Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

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11.

Vor dem Sonntage, an dem der Kampf um den Unterricht des kleinen Eduard stattfand, hatte dieser schon seit einigen Tagen gehustet; abends war er nicht wohl und mußte daher das Zimmer hüten.

Nach ein paar Tagen durfte er wieder ausgehen und schien ganz gesund zu sein; aber eines Abends fieberte er wieder, hatte einen trocknen Husten und war mürrisch; die nächsten Tage mußte er im Hause bleiben. An die freie Luft gewöhnt wurde er ungeduldig und verlor den Appetit; Josefine gab sich viel Mühe mit ihm und wurde schließlich streng. Da jammerte der Junge und wollte zur Großmutter; das wurde ihm nicht erlaubt. Als aber dann die Großmutter zu ihm kam, war er mürrisch und ging in das Zimmer seines Vaters. Von dort kam er weinend zurück; er hatte nicht die Erlaubnis bekommen, die Bücher aus den untersten Regalen herauszuziehen und damit Häuser zu bauen.

Dann wurde er fiebernd und erregt zu Bett gebracht; klagte über stechende Schmerzen in der rechten Seite der Brust, wenn er hustete, hatte in der Nacht einen Fieberanfall, worin er phantasierte: Kristen Larsen lief mit einem großen Sacke hinter den Jungen her und wollte sie in die Hölle schaffen.

Josefine wandte Terpentinumschläge u. dgl. an; als aber am nächsten Morgen der Pastor hinaufkam, bat sie ihn, den Doktor holen zu lassen.

Kent war ihr Hausarzt; er konnte erst gegen Abend kommen, und da konstatierte er, daß der Junge auf der rechten Seite eine Brustfellentzündung hatte. Was Josefine gethan, wäre richtig; er selbst verordnete Diät, verschrieb eine Mixtur für jede zweite Stunde, und wenn das Fieber zunähme und die Temperatur über 39 Grad steige, sollte man ihn holen.

In den folgenden Tagen besserte sich das Befinden des Knaben, er aß ein wenig, hustete weniger; die Temperatur stieg keinen Abend über 38 Grad. Gott sei Dank!

So gering die Gefahr gewesen, hatten doch Tust und Josefine das Gefühl, als wenn eine unsichtbare Hand sich leise mahnend auf ihre Schultern legte. Infolgedessen wandten sie langsam ihr Gesicht einander zu und suchten die Gelegenheit, mit einander zu sprechen – freilich nur über den Zustand des Kindes; aber in Stimme und Wesen bat etwas um Verzeihung.

Der Husten und das Seitenstechen nahm ab; nach und nach gesundete der Knabe zusehends; aber der Appetit war nicht besonders, täglich einige Fieberhitze; deshalb nahmen die Kräfte nicht zu. Sie kauften ihm neues Spielzeug, das ihn den ersten Tag amüsierte, bald aber langweilte; die Märchen, die Vater und Mutter abwechselnd erzählten, hörte er an, ohne zu fragen; die Besuche der Großmutter beachtete er gar nicht. Dann wurde er zuweilen heiß und fror hinterher. Kent wurde besonders dadurch beunruhigt, daß das Thermometer gegen Abend stieg; er fing an, Chinin zu geben, legte auch eine spanische Fliege. Josefine war nicht vom Bett gewichen und wollte nichts von Ablösung hören; dem Jungen gefiel es auch nicht, daß andere in seine Nähe kamen.

Aber er wurde besser; und eines Abends, als sie die Temperatur bestimmt hatten, sagte der Pastor: »Wir kommen wohl mit dem Schrecken davon, Josefine!« Sie sah ihn an, er streckte seine Hand aus; sie schlug ein, schien sich aber darüber zu schämen und zog ihre Hand zurück.

Doktor Kent hatte ihnen erzählt, daß Frau Kallem schwer krank liege; sie verließe ihr Zimmer nicht mehr. Von andern hörten sie später, daß sie an Auszehrung litte; sie erkundigten sich jedes einzeln bei Doktor Kent, der mitteilte, daß es sogar galoppierende Schwindsucht wäre.

Mit Josefine sprach der Pastor nicht darüber; aber zu Kent sagte er, das wäre sicherlich ein Glück für seinen Schwager; vielleicht würde er nun ein freier Mann werden und sich höher aufschwingen.

Josefine faßte es anders auf; das erkannte er daran, daß sie sich ganz in sich selbst verschloß; er bekam nur ab und zu ein Paar Worte von ihr zu hören.

