Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

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13.

Tust ging nach dem Abendessen in seine Studierstube, sah aber den Brief nicht, da er nicht auf das Pult sah. Wie oft abends, ging er ein Stück spazieren; wäre Josefine unten gewesen, so wäre sie mitgegangen, dachte er. Er ging eine Stunde; es war Sonnabend und er überdachte die Predigt für den Sonntag. Als er nach Hause gekommen war, setzte er sich mit einem Buche ans Fenster, las, ging umher, las wieder, bis es 10 Uhr wurde.

Er ging hinauf, um sich niederzulegen und fand Josefine nicht, auch nicht in ihren eigenen Zimmern, ja, nirgends im Hause. Nun ging er wieder in die Studierstube und wollte sie dort erwarten; wo konnte sie auch sein? Bei einem Kranken? Er hatte nichts gehört. Ganz zufällig griff er nach dem Briefe, während er am Pulte vorüberging; sein Name stand auf dem Umschlag – von Josefinens Hand geschrieben? Nun überlief es ihn heiß und er ging ans Fenster, um besser sehen zu können. Kein Siegel; aber über einigen Papieren lag ein Zettel mit folgenden Worten von Josefine: »Ich bin um meines Lebens willen zu ihm gegangen.« Was war das? –

Eine Viertelstunde später war auch Tust auf dem Wege nach der Kirche zu; auch er lief mehr, als daß er ging. Er war der allein Schuldige; er hatte seinerzeit Josefine den Glauben beigebracht, daß Ragni ihrem ersten Manne untreu gewesen und hatte damit alles, was später geschah, veranlaßt! Und wenn er nicht auf seinen Schwager eifersüchtig gewesen wäre, hätte er kaum ihren Bruch mit der Kirche und ihren Umgang mit Spöttern zum Vorwand genommen, um sich zurückzuziehen. Selbst wenn der Schwager antworten wollte: Josefine war ja nicht Christin genug, um deswegen Ragni auch zu verstoßen oder um deswegen sofort das Schlimmste von einem Freidenker zu denken – dann wollte Tust antworten, daß das auch nicht die Christen, sondern vielmehr gerade die Halbchristen thäten. Der, dem Liebe zu Gott Lebensregel geworden, verurteilt niemals; aber die andern thäten es um so eifriger. Josefine sei immer so gewesen, daß sie nicht mehr als halber Christ werden konnte, und das wäre wieder seine Schuld; – das theologische Studium hielte einen Mann im Wachstum auf.

Wie er nun alles verstand! Deshalb hielt er es nicht aus, an ihre Seelennot zu denken; er lief, sodaß er atemlos in den Park und durch das Thor und über den Hof auf die Treppe kam. Die Hausthür war verschlossen – und doch war es kaum über 10 Uhr? Er klingelte und klingelte. Er hörte sofort Schritte auf dem Vorsaal, Männerschritte; Kallem öffnete.

»Ist nicht Josefine hier?« – »Nein.« – »Ist sie nicht hier gewesen?« – »Ja, vor anderthalb Stunden.« – »Und –?« – »Ich verbot ihr, ins Haus zu kommen.« – »Du sprachst nicht mit ihr?!« – »Nein.« – Da reckte Tust die rechte Hand hoch empor: »Nun bist auch du dogmenreif! – rief er, wandte ihm den Rücken und lief fort. Sein breiter Hut über den breiten Schultern nahm sich aus wie ein kräftiger Nachdruck auf den letzten Worten.

Nach elf Uhr klingelte es wieder, genau auf dieselbe Weise. Kallem kam sofort heraus. Er war also nicht zu Bett gewesen.

Wieder stand Tust da; aber so weit Kallem sehen konnte, bevor er in seine Nähe kam, war er ein ganz anderer, ein entsetzter, verzweifelter Mann. »Weißt du vielleicht, wohin sie gegangen ist, Eduard?« – »Ich glaube, sie wird an Ragnis Grab gegangen sein!« –

Ein schluchzender Laut in der Kehle, ein sichtliches Aufwallen des Schmerzes; dann kehrte er um und eilte fort. Seine schweren Schritte hörte man noch lange durch die Stille der Nacht.

Gegen ein Uhr klingelte es wieder, aber nur einmal und zaghaft. Kallem kam sofort aus seinem Zimmer heraus, er war also noch munter.

