Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.

Tags darauf kam Kallem von der Waschfrau Sissel Aune; er hatte sich über den Mann geärgert, der in übermäßiger Freude seine Geige hatte herrichten lassen, in den Gesellschaften spielte und sich betrank. Er wollte mit ihm denselben Versuch wie mit Sören Pedersen und seiner Frau machen und suchte sie auf, um mit ihrer Hilfe dem lyrischen Aune beizukommen. Aber er fand Frau Aase allein im Laden. Sie half gerade einem von Sissels Kindern in einen Sattel; sie hatten vier im Laden, der fünfte lag in ihrem Zimmer. Sören Pedersen wäre nicht zu Hause, sondern bei Kristen Larsen, der krank sei. – Kristen Larsen? – Ja, er habe sich fürchterlich erbrochen, schließlich das reine Blut; aber er wolle den Doktor nicht fragen. Kallem wollte sofort zu ihm gehen; aber vorher wollte er noch einen kleinen Beitrag für den Unterhalt der Kinder geben; das wurde abgeschlagen. Heute hatte Aase zwei Tragbänder und eine Sprungfedermatratze verkauft; nun arbeitete auch ein Geschwisterkind der Aase in der Werkstatt, eine Frau, die auch Aase hieß; um die beiden zu scheiden, nannte Sören sie Aases Aase.

Kallem fand Kristen Larsen im Bett; er hatte eine Arbeit unter seinen langbehaarten Fingern, und Sören Pedersen las ihm vor. In dem Winkel zwischen Fenster und Tisch, ganz in die Ecke eingeklemmt, saß die Frau und strickte. Das Tuch hatte sie so weit ins Gesicht gezogen, daß es verdunkelt wurde. In der Stube war entsetzlich schlechte Luft. Beim Anblick des Kranken erschrak Kallem; er war schmutzig-grauer und magerer als gewöhnlich. »Haben Sie fette Speisen zu Weihnachten gegessen?« – »Hm; wir hatten Sülze.« – »Haben Sie schon früher dasselbe Leiden gehabt?« – »O ja, ab und zu.« – »Nein, nicht so schlimm wie jetzt,« sagte die strickende Frau. – »Fühlen Sie jetzt Schmerzen?« – »Jetzt nicht. Aber ab und zu.« – »Unter der Brust und im Magen?« – »Ja.« – »Und die Schmerzen kommen oft wieder?« – »O ja.« – »Mit jedem Tage öfter,« klang es aus der Ecke her. Kallem untersuchte und fand in der Magengrube eine Geschwulst von der Größe einer Walnuß; von ihr wußte auch Kristen Larsen. »Ist sie gewachsen?« – »O ja.« – »Sie ist schnell gewachsen,« sagte die Frau. Kallem wurde eifriger und eifriger. Weshalb hatte er sich bei den abweisenden Worten des andern beruhigt? Die Augen der Frau hingen an ihm; ihre Nadeln gingen langsamer, sie erstarrte gleichsam; der Arzt versuchte, seine ruhige Miene zu bewahren; aber sie ließ sich nicht täuschen. Auch die kalten Augen Kristen Larsens beobachteten forschend. Kallem hieß sie die Herdklappe öffnen und Tag und Nacht offen halten; das Holz mußte geopfert werden. Sören Pedersen stand eifrig auf und öffnete. Kristen Larsen und Frau sahen ihm unwillig zu. Das Holz war nicht sein. Um Zeit und Ruhe zu gewinnen, schlug Kallem die daliegenden Bücher auf; es waren seine eigenen englischen und ein Lehrbuch der Mechanik. Dann starrte er auf das elende Gerät, das der Kranke zwischen den Fingern hielt. »Was ist das?« Sören Pedersen erklärte, das wäre eine Verbesserung der von Kristen Larsen erfundenen Strickmaschine. Im Verlauf der Erklärung berührten Larsens Finger so behend und so langsam die Räder und Nadeln, daß man die Denkkraft und die Liebe deutlich erkannte.

Rings in der Stube, auf der Arbeitsbank, dem Fußboden, dem Tisch lagen wieder alle möglichen Sachen zur Reparatur – Uhren, Gewehre, Nähmaschinen, Kaffeemühlen, Schlösser, zerbrochenes Werkzeug. Kallems Revolver war aus dem Kasten genommen und er hörte, daß er das einzige war, was Larsen jetzt zu Weihnachten in stand gesetzt hatte. Die vielen Worte Sörens schafften Kallem Bedenkzeit; nun wußte er, wie er es anfangen, wollte. Er sprach von Diät und schmerzstillenden Mitteln und forderte dann Sören Pedersen auf, ihn zu begleiten.