Einige Zeit später, als sie eines Nachmittags auf dem Bett lag und darüber nachdachte, wie ihr Bruder es ertragen würde, wenn Ragni stürbe, – sah sie ihn. Zuerst dachte sie nichts dabei; aber sie sah ihn so überaus deutlich. Sie sah ihn, so lang er war auf einem Sopha in seinem Studierzimmer liegen, sie sah das ganze Zimmer, seine Gardinen, die Bücherregale, die Bücher, das Pult, zwei Tische, einen großen Lehnstuhl, mehrere aufgeschlagene Bücher, beschriebene Papiere, die bogenweise nebeneinander lagen . . . sie sah jedes Blatt, jedes Stäubchen und ihn selber in einem braunen Anzuge, den sie nicht kannte. Aber im Studierzimmer war sie nicht gewesen, so lange es möbliert war, und diese Möbel hatte sie niemals gesehen, ebensowenig die Gardinen, ebensowenig die Teppiche; aber trotzdem zweifelte sie nicht daran, daß sie richtig sah. Zu jeder andern Zeit würde das einen seltsamen Eindruck auf sie gemacht haben; nun wurde alles von dem verwischt, daß sie ihn sah, denn er war vor Kummer so abgezehrt geworden! Je genauer sie ihn ansah, um so schlimmer wurde es. Ja, sie sah ihn in solcher Verzweiflung, daß kein früheres Ereignis in ihrem Leben, nicht einmal der Tod des Vaters, sie so ergriffen hatte, wie sie dieses jetzt ergriff. Sie sah ihn sich krümmen und weinen, sie sah ihn die Hände zusammengepreßt vor das Gesicht halten, schließlich sah sie nur ihn, den Jammer der Augen unter den buschigen Brauen und der Brille und eine große Öde um ihn . . . Darüber erwachte sie in kaltem Schweiß, und so matt, daß sie kein Glied rühren konnte. Seitdem lebte sie unter dem Drucke einer unklaren Furcht, die ihr den Schlaf raubte. Galt das ihrem Bruder oder dem Knaben? Der kleine Eduard lag hier neben ihr in Atemnot und hustete wie ein weit Entfernter. Sein hohe Stirn schien unbewohnt, seine Augen in der Ferne zu sein; seine Hände waren nicht mehr die rauhen Fäuste des kleinen Jungen, hatten kein Leben mehr. Zuweilen eilte sie auf ihn zu um ihn nur durch einen Blick wieder zu sich zurückzuholen. O ja, es kam so weit; aber du Gott im Himmel – sie sollte doch nicht etwa ihr Kind verlieren? In diesem Leiden erkannte sie das ihres Bruders wieder, fühlte sich mit ihm zusammen. Das Schicksal des Jungen verknüpfte sich mit dem Ragnis. In wachen Nächten und bangen Tagen verband sie beide so unauflöslich miteinander, daß sie ihr einer Bestimmung zu folgen schienen.

Bis jetzt war ihr Gottesgefühl größtenteils Freiheitsdrang und eine niemals nachgebende Wahrhaftigkeit gewesen. In der Angst wurde es Schicksal, unbeugsames, mystisches Schicksal. Alles erschreckte sie; sie sah Zeichen und Verheißungen. Der Junge schien bloß auf der kranken Seite liegen zu können, sonst hatte er Schmerzen und jammerte, . . . und so oft sie ihm half, war ihr das unverständlich. Sie legte ihm Luftkissen unter, er antwortete mit herzzerreißenden Bitten, sie möge ihn in Ruhe lassen; sie wußte nicht mehr, was gut und was schädlich war. Sie durfte nicht einmal seinen Beinen zu nahe kommen, er wollte am liebsten die Kniee gebeugt haben und das eine Knie in einer gewissen Stellung über dem andern . . . unerklärliche Einfälle, mit denen er sie als überflüssig oder sogar beschwerlich beiseite schob. Bedeutete das, sie solle sich daran gewöhnen, zu verstehen, daß sie schon im Grunde genommen im Wege stand?

Das mußte sie schließlich aufreiben. Schon die Angst, die sie ergriff zwischen dem einen male, wo sie ihn berührte und dem zweiten, wo sie ihn wieder berühren mußte, schon diese hätte genügt; aber die Gedanken, die sie hineinlegte, machten sie wahnsinnig; sie sprach mit niemand darüber. Die Geschichte mit den Beinen besonders war ihr so verzweifelt mystisch in ihrer Ungereimtheit, daß sie darüber vor dem ganzen Jungen Furcht bekam; er gehörte ihr nicht länger. Erst spät und zufällig entdeckte sie eine Anschwellung an den Knöcheln. Sie hatte immer gehört, daß das der Anfang vom Ende wäre: sie konnte kaum die Treppen hinunter und in das Studierzimmer des Pastors hineinschwanken, der in einer dichten Rauchwolke dasaß. Sie sah in ihrem weißen Nachtkleide bleich und entsetzt aus. »Was giebt es, Liebe?« Sie erzählte, er ging mit hinauf, besah auch die Anschwellung, kniete, den Kopf in die Hände gedrückt, vor dem Bette nieder und betete. Das kurze, flüchtige Atemholen des armen Wesens, das glänzende, aber völlig gleichgiltige Auge, mit dem er seinen Vater ansah, schrie ihr über den Kopf des Vaters hinweg zu. Sie hätte auch beten mögen; aber der Knabe schob gleichzeitig den Vater mit der Hand weg; er konnte den Tabaksgeruch nicht leiden. Damit schob er sie vom Gebet weg.

Das freundliche Lächeln Doktor Kents, sein stilles, sicheres Urteil, daß die Krankheit dieselbe wäre wie damals, als er zuerst die Entzündung bemerkte, daß nichts Schlimmeres dazugekommen wäre und die Anschwellung sich sicherlich von der unglücklichen Lage der Kniee herschriebe – erleichterte sie so, daß Josefine vor Freude weinte. Er untersuchte den Urin und fand sein Urteil bestätigt.

Diese Nacht konnte Josefine mehr schlafen, als seit langer Zeit, aber trotzdem fühlte sie sich matter als vorher.

Wieder verging eine Zeit; da kam eines Abends der Pastor mit Doktor Kent hinauf und trug eine gewisse Feierlichkeit zur Schau. Josefine lag angekleidet auf dem Bette und wollte sich aufrichten, um aufzustehen, wurde aber von Kent und dem Pastor gebeten, sich wieder niederzulegen. Doktor Kent erzählte, daß am vergangenen Tage Frau Kallem gestorben wäre. Beide Männer sahen Josefine an; sie schloß die Augen. Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. Als aber Tust ihr Gesicht wiederholt zusammenzucken sah, setzte er eilig hinzu: »Unter diesen Umständen ist es für Eduard nur gut, Josefine. Jetzt geht es ihm natürlich nahe: aber später wird es wieder gut. Er wird dadurch wachsen.« Josefine wandte den Kopf ab. Die Augen blieben geschlossen; dann brachen die Thränen hervor.

