eines Dreimasters, der nach Argentinien segelte, um in Bahia Blanca Getreide zu laden. Das langsame Gleiten vor schwacher Brise, die langen Windstillen des Äquators gaben ihm Gelegenheit, ein wenig in die Geheimnisse dieses ungeheuren, dunklen Ozeans hineinzuspähen, dieses blauen Drachens, der täglich die Sonne verschluckt.

Er sah nicht mehr im Vater Okeanos den launischen, tyrannischen Gott der Dichter; er erkannte, daß sich alles harmonisch, festen Gesetzen unterworfen, mit vitaler Regelmäßigkeit abspielte.

Sanfte Passatwinde trieben das Schiff nach Südwesten; nichts störte die paradiesische Heiterkeit von Himmel und Meer. Vor dem Bug flimmerten die Taffetflügel fliegender Fische, und über den segelbedeckten Masten zogen Albatrosse, die Adler der atlantischen Einöde, weite Kreise und reckten die riesige Spannweite ihrer Flügel im reinsten Blau.

Dann und wann begegneten dem Schiff ausgedehnte, vom Sargassomeer losgelöste Algenfelder. Tief eingesunken in diese Kräuter schliefen ungeheure Schildkröten, deren Schalen sich die Möwen als Ruheplatz erkoren hatten. Die Algen, die das leuchtende Wasser der Oberfläche nährte, waren grün; andere wiesen das Rot der Tiefe auf, zu der die letzten Strahlen der Sonne kalt und ersterbend gelangen. Und als Früchte brachten diese Ozeanwiesen enggedrängte Trauben schwärzlicher Beeren hervor, lederartige, mit salzigem Wasser gefüllte Kapseln.

Als das Schiff sich dem Äquator näherte, wurde die Brise immer flauer, die Luft immer drückender. Ein Meer von dunklem Öl, auf dem wochenlang nicht der leiseste Windhauch die schlappen Segel füllte.

Pechschwarze Wolken spiegelten ihr langsames Schleichen im Wasser wider; peitschende Regen prasselten aufs Deck, gefolgt von einer zündenden Sonne, die nach wenigen Minuten von neuen Güssen verjagt wurde.

Aber die Majestät des Atlantiks in den tropischen Nächten ließ Ulysses den Zorn seiner schwarzen Tage vergessen. Unter dem Mond erstreckte sich eine ungeheure silberne Aue, durch die sich kapriziöse Schatten schlängelten. Ihr weiches Wiegen, voll von mikroskopischem Leben, illuminierte die Nacht. In Liebe erschauernde Infusorien glühten mit bläulicher Phosphoreszenz. Das Meer wurde zu leuchtender Milch, und der sich am Bug brechende Schaum blitzte wie Bündel sprühender Funken.

Bisweilen, wenn das Schiff bei absoluter Ruhe mit hängenden Segeln unbeweglich lag und nur die Sterne über seinen Masten sacht, kaum merklich, hin und her glitten, stiegen die zarten Medusen, welche die kleinste Woge zerreißen kann, empor, um die hölzerne Insel zu umschwimmen: Tausende kleiner Kuppeln, grüne, blaue, rosige, einige mit dem vagen Farbenschimmer von Öllampen. Von oben gesehen, gemahnten sie an einen ununterbrochenen Vorbeizug einer japanischen Prozession, die sich im Mysterium der Wasser verlor.

Innerhalb von sechs Jahren wechselte Ulysses viele Male das Schiff. Er hatte Englisch gelernt, die Universalsprache der blauen Domänen, und widmete sich mit Lust und Liebe dem Studium der Karten von Maury, diesem Evangelium der Segler – das Werk eines obskuren Genies, das dem Ozean und der Atmosphäre zum erstenmal das Geheimnis ihrer Gesetze entriß.

Begierig, stets neue Meere und neue Länder kennenzulernen, war die Länge einer Fahrt für Ulysses nie ein Hindernis. Britische, norwegische und nordamerikanische Kapitäne nahmen nur zu gern diesen Offizier mit guten Manieren, der sich so wenig anspruchsvoll in seinen materiellen Forderungen zeigte. So schweifte Ulysses durch die Weltmeere wie Ithakas König durch das Mittelmeer, einem Geschick folgend, das ihn jedesmal von seinem Vaterland entfernte, wenn er sich die Heimfahrt vornahm. Der Anblick eines neben dem seinigen ankernden Schiffes, das im Begriff stand, nach fernen Gegenden in See zu gehen, genügte, daß er die beabsichtigte Rückkehr nach Spanien vergaß.

Er fuhr auf schmutzigen Kähnen, alten, lustigen Fahrzeugen, auf denen die Mannschaft bei Sturm alle Segel setzte und sich schlafen legte im Vertrauen auf den Teufel, den Freund der Couragierten, der sie schon rechtzeitig am nächsten Morgen wecken würde. Er lebte auf weißen Schiffen, still und gepflegt wie ein holländisches Haus, deren Kapitäne Frau und Kinder mitnahmen. Mädchen mit schneeweißen Schürzen sorgten für die Küche und die Sauberkeit dieses schwimmenden Heims, teilten die Gefahren der blonden, phlegmatischen Seeleute, für die der Umgang mit Frauen keine Versuchung bedeutete. Sonntags las – ob unter der Tropensonne, ob unter dem aschgrauen Himmel des Nordens – der Bootsmann aus der Bibel vor, und andächtig hörten die barhäuptigen Männer und die schwarzgekleideten Frauen in Spitzenhaube und fingerlosen Handschuhen zu.