Auf der Straße draußen sagte ihm Kallem sofort, daß es mit Larsen vorüber wäre; er litte ohne Zweifel an weit vorgeschrittenem Magenkrebs.

Die selbstgefällige Pfiffigkeit in Sören Pedersens runder glänzender Fratze stahl sich auf allerhand Schleichwegen fort; das Gesicht stand wieder leer mit offenen Thüren und Fenstern.

»Ich werde bald Bestimmtes sagen, und dann müssen Sie, die Sie ihn besser kennen als ich, es ihm mitteilen.« Kallem vergaß es völlig, über Aune zu sprechen.

Innerhalb weniger Tage wußte es die ganze kleine Stadt, daß der Tausendkünstler Kristen Larsen an Magenkrebs totkrank darniederlag; es stand auch im Blatt. Darin wurde er »ein in unserer Gegend wohlbekannter Mechaniker und Erfinder« genannt. Kallem trat in kein Haus, traf keinen Bekannten auf der Straße, der nicht nach Kristen Larsen gefragt hätte. Als Pedersen gesprochen und der Arzt darauf zu dem Kranken kam, fiel kein Wort. Larsen lag immer noch, seine Erfindung zwischen den Fingern, etwas matt von einem fürchterlichen Schmerzanfall. Der Bart war gewachsen, er sah so häßlich aus. Die Frau strickte, aber saß etwas näher am Bette. Die englischen Bücher waren weggelegt, und dies war das einzige äußere Anzeichen davon, daß die Zukunft aufgegeben war.

Kallem besuchte nachher Sören Pedersen, der ihm erzählte, daß der frühere Portier des Krankenhauses bei Larsen gewesen, um ihn zu bekehren; er solle doch nicht direkt in die Hölle fahren. Larsen hatte nur geantwortet, man solle ihn nicht stören; er sei gerade über einer Arbeit, die beinahe abgeschlossen sei. Dann war der Pastor gekommen; er war verständiger und behutsamer vorgegangen; aber vielleicht gerade deswegen verlor Larsen diesmal die Geduld; seine angesammelte Bitterkeit entlud sich in brennenden Worten und die Frau mit dem ins Gesicht geschobenen Tuche und den Stricknadeln stellte sich an der Thür auf. Der Pastor verstand das und ging ruhig; seit jenem Ereignis mit dem Maurer Andersen war er nicht mehr derselbe. In der Gemeinde erregte das doch einiges Ärgernis.

Nach einer Versammlung des Jünglingsbundes versammelte sich dessen Gesangverein vor dem Hause Larsens und stimmte gedämpft einen Psalm an. Andere Leute kamen in aller Stille heran. Zufällig hatte der Kranke gerade einen Anfall; er sagte, es sei, als würde er von tausend Nadeln in einem fort gestochen – und unter diesen Leiden reizte ihn der Gesang. Deshalb mußte sich Kallem hineinmischen und alles derartige verbieten. Zwei Laienprediger, darunter der frühere Portier, besuchten den Arzt im Krankenhause und erklärten ihm, daß alles in der besten Absicht geschehen sei, und es gehe nicht an, Gottes Wort gänzlich von dem Sterbenden fernzuhalten. Kallem wurde hitzig und antwortete grob.

Als er abends zur gewöhnlichen Zeit bei Larsen war, glaubte er bestimmt zu bemerken, daß jemand zum Fenster hereinsehe. Der Kranke fragte den Arzt gerade, wie lange er noch leben könnte, und ob die Schmerzen immer zunehmen würden; deshalb dachte Kallem nicht weiter an den draußen Stehenden und bat nur, das Fenster zu verhängen. Er überlegte, ob er Larsen die reine Wahrheit sagen könne und glaubte es thun zu können. Er erklärte also, es könne noch zwei bis drei Monate dauern, und die Schmerzen würden immer häufiger kommen – wenn auch nicht alle Tage gleich oft und schlimm.