Ein Weib stand da. Der kurzsichtige Kallem eilte auf sie zu, als er an der Stimme Sissel Aune erkannte. »Lieber, guter Herr Doktor; seien Sie gut und barmherzig,« begann sie klagend; »lieber, guter Herr Doktor!« – Kallem glaubte, sie käme seiner Schwester wegen und ihr sei etwas zugestoßen, ihn fror. Aber Sissel fuhr fort: »Niemand anders kann ihn bändigen; er wird Nacht für Nacht verrückt.« – »Aune meinen Sie?« rief Kallem. »Ja; er glaubt, Kristen Larsen verfolge ihn, und dann rennt er in die Nacht hinaus, in den Wald und über die Landstraße; es ist nun die dritte Nacht; und ich kann nicht mehr. Lieber, guter Herr Doktor, ich habe niemand sonst, zu dem ich gehen kann,« – hier weinte sie – »und es hat auch sonst niemand Macht über ihn.«

Der muntere Buchbinder und Spielmann war verrückt geworden? Dann hatte er sich wohl von seiner Macht frei gemacht? Trank er wieder, war es Delirium? – Nein, nein, er wäre wahnsinnig aus Furcht, daß Kristen Larsen umginge. Kallem ging sofort mit.

Der Himmel war bewölkt und die Nacht sehr finster; aber ein frischer Nordwind begann reinzufegen. Er rüttelte auch an den Bäumen am Wege; das vielblättrige Rauschen fragte unaufhörlich nach allerlei Dingen, während sie vorbeiritten. War es nicht auch zu wunderlich, daß Aune, der die Leute dazu gebracht hatte, an das Umgehen Kristen Larsens zu glauben, jetzt davonrannte, sinnlos vor Entsetzen über seine eigene Erfindung? Jeden Abend, sobald es dunkel wurde, versicherte Sissel, wäre Kristen Larsen hinter ihm her und wollte ihn mit in die Hölle nehmen! – »Aber, liebe Sissel, es giebt ja keine Hölle.« – Im selben Augenblick hörten sie in weiter Entfernung einen Schrei, einen schneidenden, einzigen endlosen Ruf nach Hilfe. Er erhob sich in der Nacht wie ein Gespenst, er wurde fast sichtbar. »Das ist er!« rief Sissel, faltete ihre Hände und schrie: »Jesus Christus, hilf!« und begann zu laufen. Aber Kallem eilte hinterher: »Auf die Weise kommst du langsamer vorwärts, Sissel; geh gleichmäßig – ich sage dir, geh gleichmäßig!« Sie gehorchte sofort, wandte sich aber eifrig nach ihm um; »wer anders als der Satan kann einen Menschen so vorwärts treiben!« fragte sie außer Atem. Im selben Augenblick bellte ein Hofhund in der Nähe, er war von dem Schrei aufgeschreckt worden und bellte ohne Aufhören. Kallem überschrie den Hund: »Aune kann nicht mehr vom Satan besessen sein, als die wütende Hündin dort! Weißt du, wie die Leute auf den Satan kamen? Sie glaubten, alles wäre vollkommen geschaffen, und da hatten sie keinen, dem sie dafür schuld geben konnten, daß die Sünde in die Welt gekommen war.«

In demselben Augenblick fuhr der rasende Hund auf sie los; Sissel flüchtete zu Kallem. Dieser fluchte und beugte sich nach einem Stein. Da zog sich die Hündin ein Stück zurück. Ein zweiter Schrei, näher als der erste, der Notschrei eines verzweifelten Menschen erklang; sie schauderten, sogar der Hund blieb stehen. Aber dann setzte er im Bogen an ihnen vorüber und auf das Gespenst los. »Ach, Gott helfe uns, jetzt geht's ihm schlecht!« weinte Sissel und beeilte sich; der Wahnsinnige sollte wenigstens nicht von dem Hunde erreicht werden! Und da hörten sie ihn bellen, als ob er ein wildes Tier vor sich hätte und es im nächsten Augenblick zerfleischen wollte. Da liefen beide, so schnell sie konnten; Kallem war sofort Sissel weit voraus. Es konnte kaum Aune in Gefahr sein; so nahe war der letzte Schrei nicht; das rasende Tier war auf den ersten, den es getroffen, losgefahren – und wer war nun das? Kallem war seit seiner Kinderzeit nicht so schnell gelaufen; er hatte an dem Hunde gehört, daß ein Kampf stattfand und bekam frische Kraft. Bald sahen sie am Straßenrande bei einem Wäldchen etwas großes Schwarzes und vor diesem machte sich der Hund zu schaffen. Dann schrillte der Schrei noch einmal durch die Nacht; er kam wirklich von dort! Was war das für ein großer schwarzer Klumpen? Doch kein Tier?