In Neufundland lud er Stockfisch. Hier traf die warme Strömung aus dem Golf von Mexiko auf die kalte vom Pol, so daß die unzähligen, vom Golfstrom aus den tropischen Meeren hergeführten Organismen plötzlich erfroren. Ein Regen kleiner Kadaver sank durch die Wasser – Manna für die sich in Massen drängenden Stockfische –, um den Grund mit einem Überzug kalkigen Schnees zu bedecken.

In Irland, dem letzten Thule, zeigte man ihm von den Antillen hergeschwemmte Stücke Mahagoni, und an der norwegischen Küste bewunderte er beim Anblick der Heringszüge die ungeheure Fruchtbarkeit des Meeres.

Durch den Frühling erregt und voll Verlangen, an der allgemeinen Freude teilzunehmen, stiegen sie aus ihren düsteren Tiefen an die Oberfläche, bildeten, eng aneinandergepreßt, kompakte Bänke, die aussahen wie eine auftauchende Insel oder ein versinkendes Stück Land. An schmalen Durchfahrten wurden die Wasser fest und erschwerten den Gebrauch der Ruder. Gleich dem Sand, gleich den Sternen stand ihre Zahl über jeder Berechnung.

Obschon Menschen und Raubfische breite Furchen öffneten, verfolgte die lebendige Wand ihren Weg, ständig massiver werdend. Und ohne anzuhalten, zeugten diese im Marsch befindlichen, tiefgehenden Säulen, deren Liebe die Wogen auf Hunderte von Meilen fettig, schleimig machte.

Ihre Fruchtbarkeit – jeder Fisch konnte bis sechzigtausend Eier hervorbringen – würde genügt haben, um im Lauf weniger Generationen den Ozean zu füllen, verfaulen zu lassen, alle anderen Wesen zu unterdrücken, die Erde zu entvölkern … Aber der Tod übernahm es, das Leben des Universums zu retten. Die Wale tauchten in diesen Laich, den ihr Schlund tonnenweise verschluckte. Unendlich kleine Fische halfen den Riesen bei der Vernichtung der Heringseier, während der gefräßige Kabeljau die Fleischwiesen bis an die Küsten verfolgte, wo er ihre Reste auseinandertrieb.

Von neuem drohte der Welt eine Gefahr. Der Ozean konnte sich in eine Masse von Kabeljau verwandeln, gab doch jeder bis neun Millionen Eier. Was vermöchte der Mensch gegen diesen fruchtbarsten aller Fische? … Erst die großen Verschlinger des Meeres stellten Ordnung und Gleichgewicht wieder her. Der unersättliche Stör fand im Kabeljau die konzentrierte Substanz ganzer Heringszüge, doch er wiederum, auch von reicher Fruchtbarkeit, wurde das Opfer eines Ungeheuers, das, ebenso gierig in seinem Appetit wie arm in seiner Fortpflanzung, die immer neue Fruchtbarkeit des Ozeans brüsk unterbrach. Der Hai!

Der Hai, der Tote und Lebende, Fleisch und Holzstücke verschluckt und Einöde hinter seinem Schwanzschlage zurückläßt. Dieser Zerstörer gebiert in seinem Innern nur ein einziges Junges, das bewaffnet und wild zur Welt kommt, vom ersten Augenblick an bereit, wie ein Feudalerbe die väterlichen Taten fortzusetzen.

Nur in den seltenen Momenten der Liebe sind diese rauhen Krieger nicht dem Hunger und der Grausamkeit untertan. Lüstern begegnet sich das Paar. Zum ersten Male verschlingt das Männchen nicht, sondern läßt sich vom Weibchen absorbieren, fortreißen. Und zu eins geworden, rollen die beiden Ungeheuer Hunderte von Meilen durch die Wogen, die Qualen endlosen Hungers erduldend um dieses wochenlangen Liebesrausches willen.

In dem ruhelosen Leben des Steuermanns Ferragut häuften sich die dramatischen Abenteuer. Doch nur vereinzelte blieben für immer in seinem Gedächtnis lebendig, in dem so viele Erinnerungen an exotische Länder und unermeßliche Meere sich zu vermischen begannen.

In Glasgow schiffte er sich als Zweiter auf einer alten Bark ein, die Kohlen in Valparaiso löschen sollte, um dafür in Iquique Salpeter zu laden. Die Fahrt durch den Atlantik war gut; aber von den Malvinasinseln an mußte das Schiff der Furie des Südens trotzen, die ihm den Zutritt zum Stillen Ozean verwehrte. Die Magalhãesstraße taugt für Dampfer, deren Maschinen nach Belieben laufen – der auf ein weites Meer angewiesene Segler hingegen braucht einen günstigen Wind, um Kap Horn, den Ort unaufhörlicher, gigantischer Stürme, zu umfahren.