In demselben Augenblicke fühlte er, daß er etwas Ungelerntes gesagt hatte; ja, daß er sich einer Roheit schuldig gemacht hatte. Während der Krankheit des Jungen und in dem angsterfüllten Zusammenleben der letzten Zeit war er verändert. Diese Worte aus einer frühern Lebensperiode bekamen selbständiges Leben, verfolgten ihn schwebend, waren Gesandte Gottes – da sie in dieser Stunde und aus Josefinens brennenden Schmerz, da sie über ihr eigenes krankes Kind fielen.

Bis diese Worte fielen, hatte Josefine still mitgebetet, so oft der Pastor betete; seitdem that sie es nicht mehr. Sie hatte dasselbe Gefühl wie im Anfang ihrer Ehe, als er unmäßig war und gleichzeitig haben wollte, daß sie mitsingen sollte. Damals merkte er nichts, nun fühlte er es sofort. Aber gerade deswegen mußte er Gesellschaft haben, vor allem im Gebet für sein krankes Kind. Da wandte er sich an die Freunde im Bethause; ihrer war er sicher. Die schmerzliche Abrechnung in diesen Tagen, seine Furcht für das Leben des Knaben, seine freudlose Liebe, alles kam zu einem starken Durchbruch; er hieß sie mitbeten, er stürmte Gottes Barmherzigkeit: möchte er nur einer höhern Gemeinschaft mit Gott würdig befunden werden, dann wäre die Probe nicht zu hart. Er strahlte von Glaubenskraft, als er nach Hause kam und erzählte. Wenn die stärksten Gefühle in ihm wach wurden, dann war er mächtiger als alle andern; aber es geschah so selten.

Josefinens Zustand wurde bedenklich. Woche für Woche die frische Luft und regelmäßigen Schlaf zu entbehren und infolge der unaufhörlichen Spannung den Appetit zu verlieren, das konnte auch diese kerngesunde Natur knicken. Heimlich sprach Tust mit Kent; aber hier war nichts zu thun, wenn sie selber nicht wollte.

Während er auf jede ihrer Bewegungen achtete, mußte er ihr wider seinen Willen eines Tages mitteilen, daß Ragni nicht hier, sondern im benachbarten Bezirk begraben werden sollte. Darin offenbarte sich ja der Zorn, ja Abscheu des Schwagers so stark wie nur irgend möglich. Zweifellos war sein Vorgehen gegen die Gesellschaft im ganzen gerichtet: am meisten aber gegen sie.

Was Josefine fühlte, erfuhr Tust nicht; ihm ging es selber nahe. Ein einzig Mal verriet sie, wie ungeduldig sie geworden war. Er hatte sich über den Knaben gebeugt, kam ihm aber etwas zu nahe: Eduard wurde unwillig und wehrte mit der Hand ab. »Aber so hör' doch auf zu rauchen!« sagte sie bitter. Er wandte sich zu ihr und sagte ruhig: »Das werde ich thun.« Als er sich später erhob, fügte er bekümmert hinzu: »Heute geht's ihm nicht gut!« – »Nein,« antwortete sie still; seine Art des Benehmens beschämte sie.

Der Doktor wurde geholt; er war an diese hastigen Sendungen gewöhnt und nahm sie daher mit Ruhe auf, besaß auch die kostbare Gabe, andern seine Ruhe mitzuteilen. Sofort meinten die Eltern, der Junge äße mit größerem Appetit und nehme mehr Rücksicht auf seine Großmutter. Viermal des Tages war sie da, und die Art, wie sie empfangen wurde, war ein Barometer.

Die Großmutter war am Krankenhause gewesen und hatte Kallem und Karl Meek mit Ragnis Leiche von dort aus fahren sehen. Der Sarg war weiß und stand auf einem schwarz ausgeschlagenen Schlitten. Vorn bei dem Kutscher saß Sigrid; hinterdrein, kamen Kallem und Karl Meek in einem breiten Schlitten. Das war das ganze Gefolge.

Die Erzählung von dieser letzten Reise Ragnis kam ihnen unerwartet. Und daß Karl Meek mitfuhr und allein! Bedeutete das, daß Kallem keinen Verdacht auf ihn hegte? Oder, und das war wahrscheinlicher, daß er ihm vergeben hatte? Oder wollte er gar die Sache verdecken und ihr so diesen letzten Dienst erweisen? Wer doch so gut sein konnte!

