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Der junge Telemach

Wenn die Nereide nach Barcelona kam, hatte Esteban Ferragut jedesmal das Gefühl, als fiele durch ein weit geöffnetes Fenster ein blendendes, glorreiches Licht, das sein monotones Schülerleben erleuchtete.

Dann sah man ihn nicht mehr am Hafen umherschweifen und von weitem die gegenüber dem Columbusdenkmal ankernden großen Überseedampfer oder die längs der Kais aufgereihten Frachtschiffe bewundern. Für einige Wochen war ein hervorragendes Schiff sein absolutes Eigentum. Der Kapitän und die Offiziere lebten im Kreise ihrer Familien, und da auch die meisten Matrosen Urlaub nahmen, blieb der Dampfer, mit einem halben Dutzend Leuten zum Putzen und Scheuern, unter der Obhut Onkel Caragòls.

So konnte sich der kleine Ferragut der Illusion hingeben, Kapitän der Nereide zu sein. Wichtig lief er auf der Brücke hin und her, wobei er sich einbildete, daß ihn ein schwerer Sturm umtobte. Mit ernster Kennermiene examinierte er die nautischen Instrumente, revidierte alle Kabinen, stieg hinunter in den zur Lüftung offenstehenden Raum und machte schließlich die kleine Jolle am Fallreep los, um mit einem ganz anderen Behagen als in den leichten Booten des Regattaklubs ein paar Stunden zu rudern.

Seine Besuche pflegten in der Küche zu endigen, wo ihn Onkel Caragòl mit väterlicher Vertraulichkeit umsorgte.

»Ist dir warm geworden beim Rudern, mein Junge? Ein Refresquet?«

Und liebevoll bereitete er eine seiner meisterhaften Mischungen, die bei den Männern leichte Nebel hervorriefen.

Diese Erfrischungen Onkel Caragòls erfreuten sich Estebans besonderer Wertschätzung. Seine Phantasie, durch die Lektüre von allerlei Romanen erregt, stellte sich den echten Seemann als einen kühnen, galanten Helden vor, der fähig ist, ohne Wimperzucken die brennendsten Getränke becherweise hinunterzuschütten. Diesem Helden wollte auch er gleichen; jeder gute Seefahrer muß zu trinken verstehen!

An Land kannte er nur die unschuldigen und sehr süßen Liköre, die seine Mutter bei Familienfesten kredenzte. Sobald er aber das Deck betrat, wurden alkoholische Getränke zu einer Notwendigkeit: man sollte sehen, daß er ein Mann war. »Nichts auf der Welt kann mich berauschen!« Und bei der zweiten Erfrischung versank er in ein wohliges Nirwana und sah alles – Meer, Schiffe, Docks und den Berg Montjuich – rosafarben und beträchtlich vergrößert.

Derweile blinzelte ihn der Koch mit seinen kurzsichtigen Augen verliebt an und bildete sich ein, einen Sprung um Dutzende von Jahren rückwärts getan zu haben. Plauderte er nicht wieder in Valencia mit dem anderen Ferragut, der die Vorlesungen schwänzte und statt dessen im Hafen umherruderte? … Geduldig lieh er Estebans Klagen sein Ohr. Denn dieser fünfzehn Jahre alte Ferragut war unzufrieden mit seinem Leben. Als Mann unter Frauen vegetieren zu müssen … mit Mutter und zwei Kusinen, die den ganzen Tag Spitzen arbeiteten! Seemann wollte er sein, und man zwang ihn, all dies verhaßte Zeug auf dem Gymnasium zu lernen … Als ob ein Kapitän jemals Latein brauchte!

Seines Erachtens gab es nur zwei der Bewunderung würdige Dinge: das Meer und sein Vater. Alle Helden, die sich, den Seiten der Romane entschlüpft, in seiner Phantasie festgesetzt hatten, trugen die Züge und das Wesen des Kapitäns Ferragut.