Nein, es war ein Mann, ein großer Mann, der mit einem kleinern kämpfte, und der Hund kämpfte mit beiden. Der große schlug nach ihm, sie drehten sich rundum, und gleichzeitig hielt er einen andern mit der linken Hand fest. Nun erkannte er den breiten Hut über den breiten Schultern; es war Tust, der Aune mit Riesenkraft festhielt; auf ihn wollte der Hund nun losgehen, aber er schleuderte ihn jedesmal zurück. Vielleicht glaubte Aune, der Hund wäre der Teufel und Kristen Larsens Gespenst hielte ihn; denn der Arme schlug mit dem Fuße aus, trat, biß, schlug, riß, um loszukommen, er warf sich hintenüber und kreischte mit dem letzten heiseren Rest seiner Stimme: »Hilfe, Hilfe!« War er nicht schon vorher bange, so wurde er's, als er Kallem im Zwielicht auftauchen sah; da stürzte er nieder und brüllte. Der Hund biß ihn sofort ins Bein; der Pastor hob beide empor. Das Tier war so rasend, daß es Kallem nicht eher sah, als bis es von ihm einen Fußtritt bekam, der es ein paar Meter fortschleuderte. Ein kurzes Heulen und etwas Wimmern – ein Arzt versteht es, zu treffen – und sie hörten und sahen den Hund nicht mehr; vielleicht war er tot.

Nun packte Kallem Aune und der Pastor ließ ihn los; er war auch übel zugerichtet; sein Rock war zerrissen; der Ärmel hing in Fetzen über die Hand herunter, ebenso sein wollenes Hemd; der Hund hatte ihn blutig gekratzt und gebissen, aber er war so erregt, daß er keinen Schmerz fühlte. Kallem packte den armen Aune mit beiden Händen am Kragen, hob ihn empor und sah ihm in seiner Erregung mit aller Energie fest in die Augen, sodaß sie groß, dumm und gläsern wurden, der Mund sich öffnete, die Gesichtsmuskeln erschlafften und der Bursche wie ein ausgekehlter Hering dahing. Als Sissel endlich atemlos und weinend nachkam, lag Aune aus dem Rasen unter den Bäumen und schlief. Beide Männer standen vor ihm.

Kallem sagte, Aune könnte dort liegen bleiben, hier fiele kein Tau, das verhindere der Wind; später würden sie beide geholt werden. Er wollte diesen Wahnsinn schon bewältigen.

Der Pastor hatte den Rock ausgezogen, trocknete sich das Blut ab und erhielt die nötigsten Verbände; dann gingen sie heimwärts.

Kein Wort von Aune und wie er ihm begegnet war; aber kaum standen sie auf der Straße, als Tust klagend sagte: »Sie war nicht dort, Eduard, sie war nicht dort!« Und kurz darauf: »Nun weiß ich nicht mehr, wo ich suchen soll; nun weiß ich nicht mehr. Daß du sie abweisen konntest, Eduard!« – das vielblättrige Rauschen der Bäume wiederholte, wiederholte unaufhörlich: »Daß du sie abweisen konntest, Eduard!«

»Weißt du, was sie geschrieben und neben deinen Briefen hinterlassen hat? ›Ich gehe um meines Lebens willen zu meinem Bruder‹!«

Kallem durchfuhr es eiskalt. »Um meines Lebens willen,« sauste es tausendstimmig, und das Sausen wand sich enger und enger um ihn, sodaß er kaum Atem schöpfen konnte.

Es begann zu tagen; Tusts heißes, wirres Gesicht wandte sich nach Osten, als sagte er die ganze Zeit im Gehen: »Gnade für sie, Gnade!« Er eilte so schnell als möglich vorwärts; er wußte nicht, wo er sie suchen sollte, aber er mußte gehen, immer gehen; – und Kallem auch.

