Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

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3.

Der Tag war nicht ganz klar gewesen; die Luft war in Unruhe, die Wolken jagten in andrer Richtung als der leichte Südwind; es war mild und taute wieder. Der Weg war jämmerlich, voller Schneeschlamm und Schmutz, besonders hier vor der Stadt, wo alles zu einem Brei zusammengetreten und getrampelt war.

Der Junge war nicht 10 Minuten gegangen, als auch seine etwas dünnen Stiefel von Wasser durchzogen waren. Na, das machte nichts aus; schlimmer war's, daß der letzte Kringel an die Reihe kam; denn er war nicht satt – nicht im entferntesten! Aber auch das machte nichts aus. Den Ole wollte er schon bald einholen; er war schneller zufuß, er hatte einen leichteren Gang und legte ordentlich los. Wenn er ihn erst eingeholt hätte, wollte er schon alles ordnen; daran zweifelte er keinen Augenblick. Ole war nachgiebig und er, Eduard, wollte vor den Jungen für ihn eintreten; das schuldete er ihm unbedingt – das machte ihm auch Vergnügen; er würde schon mehrere auf seine Seite bekommen, und dann sollte es eine Schlacht geben.

Aber als er eine ganze Viertelmeile gegangen war, ohne von Oles Stiefeln, geschweige denn von ihm selbst eine Spur in all dem Morast gesehen zu haben; – und besonders als er sich auf der unwegsamen Straße eine halbe Meile vorwärts geschleppt hatte, an den Beinen völlig durchnäßt, schweißbedeckt und kalt, dann halbtrocken und wieder schweißbedeckt – es drohte mit Regen und Sturm, und die Natur war entsetzlich einsam mit den langen öden Felsenrücken und dem dazwischen liegenden Walde – da sank sein Mut bedeutend.

Und dann war es sonderbar, daß er, nachdem er die erste Viertelmeile hinter sich hatte, niemand begegnete. Von Pferden Menschen, Hunden sah er Spuren genug auf dem Wege; alle diese gingen mit ihm selber vorwärts, und die meisten waren frisch. Aber kein Mensch zu sehen, nicht einmal in den Gehöften; keinen Hund hörte er bellen, keinen Schornstein sah er rauchen; es war hier alles wie ausgestorben. An einer leeren Bucht nach der andern kam er vorüber; sie waren durch vorspringende Bergrücken getrennt, an deren beiden Seiten eine Bucht lag. Und in jeder Bucht ein oder mehrere Gehöfte und ein Fluß oder Bach; aber kein Mensch. Oft war nun schon der Junge eine Anhöhe hinaufgestiegen und auf ihr so weit vorwärts, daß er den Raum bis zur nächsten übersehen konnte, und hatte Ole auf dem Landwege nicht gesehen, überhaupt keinen Menschen. Da erkannte er, daß er hungrig und müde wohl bis ganz hinaus nach Groß-Tust werde marschieren müssen; das war fast eine Meile; da blieb er zu lange weg, der Vater würde es erfahren, und dann setzte es doch Arrest mit Verhör und Fluchen und Schläge, und vielleicht mischte sich auch der Rektor hinein, und dann wieder die alte Geschichte, . . . er war dem Weinen nahe. Der verdammte Andreas Heppe, o, seine lüsternen Fischaugen, das fette Lächeln bei allem, was ihm behagte, das kitzelnde Lachen, die lauernde Freundlichkeit, das Schwatzen, o, der Schurke! Hier mußte er nun mit schmerzenden Füßen, müde und verzweifelt, durch den Schmutz weiter stampfen. Das hatte also die entsetzliche Furcht von gestern abend zu bedeuten; das bedeutete sie!

Nein, nur nicht weinen und den Kopf hängen lassen, Junge! Du kommst schon noch einmal ans Ziel und Prügel hast du auch früher bekommen, tra-la-la! Er begann ein lustiges spanisches Lied zu singen und sang Vers für Vers, kam außer Atem und mußte langsamer gehen, erschrak aber, als er seine Stimme nicht mehr hörte. Deshalb ein neues Lied und wieder vorwärts, die ganze lange Senkung hindurch.

Auch da kein Mensch, aber von den Bauerhöfen aus Wagenspuren und Fußspuren von Erwachsenen und Kindern, von Pferden und Hunden; alle vorwärts gerichtet. War etwas los? Feuer? Auktion? Dann hätten sie wohl keine Wagen mitgenommen. Hatte irgendwo ein Bergsturz stattgefunden? Oder gestern ein großer Schiffbruch? Ja, ihm konnte es ganz einerlei sein. Als er gerade über den nächsten Bergrücken gehen wollte, der in den Fjord weit hinausragte, sah er zum erstenmale Oles Fußspur auf dem Hügel; hier war er am Straßenrande gegangen; die eisenbeschlagenen Absätze kannte er, ebenso die Flecken unter jedem Fuß. Die Spuren waren ganz frisch; nun war Ole nicht mehr weit entfernt! Das gab neuen Mut; er eilte vorwärts.