Häufig hatte Esteban als kleiner Junge seine Mutter resigniert weinen sehen, und in späteren Jahren ahnte der Frühreife, daß die Leichtlebigkeit und Untreue des abwesenden Seefahrers diese Tränen verursachten. Gewiß, er liebte seine Mutter mit der Zärtlichkeit eines einzigen, verhätschelten Kindes, doch seine Bewunderung für den Vater überwog bei weitem. Der durfte tun, was er wollte – war er nicht der Tapferste, der Schönste von allen? … Beim Durchstöbern der Kapitänskabine gerieten dem Jungen eines Tages verschiedene Frauenbilder mit den Namen ferner Länder in die Finger. Ah, wie sehr mußten diese Damen den Kapitän der Nereide lieben!

Im Gegensatz zu seiner Mutter, der ihr weiblicher Instinkt eine Gefahr künden mochte, war Esteban weder bestürzt noch überrascht, als der Dampfer bei der Rückkehr von Neapel ohne seinen Herrn in Barcelona einlief. Tòni, der sonst so Wortkarge, erschöpfte sich dieses Mal in Erklärungen: den Kapitän hatten Geschäfte in Neapel zurückgehalten … äußerst wichtige Geschäfte … indes konnte er von einem Moment zum anderen eintreffen: wahrscheinlich würde er wegen der kürzeren Fahrtdauer sogar den Landweg wählen. Aber Doña Cintas qualvolle Unruhe wich trotzdem nicht.

Nachmittags erschien ihr alter Verehrer Don Pedro, der mit der Bestallung als Dozent in Barcelona den Gipfel seiner gloriosen Karriere erklommen hatte und jeden Nachmittag ein und eine halbe Stunde, genau nach der Uhr, in Doña Cintas Salon saß, um Haushalt, kirchliche Feste und alle Tagesereignisse mit ihr zu besprechen und gewichtigen Rat zu erteilen.

»Warum weinen und sich mit allerlei Vermutungen den Kopf heiß machen?« meinte er. »Lassen Sie den Steuermann holen. Vielleicht sagt er Ihnen die Wahrheit.«

Umsonst strich Esteban am nächsten Tage vor der geschlossenen Tür zum Salon umher; es gelang ihm nur dann und wann ein lauter gesprochenes Wort dieser Unterhaltung aufzufangen.

Als Tòni nach langer Zeit den Salon verließ, schimpfte er wütend über seinen eigenen verdammten Charakter, der nicht zu lügen wußte. Hatte er sich vielleicht doch verplappert, vielleicht doch mehr gesagt, als er wollte? Ah, diese Doña Cinta! Wie sie es verstand, mit der Gewandtheit eines Richters einem die Worte herauszuziehen!

Beim Abendessen sprach die Mutter kaum eine Silbe. Ihr Gesicht war ruhig, doch das nervöse Zittern ihrer Hände übertrug sich auf Gabel und Messer. Mit tragischem Mitleid blickte sie hinüber zu ihrem Sohn, als braute sich über seinem Haupte schon ein unabwendbares Unglück zusammen.

»Dein Vater läßt uns im Stich!« brach es endlich, als Estebans Fragen immer drängender wurden, verzweifelt aus ihr hervor. »Dein Vater hat uns vergessen!«

Esteban schlief schlecht, aber er schlief. Die Bewunderung für den Vater, verbunden mit einem gewissen Gefühl männlicher Solidarität, brachte ihn dazu, dem Kummer seiner Mutter nicht allzuviel Wichtigkeit beizumessen. Frauenschwäche! Die Mutter erfaßte eben nicht, was es bedeutete, die Frau eines außergewöhnlichen Mannes zu sein! Er, Esteban, mußte jetzt intervenieren und der Sache auf den Grund gehen.

Am nächsten Morgen stand er in der Küche der Nereide.

»Ein Refresquet?« lud Onkel Caragòl ein. Doch auch in seinem runden Gesicht schienen Sorgen zu nisten, und vielleicht waren diese Sorgen schuld, daß er so viel Rum zusetzte, bis die Mischung braun wie Tabak wurde.

Als die Gläser halb geleert waren, begann Esteban von seinem Vater zu sprechen. Der Koch, dem das Thema nicht behagte, grunzte abwehrend, bequemte sich aber schließlich zu den Worten:

»Dein Vater kommt zurück, Esteban, ganz sicher; freilich nicht so bald, wie Tòni behauptet.« Und um weiteren Worten enthoben zu sein, goß er den Rest seiner Erfrischung hinunter und braute sich sofort eine neue.