Das Schiff mußte westlichen Kurs nehmen, und gerade von Westen bliesen die Winde. Acht Wochen vergingen im Kampf gegen Meer und Himmel. Der Sturm riß Großsegel und Takelage fort, und das durch diesen endlosen Kampf etwas aus den Fugen gegangene hölzerne Schiff machte Wasser, so daß die Mannschaft Tag und Nacht an den Pumpen stand. Niemand kam dazu, mehrere Stunden hintereinander zu schlafen, alles war krank … Kaum daß die rauhe, fluchende Stimme des Kapitäns noch die Disziplin aufrechterhalten konnte. Matrosen, die sich niederlegten, um zu sterben, mußten mit Schlägen hochgebracht werden.

Zum erstenmal erfuhr Ulysses, was Wogen sein können. Er sah Berge von Wasser, wirkliche Berge mit steilen Abhängen, sich auf diese Nußschale von Schiff zuwälzen. Brach der Gipfel von einem dieser Giganten über dem Segler zusammen, so konnte sich der Steuermann Ferragut Rechenschaft geben von dem ungeheuren Gewicht des Salzwassers. Weder Stein noch Eisen besaßen den brutalen Schlag dieser flüssigen Kraft, die beim Aufschmettern in Sturzbächen fortrauschte oder als Staub hochspritzte. Manchmal mußten Breschen in die Reling geschlagen werden, um der zermalmenden Masse einen Abfluß zu schaffen.

Wochen und Wochen lebten sie in einem fahlen, nebligen Halbdunkel, als hätte sich die Sonne für immer von der Erde entfernt. Weiß existierte nicht in dieser stürmischen Verwischtheit; alles war grau: Himmel und Gischt, Möwen und Schnee … Wenn dann und wann die bleifarbigen Schleier des Sturms zerrissen, zeigte sich irgendeine schauerliche Erscheinung. Einmal waren es die schwarzen, gletscherbedeckten Berge der Straße von Beagle. Und das Schiff drehte ab, noch mehr … um dieser klippenübersäten Meerenge zu entgehen. Ein anderes Mal waren es die Felsmassen von Diego Ramirez, dem äußersten Punkte des Kaps, die vor dem Bug auftauchten. Dieser Friedhof der Schiffe trieb die Bark zu abermaliger Flucht, und vor dem Winde kreuzend, erblickten sie die ersten Eisberge, worauf das Steuer von neuem umgelegt wurde, damit sie sich nicht in der Einsamkeit des Südpols verloren. Allmählich glaubte Ferragut, daß der Segler niemals um das Kap herumkommen würde und gleich dem verfluchten Schiff der Sage für immer im Sturm umherirren müsse. Der Kapitän, eine Art Wilder des Meeres, wortkarg und abergläubisch, drohte dem Vorgebirge mit der Faust, verwünschte es wie eine Höllengottheit … Er war vollkommen überzeugt, daß nur ein menschlicher Tribut sie erweichen würde, und erinnerte Ulysses unwillkürlich an die ersten Argonauten, die den Zorn der Meergötter mit Opfern beschwichtigten.

In einer Nacht nahmen die Wogen einen Matrosen mit. Am nächsten Morgen stürzte der Ausguck aus dem Mastkorb, ohne daß jemand auch nur an eine wenn auch unmögliche Rettung dachte. Und als hätte der Dämon des Südens lediglich auf diesen Tribut gewartet, hörte der Westwind auf, verschwand vor dem Bug die unüberwindliche Barriere eines feindlichen Meeres. Zwölf Tage später warf das Schiff in Valparaiso Anker.

Jetzt verstand Ferragut die dankbare Erinnerung, die dieser Hafen im Gedächtnis der Seeleute zurückläßt. Er bedeutete die Ruhe nach dem Kampf ums Kap; die Freude am Dasein, nachdem man schon den Hauch des Todes gespürt hatte; das Leben in Cafés und frohen Häusern; Essen und Trinken in Hülle und Fülle, während der Magen noch unter der ausschließlichen Ernährung mit Pökelfleisch litt und die Haut noch von Schrunden zerrissen war. Wenn die Frauen mit leichtem, graziösem Schritt seinen Weg kreuzten, mußte er an seinen Onkel, den Arzt, denken. Und in den Nächten der »Remolienda« schweifte sein Blick von den brünetten, in der Mitte des Salons die Zamacueca tanzenden Schönheiten hinüber zu den Matronen in Trauerschleiern, die Klavier oder Harfe spielten und den Tanz mit Liebesliedern begleiteten. War vielleicht unter diesen sentimentalen, schnurrbärtigen Damen jene eine, die beinahe seine Tante geworden wäre?

Von dieser Fahrt behielt Ferragut ein Gefühl von Stolz und Vertrauen, das ihn die Gefahren verachten ließ.