Hier stand dichter Tannenwald; es war still; als er beim Aufwärtssteigen aufhören mußte zu singen, wurde es ganz unheimlich. Je weiter er in den Wald hinein kam, um so dichter wurde er auch, der Schnee lag fester, Steine und Heidekraut guckten neugierig wie Tiere daraus hervor; und dann knallte es hier und schallte es da, und zuweilen schrie etwas; ein aufgescheuchter großer Vogel flog mit entsetzlichem Flügelschlage auf; der Junge suchte schweißtriefend Oles Fußtapsen, um sie nicht zu verlieren; der Schrecken von gestern befiel ihn sofort wieder. Wenn er nur drauf los springen könnte, wenn nur der Wald ein Ende nehmen wollte! In der unverantwortlich langen Stille nach dem Auffliegen des Vogels fühlte er schließlich, daß nur noch ein klein wenig dazu zu kommen brauchte, um ihn verrückt zu machen. Und durch diesen Hohlweg mußte er; – schon von weitem starrte er zwischen seine hohen schwarzen Wände hinein; sie sahen danach, aus, als könnten sie über ihm zusammenklappen; darüber hingen einige entsetzliche Bäume und guckten lauernd herunter. Als er endlich in den Hohlweg hineinging, war's ihm, als wär' er die feinste kleine Ameise im Walde; wenn nur alles so lange stille stand und nicht etwa sich einer von oben herunter beugen und ihm beim Kragen packen oder gerade vor ihm oder gerade hinter ihm sich fallen lassen oder ihn anblasen wollte. Er ging mit starren Augen wie ein Nachtwandler; krumm und verwittert durchfurchten die Tannenwurzeln die Lehmwand, und sie waren lebend; aber er that, als merkte er's nicht.

Vor ihm flog ein Vogel hoch oben in der Luft auf die Stadt zu, aus der er gekommen. Ach, wer doch auf ihm sitzen könnte! Deutlich sah er die Stadt, die Schiffe im Hafen; er hörte die friedlichen Gesänge der Matrosen, das Aufziehen der Anker und von den Brücken das Zuschlagen der Fässer, den fröhlichsten Lärm und Spektakel, die Kommandorufe – ja, er hörte wirklich die Kommandorufe und eine Dampfschiffspfeife und noch eine, eine tiefe, und Stimmen! Das waren Stimmen – und auch Pferdewiehern! Und Hundebellen! Und wieder Stimmen, viele Stimmen. Er war durch den Hohlweg gekommen, er war nur kurz gewesen, und zwischen den Bäumen erblickte er die See und Fahrzeuge – was war das? War er wieder nach der Stadt zurückgekommen? War er im Kreise gegangen? Nein, er war doch immer das Meer entlang gegangen. Er begann zu rennen, er kam wieder zur Besinnung. So war er doch immer gerade vorwärts gegangen? Ja, gewiß – und dort lichtet sich der Wald, die Bucht – ja, die hatte er schon einmal gesehen; an die Inseln erinnerte er sich auch; er war auf dem richtigen Wege; nun hatte er nicht mehr weit bis nach Groß-Tust! – Aber was wollen alle diese Boote? Was bedeutet dieser ewige, emsige Lärm? Fischzug! Hurrah, ein Fischzug! Er war mitten in einen Fischzug hineingeraten, Hurrah, Hurrah! Und kein Hunger mehr, keine Ermüdung, keine Furcht; in langen Sprüngen eilt der Junge vorwärts an den Strand hinunter.

Ein Netz war ans Land gezogen, eins aufgespannt, eins sollte gerade eingeholt werden. Alles Volk strömte herbei. Aber es war ja Samstag abend; deshalb galt es bis Sonntag, abend zu rasten und die gefangenen Fische auszunehmen. Er verstand es auf den ersten Blick.

Der Strand war voller Leute; nach dem Wege zu, auf dem Wege selber, auf den Feldern, überall Leute, immer mehr Leute. Und da standen Wagen und Schlitten nebeneinander, mit und ohne Fässer und Tonnen, die Pferde vor- oder ausgespannt, Hunde in Menge; überall Kinder, Lachen und Lärm. Draußen auf der Bucht Boote um das Netz herum, das eingeholt werden sollte, Ruhe und Spektakel, eine Vogelschar in der Luft, weit draußen, naseweis, schreiend, flügelschlagend.