Allmählich schwand die kluge Reserve, die er sich auferlegt hatte, und er schwatzte mit seiner gewohnten Sorglosigkeit.

»Esteban, mein Sohn, respektiere deinen Vater! Werde ein Seemann wie er. Sei gut und gerecht zu den Leuten, die du befehligen wirst … aber fliehe die Frauen!«

Die Frauen! Kein besseres Thema gab es für die Beredsamkeit dieses frommen Trunkenboldes. Die Welt tat ihm leid. Alles in ihr wurde von der höllischen Anziehungskraft regiert, die die Frauen ausströmen. »Die Männer arbeiten, streiten, wollen reich oder berühmt werden – alles nur, um das eine, immer dasselbe, bei der Frau zu besitzen. Darin, mein Sohn, ahme deinen Vater nicht nach!«

Der Alte hatte zuviel gesagt – zurück konnte er nicht mehr, und brockenweise kam jetzt alles heraus. Auf diese Art erfuhr Esteban, daß sein Vater einer Dame zuliebe in Neapel geblieben war.

»Ist sie hübsch?« fragte der Junge eifrig.

»Sehr hübsch«, antwortete Caragòl. »Und Parfüms! … Und ein Rascheln von lauter Seide! … Deshalb wird er auch so bald nicht kommen. Ich weiß, was es mit diesen eleganten Frauen auf sich hat! Wahre Teufel, die sich an einen Mann wie mit Krallen anklammern! Man muß ihnen die Hände abschlagen, damit sie ihre Beute loslassen … Und um dieser hübschen Fratze willen liegt unser Schiff still, während andere sich mit Gold füllen!«

Traurig schüttete er den Rest seines Glases in die Kehle.

Unterdessen hing Esteban einer Idee nach, die ihm der Refresquet eingegeben hatte. Wenn er nun nach Neapel führe, um den Vater zu holen? …

In diesem Augenblicke schien ihm alles möglich. Die Welt lächelte rosig, wie immer, wenn er mit Onkel Caragòl pokulierte. Hindernisse waren dazu da, um von Männern aus der Welt geschafft zu werden!

Aber einige Stunden später, als die verführerische Wolke um sein Hirn wich, wurde er beim Gedanken an den Empfang, den ihm sein Vater bereiten würde, doch etwas ängstlich. Wie sollte er diesem seine Reise nach Neapel erklären? … Und mit Schrecken erinnerte er sich an ein gewisses Stirnrunzeln und zornsprühende Augen.

Am nächsten Tage jedoch machte diese Unruhe einem plötzlichen Vertrauen Platz. Er sah nur noch das gütige, freundliche Lächeln, mit dem der Vater bei der letzten Heimkehr seine Fortschritte belohnt hatte. Nein, er würde nicht davor zurückschrecken, ganz offen mit dem Kapitän Ferragut zu reden, wie es die Pflicht von jedem guten Freunde erheischt, der einen Kameraden in Gefahr sieht … Vielleicht würde sein Vater zornig werden, vielleicht ihn verhauen – aber ganz bestimmt schließlich nachgeben.

Des Vaters Charakter brach in dem Jüngling durch. Wenn diese Fahrt absurd und gefährlich war … um so besser! Ein Grund mehr, sie zu unternehmen. Für einen Mann gibt es keine Furcht.

In den beiden nächsten Wochen traf er seine Vorbereitungen. Noch nie hatte er eine größere Reise gemacht, nur ein einziges Mal seinen Vater auf einer geschwinden Geschäftstour nach Marseille begleitet. Also wurde es wahrlich Zeit, daß er sich in der Welt umsah, deren Städte er fast alle aus seinen Büchern kannte.

Die Unkosten bekümmerten ihn nicht, denn Doña Cinta hatte immer reichlich Geld im Hause, und ihr Schlüsselbund war leicht erreichbar. Aber die Papiere! … Da hörte er, daß ein eben eingelaufener Dampfer, alt und langsam, doch von einem Freunde seines Vaters befehligt, am nächsten Tage nach Genua in See ging.