Die Nacht darauf kam Josefine zu ihrem Mann hinunter, als er schlief. Der Haarknoten hatte sich gelöst; das große hohläugige Gesicht von wirrem, schwarzem Haar umgeben, das Auge steif über die Lampe starrend, die sie in der Hand hielt, sah sie wie eine Verzückte oder wie eine Nachtwandlerin aus. Er richtete sich auf und wollte aus dem Bette steigen. Sie hielt ihn mit der Hand zurück und sagte eintönig: »Ich will mit dir reden, Ole; ich kann nicht schlafen. Diese Frau meines Bruders will unsern Jungen fortnehmen!« Er fühlte, wie ihm alles Blut nach dem Herzen strömte. »Was sagst du?« flüsterte er. – »Wir sind beide zu hart gewesen. Nun müssen wir büßen; und sie begnügt sich nicht mit weniger.« – »Liebe Josefine, du bist nicht mehr du selber. Wir wollen doch eine Hilfe nehmen!« Er sprang aus dem Bette. – »Ja, Hilfe suche ich. Jetzt müssen alle, die beten können, kommen! Hörst du, Ole!« – »Aber liebe –?« – »Oder glaubst du nicht, daß ihr stärker seid als sie? Glaubst du nicht? Du kamst neulich so froh aus dem Bethause – ach, du kennst sie, rufe sie, rufe sie endlich, Ole, hörst du!« Sie begann zu jammern und zu weinen. »Es ist doch Christenpflicht, hier zu helfen, sie können es doch nicht mit ansehen, daß sie ihn von uns nimmt!« Die Stimme endete in einem langen klagenden Ton. Er saß auf dem Bettrande und hatte die Unterhosen angezogen, wartete aber nun, die Hosen in den Händen. »Liebe, Liebe, glaube doch, daß Gott die Macht hat und kein anderer. Josefine, du bist krank!« Er war so liebevoll bekümmert und beeilte sich, sich anzukleiden. »Willst du sie wirklich holen?« fragte sie froh und setzte die Lampe weg. »Ich danke dir, ich dachte mir's schon! Ich gebe dir die heilige Versicherung, daß es eilt, Ole!« – Er beeilte sich auch, sagte aber: »Du weißt Josefine, daß wir vorsichtig sein müssen, wenn wir um nichtgeistliche Dinge bitten.« Das machte sie unruhig, sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Alles an ihr war lose und offen, die Ärmel glitten herunter – wie unglaublich mager sie geworden war! – eine große Angst befiel ihn. Ihr irres Gesicht, die fieberkranke Sprache, die abgemagerte Gestalt . . . »Gott helfe dir, Josefine, aber setze nun nicht alles auf das Gebet ein! – sonst könntest du damit fallen, so schwach wie du jetzt geworden bist!« – »Glaubst du denn nicht, Ole?« Es traf ihn wie ein Blitz. – »Ja wohl, ja! Aber wenn nun Gottes Wille nicht der unsere ist, liebes Kind?« – Die schmerzliche Erinnerung an Andersens Totenbett erhob sich. – »Du bittest um ein Wunder!« – »Ja! Jawohl! Natürlich? Um was beten wir sonst?« – »Wir beten, um mit Gott in Gemeinschaft zu kommen, Josefine; wenigstens thue ich das. Dann ist alles gut, dann ist mein Sinn gestärkt – und ich bedarf dessen so sehr oft.« – »Ihr sollt Gottes Herz erweichen,« steht geschrieben. Heißt es nicht so? Ihr sollt Gottes Herz erweichen? Ole! Antworte mir!« – Er kniete vor dem Ofen, ein Stück Holz in der einen, ein Messer in der andern Hand; er wollte Feuer machen; sie war so leicht bekleidet! aber nun hielt er inne und sah traurig zu ihr auf: »Ich darf um kein Wunder bitten, Josefine; ich bin dessen nicht würdig!« Während er das sagte, stieg es in ihm auf, und bevor er es wußte, war er so bewegt, daß er das, was er in den Händen hielt, loslassen mußte, um sein Gesicht zu bedecken. Aber als er wieder aufsah, da sprang er empor; denn wenn sie in ihrem Schoß das kostbarste Porzellan gehalten und es hätte fallen lassen, so daß es in tausend Stücke zerbrochen wäre . . . sie hätte nicht anders dastehen können, starr, entsetzt, die Hände über das, was sie verloren, ausgestreckt, die Augen fest auf ihn gelichtet, der Sinne beraubt, sie mußte nächstens fallen. Aber das geschah nicht; denn als er sie faßte, erwachte sie, faßte sich schnell und sagte schnell ohne irgend welchen Übergang: »Dann müssen wir nach meinem Bruder schicken! Dann kann nur er sie dazu bringen, von dem Jungen zu lassen.« Diese demselben wunderlichen Gedankengange entspringenden Worte klangen ihm wie eine Eingebung. Tausendmal hatte er dasselbe gedacht; der Fall mit dem Oberst hatte den Wunsch erweckt, viele hatten ihm dazu geraten; aber bis heute war er davor zurückgeschreckt.

Wenige Minuten später eilte er zu Doktor Kent, den er erst fragen mußte.

Eine klare, scharfe Nacht; der tagsüber nachgebende Weg war in der Nacht zugefroren, sodaß er sich in acht nehmen mußte – so wie er von seinen Gedanken verfolgt wurde, war er schwer genug für ihn. Was waren die biblischen Dogmen von der Schöpfung, dem Sündenanfall und alles andere, was war es wert, wenn der Tod anklopfte? Was wurde dann Nummer eins und was wurde Nummer zwanzig?

In Kents Hause wollte niemand wach werden; Ole klingelte und klingelte, ohne selbst die Klingel zu hören; die Glocke mußte abgenommen sein. Da donnerte er gegen die Thür; es klang hart und hohl, und er, der an den Tod dachte, glaubte nun, dieser poche an; es war auch so! Endlich kam etwas ärgerlich ein Mädchen; als sie aber sah, daß es der Pastor war, ging sie, um den Doktor zu benachrichtigen. Der geduldige Kent erschien, nahm ihn mit in die Stube und hörte ihn an. Er wollte gern zu Kallem gehen; hätte er geglaubt, daß es anginge, würde er es schon lange gethan haben.

Josefine war oben bei dem Jungen, als der Pastor zurückkam; sie verstand ihn falsch, sie glaubte, ihr Bruder würde sofort kommen, und als er um 7, um 8, um 9 Uhr noch nicht da war, fürchtete sie, daß er nicht kommen wolle und geriet außer sich; der Pastor mußte wieder fort. Kent war nicht gleich zu finden, gab aber den Bescheid, daß er Punkt 11 Uhr mit Kallem kommen werde. Da kamen sie auch; aber da war der Pastor auswärts, und es empfing sie daher niemand, Kallem hatte seit dem Tage, an dem er in die Stadt kam, seinen Fuß nicht in ihr Haus gesetzt.