Der Himmel verfinsterte sich, der Dampfschiffsrauch machte die Luft noch schwerer und drohend, die nackten Inseln paßten zu dem heraufziehenden Unwetter, sie sahen aus als wären sie eben emporgekommen; die bewaldete Insel, weit draußen, geheimnisvoll und einsam in den Regenschauer hineinragend; die Dampfer dampften und pfiffen um die Wette; sie waren Konkurrenten.

Die Männer stampften in Schneestiefeln herum, und trugen Öltuchzeug über der gewöhnlichen Kleidung; andere waren mehr bauernmäßig gekleidet in Frieswams und Pelzkappe. Die Frauen, die Tücher umgebunden oder eine Mannsjacke übergezogen hatten, arbeiteten mit den Männern um die Wette; der gewöhnliche, stille Umgangston war verschwunden.

Schon fielen vereinzelte schwere Regentropfen, dann mehr und mehr. Die meisten Gesichter, in die Eduard sah, waren ganz naß. Sie gafften ihn ordentlich an: ein schmächtiger Stadtjunge kam in das Treiben herein, leichtgekleidet, mit nassem Gesicht, atemlos, seine leichte Pelzkappe lag platt auf dem Kopfe.

Da sah er Ingebret Syvertsen vor sich, den langen, schwarzhaarigen Kerl, der mit seinem Vater handelte. Nun stand er da und akkordierte; hoch und mager, vom Kopf bis auf die Füße in Öltuchkleidern; er war wohl ordentlich mit dabei gewesen. »Guten Tag, Ingebret!« rief der Junge froh. Der lange Kerl mit seinem nassen Gesicht unter dem Südwester, einem großen herabhängenden Nasentropfen, mit dünnem schwarzen Bart und drei Zahnlücken im Oberkiefer erkannte ihn sofort und lachte; dann setzte er hinzu: »Dein Vater ist auswärts, Junge; er reitet heute.« – Zu gleicher Zeit sprach jemand Ingebret an; er wandte sich um, wurde ärgerlich und brauchte viele Worte, so daß es lange dauerte; als er sich wieder dem Jungen zuwenden wollte, sah er ihn draußen weit entfernt auf der Straße.

Eduard war vor lauter Schreck gelaufen – und erst draußen auf der Straße dachte er daran, daß er nun dem Vater gerade in die Arme liefe. Konnte er Groß-Tust erreichen, bevor der Vater ihm begegnete?

Aber was sollte er thun? Alle diese Menschen hatten ihn gesehen und sie gafften ihn ja derartig an, daß sie wohl auch danach fragen würden, wer er wäre, und wenn dann der Vater vorbeiritt, erfuhr er's auch. Da nützte es nicht viel, zu rennen. Es war ja gleichgiltig, ob es sogleich oder später Prügel setzte. Fast hätte er wieder zu singen angefangen; denn jetzt konnte es doch nicht schlimmer werden, als es war. Er setzte wirklich ein, und zwar begann er die Marseillaise auf französisch; die paßte ja für einen, der Prügeln entgegenlief – heisa! Aber er war noch nicht mit dem ersten Verse zu Ende, als ihn der Mut verließ; die Stimme versagte, er kam außer Takt und das Ganze bekam ein verändertes Aussehen. Ach, und dann wurde das Gehen so schwer; jetzt regnete es ordentlich. Der Gesang wurde von Strophe zu Strophe unsicherer, bis er ganz aufhörte. Die Gedanken des Knaben waren auf etwas verfallen, was er vor einiger Zeit in der Zeitung gelesen hatte, die Überschwemmung einer Kohlengrube in England. Die Menschen versuchten so schnell als möglich herauszukommen, und die Pferde hinter den Menschen her; dort unten konnten sie sich nicht selber helfen. Die armen Tiere! Ein Junge hatte sich gerettet, und er erzählte von einem Pferde, das hinter ihm herkeuchte; der Junge kletterte hinauf, und das Pferd konnte nicht mit . . . Eduard sah das Tier deutlich vor sich, den Kopf, die guten glänzenden Augen, hörte es schnauben und keuchen, und jedesmal wurde er geradezu krank. Ja, das hieß etwas, in solchem Entsetzen zu sterben! Und alles das sollte am jüngsten Tage wieder auferstehen! – Ja, was da wohl alles aus dem Eingeweide der Erde und den Gruben hervorkommen würde! Weshalb sollten die Tiere nicht auch mit dabei sein? Ja, die kamen wohl hervor und wieherten leise und klagten die Menschen an. Du großer Gott, das wurden Anklagen! Und so viele, – man denke sich, von der Erschaffung der Welt an! Und wo waren sie alle zu finden? Auf der Erde und darunter – ob wohl auch die, die im Meere lagen, auf dem Grunde der See? Und die, die wieder unter ihnen lagen; denn an vielen Stellen war Land gewesen, wo jetzt Meer ist. Ja!