Als Kallem herauskam, stand niemand am Fenster; aber in einiger Entfernung ging eine Dame langsam, als ob sie jemand erwarte, auf der Straße. Als sie ihn erblickte, eilte sie sofort auf ihn zu; es war seine Schwester. »Sahst du bei Kristen Larsen durchs Fenster?« – »Ja,« sagte sie, – und er bemerkte, wie ihr Gesicht unter der Kapuze rot wurde. »Ich pflege nicht durch die Fenster zu den Leuten hereinzusehen.« – »Entschuldige; aber ich bemerkte wirklich, daß es jemand that.« – »Ja, ich that es auch.« – »Erkanntest du sie?« – »Ja. Aber ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen, Eduard. Ich wußte, um welche Zeit du gewöhnlich hier bist.« – »Was willst du von mir?« – Jetzt erst bemerkte er, daß sie aufgeregt war. – »Hast du wirklich gesagt, du nähmest es auf deine Verantwortung, wenn Larsen in die Hölle käme?« – »Ich glaube nicht im geringsten an die Hölle.« – »Aber du hast es gesagt?« – »Ich weiß nicht. Nein, ich glaube doch nicht.« – »Andere haben nämlich eine andere Meinung als du. Und die empören solche Worte. Durch so etwas verlierst du alles, was du dir hier erarbeitet hast; das will ich dir sagen.« An diesen Worten erkannte Kallem seine Schwester wieder. »Ja, es ist natürlich schlimm, so was zu sagen. Aber es ist doch wahrhaftig auch schlimm, einen Mann wie Kristen Larsen zu plagen. So lange er seinen Verstand hat, bringt ihn niemand dazu, an die Hölle zu glauben; sie können ihn also in Ruhe lassen.« – »Das werden sie auch jedenfalls nicht von ihm wollen.« – »Was denn aber dann?« – »Du weißt es so gut wie ich, Eduard, und ich bitte dich um deinetwillen, ernste und gute Menschen nicht zu verhöhnen.« – »Ich habe nicht höhnen wollen; ich sage nur sie könnten ihm und sich selbst die Mühe sparen.« – »Er ist zu kalt?« – »Kalt oder warm, es kommt hierbei auf die Anlagen an und wie einer gelebt hat.« – »Aber man kann sich Seelenkälte anleben, und das hat er sicherlich gethan.« – »Vielleicht; aber ich kenne jemand, der recht warm ist, aber genau so wie Kristen Larsen denkt. Das ist es also nicht.« – »Was ist es denn dann?« – »Tausenderlei. Die, die ich meine, denkt am liebsten in Bildern, und seitdem sie einmal eine uralte Zeichnung der Dreieinigkeit gesehen, einen starken Körper mit drei Köpfen, und gehört hatte, der mittlere Kopf wäre der Sohn der beiden seitlichen, die Vater und Mutter seien (du weißt ja, daß der heilige Geist anfänglich weiblich war), seitdem konnte sie niemals an die Dreieinigkeit glauben; sie lachte darüber. Und wie gesagt, ist sie recht warmfühlend.« – »Pfui!« preßte Josefine mit aller Kraft ihres Grams hervor; »warmfühlend ist sie vielleicht; aber sie muß unrein sein!« Kallem fühlte einen Stich im Herzen. Sie meinte Ragni! Die Schwester war böswillig und so böswillig wie in ihrer Mädchenzeit – und sofort wurde er auch wieder der Junge –: klatsch, da hatte sie eine Ohrfeige. Sie traf die Kapuze, war aber herzlich gemeint.

Mit flammenden Augen sprang sie auf ihn los, wie in der Zeit, als sie sich prügelten. Sie flüsterte: »Ich denke, du –!« Sie sprühte von Hohn und Wut; dann kehrte sie sich verächtlich um und ging.

Hatte sie jemand gesehen? Sie waren allein auf der Straße. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl von Furcht; vielleicht konnte das Ragni schaden.