Wenn jemand Sehnsucht hat, geht es ihm leicht so wie jetzt Josefine: sie hatte seit heute nacht immer an den Bruder gedacht, als er aber endlich mit Kent auf dicken Teppichen die Treppe heraufkam, dachte sie nicht an ihn; sie stand gerade über den Jungen gebeugt und gab ihm zu trinken; als es anklopfte, schreckte sie empor und konnte kein Wort hervorbringen. Die Thür wurde trotzdem geöffnet, Kent ließ Kallem vorausgehen.

Ein leiser Schrei empfing ihn. Sie hätte beinahe das, was sie in den Händen hielt, fallen lassen; denn wie sah er aus! Das war der Tod selber, der kam, knochig, schneidend scharf; nicht um zu helfen, sondern um ihr den Jungen abzusprechen; sie erkannte es sofort.

Kurz, unbarmherzig sah er sie an, ohne einen Funken von Mitgefühl, trotzdem auch sie vom Kummer hart mitgenommen war. Als er näher getreten war, sah er den Knaben an und von jetzt ab existierte sie für ihn nicht mehr; sie ging auch beiseite. Kent kam zu ihr und grüßte freundlich, ging dann zu Kallem zurück. Nun geschah das Gewöhnliche – das, was sich mit Kallem selbst an der Seite des Doktor Meek ereignet hatte – Kallems Eindruck wurde auch der des Doktor Kent; das Aussehen des Jungen trat für ihn in ein neues Licht und erschreckte ihn sehr. Der Gedanke, den er früher von sich gestoßen, meldete sich nun von selber; – »Empyème?« flüsterte er auf französisch Kallem zu, der nicht antwortete, aber näher herantrat, den zarten, schwachen Puls des Knaben untersuchte, ganz leicht perkutierte, auf die flüchtigen Atemzüge hörte, die Temperaturliste und den letzten Auswurf des Jungen besah. Dann eine kurze Beratung der Ärzte; – Josefine hörte jeden Laut, trotzdem sie in einiger Entfernung auf der andern Seite des Bettes stand – das Bett des Knaben stand da, wo früher das des Vaters gestanden hatte –; aber sie verstand die technischen Worte nicht und deshalb auch nicht den Sinn der Unterredung. Daß es aber etwas sehr Gefährliches war, das fühlte sie; sie preßte die Hände unter der Brust zusammen, wahrend sie die Augen von dem einen zu dem andern schweifen ließ. Kent kam endlich ein Paar Schritte näher; er wollte nur fragen, ob sie die nadelfeine Spitze einer Spritze in die Brusthöhle stecken dürften. »Ist das eine Operation?« flüsterte sie und mußte sich stützen. »Das werden wir sehen,« antwortete er ebenso leise. Sie sank auf einen Stuhl. Ihr Bruder wartete die Antwort nicht ab, sondern zog seine Verbandtasche hervor, nahm etwas glänzend Dünnes und Langes heraus und beugte sich damit über den Jungen. Sie sah nichts mehr, dachte auch nicht mehr, – wollte nur nicht nachgeben; sie hörte den Jungen jammern und wiederholt ängstlich »Mutter« rufen; hatte nicht die Kraft, sich zu erheben, wagte es nicht; hörte Kent sagen: »nun ist es vorüber, mein Junge«; konnte aber nicht sehen, was vorüber war.

Der kleine Eduard klagte und klagte, wollte durchaus die Mutter wieder am Bette haben. Da versuchte sie es ein paarmal, aber es war ihr unmöglich! ihr Bruder drückte sie nieder, trotzdem er nicht einmal nach ihr hinsah.

Dann ging die Thür, er war fort und sie atmete erleichtert auf. Kent kam sofort zu ihr und flüsterte mild und teilnehmend: »Hier muß eine Operation vorgenommen werden, Frau Pastor!« – »Weshalb?« Sie wußte ja, daß es nichts nützte; sie hatte es an den Augen ihres Bruders gesehen. »Weil alles versucht werden soll,« antwortete Kent. Im kläglichsten Tone bat der Junge die Mutter, bei ihm zu bleiben »Nun komme ich.« Sie kniete neben ihm nieder und weinte. »Sie haben mir weh gethan.« klagte er. Ach, wenn sie hätte antworten können: »Damit du gesund werden und wieder aufstehen kannst.« Aber nicht einmal Doktor Kent wagte das. Sie suchte nach Mut, um die Operation zu verbieten, aber sie wagte es vor ihrem Bruder nicht. Kent wartete; das fühlte sie endlich und sah ihn verzweifelnd an. Er beugte sich über sie. »Ihr Bruder pflegt vorher Leute zu schicken, die das Zimmer desinfizieren und alles vorbereiten,« sagte er leise. »Geschieht es heute?« flüsterte sie und weinte bitterlich. – »Nein; aber das Reinmachen und Auslüften wird wohl heute seinen Anfang nehmen. Die angrenzenden Zimmer müssen mitgenommen werden.« Sie hatte ihren Kopf wieder neben den des Knaben gelegt und antwortete nicht; sie hörte, daß er ging.