Ach, wie hungrig er war! Und nun fror er: er konnte nicht länger schnell gehen, und er war sehr, sehr naß.

Es lag auch nicht gerade ein Grund vor, sich vorwärts zu sehnen. Er kannte die neue Reitpeitsche so gut; er hatte die alte selber aus der Welt expediert; hätte er freilich gewußt, daß die neue noch schlimmer werden würde, dann hätte er wohl die alte noch ein paar Jahr länger leben lassen. Nun kam auch der Nagelwurm hinzu und die Finger wurden so steif. Und die Füße! Ja, es hatte wirklich keinen Sinn, an sie zu denken; denn dann wurde es mit ihnen gleich schlimmer; wie das in den Stiefeln platschte! Er machte sich das Vergnügen, die Füße kreuzweise voreinander zu stellen; er wankte von rechts nach links, von links nach rechts; aber er wurde müde davon. Es ging langsamer und langsamer, wurde mühevoller und mühevoller; nun sollte er eine Anhöhe hinauf. War das nicht die letzte? Lag nicht in der nächsten Niederung Groß-Tust? Gleich um Fuße der Anhöhe? War das wirklich die Tust-Niederung? Vielleicht konnte er hinkommen, bevor der Vater kam? Es war doch ein großer Gewinn, Aufschub zu erlangen. Das verdiente es wohl, daß man sich beeilte. – In den Jungen kam neues Leben: frisch drauf los!

Der Vater war auch nicht bloß streng; er war auch so gut. Besonders wenn Josefine für ihn ein gutes Wort einlegen wollte; das würde sie schon thun, wenn Ole zurückkehrte; dann machte sie schon mit. Sie sollte auch versuchen, den Apotheker zu gewinnen! Er war furchtbar gut, der Apotheker, und es war immer das beste, nicht allein zu stehen. Herrgott, gab es nicht noch mehrere . . . . . .

Da kam der rote Pferdekopf oben auf der Anhöhe zum Vorschein! Die großen Strohschuhe, die der Vater jetzt zur Winterzeit als Steigbügel benutzte, standen zu beiden Seiten des Fuchses wie die Tatzen eines Raubtiers ab; der Knabe stand starr.

Der Fuchs guckte aus dem schweren spanischen Geschirr heraus auf den Knaben: er traute seinen eigenen klugen Augen nicht. Ebenso ging es dem Vater; denn der runde Kopf in der grauen Wollmütze kam länger und länger über den Pferdehals, bis er sich mit beiden Händen auf den Sattelknopf stützen mußte; – war dieser madennasse Junge mit dem Pelzklex auf dem Kopfe – der dort mitten auf der Straße bleich und erschrocken wie ein Gespenst dastand – war das der Junge, der jetzt zu Hause sitzen und seine Aufgaben lernen sollte, bevor er sich rühren durfte? Samstag nachmittags? In solchem Wetter, bei solchem Weg und so leicht gekleidet hier draußen auf der Anhöhe vor Groß-Tust? Und zwar ohne Erlaubnis?

»Zum Teufel, was machst du da?«

Das Pferd hielt; sein warmer Atem erfüllte die Luft rings um den Jungen und hüllte ihn zusammen mit dem abscheulichen Schweißgeruch in Nebel. Eduard konnte sich nicht rühren, wagte nicht zu antworten. Er starrte bloß durch den Nebel blöde und dumm zu seinem Vater empor; zuletzt verlor er alle Gedanken.