Kallem meinte, Josefine habe mit dem Worte »unrein« auf die Vergangenheit angespielt; und deshalb wurde er so erregt. Aber noch viel mehr wäre er es geworden, wenn er gewußt hätte, daß sie damit noch mehr auf die Gegenwart anspielte. Wenn die Familie des Geistlichen nach ihrer Rückkehr sich fern gehalten hatte, so hatte das auch darin seinen Grund, daß der Gotteslästerer Kristen Larsen in Kallems Hause gern gesehener Gast war, daß Ragni ihn englisch lehrte und Kallem oft mit ihm sprach. Kristen Larsen war für die meisten Glieder der Gemeinde eine Art Teufel, und wenn frische Ankömmlinge, Mann und Frau, mit ihm (wie vorher mit Sören Pedersen) Gemeinschaft machten, so war das eine Herausforderung. Kurz darauf war Karl Meek ins Haus gekommen, und seitdem sah man Ragni immer in seiner Gesellschaft. Endlich waren sie sogar zusammen nach dem Walddorfe gereist; – so viel war nicht einmal nötig, um eine geschiedene und freidenkende Frau zu verleumden, die beim Ehebruch ertappt worden war.

Josefine war mit der ernsten Absicht gekommen, ihren Bruder zu warnen. Hätte sie zum Reden Gelegenheit bekommen, würde sie ihm das alles gesagt haben; sie war nicht furchtsam und liebte ihn. Nun ging sie, von seiner Verachtung gestraft, nach Hause.

Da kam ihre zurückgedrängte Leidenschaft zum Durchbruch. Erst in bitterem Haß gegen die, die Bruder und Schwester trennte; nach und nach aber gegen alles, das dazu führte. Maurer Andersens Tod – je tiefer er ihren Gatten bewegt hatte, um so stärker trat der Gegensatz zwischen ihnen hervor – und zu einer höchst ungünstigen Zeit. Alles, weswegen sich Tust selber anklagte, waren ja Zugeständnisse an sie, und gerade jetzt wollte er abschließen. Schlimmer konnte es sich nicht treffen.

Nebenan wohnte eine alte, trockene Frau, die Mutter des Pastors; sie lebte im Widerspruch zu dem Vorderhause. Niemals setzte sie, wenn Gesellschaft war, ihren Fuß in das Haus, sonst selten außer zur Hausandacht und mittags an kirchlichen Feiertagen. Das Wesen der Schwiegertochter, ihr Tanzen, ihre Toilette und ihre Freundinnen waren ihr ein Ärgernis, die ewige Freierei des Pastors ein Frevel. Der kleine Junge wurde ihr Spion. Josefine saß eines Sommertages hinter geöffneter Thür und hörte, wie sie ihn ausfragte, wer am Tage vorher dagewesen wäre, was sie gegessen und ob sie Wein getrunken hätten und wie viel Sorten. »Großmutter fragt, ob die Mutter auch heute ausgeht,« sagte er einmal. »Und sie fragt, was der Vater zur Mutter sagt, wenn die Mutter nach Hause kommt, und ob der Vater bei uns oben geschlafen hat.«

Josefine ertrug das mit Ruhe. Aber das Bewußtsein, daß hinter den christlichen Ermahnungen des Pastors die Schwiegermutter stak, machte sie nicht fügsamer. Sie wollte ihr Leben führen, wie sie selber Lust hatte; er konnte dasselbe thun.

Für ihn war es der Kampf von seiner Jugendzeit an, von der Zeit, da er ihretwegen das Missionärwesen aufgab und immer mit demselben Ausgang: er fiel durch seine Liebe. Nicht etwa, daß sie ihn verlockt hätte; im Gegenteil! Wenn sie seiner zuweilen überdrüssig war wie alles andern auch – denn sie war arg wetterwendisch – da schien sie ihm am schönsten, begehrenswertesten zu sein, wie ein Weib der Sagenzeit. Da konnte er nicht widerstehen.

Aber die große Aufgabe, die ihm Gott vor dem Krankenbette seines Freundes stellte, zeigte ihm, was er in seinem Leben versäumt hatte; hier kam die Frucht der Nachgiebigkeit!

Als er in seiner Selbstprüfung so weit gekommen war, daß er mit seiner Frau sprechen konnte, schwieg diese gerade infolge ihres eigenen Kampfes. Nach dem Schlage, der sie getroffen, war sie sich sofort darüber klar, was nun gerecht war – sich zu rächen nannte sie immer so –; aber bald sah sie auch, daß der Bruder ihr eigenes mißliches Verhältnis durchschaut hatte. Seitdem sie mit ihm getanzt hatte, wußte sie, daß keiner sie so gut verstand wie er; seit ihrem letzten Zusammentreffen wußte sie, daß er ihre Beschäftigung mit Glaubenssachen verachtete. Und darin hatte er recht. Niemals hatte sie abgeschlossen, immer sich nur damit begnügt, daß ihres Mannes Glauben und Handeln geachtet, und sie selbst in Ruhe gelassen wurde. So konnte es nicht weiter gehen; die Verachtung ihres Bruders ertrug sie nicht.