Später lernte er zwar auch die furchtbaren Tornados, die Taifune Asiens, kennen; doch deren verheerende Macht beschränkte sich auf Stunden, höchstens Tage, während er, um Kap Horn mitten im Winter zu umsegeln, einen zwei Monate langen Kampf gegen die Elemente geführt hatte. Durfte er sich nach diesem nicht an alles wagen? Ihm konnte der Ozean keine Überraschungen mehr bringen … Und trotzdem erlebte er das schlimmste seiner Abenteuer bei friedlichem Meer.

Nach sieben Jahren Seefahrt entschloß er sich wieder einmal, nach Spanien zurückzukehren, als man ihm in Antwerpen anbot, als erster Steuermann auf einem Segler nach der afrikanischen Westküste zu fahren. Ein norwegischer Freund riet ihm ab: man hatte das alte Schiff zum vierfachen Wert versichert, Kapitän und Reeder sollten unter einer Decke stecken … Doch gerade weil sie unvernünftig war, lockte Ulysses diese Fahrt. Klugheit hielt er für ein vulgäres Empfinden, hingegen zog ihn alles, was Gefahr ahnen ließ, unwiderstehlich an.

Eines Abends, auf der Höhe von Portugal, als sie sich weitab von der regulären Schiffsroute befanden, erhob sich über dem Deck eine Rauchsäule. Flammen brachen aus den Luken und fraßen die Segel. Während der Steuermann, unterstützt von einigen Negern, sich noch abmühte, des Feuers Herr zu werden, verließen Kapitän und Mannschaft schon das Schiff in den beiden Großbooten. Das Deck begann sich zu biegen, Glut strahlte durch die Fugen, und ohne zu wissen wie, sah sich Ferragut in der kleinen Jolle, mit ihm ein paar Schwarze, ein halbvolles Faß Zwieback und ein Wassertönnchen.

Sie ruderten die ganze Nacht, vor Augen das brennende Schiff, das – ein unheilvoller Stern – blutroten Schein auf die Wogen warf. Bei Tagesanbruch hoben sich an der Sonnenscheibe feine, dunkle Wellenlinien ab. Land! … Aber wie weit!

Zwei Tage irrten sie über die beweglichen Grate, durch die dunklen Täler der blauen Wüste. Die Füße im Wasser, das den Boden des Bootes bedeckte, verfiel Ferragut des öfteren in eine tödliche Lethargie. Seevögel zogen, mißtöniges Geschrei ausstoßend, Spiralen um diesen schwimmenden Sarg, und die Wogen hoben sich langsam und sanft über die wenigen Zentimeter des freien Bootsrandes, als wollten sie mit ihren grünen Augen dieses Gemenge von weißen und dunklen Körpern betrachten. Bisweilen griffen die Schiffbrüchigen mit verzweifelter Energie zu den Rudern, um dann angesichts ihrer nutzlosen Anstrengung bald wieder schlaff zurückzusinken.

Vergebens all ihre Zeichen für ferne Schiffe, die, ohne sie zu bemerken, am Horizont verschwanden. Zwei Neger starben vor Kälte. Ihre Leichen schwammen lange Stunden in der Nähe des Bootes, als vermöchten sie sich nicht von ihm zu trennen. Dann versanken sie plötzlich, einem unsichtbaren Zerren folgend … dreieckige Flossen schnitten wie Messer durch die Oberfläche des Wassers, während gleichzeitig schnelle Schatten die Tiefe verdunkelten.

Als sie sich endlich dem Lande näherten, war Ferragut dem Tod noch näher als auf hoher See. Die Küste starrte als ungeheurer Wall; vom Boot aus gesehen, schien sie die Hälfte des Himmels zu bedecken. Und die langgleitende Welle wurde beim Anprall gegen die Außenbastionen ihrer Klippen zur wütenden, schaumgekrönten Woge, die unter donnerndem Dröhnen Säulen von Gischt emporpeitschte.

Eine unwiderstehliche Hand griff den Kiel und stellte das Fahrzeug vertikal. Ferragut, wie ein Projektil in die Luft geschleudert, stürzte in die schäumenden Wirbel, wobei er noch im Fall den Eindruck im Wasser treibender Menschen und Fässer mitnahm.

Entgegengesetzte Kräfte faßten ihn. Die einen zogen an seinem Kopf, die anderen in umgekehrter Richtung an seinen Füßen, so daß sein Körper sich wie ein Uhrzeiger drehte. Sein Denken wurde doppelt. »Nutzlos, Widerstand zu leisten!« murmelte die Verzagtheit in seinem Hirn. »Ich will nicht sterben!« versicherte die andere Hälfte seines Ichs.

So lebte er Sekunden, die Stunden schienen – fühlte plötzlich das brutale Streifen von etwas Verborgenem, etwas Rauhem, dann einen Stoß in den Leib … Sich an die Risse des Felsens anklammernd, konnte er den Kopf aus dem Wasser heben, konnte atmen. Die Woge rollte zurück, aber schon brauste die nächste heran und riß ihn fort von dem Felsen, an dessen Schroffen Hautfetzen seiner Hände und seiner Knie hängenblieben.