Als der Pastor nach Hause kam, eilte er sofort in das Krankenzimmer hinauf und erstaunte nicht wenig, hier die Großmutter und – Sissel Aune zu finden! Die letztere hielt Wacht, der Junge war eigensinnig und wollte niemand anders als die Mutter neben sich haben; auch seinen Vater nicht, der noch nach Tabak roch, trotzdem er das Rauchen eingestellt hatte. Tust fand Josefine verzweifelt und aufgerieben im Studierzimmer auf seinem Sofa; sie sprach zusammenhanglos: – »Das Todesurteil!« antwortete sie auf fast alle seine Fragen.

Nachmittags kam eine der Diakonissinnen und übernahm die Aufsicht; mit ihr rückten neue Leute ein; ihr Haus war erbrochen; das Scheuern klang, als wenn ein Sarg gehobelt würde. Die Bedienung war in Trauer, die alte Großmutter weinte; und als das Bett des Kindes in ein anderes Zimmer geschafft wurde und sie das Fortrücken hörten, saßen die Eltern Hand in Hand und zitterten.

Wenn nun jetzt jemand sagen würde: »Es ist für die Eltern gut; daß der Junge stirbt. Jetzt freilich verstehen sie es nicht recht; aber es wird ihnen nützen,« – wenn jemand so roh wäre, ihnen so etwas zu sagen? Tust mußte mit Josefine darüber reden und gestehen, was diese Worte in ihm gewirkt hatten. Sie drückte schweigend seine Hand.

Abends, als es ruhig geworden war, waren sie beide bei dem Knaben und glaubten, er wäre vom Tode gezeichnet. Die Hand der Mutter in der seinen, schlief er ein, und Tust führte sie leise fort. Jetzt ließ sie sich leiten; unter den vielen Umänderungen im Hause, die jetzt vorgenommen wurden, geschah es auch, daß ein zweites Bett in das Gastzimmer gestellt wurde.

Am nächsten Tage saßen die Eltern vom frühen Morgen an bei dem Kleinen. Sobald sie gegangen, sollte er in sein altes Zimmer geschafft werden, wo alles für die Operation vorbereitet war.

Um 10 Uhr kamen die Ärzte. Josefine lag auf dem Sofa im Studierzimmer. Sobald sie sie hörte, bedeckte sie ihre Ohren; die Teppiche waren nun weggenommen, sodaß man das leiseste Knarren der Stiefel vernahm. Sie ließ sich nicht trösten, nicht mit sich sprechen, fiel in den halb sinnlosen Zustand zurück, in dem sie schon früher einmal geschwebt hatte, wollte zu dem Knaben hinauf, der ja unter ihren Händen sterben konnte. Der Pastor wünschte mit den Ärzten zu sprechen; aber sie hing sich an ihn; sie mußte mit; da ging er denn nicht. Sobald oben jemand einen Schritt ging, wußte sie, wer es war, und bewegten sich beide Ärzte auf einmal, dann stand etwas bevor; sie krümmte sich dann zusammen und saß geduckt da, die Hände an den Ohren. Sie wollte sich nicht in ein anderes Zimmer bringen lassen, wollte hier bleiben und gequält werden; zuweilen nahm sie ihre Zuflucht bei Tust wie in einem Hafen; dann hatte sie sich selber totmüde gehetzt, – »hilf mir!« flüsterte sie, erzählte, es gälte ihren Verstand und ihr Leben, und sie hätte niemals gewußt, daß es ihr einmal so elend gehen könnte.

Tust brachte es endlich so weit, daß sie sich mit einem kühlenden Umschlag auf der Stirn niederlegte, er betete laut, und seine Liebe war so stark, daß sie ihr Gemüt beruhigte. »Ich danke dir, Ole,« sagte sie und wurde still.

Auf einmal rief sie: »er schreit!«, richtete sich empor und wollte hinaufeilen. Der Pastor versicherte ihr, er höre nichts; aber in demselben Augenblicke hörten sie es beide. »Ja, ja!«, sagte sie und drängte fort. Tust umschlang sie mit beiden Armen, bat und flehte. Auch jetzt beruhigte sie sich wieder. Nun wurde es oben still.

Oben ging es schnell. Auf Kallems Verantwortung wurde der Knabe chloroformiert, und die Schreie, die die Eltern gehört hatten, galten eben der Flanellmaske, die Kent vor sein Gesicht hielt; der Junge schob sie weg, er wäre dem Ersticken nahe: »Mutter, Mutter!« Aber bald schlief er ein. Die Großmutter saß in frischgewaschenem Kleid am Kopfende auf der andern Seite und hielt seine Hand; die Alte zitterte; aber sie saß da und wollte bis zum Schlusse sitzen bleiben. Niemand hatte sie darum gebeten, sie hatte selber Gott darum gebeten. Aber sobald als der Knabe eingeschlafen war, sagte ihr Kallem höflich, nun müsse sie gehen. Langsam und schweigend entfernte sie sich.

Da begann er. Zwischen den Rippen auf der rechten Seite wurde ein acht Centimeter tiefer Einschnitt vorgenommen. Mit stumpfen Instrumenten drang er ins Innere vor, gelangte bis an den Rippenrand und sägte ein kleines Stück ab; der Eiter floß aus der Wunde.

Hier wurden alle durch einen wilden Schrei hinter ihnen aufgeschreckt. Josefine hatte blitzschnell die Thür geöffnet und diese weißen Operationsröcke gesehen, hatte gesehen, wie Kallem blutig in der Brust ihres Kindes wühlte – und da lag sie auf dem Boden.