Im Pfarrhause war morgens und abends Andacht; da kam regelmäßig die Großmutter, nach ihr die Mädchen und der Pastor. Zur Morgenandacht kam Josefine nicht immer und die Abendandacht wurde ausgesetzt, sobald Gäste da waren. Der Pastor sprach zum Anfang oder zum Schluß ein Gebet. Zu dieser Zeit wurden diese Gebete lang und eindringlich – und Josefine blieb weg.

Die feierlichen Abrechnungen waren ihr verhaßt, die öffentlichen noch mehr als die privaten. Die letztern pflegten abends vor sich zu gehen, wenn der Junge schlief und die Hausandacht beendigt war; merkte sie es im voraus, so ging sie zu Bett und dann kam er nicht immer nach; dort oben war der Grund schlüpfrig. Aber heute abend kam er. Sie hatte es an den Schritten unten im Studierzimmer gehört, und hörte ihn auf der Treppe. Sie schloß nicht ab und ließ die große Lampe brennen. Aber als er die Hand auf die Thürklinke legte, sagte sie: »Du kannst nicht hereinkommen.« – »Doch.« – »Nicht, so lange ich mich auskleide.« – »Ich werde warten.« – Er ging wieder hinunter, und sie machte sich langsam fertig.

Die Kammer lag über dem Studierzimmer, nach dem Garten zu; rechts, durch eine Portiere abgetrennt, lag ihr Toilettenzimmer über der Fremdenstube; links führte eine Thür in die Kleiderkammer. Neben dieser führte die Treppe herauf. Auf ihr hörte sie ihn jetzt zum zweitenmal kommen. Sie lag im Bett. Die Eingangsthür war gerade gegenüber den Fenstern; ihre Betten standen rechts von der Thür, das ihrige der Thür zunächst. Auf der andern Seite der Thür nach der Kleiderkammer schlief der Junge.

Er fragte nicht mehr, ob er hereinkommen könnte, sondern öffnete. Sie lag in ihrer weißen Tracht; ihr schwarzes Haar war wie gewöhnlich zu einem Knoten geflochten; ihren Kopf stützte sie in die linke Hand, als wäre sie im Begriff, sich aufrecht zu setzen.