»Ich muß sterben!« sagte er sich, und blitzartig zog sein ganzes Leben an seinem Geiste vorbei. Er sah den bärtigen Kopf des Triton, sah den Dichter Labarta, wie er seinem Patenkinde die Abenteuer des alten Odysseus erzählte, den Kampf des Schiffbrüchigen mit den Wellen …

Von neuem warf ihn eine Woge gegen die Klippen. Instinktiv krampften sich seine Hände fest, und bevor sie abflutete, kletterte er mit einer letzten Anstrengung zu einem höheren Felsen … Rückwärts rauschte die Woge, aber dieses Mal vergeblich an seinem Körper saugend. Langsam, mühselig kroch Ulysses von Klippe zu Klippe, bis er die vorspringenden Felsen der Küste erreichte.

Als er sich in Sicherheit sah, brach seine Energie jählings zusammen. Rot war das von seinem Körper tropfende Wasser und rieselte als rote Rinnsale auf die grünen Unebenheiten des Steins. Er fühlte einen ungeheuren Schmerz, als wäre sein Fleisch eine einzige offene Wunde … Trotzdem wollte er seinen Weg fortsetzen, doch über ihm stieg die Küste zu einer konkaven, unzugänglichen Mauer empor. Unmöglich, von hier fortzukommen! Dem Meere war er entronnen, um eingemauert vor ihm zu sterben. Nicht einmal zu einem bewohnten Strand würde sein Leichnam treiben, und nur der Riesenkrebs, der in den Spalten Nahrung suchte, nur die Möwe, die sich mit ausgebreiteten Schwingen von der Höhe der schroffen Klippen senkrecht herabfallen ließ, würde sein Schicksal kennen.

Sein Blut fuhr fort, die winzigen Seen in den Felsenlöchern purpurn zu färben. Mit einem Schlage empfand er seine ganze Schwäche, sein ganzes Elend … Er schloß die Augen, um zu sterben, sah ein blasses Gesicht … Hände, die feine Spitzen häkelten, und ehe die Nacht für immer auf seine Lider fiel, murmelte er mit kindlichem Stammeln:

»Mama! … Mama!«

Drei Monate später fand er bei seiner Ankunft in Barcelona seine Mutter so, wie sie ihm in dieser tragischen Stunde an der portugiesischen Küste erschienen war …

Er hatte mit dem Tode gerungen, als Fischer ihn entdeckten. Während er dann im Krankenhaus lag, schrieb er verschiedene Male fröhlich und zuversichtlich an Doña Cristina, wobei er Sorge trug, seinen Aufenthalt in Portugal mit der Abwicklung wichtiger Geschäfte zu erklären.

Bei seinem Eintritt ließ die gute Dame ihre Handarbeit fallen. Ihre Hände zitterten, das Gesicht wurde totenblaß. Der erste Blick auf ihren Sohn, dessen hinfälliges Aussehen seine forsche Haltung Lügen strafte, verriet ihr die Wahrheit.

»Oh, mein Kind! … Wie lange noch? …«

Wahrlich, es war doch Zeit, daß seine Abenteuerwut sich legte! Wenn er durchaus Seemann sein wollte, dann wenigstens im Dienste einer großen Gesellschaft, auf respektablen Schiffen mit festen Fahrplänen; nur nicht wie ein Vagabund auf allen Meeren, unter diesen internationalen Banditen, die sich in jedem Hafen anbieten, um die Mannschaft aufzufüllen. Aber welch ein Glück würde es für seine Mutter bedeuten, falls er sich entschließen könnte, die Seefahrt überhaupt aufzugeben! …

Und zu Doña Cristinas grenzenlosem Erstaunen nahm Ulysses diesen letzten Vorschlag an.

Sie lebte nicht mehr allein. Eine Nichte, wie ein eigenes Kind gehalten, lebte bei ihr. Dieses schlanke, brünette Mädchen mit dem prachtvollen Haar, das den Kopf glatt wie ein Helm von Ebenholz bedeckte und nur zwei kleine Löckchen an den Ohren freiließ, mit Augen, die wie das Meer bisweilen die Farbe wechselten, war die Tochter eines Blanes, des einzigen Armen der Familie, der, als Kapitän auf den Schiffen seiner Verwandten fahrend, in einem Hafen Mittelamerikas am gelben Fieber starb.

Ihr einfaches Wesen, die schüchterne Grazie ihrer Worte, ihres Lächelns zog Ferragut an. Ein junges Mädchen war etwas durchaus Neues für diesen Irrwisch, der nur braune Mulattinnen mit rohem Gelächter, die Katzengesten gelber Asiatinnen und die Europäerinnen der großen Häfen kennengelernt hatte, die beim ersten Wort zu trinken verlangen, sich dem Gast aufs Knie setzen und als Liebesbeweis seine Mütze auf ihr Ohr drücken.

Cinta schien sein ganzes Leben zu kennen. Er war das Thema der Unterhaltung in den vielen monotonen Stunden gewesen, die sie mit der Tante beim Häkeln von Spitzen zubrachte. Und als Ulysses an ihrem Zimmer vorbeiging, bemerkte er einige Photographien aus der Zeit seiner ersten Fahrten, die sie sich aus den Räumen seiner Mutter verschafft haben mußte. Denn lange bevor es ihn kennenlernte, bewunderte das junge Mädchen schon diesen Vetter.