Wirklich gestattete der alte Seebär Esteban, auch ohne Paß an Bord zu kommen; diese Lappalie würde er mit seinen Freunden von der genuesischen Hafenpolizei schon in Ordnung bringen. Ist man sich unter Kapitänen nicht kleine Gefälligkeiten schuldig? Wegen solcher Formalitäten sollte Ulysses Ferragut, der, wie Esteban angab, seinen Sohn in Neapel erwartete, keine Zeit verlieren.

Mit tausend Pesetas aus dem Nähtischchen, das seiner Mutter als Tresor diente, und einem kleinen Handkoffer, der mit unendlicher Vorsicht gepackt und aus dem Hause geschafft worden war, schiffte Esteban sich frühmorgens ein.

Von Genua fuhr er nach Rom, von dort nach Neapel – keck, wie die Jugend ist, sein Spanisch mit den paar italienischen Brocken unterstützend, die er aus den in Barcelona gehörten Opern kannte. Die einzig positive Angabe, die ihn auf seiner Abenteurerreise führte, war der Name des Hotels von Santa Lucia, das ihm Caragòl als Aufenthalt seines Vaters genannt hatte.

Mehrere Tage verbrachte Esteban mit seiner vergeblichen Suche; die verschiedenen Schiffsmakler, bei denen er gleichfalls nachforschte, glaubten den Kapitän schon längst wieder in seiner Heimat.

Und mit der Enttäuschung über den bitteren Fehlschlag stieg die Angst in Esteban auf. Zweifellos war der Vater mittlerweile nach Barcelona zurückgekehrt, und diese Expedition, die als heroische Fahrt begonnen hatte, gewann immer mehr das Aussehen eines übermütigen Jungenstreichs. Wie mußte die Mutter beim Lesen des hinterlassenen Briefes, der ihr seine Flucht erklärte, geweint haben! … Hinzu kam, daß Italien plötzlich in den Krieg eintrat. Was sollte er noch in diesem Lande tun? … Und eines guten Tages war der junge Spanier verschwunden.

 

Als der Kapitän Ferragut seiner ersten Bestürzung über die Nachrichten des Portiers Herr geworden war, entschloß er sich zur sofortigen Heimfahrt.

Da am selben Abend ein französischer Dampfer nach Marseille abging, ließ er sein Gepäck sogleich an Bord bringen und benutzte die ihm bleibenden vier Stunden, um noch einmal die Orte, die ihm durch Freya lieb geworden waren, zu besuchen. Adiós, Gärten der Villa Nazionale und weißes Aquarium! … Adiós, Albergo! … Traurig dachte er an seine verlorene Liebe; daneben aber quälte ihn eine nagende Unruhe, was ihn bei seiner Heimkehr erwarten würde.

Kurz vor Sonnenuntergang stach der französische Dampfer in See, und zum ersten Male nach vielen Jahren fuhr Ulysses wieder als einfacher Passagier. Mißmutig irrte er an Deck umher, bis ihn die Macht der Gewohnheit zur Brücke trieb. Aber obgleich ihn der Kapitän aufs freundlichste bewillkommnete, bereitete ihm der Gedanke, nur geduldet dort oben zu stehen, so viel Unbehagen, daß er sich bald wieder unter die Passagiere mischte.

Die meisten von ihnen waren aus Hinterindien zurückkehrende Franzosen. Im Zwischendeck lagen vier Kompanien Anamiten, die sich auf dem Wege zur Front befanden – kleine, gelbe Kerle mit schrägen Augen und miauender Stimme. Die Offiziere führten ihre Frauen mit sich, und Männern wie Frauen hatte der lange Aufenthalt in den Tropen ein etwas exotisches Äußeres gegeben.

Da waren weißgekleidete Damen, die sich von kleinen chinesischen Pagen fächeln ließen; magere, bronzefarbene, durch den Krieg ihrer asiatischen Siesta entrissene Militärs mit kränklichem Aussehen, und kleine Mädchen, viele kleine Mädchen, denen die Freude aus den Augen leuchtete, nach Frankreich, dem Lande ihrer Träume, zu kommen. Daß ihre Väter vielleicht dem Tode entgegengingen, vergaßen sie in ihrem Glück.