»Ach, die entsetzliche Angst, die Angst!« ruft er aus. »Erinnerst du dich an das nächtliche Unwetter in unserer Kinderzeit, Eduard? Als wir glaubten, die Welt würde untergehen? Erinnerst du dich, wie du am Abend darauf auf dem Hügel ängstlich warst? Die ganze Nacht hindurch hatten die Meerungeheuer auch nach mir geleckt! Die Angst, die Angst vor Bestrafung der Sünde über unsern Seelen! Von Jugend an treibt sie alles Verständnis aus uns heraus, gerade wenn wir es am meisten brauchten; wir fliehen und verzweifeln – oder werfen uns vor Gott in den Staub. Später werden wir vielleicht das Angstdogma los, aber nicht die Erbschaft und die Einübung. Als ich darüber nachdachte, fiel ich über den Wahnsinnigen; er sprang auf; die Angst war über ihm, er glaubte, ich wäre ein Gespenst und der Hund wäre der Teufel! – Und Josefine! Auch sie verzweifelt und flieht! Und du, Eduard? Du stehst auch im Banne der Angst, wenn du es über dich gewinnst, sie noch mehr zu plagen, als sie sich selbst peinigt. Denn das ist das Schlimmste an der Angst, daß sie schlecht macht; wer selbst erschreckt worden ist, lernt es auch, andere zu erschrecken.« – Die Worte kamen schwerfällig, wie er selber schwerfällig vorwärts schritt. Kallem sprach nicht; er schwieg, wenn er litt.

Aber der Sohn des Laienpredigers hatte von Jugend auf alle Erlebnisse in Lehren umsetzen hören. Nun verblutete er in seinem Innern, sprach aber die ganze Zeit. Kallem solle nicht an Josefine zweifeln; sie wäre das ehrlichste, wahrhaftigste Wesen auf der Welt. In dieser Sache wäre sie von ihm irregeführt worden. Im tiefsten Mitgefühl legte er ihre Seelengeschichte bloß, wie er selbst sie sah, und bewies deutlich, daß sie nicht leben könne, wenn sie jetzt von ihrem Bruder verstoßen würde.

Kallem unterbrach ihn mit einem »lieber Ole«, »höre nun, Ole,« kam aber niemals weiter. Denn auch als er den Schwager mit in sein Haus genommen hatte, um seine Wunden ordentlich zu untersuchen, hörte Tust nicht auf zu reden; es war, als würde ihn der Schreck, die Ungewißheit übermannt haben, wenn er schwiege; und dann sollte Eduard sie in demselben Lichte sehen, als er sie sah, und sollte ihr vor allem helfen! »Allen, die gefehlt haben, soll geholfen werden; denen, die an uns gefehlt haben soll, sobald sie es selbst erkennen, vor allen andern geholfen werden! Gottes Vergebung besteht darin, daß er uns weiter hilft.« – Als Kallem ihn an die Thür begleitete, fuhr er noch immer in seiner Auslegung fort; seine Riesenkraft reichte aus. Aber wenn sie nun in der Zwischenzeit zu ihrem Kinde und zu ihm zurückgekehrt wäre! Die Hoffnung war freilich nicht groß; aber er machte sich eilig auf den Weg.

Der Tag brach immer mehr an. Kallem konnte nicht schlafen, schließlich nicht zu Hause bleiben. In größerer Angst, als er seinem Schwager hatte zeigen wollen, ging er durch die Stuben aus und ein, auf und ab, als sollte er das Haus durchsuchen. Denn es war ja wahr, daß auch er nur geurteilt, und verurteilt hatte.

Die Schwester hatte ihn immer mehr geliebt, als er sie. Von jenem Tanze im Winter her wußte er, daß sich ihre Liebe nicht verringert hatte. Ja, selbst als er sie schlug – war sie da nicht zu ihm gekommen, um ihm Gutes zu thun? Daß sie damals Ragni schmähte . . . darin lag natürlich mehr als Dogmenblindheit, – es war Eifersucht; Eifersucht, daß er für Ragni alles, nichts für sie war. Er hätte die beiden Frauen zusammenführen können; daran konnte unmöglich gezweifelt werden. Hatte er etwas dafür gethan?

Je tiefer er nachdachte, umsoweniger hatte er recht, streng zu sein; er war ja mitschuldig! Die großen Augen seiner Schwester, die er gestern abend gesehen – nun ruhten sie auf ihm in der äußersten Not, nun kamen sie ans Ziel. Ihr ganzes Leben hindurch hatte sie, unklar und scheu, wenn nicht die Leidenschaft sie beherrschte, in unnatürlicher Lehre eingeklemmt, auf ihre Wahrhaftigkeit trotzend, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag nach ihm ausgeschaut. Dann kam er und verwarf sie, verwarf sie einer Frau wegen, die ihrer Ansicht nach seiner nicht würdig war.

Arme, arme Josefine! Er war ihr niemals etwas gewesen, hatte ihr nur weh gethan und doch hatte sie sich getreulich nach ihm gesehnt.