Eines Abends erzählte der Seemann den beiden Frauen, wie er an der portugiesischen Küste gerettet worden war. Seine Mutter schaute fort, ihre bebenden Hände ließen die Maschen ihrer Handarbeit fallen. Plötzlich ein kleiner Schrei: Cinta konnte nicht länger zuhören … Und Ulysses wußte ihr Dank für ihre Tränen und ihre vom Schreck geweiteten Augen.

Die Zukunft dieser armen Nichte lag der Mutter Ferraguts sehr am Herzen. In einer Heirat die beste und einzig richtige Lösung sehend, hatte sie ihre Augen auf einen Verwandten geworfen, der weit mehr als vierzig Jahre zählte. Er war der Gelehrte unter den Blanes. Am Gymnasium von Manresa unterrichtete er in Rhetorik und Latein und sprach davon, eines Tages an die Universität Barcelona berufen zu werden. Glorreicher Abschluß einer großen Karriere! Vorläufig jedoch fuhr er jede Woche zur Provinzialhauptstadt, um der Witwe des Notars lange Besuche abzustatten.

»Meinetwegen kommt er nicht!« meinte die gute Señora. »Wer kümmert sich um eine alte Frau? … Ich sage dir, er ist in Cinta verliebt, und für die Kleine wäre die Ehe mit einem so gelehrten, ernsthaften Mann ein Glück.«

Und Ulysses, der schweigend zuhörte, erwog, welchen Knochen ein Seemann einem Professor der Rhetorik brechen könnte, ohne verantwortlich gemacht zu werden.

Eines Tages forschte Cinta im ganzen Hause nach einem alten Fingerhut, der ihr schon viele Jahre diente. Plötzlich hörte sie auf zu suchen und wurde purpurrot. Ihr Blick war den scheuen Augen ihres Vetters begegnet. Kein Zweifel, er hatte ihn! … Im Zimmer von Ulysses sah man Bänder, Schleifen, einen alten Fächer – dieselbe mysteriöse Macht, die früher Photographien aus Doña Cristinas Zimmern in das des jungen Mädchens brachte, hatte auch diesen zierlichen Tand auf Ferraguts Bücher und Papiere gelegt.

Dem Seemann gefiel es, zu Hause zu bleiben, wo er lange Stunden mit angestrengtem Nachdenken verbrachte. Alles wußte er: sphärische und ebene Trigonometrie, Kosmographie, die Gesetze der Winde und Stürme, die letzten Entdeckungen der Meereskunde … aber wo zum Teufel lernte man die Kunst, einer wohlerzogenen jungen Dame eine Erklärung zu machen?

Doch Zweifel waren bei ihm nie von langer Dauer. Vorwärts! Jeder macht es so gut, wie er kann! Und eines Abends, als Cinta vom Salon zum Schlafzimmer ihrer Tante ging, um ein Andachtsbuch zu holen, stand Ulysses, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich vor ihr.

Hätte sie ihn nicht gekannt, so würde sie für ihr Leben gezittert haben. Zwei starke Hände ergriffen sie und hoben sie hoch. Dann spürte sie auf ihrem Mund zwei aggressive Küsse.

»Nimm! …«

Ferragut wurde beim Anblick seiner bebenden Kusine, die sich bleich, die Augen voll großer Tränen, an die Wand lehnte, von Reue erfaßt.

»Ich habe dir weh getan … Ah, ich brutaler Kerl!«

Mit seinen geballten Fäusten schien er sich selbst für seine Verwegenheit züchtigen zu wollen. Doch sie unterbrach ihn.

»Nein! … Nein!«

Und mit diesem schluchzenden Protest legte sie die Arme um seinen Hals. Ihr Köpfchen neigte sich, bis es den Schutz seiner Schulter erreichte. Feuchte Lippen suchten schüchtern den Mund des Seemannes, auf dessen Bart gleichzeitig schwere Tränen fielen.

Mehr sagten sie sich nicht.

Als Doña Cristina einige Wochen später die Werbung ihres Sohnes hörte, antwortete sie zuerst mit einer abweisenden Geste. Für Ulysses hatte sie sich eine brillantere Partie erträumt. Doch bald gab sie nach; vielleicht würde gerade aus diesem bescheidenen Kind die beste Gefährtin ihres Sohnes! Außerdem war Cinta durch die Eindrücke ihrer Kindheit vorbereitet, eine Seemannsfrau zu sein … Adiós, Herr Professor!

Sie heirateten. Dann ging Ferragut, der nicht müßig leben konnte, wieder zur See, aber als erster Offizier auf einen Überseedampfer mit regelmäßigen Fahrten nach Südamerika. Angestellter eines schwimmenden Büros! nörgelte er im geheimen. Immer dieselben Häfen, unweigerlich dieselben Arbeiten! Seiner Mutter gefiel die neue Uniform, und Cinta blickte auf den Fahrplan wie die Frau eines Beamten auf die Uhr. Sie wußte mit Sicherheit, daß sie ihn nach zwei Monaten, beladen mit exotischen Geschenken, wiedersehen würde.