Die Fahrt konnte nicht besser sein. Das Meer wurde im Mondlicht zu einer silbernen Ebene; von der unsichtbaren Küste drang in warmen Stößen der Duft der Felder. Und die Gruppen an Deck gedachten mit egoistischem Behagen der Gefahren, die die Schiffahrt in den nördlichen Meeren umlauerten. Gott sei Dank war man im Mittelmeer vor den Unterseebooten sicher: die Engländer hielten gute Wacht am Tore von Gibraltar …

Auf seinem Rundgang kam Ferragut auch an der Marconistation vorbei, und das Knistern der Apparate bewog ihn einzutreten. Der Telegraphist, ein junger Engländer, vertrieb sich die Zeit durch Plaudern mit Kollegen, deren Schiffe sich in Rufweite befanden, doch diesem Passagier zuliebe, der Englisch sprach und ihm eine Zigarre anbot, unterbrach er seine Unterhaltung.

»Nichts Neues zu erfahren, Sir!«

Dann zählte er die Schiffe auf, mit denen er in Verbindung stand. Das nächste, die California, ein englischer, von Malta kommender Dampfer, der zehn Stunden früher Neapel verlassen hatte, war hundert Meilen von ihnen getrennt. Zwei andere fuhren in einer Entfernung von etwa dreihundert Meilen.

»Ah, ein Ruf!« Schnell setzte er den Hörer auf …

»Der Telegraphist von der California wünschte mir gute Nacht«, wandte er sich wieder an Ferragut, »er will schlafen gehen. Hier kann man ja auch schlafen, aber im Anfang des Krieges fuhr ich auf einem Dampfer zwischen London und New York – Nächte voll Unruhe, Herr, Tage voll ängstlicher Wachsamkeit! Jeden Augenblick befürchtete man, ein Periskop auftauchen zu sehen oder den Hilferuf eines torpedierten Schiffes zu vernehmen.«

Ferragut erriet, daß der Telegraphist diese gepriesene Ruhe genießen wollte, und wandte sich zum Gehen.

»Good night!«

Kaum hatte sich Ulysses auf der schmalen Matratze in seiner Kabine ausgestreckt, so schlief er auch schon, friedlich, ohne daß ein Traum ihn störte … Gegen Morgen fuhr er hoch. Im Halbdunkel zeichnete sich das runde Glas des Bullauges ab, leicht bläulich, beschlagen vom Nachttau – eine tränende Pupille. Der Tag graute.

Irgend etwas Ungewöhnliches mußte vorgefallen sein. Über sich hörte Ferragut eilige Schritte, hörte Stimmen, und während er hastig in seine Kleider fuhr, wurde er inne, daß der Dampfer durch eine ungestüme Steuerbewegung den Kurs änderte.

Draußen indes genügte ihm ein Blick, um sich zu vergewissern, daß dem Schiff keine Gefahr drohte. Alles zeigte sein normales Aussehen. Das Meer, noch dunkel, rauschte sanft gegen die Seiten des Dampfers, der mit monotoner Regelmäßigkeit seine Fahrt fortsetzte. Das Deck war menschenleer; die Passagiere schliefen in ihren Kabinen. Nur auf der Brücke stand eine Gruppe: der Kapitän und sämtliche Offiziere, einige halbangezogen, als hätte man sie aus dem Bett geholt.

Auch der junge englische Telegraphist war noch wach. Er lehnte an der Tür der drahtlosen Station, den Blick in atemloser Spannung auf seinen diensttuenden Kollegen geheftet, der mit den unsichtbaren Schiffen sprach.

Vor einer halben Stunde, gerade als die Ablösung nahte, hatte ein Signal den Engländer auf seinem Sitz zurückgehalten. Die California sandte den drahtlosen Ruf SOS, das Zeichen höchster Gefahr. Dann hatte innerhalb weniger Sekunden die mysteriöse Stimme ihren tragischen Bericht über Hunderte von Meilen verbreitet. Ein Unterseeboot war soeben in geringer Entfernung von der California aufgetaucht, um sie durch ein paar Kanonenschüsse zum Beidrehen aufzufordern, und da der englische Dampfer im Vertrauen auf seine Schnelligkeit zu entkommen versuchte, hatte es diesen Warnungsschüssen ein Torpedo folgen lassen.