Er setzte sich zu ihr auf den Bettrand; sie rückte sofort etwas zurück, als könne sie die Berührung nicht ausstehen. Er war finster. »Josefine, du weichst mir aus; das ist nicht recht von dir; ich bedarf des Trostes und Rates. Die alte Plage ist über mir, Josefine, und nun kann die Entscheidung nicht verschoben werden.« – Er sah sie schmerzlich an; sie ihn schweigend. »Du weißt, was mit mir vorgeht. Ich lebe hier bei dir in Wohlsein und Genuß und in der Gemeinde in stiller Verehrung. Aber bei diesem Leben gelangt der Gottesmensch nicht zu seiner natürlichen Entwickelung. Neulich wurde ich gemessen und verworfen.« Er verbarg das Gesicht in seinen Händen und saß lange, als ob er betete. »Liebe, liebe Josefine!« – jetzt sah er auf – »hilf mir! Ich muß alles um mich herum ändern; ich muß mein Leben auf eine andere Weise führen.« – »Wie?« – »Ja, ich bin nicht Geistlicher und du nicht die Frau eines Geistlichen; wir gehen in unserem Willen zu Grunde!« – »Alle diese deine Versuche, anders zu leben, Ole, fangen immer mit mir und meinem Hause an. Fang mit dir selber an! Ich lebe, wie ich Lust habe; leb du, wie du Lust hast. Und das Haus ist doch ganz und gar nicht anders, als es eine Geschmack besitzende, vermögende Familie bedarf; gefällt es dir nicht auf diese Weise, so hast du ja deine eigenen Zimmer; richte dich ein, wie du willst. Wünschst du auch eine gesonderte Lebensweise, meinetwegen!« – »Ja, du faßt das Ganze fast wie einen Umzug im Hause oder einen veränderten Speisezettel auf.« – »Vor diesen allgemeinen Klagen habe ich nicht den geringsten Respekt.« – »Da du ihren geistlichen Grund nicht erfaßt.« – Sie erbleichte. »Ich weiß nicht anders,« antwortete sie kalt, »als daß ich nicht so fleischlich wie du sein wollte – und daß es damit anfing.« – »Das giebst du mir jedesmal anzuhören; aber ich schäme mich nicht darüber, daß die erste Krise infolge des allzu heißen fleischlichen Dranges und deines Widerstrebens entstand; sie weckte mich. Ich schäme mich dessen nicht. Denn als ich wollte, wir sollten von Grund aus reformieren –« – »Verbot ich dir das vielleicht?« unterbrach sie ihn. »Ja, mit mir anzufangen, verbot ich dir; – fang mit dir selber an. Ole!« – Er stand auf: »Du verstehst mich nicht, verstehst nicht, was Gott von uns will. Ich bleibe dabei, daß an dir etwas Ungeistliches ist, Josefine, du bist niemals in Reue und Gebet aufgegangen, hast dich niemals seeliger Verehrung hingegeben; du hast kein Bedürfnis nach dem Unendlichen, nur nach dem Irdischen. Du hast wohl den Willen, Christin zu sein; tust aber nichts dafür. – Du antwortest nicht? Willst du's denn nicht versuchen? Jetzt mit mir zusammen, Josefine? Ach. wie ich leide – auch deinetwegen leide!« Er setzte sich demütig wieder zu ihr nieder. – »Meinst du etwa, ich sollte mit dir zu den Zulus ziehen?« antwortete sie kalt. – »Ich meine, wir sollen uns zusammen in allem Guten vervollkommnen, liebe Josefine, dann wird uns Gott weiter führen.« – »Geschwätz verstehe ich nicht,« antwortete sie, »sag gerade heraus. Was wir tun sollen?« – »Im Glauben an Jesus Christus sollen wir mit und für die Geringen leben.« – »Hör', Ole, das kann ich besser als du. Du hast keine Nacht an einem Krankenbette in einem ärmlichen Hause gewacht; ich habe es oft getan. Und ich habe die ›Gegenseitigkeit‹ zustande gebracht.« (So hieß ein Frauenverein; jedes Mitglied hatte seinen Armen Arbeit und Unterstützung zu schaffen; Josefine war Vorstand der Gesellschaft, sie verteilte die Arbeit.) »Ja,« antwortete Ole einräumend, »du hast administratives Talent wie dein Bruder. Aber darauf kommt's nicht an, selbst in großen Verhältnissen zu leben und dann ab und zu sich zu den Geringen herablassen; nein, es gilt, unter ihnen und ganz und gar für sie zu leben.« – »Sollen wir das Haus verkaufen? In das Dorf hinunterziehen? Sag. was du willst!« – »Wenn Gott uns dazu treibt, ja! Aber es muß im und aus dem Glauben geschehen, Josefine, Jesu wegen, sonst ist es nichts wert.« – Sie antwortete keine Silbe.

»Was meinst du, Josefine? Wollen wir nicht ein echtes Christenleben versuchen?« Sein Auge blickte bittend; seine Hand suchte die ihre: »Josefine!« Sie zog ihre Hand weg. »Nein, du weißt, ich verstehe es nicht, warum ich mein eigenes Leben unangenehm machen sollte; das würde niemand nützen und mir würde es schaden.« – »Sag das nicht. Wenn wir es nun versuchten? Im Glauben an Jesus zusammenzuleben, nur um andern Gutes zu thun?« – »Geschwätz! Ja, es ist gleichgiltig, ob es dich verletzt; aber daß ich an Jesus glauben soll, um armen Leuten zu helfen, das ist Unsinn. Ja, es hilft nichts, ich sage meine Meinung.« – »Wenn du an Jesus glaubtest, verstündest du den Grund.« – »Ich habe niemals gesagt, daß ich nicht an Jesus glaubte.« – »Ach, Josefine, das ist kein Glauben! So verstehst du nicht einmal, was Glauben ist. Diesen tiefen Fehler an dir hab' ich zu verantworten; ich, der ich jahraus jahrein mit dir lebe, ohne mehr zu erreichen.« Er beugte sich zu ihr nieder; in seinen Augen standen Thränen. »Wie schön könnten wir leben, wenn du dich vor Gott beugen wolltest – solche Kräfte wie in dir liegen – und so, wie ich dich liebe.« – Er wollte sie zärtlich umarmen. – »Weg!« sagte sie und setzte sich aufrecht.