»War die Thür nicht verschlossen?« sagte Kallem. Sissel sprang hinzu, der Pastor von außen herein, beide trugen sie hinaus. »Passen Sie auf die Temperatur auf!« wurde der Diakonissin zugeflüstert: – »und schließen Sie die Thür ab!« – »Aber Sissel?« – »Muß draußen bleiben!«

Später hörten sie sie an der Thür, aber keiner beachtete es. Eine Drainröhre wurde in die Brusthöhle eingesetzt, die ausgespritzt wurde und ein Wergverband vorsichtig um die Seite gelegt. Mehrere Tage lang sollte die Drainröhre liegen und die Zimmertemperatur Tag und Nacht gleichmäßig auf 15° erhalten werden. Kallem zog sich mit seinen Instrumenten bald ins nächste Zimmer zurück und war außer dem Hause, bevor jemand von denen, die nicht im Operationszimmer waren, wußte, daß er fertig war.

Die Großmutter, die Arme, war wieder hinaufgegangen, um an der Thür zu horchen, als Sissel, die nunmehr im Zimmer war, öffnete und unter der Schürze etwas hinaustrug. Im Vorübergehen erzählte sie schnell, daß alles vorüber wäre. Da wagte die Großmutter sich hinein; als sie aber das bleiche Kind sah, verlor sie die Macht über sich selbst, sie ging sofort wieder hinaus und erreichte nur mit Mühe und Not ihr eigenes Haus.

Diese Versteinerung von der Meeresküste – pietistisch flachgedrückt und in die nördliche Wand des Hauses eingemauert – war für gewöhnlich nicht zu finden. Sie schien nur einen einzigen Umgang zu haben: den Knaben. Ihr ganzes Haus war seine Spielstube; er durfte so ungefähr alles, was er wollte, hineinschaffen, sie schaffte es wieder hinaus und hatte auch nichts anderes zu thun, als ihre Stube in stand zu setzen, wenn er gegangen war. Nun sollte man glauben, daß er deswegen an ihr gehangen hätte; aber merkwürdigerweise wollte er, seitdem er krank geworden, die Großmutter am liebsten nicht sehen. Das gerade Wesen der Mutter hatte trotz aller Strenge seine Phantasie gefangen genommen; die Nachgiebigkeit der andern mit all den Vorbehalten und Verboten, all den Gebeten, die er auswendig lernen sollte, und all den biblischen Erzählungen, die er nicht verstand, hatte ihn geplagt. Nun, wo er krank und matt war, durfte sie nicht sprechen. Das ist ungerecht gegen solche alte Leute! Auch ihr Sohn vernachlässigte sie jetzt, seitdem Josefine zugänglich geworden war. Wäre die Diakonissin nicht gekommen, so wäre vielleicht die Operation vorgenommen worden, ohne daß die Alte etwas davon erfahren hätte.

Sie stahl sich ein paar Stunden später wieder hinaus, lauschte draußen, und da sie nichts hörte, dachte sie, es wäre vorbei und wagte es, hineinzusehen. Sissel saß da und nickte; sah aber nun auf. »Lebt er?« fragte die Großmutter. »Ja,« antwortete Sissel, gerade so laut, daß man es hören konnte und größer war wohl auch ihre Hoffnung nicht. Die Großmutter konnte nicht mehr an sich halten und ging wieder fort. Nach ein paar Stunden war sie jedoch wieder da und er lebte immer noch. Nun hatte sie für diesen Fall ihre Brille mitgebracht und ein altes, liebes Buch; sie wollte wachen, bis es zu Ende ging; Sissel konnte schlafen. Sie erfuhr da, was zu thun war, und Sissel legte sich auf das Bett Josefinens.

Erst sechs Uhr abends steckte der Pastor den Kopf ins Zimmer; – jetzt erst wagte er's, Josefine eine Zeitlang zu verlassen. Er sah seine Mutter mit der Brille und ihrer alten Postille dasitzen, kam näher heran und las forschend in ihrem Gesicht wie in einer Schrift; »er lebt«, las er darin. Sie nickte wie vorhin Sissel und in demselben Sinne. Vor dem leichenblassen, matten und schlaffen Gesicht des Knaben schauderte er zurück und ging.

Das Haus war ganz, ganz still. In der abseits gelegenen Küche wurde leise gesprochen, überall waren die Thüren geschmiert und die Teppiche wieder gelegt. Stunde für Stunde kam der Pastor, immer auf den Zehen, und empfing immer denselben Bescheid; er lebt noch. Alle kamen und gingen lautlos, als wandelten Geister umher. In dem Gastzimmer, wo Josefine lag, und in dessen Nähe wurden die Worte von Zeichen abgelöst.

Nachts war es womöglich noch stiller. An Stelle der Großmutter saß Sissel am Bette; in der Küche war Feuer und es wachte jemand, für den Fall, daß etwas geschehen sollte. Der Pastor wachte und ging ab und zu. Aber gegen drei Uhr schlief er sowohl wie die Wache. Als um vier Uhr die Großmutter kam, schlief auch Sissel; die Großmutter nahm ihren Platz ein. bis gegen sieben Uhr war kein Laut zu hören. Die Großmutter besorgte den Ofen und die Medizin: – atmete der kleine Eduard leichter oder täuschte sie sich?