Das alles hatte sich im Lauf von zwanzig Minuten abgespielt. Rasch erlosch das Echo der fernen Tragödie: ein stärkeres Knistern im Apparat, dann nichts mehr! … Nichts! … Absolutes Schweigen.

»Also sind sie auch im Mittelmeer!« schloß mit staunendem Entsetzen der Telegraphist seinen Bericht. »Aber wie sind sie nur hierhergelangt? …«

Ferragut getraute sich nicht auf die Brücke. Er scheute es, den Blicken dieser Seeleute zu begegnen, und bildete sich ein, sie müßten seine Gedanken lesen. »Was hast du getan? … Was hast du getan?« fragte zornig die Stimme seines Gewissens.

Ungeachtet der strengen Befehle des Kapitäns war nach einer Stunde die Nachricht durchgesickert, und an Deck wimmelte es von bestürzten Menschen, die zum erstenmal in ihrem Leben einen Rettungsring anprobierten, von schreienden Kindern und hysterisch weinenden Frauen – fuhr der Dampfer doch zum Ort der Torpedierung, an dem vielleicht, nach Meinung der Überängstlichen, der Feind unbeweglich auf ihre Ankunft lauerte, um neue Beute zu machen. Bald hier, bald dort glaubten Hunderte von erschreckt auf dem Meer umherspähenden Augen ein Periskop zu entdecken. Nur die Anamiten bewahrten ihren ruhigen Gleichmut. Voller Verlangen, dieses neueste Teufelsspielzeug des weißen Mannes kennenzulernen, betrachteten sie mit kindlicher Neugier die graue Wasserfläche.

Gegen Mittag zeichneten sich am Horizont die Rauchwolken der von allen Seiten zur Hilfe herbeieilenden Schiffe ab. Der französische Dampfer verminderte seine Schnelligkeit; in den Mastkörben standen Matrosen, die den Kurs angaben. Und dann befand man sich mitten in der Zone des Schiffbruchs.

Die beiden Reihen enggedrängter Köpfe auf den verschiedenen Decks sahen leere Rettungsringe vorbeigleiten, ein kieloben treibendes Boot, zusammengebundene Hölzer – das Fragment eines Floßes, das man in Hast begonnen und nicht hatte vollenden können.

Plötzlich ein tausendstimmiger Schrei, dem düsteres Schweigen folgte … Auf einem Brett schaukelte der Körper einer Frau vorüber. Das linke Bein bedeckte ein grauer Seidenstrumpf; der Kopf hing im Wasser, auf dem sich das blonde Haar wie ein Bündel vergoldeter Algen ausbreitete, und durch den Ausschnitt ihres Nachthemdes sah man den jungen, festen Busen. Das Grauenhafteste aber war der Anblick ihres im Todeskrampf verzerrten Gesichtes mit den entblößten Zähnen.

Eilig schoß ein italienisches Torpedoboot zwischen den Trümmern umher, während die Dampfer in weitem Kreise beidrehten, um ihre Schaluppen ins Wasser zu lassen.

Der französische Dampfer, auf dem Ferragut fuhr, stieß auf ein kleines Boot, gedrängt voll von Überlebenden der Katastrophe. Wie Betrunkene machten sie schwankende, taumelnde Schritte, als sie den Fuß auf Deck setzten; manche mußten sogar an Bord gehißt und gleich ins Lazarett getragen werden. Einige Soldaten, Engländer, baten phlegmatisch um Tabak, und ein paar halbnackte Männer verlangten nichts als eine Decke, um dann gleich Details der Katastrophe zu erzählen. Zehn Stunden in dem überladenen, ziellos auf dem Meer umherirrenden Boot hatten ihrer Energie keinen Abbruch getan.

Die Frauen dagegen gebärdeten sich wie Verzweifelte. Ferragut sah in einer Gruppe von Damen eine junge, schlanke Engländerin herzzerbrechend schluchzen. Sie hatte sich plötzlich, getrennt von ihren Eltern, in dem Boot befunden. Wo mochten die Ihrigen sein? Waren sie tot? Oder vielleicht doch noch von einem anderen Dampfer aufgenommen worden?

Jetzt übertönte gellendes Wehklagen alle anderen Laute. Eine Italienerin, ihr Baby im Arm, kam an Bord.