Er fuhr auf wie von einem Stachel gestochen. Sie saß mit flammenden Augen da – legte sich wieder, beide Hände unter dem Kopfe; ihre Brust wogte; sie war erregt. »Ich weiß nicht, ob wir es vor Gott verantworten können, in diesen Verhältnissen zu beharren,« sagte er. – »Thu', was du willst.«

Er wandte sich von ihr ab; denn er hielt es unter seiner Würde, zu antworten. Der kleine Knabe stöhnte im Schlafe und wurde unruhig. Tust sah ihn an; der Kleine lag mit halbgeöffnetem Munde auf seinem Arme; Tust kannte seine Stirn, er hatte sie bei seinem Vater gesehen, es war auch seine eigene, ebenso das Haar, der Bau der kleinen Hand, die Finger, ja die Stellung der Nägel. Aber der Tag würde kommen, wo auch der Junge nicht mehr sein eigen war, – wenn es so weiter ging.

»Ja, Josefine – so soll es nicht weitergehen. Gott helfe uns beiden; aber von nun an ruht der Kampf nimmermehr.«

Das Breite und Mächtige, das hinter seiner Herzensgüte stand, war im Begriff, hervorzutreten; sie fühlte es. Und sie selbst war bewegt. Sie hörte ihn im Studienzimmer auf und ab gehen, rastlos, aber auch ohne Zweifel. Sie konnte nicht schlafen.

*

Am Tage, nachdem Kristen Larsen über seine Krankheit die volle Wahrheit erfahren hatte, erschoß er sich. Das jagte den Leuten einen entsetzlichen Schrecken ein; sie wagten kaum an dem Hause vorüberzugehen. Ein Gerücht verbreitete sich, Kallem habe Larsen seinen Revolver zu diesem Zweck überlassen; aber es wurde bald durch Larsens Frau, Sören Pedersen und Kallems eignes Zeugnis niedergeschlagen.

Kristen Larsen war ohne Abschied und ohne zu danken aus der Welt geschieden. Zu seiner Frau hatte er gesagt, ein baldiger Tod würde das beste sein. Aber auch zwischen ihnen hatte keine Verabredung oder Abrechnung oder irgend ein Abschied stattgefunden. Er hatte sie gebeten, zu Sören Pedersen zu gehen, war unterdessen aus dem Bette gekrochen und hatte dann die That mit der ihm eignen überlegenen Gründlichkeit vollbracht.

Das gewöhnliche Begräbnis wurde verweigert; an der nördlichen Mauer des Friedhofs wurde eine Ecke zur Verfügung gestellt und dort arbeiteten drei Mann eifrig, um ein Grab auszuschaufeln. Es war ein bitter kalter Tag, als Larsen begraben werden sollte; einige sahen auch darin eine Fügung Gottes. Zu ungewöhnlicher Zeit, nämlich nachmittags, wurde Kristen Larsen ohne Glockengeläute, ohne Geistlichen und ohne Sang der Erde übergeben. Unter den wenigen, die zugegen waren, fiel Arne am meisten auf; er war nämlich betrunken und machte sich überall zu schaffen. Er war so dürftig bekleidet, daß einen selber fror beim Anblick des jämmerlich frierenden Gesellen. Sören Pedersen hieß ihn mehrmals, aber erfolglos, sich ruhig zu verhalten. Von dem glänzenden Gesicht Sörens sah man nur die Nase, die Augen und einen Teil der Wangen; das übrige verhüllte nach unten ein mächtiges, mehreremal umschlungenes wollenes Tuch und oben eine Pelzmütze, die bis über die Augen heruntergedrückt war; die Fäuste staken in ein Paar ungeheuren nordländischen Handschuhen und die Füße in Pelzschuhen. Sören Pedersen war dicker geworden; sein Überrock war ihm zu eng geworden; mit diesen Auswüchsen sah er wie ein Hummer aus. Aase stand in kurzem Mantel, eine Kapuze auf dem Kopfe, neben der Witwe, die lang und mager in einem bis auf die Füße reichenden Sacke dastand, der oben und unten gleich breit war; der Kopf war in ein dickes wollenes Tuch gepackt; offenbar wollte sie ihr Gesicht verhüllen. Aune schwankte umher und erzählte, daß er geholfen habe, ihre Habe auf die Eisenbahn zu bringen. Und nun hätte er das Haus abgeschlossen, er trüge den Schlüssel in der Tasche; er zeigte ihn. Vom Friedhof wollte die Witwe gleich auf die Bahnstation gehen und bei einem etwa eine Meile weiter wohnenden Verwandten bleiben, um dann später in ihre Heimat zu reisen. Außer diesen vier Menschen waren noch zwei Totengräber zugegen; der eine stand auf sein Grabscheit gelehnt in Rock und wollenen Handschuhen da und kaute ohne Unterlaß Tabak; der andere hatte einen, mächtigen braunen Bart, war verwachsen und triefäugig.