Die Stuben wurden ihm zu enge, ihm war bange: er mußte hinausgehen und sie suchen. Mehr und mehr wurde es Tag: im Gefühl des herannahenden Morgens schlug er die Verandathüren auf; aber er hatte draußen nichts zu thun: im Gegenteil, er mußte sie wieder schließen, wenn er ausgehen wollte. So ging er denn hinaus, um sie wieder zuzuziehen, sah dabei etwas seitwärts – und von der Veranda gegen den Nordwind geschützt, saß Josefine, ihren Shawl über den Knieen unter seinem Studierzimmerfenster auf Ragnis Bank. Sie sah ihn und fuhr wie ein flügellahmer Vogel zusammen, der nicht vom Fleck kommen kann, sich aber auch nicht sehen lassen darf. Und doch saß sie da, um gesehen zu werden. Sie konnte nicht anderswo sein; sie hatte es ja versucht. Er eilte die Treppen hinunter und zu ihr. Da zitterte sie; »ach nein, Eduard, laß mich hier sitzen!« bat sie und brach in Thränen aus. Und noch als er ihre Arme faßte und sie emporzog, bat sie weich wie ein Kind: »ach nein, Eduard, laß mich –!«, kam aber nicht weiter; denn sie merkte, daß sie an seiner Brust lag, fühlte, wie die hervorbrechende Bewegung seinen Leib durchschütterte: er war ja nicht schlecht, er wollte sie vielleicht anhören, und sie umschlang ihn mit ihren Armen und ihre Thränen vermischten sich mit den seinen. Die beiden Geschwister lagen Kopf an Kopf, Wange an Wange: alles Verwandte in ihren Nerven und ihrem Blute, das Älteste und Ursprünglichste in ihrem Fühlen, das Heimische in ihren Empfindungen, bis auf den Geruch der Kleider hinab, die sie damals bei Vater und Mutter getragen, alles das traf sich jetzt in dem Bedürfnis, sich nie wieder zu verlassen.

Und trotzdem – als er mit ihr nach der Veranda zu gehen begann, blieb sie stehen; sie wagte es nicht, in das Haus zu treten. Sie blickte ihn durch Thränen an. Er zwang sie weiterzugehen, Schritt für Schritt; noch auf der Treppe hielt sie sich zurück. Aber er führte sie weiter, bis sie in der Stube standen; hier umarmte sie ihn wieder, sank auf einen Stuhl und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen: – alles in der Stube lauschte ihrem Weinen lange, und er auch.

Dann ging er hin und strich über ihr Haar; aber er wußte, daß nicht er, sondern Ragni es that.

Arm in Arm gingen sie in der Sommernacht durch die morgenhelle Stadt, in der die Leute noch schliefen. Wie früher schritten die beiden hochgewachsenen Geschwister im Takt vorwärts; ohne darüber zu sprechen, suchten sie Ole auf, verpaßten aber den Richtweg und kamen auf den Strandweg hinunter. Bald bogen sie nach dem Pfarrhause zu ab; sie waren ein Paar Schritte gegangen, als Josefine gleichsam genötigt wurde, über den Strand zu sehen. Sofort blieb sie stehen und hielt Eduard an. »Ja, das ist er!« flüsterte sie. Von draußen kam Tust schnell, schnell, aber mit gebeugtem Kopf, als könnte er ihn nicht tragen. Vergebens hatte er sie am Strande gesucht, und wollte sie nun weiter südwärts suchen – gleich vergebens, aber gleich schnell. Beide verstanden ihn; ihr Arm zitterte in dem ihres Bruders. Sie schmiegte sich an ihn, denn sie hatte es ihm vorhin gesagt: wenn sie aus seinem Garten vertrieben worden wäre, dann –! Still! Nun wandten sie sich und gingen Ole entgegen. Scharfhörend wie er war, vernahm er bald ihre Schritte, blickte auf, erkannte sie, streckte die Arme aus und konnte nicht mehr gehen, auch nicht sprechen. Aber Josefine verließ den Arm des Bruders und kam.

*

Alle drei gingen langsam nach Hause, der Pastor mit Josefine am Arm und Kallem an der andern Seite. Er wiederholte oftmals: »Auf Gottes Wegen! Auf Gottes Wegen!«

»Aber ich teile deinen Glauben nicht,« meinte Kallem einwenden zu müssen. »Nein, nein, nein,« rief der Pastor eifrig: »wo brave Menschen gehen, da sind Gottes Wege!«

 


 


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