»Figlia mia! … Mia figlia!« heulte sie wild, dicke Tränen in den verschwollenen Augen.

Im Moment der Katastrophe war das achtjährige Töchterchen von ihrer Seite gerissen worden, und kaum sah sich die unglückliche Mutter an Bord des französischen Dampfers, so rannte sie schnurstracks zum Zwischendeck, nach dem gleichen Platz, den sie auf dem torpedierten Schiff innegehabt hatte, als hoffte sie, dort ihr Kind wiederzufinden. Und treppabwärts verlor sich der schneidende Ruf: »Figlia mia! … Mia figlia!«

Ulysses hätte sich am liebsten die Ohren verstopft, um dieser Stimme zu entgehen, die sich wie eine scharfe Spitze in sein Hirn bohrte.

Er näherte sich einer Gruppe, in deren Mitte ein junger Mann, barfüßig, nur mit Hose und seidenem Hemd bekleidet, lebhaft auf die Passagiere einsprach, sich dann und wann eine wollene Schlafdecke fester um die Schultern ziehend.

In einem Gemisch von Italienisch und Französisch beschrieb er den Untergang der California.

Beim ersten Kanonenschuß war er aufgewacht und mit anderen Neugierigen nach oben geeilt. Die Verfolgung dauerte eine halbe Stunde. Schon glaubte man sich gerettet, da die Entfernung zwischen den beiden Schiffen zusehends wuchs, als eine schwarze Linie über das Meer strich, als ein langer, schaumumwirbelter Dorn in schwindelerregender Schnelligkeit auf den Dampfer losjagte … Ein Stoß erschütterte das Schiff vom Bug bis zum Heck. Und dann ein Vulkanausbruch, eine riesige Garbe von Feuer und Rauch, eine gelbliche Wolke, in der dunkle Gegenstände umherflogen: Holz- und Eisenteile, Stücke von menschlichen Körpern.

Ein irres Licht flackerte in den Augen des Mannes auf, als er diese Erinnerung wachrief.

»Genau über der Stelle, wo der Torpedo anprallte«, fuhr er ergriffen fort, »stand ein Bekannter von mir. Plötzlich war er verschwunden – wie in der Luft aufgelöst. Ich sah ihn und sah ihn nicht … Der Ärmste! Er muß in tausend Fetzen zerrissen worden sein, als hätte er eine Bombe in seinem Leib getragen.«

Es dauerte eine Weile, bis er weitersprechen konnte.

»Dann kam der Kampf um die Boote, bei dem sich die Offiziere vergeblich mühten, Ordnung zu schaffen, und manche Passagiere in ihrer Verzweiflung über Bord sprangen. Wir waren erst wenige Bootslängen entfernt, als der Bug des Dampfers auch schon ins Wasser tauchte, nach ihm die Schornsteine. Immer steiler stellte sich das Schiff, bis es fast senkrecht stand, während sich ganz oben die beiden Schrauben drehten, rasend, unheimlich …«

Der Akzent des Sprechers ließ Ferragut vermuten, daß er einen Landsmann vor sich habe.

»Sind Sie Spanier?«

Ein bejahendes Kopfnicken.

»Katalane?« forschte Ulysses weiter.

»Oh, Señor, Sie auch? …« Ein freudiges Lächeln belebte die Züge des Schiffbrüchigen. »Ich bin aus Barcelona, reiste für meine Firma in Italien und nahm den Seeweg, weil die Eisenbahnen infolge der Mobilmachung verstopft sind.«

»Befanden sich noch mehr Spanier an Bord?«

»Nur ein einziger: der junge Mann, von dem ich vorher erzählte. Ich lernte ihn in Neapel kennen, wo er überall nach seinem Vater suchte.«

»Ah! …« Ulysses Kopf schoß so heftig nach vorn, als wollte er sich vom Rumpf trennen. Seine Augen traten aus ihren Höhlen.

»Der Vater«, fuhr der Spanier fort, »ist ein bekannter Seemann, Kapitän Ulysses Ferragut.«

Ein Schrei … Die Leute fahren auf … Ein Mann ist plötzlich zusammengebrochen, und dumpf schlägt sein Körper auf die Schiffsplanken.


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