Bei der Rückkehr von den ersten beiden Fahrten stand sie am Kai, wo ihre Augen unter dem Gewimmel von Passagieren nach seiner goldbetreßten Mütze und der blauen Jacke suchten.

Das nächste Mal hielt Doña Cristina ihre Schwiegertochter im Hause zurück, besorgt, daß die Aufregung und das Gedränge des Hafens der künftigen jungen Mutter schaden könnten. Und dann sah Ulysses Ferragut bei jeder Heimkehr einen neuen Sohn, wenn auch immer denselben: zuerst, auf dem Arm einer sonntäglich gekleideten Amme, ein Bündel von Batist und Spitzen; dann – er war jetzt Kapitän seines Dampfers – einen kleinen Pausback mit seidigem Flaum auf dem runden Köpfchen, der ihm die Ärmchen entgegenstreckte; endlich einen Jungen, der schon zur Schule ging, des Vaters harte Rechte umklammerte und mit bewundernden Augen aufsah zu ihm, der Verkörperung aller Kräfte des Universums.

Don Pedro, der Professor, besuchte weiter Doña Cristinas Haus, wenn auch nicht mehr so häufig. Er hatte die resignierte, verbissene Miene des Mannes, der glaubt, zu spät gekommen zu sein, und sein Mißgeschick nur als eine Folge seiner Nachlässigkeit ansieht … Ah, hätte er eher gesprochen! Das Gefühl seiner Bedeutung schaltete jeden Zweifel, ob das junge Mädchen seinen Antrag angenommen haben würde, aus.

Diese Überzeugung bewog ihn auch, bisweilen eine ausfallende Ironie zu entfalten, die sich in dem Verleihen klassischer Namen gefiel. Die über ihre Spitzen gebeugte junge Frau war für ihn Penelope, die Heimkehr ihres umherirrenden Gatten erwartend.

Doña Cristina sagte nichts gegen diesen Beinamen, denn vage erinnerte sie sich, daß es der Name einer tugendhaften Königin war. Erst als der Professor gelegentlich seine Deduktionen weiterführte und Cintas Sohn Telemach nannte, protestierte die Großmutter:

»Er heißt Esteban, wie sein Großvater. Telemach! … das ist ein Theatername.«

Auf einer seiner Fahrten benutzte Ulysses einen mehrstündigen Aufenthalt im Hafen von Valencia, um seinen Paten aufzusuchen, von dem bisweilen Briefe, jedesmal kürzere und traurigere, eintrafen.

Beim Betreten des Arbeitszimmers erging es ihm wie den Schläfern der Märchen, die nach einigen Stunden zu erwachen glauben, während sie lange Jahre schlummernd zubrachten. Alles unverändert wie in seiner Kindheit: die Büsten der großen Dichter über der Bibliothek; die Kränze unter ihren Glasglocken; in Vitrinen und auf Sockeln die im Wettstreit errungenen Schmuckstücke und Statuen; die enggedrängten Bataillone der funkelnden Bücherrücken. Doch die weißen Büsten hatten einen braunen Ton angenommen; Grünspan überzog die Bronzen. Man hätte vermuten können, ein Aschenregen sei auf diese regungslosen Dinge gefallen.

Ulysses fand den Dichter tief in einen Lehnstuhl versunken; mager und gelb, mit schneeweißem Bart, ein Auge fast geschlossen und das andere übermäßig weit geöffnet.

Der Besuch war kurz. Der Kapitän mußte zum Grao zurück, wo sein auf der Ausreise befindlicher Dampfer auf ihn wartete. Und unter kindlichem Schluchzen zog der Dichter sein Patenkind an sich. Er wußte, daß er diesen braungebrannten Hünen, dessen mächtiger Brustkasten seine schwächliche Umarmung zurückzustoßen schien, nicht wiedersehen würde.

»Ulysses, mein Sohn! Denk immer an Valencia … Tue dafür, was du kannst … Du weißt: immer Valencia!«

Der andere schwor alles, was man wollte, ohne allerdings zu verstehen, was er, ein einfacher Seemann, wohl für Valencia tun könnte. Labarta machte Miene, ihn bis zur Tür zu begleiten, sank dann aber, dem zärtlichen Despotismus Doña Pepas gehorchend, wieder in seinen Sessel zurück.

Arme Doña Pepa! … Ferragut schwankte zwischen Lachen und Weinen, als er einen Kuß erhielt von diesem Mund, runzlig wie alte Winteräpfel, dessen Flaum zu Borsten geworden war – den Kuß der fruchtlos gebliebenen Frau für den Sohn, den sie hätte haben können.

»Der unglückliche Don Carmelo! … Er schreibt nicht mehr, liest nicht mehr. Ach, was wird wohl aus mir werden? …«

Wie ein starker, gesunder Mensch sprach das verhutzelte Frauchen von dem Verfall des Dichters, vor dem Gedanken zurückschreckend, ihn noch Jahre überleben zu müssen. So völlig mit seiner Pflege beschäftigt, fand sie gar keine Zeit, sich selbst anzusehen.