Etwas abseits an der Mauer lag ein Steinhaufen; Karl Meek und Ragni kamen zusammen und stellten sich auf ihn. Alle warteten auf Kallem, der abgehalten worden war, aber nun eilig herankam. Vor der Witwe nahm er seine Mütze ab und wurde von den andern gegrüßt; dann ging er an das Grab. Er wollte gern einige Worte sprechen, erwartete aber, daß vorher etwas Anderes geschehen würde. Als nichts geschah, sagte er:

»Ich kenne die Vergangenheit des Mannes, den wir jetzt begraben, nicht; ich kannte auch ihn selbst nicht. Wie ich gehört habe, hat er über religiöse Dinge andere Meinungen gehegt, als die, unter denen er lebte, und er hat dafür Strafe erlitten. Sein und seiner Frau Lebensziel war wohl, nach dem freien Amerika hinüberzukommen.« (Bei dem Worte Amerika begann es hinter den Taschentüchern zu schluchzen und zu weinen.) »Er versuchte englisch zu lernen; es war ihm, als ob er sich damit Flügel schüfe.

»Wenn ich aber das gesagt und hinzugefügt habe, daß er sicherlich der begabteste Mensch war, den ich hier getroffen habe, so habe ich ungefähr gesagt, was ich von ihm weiß.

»Deshalb kann ich auch nicht über ihn zu Gericht sitzen. Oft wenn wir zusammensaßen, bekam ich den Eindruck, daß er fror. Die Kälte, die rings um ihn herrschte, war in sein Inneres eingedrungen.

»Es hat sich so gefügt, daß nur fünf, sechs Menschen ihm Lebewohl sagen. Aber alle, die seine sinnreiche Arbeit gefördert hat und besonders alle die Tausende, denen seine Erfindungen das Leben erleichtert und damit größere Lebensfreude, worauf alles ankommt, geschaffen haben – alle die schulden ihm Dank, und den bringe ich hiermit dar.«

Es wurde still; wenn sich einer oder der andere rührte, knisterte der alte Schnee; aber keiner dachte daran, zu gehen. Da schwankte Aune an das Grab heran. »Ja–a, ich danke dir nun für die Violine! O – Vergebung der Sünden, – leb wohl!« Er wäre bald in die Grube gefallen. Sören Pedersen packte ihn ärgerlich am Arme, wandte sich an seine Frau und sagte: »Liebe Aase, du betest das Vaterunser so hübsch; fang nun damit an!« Und sie ging einen Schritt vorwärts, zog die Handschuhe aus und faltete die Hände. Alle Männer nahmen die Mützen ab und alle beugten sich; und dann betete Aase das Vaterunser.

Danach fielen die ersten schweren Schollen auf den Sarg; es klang, als sollte er zerdrückt werden.

Die Frau ging zu Kallem. Nun erst konnte er sie in der Nähe sehen, in Thränen aufgelöst, vom Nachtwachen geschwächt, all ihrer Kraft und ihrer letzten Hoffnung beraubt; aber mit fester Hand faßte sie Kallems Hand, sah mit starken Augen in die seinen, nickte in grenzenlosem Schmerze mit zurückgehaltener Bewegung; sie konnte nicht sprechen. Niemals ist einem Menschen herzlicher gedankt worden. Ebenso ergriff sie Ragnis Hand und diese erschrak gar sehr, denn sie hatte das Bewußtsein, daß sie es nicht verdiente. Die Witwe eilte an den andern vorüber nach der Stadt hinunter; Sören Pedersen und Aase konnten kaum nachkommen. Aber Ragni ergriff Kallems Arm; sie hätte sich ihm um den Hals werfen und laut weinen mögen.



 << zurück weiter >>