Gegen sieben Uhr öffnete sich langsam die Thür. Die Alte glaubte, ihr Sohn käme; aber es war Josefine. Im Zwielicht sahen ihr großes Gesicht unter dem zerrauften Haar und ihre wilden Augen noch schlimmer aus; sie erschreckte die Alte, die lange für ihren Verstand gebangt hatte. Aber Josefine stand still an der Thür, hörte das sichere Atmen Sissels, aber nicht das des Knaben, und wagte dann nicht weiter zu gehen. Das sah die Großmutter und nickte ihr ermunternd zu. Ein paar Schritte weiter vorwärts und die Mutter sah ihr Kind – entsetzlich bleich und ohne Lebenszeichen. Aber die Großmutter nickte wieder und da wagte sie sich weiter vorwärts. Die Gardinen waren noch vor den Fenstern; sie sah daher nicht gut; aber nun glaubte sie zu sehen, daß er atmete. Da kniete sie nieder . . . er atmete leichter, oder . . .? Sie glaubte so unerschütterlich fest an ein Todesurteil, daß sie nicht hörte, was sie hörte. In der äußersten Spannung lauschte sie, überlegte, hielt unterdessen ihren eigenen Atem zurück, und erst als sie sich versichert hatte, daß er leichter atmete, ließ sie ihren Atem, ohne es zu wissen, in voller Kraft über das Gesicht des Jungen hinströmen. Sein warmer Hauch weckte ihn, er schlug die Augen auf und sah seine Mutter an, schien sich aber zu besinnen. Ja, das war die Mutter, sie war zurückgekehrt! Seine Augen wurden lebhafter, klarer, als sie sie wochenlang gesehen hatte; sie sahen sie an, bis die ihren von Thränen überliefen.

Er sagte kein Wort, rührte aus Furcht vor dem alten Schmerz kein Glied; und ihr war, als müßte sein Lebensgeist entfliehen, wenn er es thäte, oder wenn sie ihn anfassen oder ansprechen würde. Ja, sie glaubte, zu heftig zu atmen, atmete leiser, bewegte die Hände nicht, wandte nicht den Kopf; in dieser lautlosen Stille war es ihr, als ob Flügel über ihnen ausgebreitet wären. Der Augenblick glich dem, da sie ihn geboren hatte, als sie den ersten Klang seiner Stimme hörte. Hier begann das Leben zum zweitenmal in seinen ersten scheuen Atemzügen. Seine Augen waren wie Licht im Schnee. Sie konnte sich an ihrem frischen Glanze gar nicht satt sehen, die beiden schwebten neben einander, es sollte niemals aufhören.

Aber der Junge wurde von der Macht ihrer Augen beschwert und gab sich dem sichern Gefühl ihrer Nähe hin. schloß die Augen, öffnete sie ein paarmal wieder, um zu sehen – . . . ja, sie war da, und dann schlief er ein.

Kurz darauf stand sie wieder im Studierzimmer. Draußen war es heller Tag; er sollte hereinkommen. Sie rollte die Gardinen empor, der Tag erfüllte das hohe Zimmer mit Licht und Leben, erfüllte ihre eigene Seele bis ins Innerste – sie stieß die ins Gastzimmer führende Thür ganz auf und stellte sich auf die Schwelle.

Tust lag da, breit und stark mit ausgestrecktem Arm, der Kopf mit dichtem Haar bewachsen, die hohe Stirn noch vom gestrigen Schweiß glänzend, mit einem Lächeln in den Mundwinkeln. Nun weckte ihn das Licht halb auf. »Ole!« sagte sie, er öffnete die Augen weit, kniff sie aber wieder zusammen; in seinem Innern ordnete er, was er mit einem Blick gesehen hatte, und gleichzeitig hörte er aus all diesem Licht heraus den Klang von Josefinens Stimme: »er lebt!«

*

Am folgenden Sonntag sprach dann auf der Kanzel ein Mann aus dem heraus, was er gelernt hatte. Nämlich über das, was das Höchste für uns alle ist. Der eine vergißt es über seinem großen Streben, ein anderer in seinem Kampfeifer, ein dritter über seiner Verkehrtheit, ein vierter über seiner eigenen Weisheit, ein fünfter in seinem Gewohnheitsleben, und wir alle haben mehr oder weniger Unsinniges darüber gelernt. »Denn fragte ich nun euch, meine Zuhörer, so würdet ihr, gerade weil ich von dieser Stelle aus fragte, alle gedankenlos antworten: »Der Glaube ist das höchste!« Nein, das ist er wahrhaftig nicht! Beuge dich über dein Kind, das röchelnd um Atem kämpft und am äußersten Rande des Lebens liegt, oder sieh, wie deine Frau von Angst und Nachtwachen geschwächt, dem Kinde bis an diesen äußersten Rand des Lebens nachgleitet – dann lehrt dich die Liebe, daß das Leben das höchste ist. Und nach diesem Tage werde ich nicht Gott oder Gottes Willen zuerst in einer Formel suchen, in einem Sakrament oder in irgend einem Buche oder an einer Stelle, als wäre er vor allem dort; nein, vor allem im Leben – dem Leben, das der Tiefe der Todesangst abgewonnen, im Sieg des Lichts, in der Wonne der Hingebung, in der Gemeinschaft des Lebens. Gottes vornehmste Rede zu uns ist die des Lebens; die höchste Verehrung, die wir ihm erweisen können, ist die Liebe zum Leben. Dieser Lehre, so selbstverständlich sie ist, bedurfte vor allen andern ich. Auf verschiedene Weise und aus vielen Gründen habe ich sie von mir gewiesen – und am meisten in der letzten Zeit. Aber niemals werden mir wieder die Worte das Höchste werden, ebensowenig die Zeichen; die ewige Offenbarung des Lebens wird es sein. Nie wieder werde ich in einer Lehre festfrieren, sondern die Lebenswärme mag meinen Willen lösen. Niemals wieder werde ich Menschen nach Dogmen aus dem Gerechtigkeitsgefühl verschwundener Zeiten heraus beurteilen, wenn es nicht auch dem Maßstabe der Liebe in unserer Zeit Genüge leistet. Niemals bei Gott! Und zwar deswegen nicht, weil ich an ihn glaube, den Gott des Lebens, an seine unablässige Offenbarung im Leben.«



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