Ein Jahr später erreichte den Kapitän in Port Said ein Brief seines Paten. Doña Pepa war gestorben, und Labarta hatte ihr einen langen Nachruf gewidmet. Gerührt ließ Ulysses seine Augen über den Zeitungsausschnitt laufen, auf dem die letzten Verse des Dichters standen. Spanische Verse? … Nicht valencianische? … Ein böses Zeichen! Unzweifelhaft ging es mit ihm zu Ende.

Ulysses sollte ihn nicht wiedersehen. Als er in Barcelona landete, übergab ihm seine Mutter einen mit zittriger Hand geschriebenen Brief: »Valencia, mein Sohn! Immer nur Valencia!« Außer diesem Appell enthielt das Schreiben nichts als die Mitteilung, daß Labarta ihn zu seinem Erben eingesetzt hatte.

Und des Seemanns Haus in Barcelona barg hinfort alle die glorreichen Erinnerungen des Dichters, von denen der kleine Telemach allerdings manches, manches mit der Sorglosigkeit eines lebhaften Jungen zerbrach, der seinen Vater fern weiß und die Ermahnungen zweier ihn anbetender Frauen nicht fürchtet. Außerdem hinterließ Labarta seinem Patenkinde das Haus in Valencia, einige Ländereien und Wertpapiere: zusammen dreißigtausend Duros.

Über den anderen Schützer seiner Jugend, den starken Triton, schienen die Jahre keine Macht zu haben. Verschiedentlich fand ihn der heimkehrende Ferragut in seinem Hause installiert, denn einen Teil der Zärtlichkeit, die früher nur Ulysses gehörte, hatte der Triton auf Cinta und ihren Sohn übertragen. Doch mit Doña Cristina lebte er in dumpfer Feindschaft: er wünschte, daß der kleine Esteban das Haus seiner Urgroßväter kennenlernen sollte.

»Läßt du ihn mir? … Du weißt doch, daß die Männer dort unten an der Marina zu Stahl werden. Also läßt du ihn mir?«

Aber die sanfte Doña Cristina zeigte ein empörtes Gesicht. Ihren Enkel dem Triton anvertrauen, damit er bei ihm, gerade wie bei ihrem Ulysses, die Liebe zur See wachriefe? … Zurück, Dämon!

»Dann beim nächsten Mal«, murmelte der Triton sich selbst zum Trost in seinen Bart und suchte sein Dominium wieder auf, um nach einigen Monaten von neuem in Barcelona aufzutauchen – jedesmal noch dürrer, noch häßlicher, noch gegerbter von Sonne und Salzwasser.

Als Ulysses von einer Fahrt ins Schwarze Meer zurückkehrte, erfuhr er von seiner Mutter:

»Dein Onkel ist tot …«

Die fromme Dame beweinte das Ableben ihres Schwagers in gebührender Weise und schloß ihn auch in ihre ständigen Gebete ein. Nichtsdestoweniger gefiel es ihr, mit einer gewissen Grausamkeit von seinem traurigen Ende zu sprechen, denn sein fatales Einmischen in das Geschick ihres Sohnes konnte sie ihm nicht vergessen. Wie er gelebt hatte, war er gestorben, auf dem Meer, als Opfer seiner Verwegenheit – ohne Beichte, gerade so wie ein Heide …

Der Doktor war an einem sonnigen Wintermorgen ins Meer hinausgeschwommen und nicht zurückgekehrt. Die alten Fischer erklärten das auf ihre Art: ein Krampf, ein Anprall gegen die Felsen! Vielleicht gar ein Kampf mit einem »cabeza de olla »Kesselkopf«, volkstümlicher Ausdruck für den Hai.«, der im Mittelmeer Jagd trieb.

Umsonst suchten die Barken alle Ecken und Winkel, alle Grotten und Höhlen des Vorgebirges ab. Niemand fand den Leichnam des Triton. Und Ferragut erinnerte sich an den Zug der Amphitrite, den ihm sein Onkel so oft in den langen Sommernächten beschrieben hatte, während in der Ferne die Feuer der Leuchttürme blitzten. Vielleicht war er dem frohen Gefolge der Nereiden begegnet, hatte sich ihm angeschlossen.

Diese absurde Vorstellung, die Ulysses ein kleines trauriges Lächeln abnötigte, spukte, wenngleich in veränderter Form, auch in den Köpfen der naiven Bewohner der Marina.

Sie lehnten es ab, an seinen Tod zu glauben: ein Hexenmeister stirbt nicht. Er mußte dort unten etwas sehr Interessantes angetroffen haben und würde, wenn er genug hatte von den grünen Tiefen, schon wieder an Land zurückschwimmen.

Nein, der Doktor war nicht tot! Und viele Jahre lang beschleunigten die Frauen, die ihr Weg abends am Strand entlang führte, ihren Schritt und bekreuzigten sich, sobald sie ein treibendes Stück Holz oder ein Algenbündel in dem dunklen Wasser bemerkten. Sie fürchteten, den Triton plötzlich auftauchen zu sehen – bärtig, unkeusch, von Wasser triefend.


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