Sofort stieg der Vater ab, und die Zügel nm den linken Arm, die Peitsche in der rechten Hand stand er bald vor ihm. »Was giebt's? he? Woher kommst du? – zum Kuckuck, kannst du nicht antworten?«

Eduard glitt mechanisch weiter und weiter zurück; der Vater hinter ihm her – und ebenso mechanisch erhob der Junge seinen rechten Arm, um das Gesicht zu schützen; den linken hielt er abwehrend vor sich hin. »Wo willst du hin?« – »Zu Ole Tust.« – »Wozu? He? Ist Ole Tust zu Hause? He?« – »Ja.« – »Was willst du dort?« – »Ich will – ich will« – »He?« – »ihn um Verzeihung bitten.« – »Um Verzeihung? Nun? Nun? He?« Der Vater erhob die Peitsche. Der Junge beeilte sich: »Er will nicht mehr in die Schule kommen.« – »Nun? – Habt ihn geärgert? He? Du vor allem? He?« – »Ja.« – »Deine Schuld. Wie? He?« Er kreischte. – »Ich erfuhr –« er stockte. – »He?« – »– daß er – daß er – –« Der Junge begann zu weinen. – »He?« – ». . . daß er den Kranken hilft.« – »Hast es gesagt? He? Geklatscht? He?« Eduard wagte nicht zu antworten; und da setzte es Peitschenschläge; beide Arme des Jungen gingen im Takt mit der Peitsche auf- und abwärts, unsicher, wohin sie sollten. Er wich immer weiter zurück. – »Steh still« kreischte es. Anstatt dessen sprang der Junge mit einem Satze bis unmittelbar an den Rand des Grabens. Zornig erhob der Vater die Peitsche; das Pferd hinter ihm bekam, ohne daß er es wußte, einen ordentlichen Ruck und zog so heftig, daß der Vater bald umgestürzt wäre. Eduard war es unmöglich, dem komischen Reiz dieser erlösenden Situation zu widerstehen; er brach in lautes Gelächter aus. Aber er erschrak sofort darüber, als er es hörte, sprang über den Graben und lief in den Wald hinein. Sobald er sich gewandt hatte, konnte er nicht mehr an sich halten; er mußte wieder lachen und verstand es mit nichts besserem zu verdecken, als damit, daß er laut zu heulen begann.

Die Verachtung des Vaters gegen den Jungen war grenzenlos. Er selber wurde davon kaltblütig, brachte das Pferd zum Stehen und stieg auf. »Komm nun!« sagte er ruhig und zeigte mit der Peitsche nach Groß-Tust. – Der Junge dachte: weitere Abrechnung folgt, wenn wir weitergekommen sind.

Er gehorchte natürlich und kam schnell – aber er blieb in gehörigem Abstand vom Pferde. Und diesen Abstand hielt er dann unverändert ein; das Pferd schritt schnell aus, so daß es nicht leicht war.

Dieser graue Mann auf dem roten Pferde jagte nun den Sohn unbarmherzig durch den Schneeschlamm vor sich her, trotzdem die Füße das Jungen wundgelaufen waren – das konnte man am Auftreten sehen – und trotzdem er verfrorene Hände hatte, – er steckte sie zuweilen in den Mund – und trotzdem er bis auf die Haut durchnäßt sein mußte; die Pelzmütze klebte am Kopfe wie ein Waschlappen. Der graue Mann selber saß trocken in den wasserdichten, warmen Kleidern, die Peitsche in der Hand, mitten im Gesicht die scharfgeschnittene Nase und daneben zwei glänzende Augen. Wenn jemand den Aufzug sah, so konnte er nicht ahnen, daß dieser strenge Herr keinen höhern Wunsch hatte, als den Jungen zu lieben, den er vor sich hertrieb.

Um aber einen lieben zu können, muß er sein, wie wir wollen – nicht wahr? Und wenn nun der Junge das nicht wollte? Und wenn Kallem an Mißgeschick nicht gewöhnt war? Der Tod seiner Frau war das erste ernstliche Mißgeschick, das ihn getroffen hatte, und das trat nur kurze Zeit vor dem andern mit dem Jungen ein. Bis dahin hatten alle im Ausland gelebt. Kallem still mit seiner Frau, seinem Geschäft, seinem Sport und mit seinen schweigsamen Büchern (er war nämlich ein eifriger Leser) und niemals war er gestört oder geplagt worden. Das Geschäft besorgte der Bruder seiner Frau; es ging ausgezeichnet; das Haus besorgte seine Frau auch ausgezeichnet. Alles ging ohne Störung, ohne Furcht, durchaus so wie es sein sollte – bis die Frau starb.

Aber dann!

Weder er noch andere konnten im Anfang die unerwartete Veränderung, die mit ihm vorging, verstehen; einige meinten, der Verlust der Frau hätte ihn verrückt gemacht; er selber meinte, die spanische Luft wäre für ihn zu warm; er mußte fort, er wollte nach Hause. Der Geschäftsführer stimmte sofort bei; es war nämlich eine ausgezeichnete Spekulation, das Hauptgeschäft nach Norwegen zu verlegen und in Spanien eine Filiale zu halten. So brachen sie denn auf – es war wohl jetzt ein Jahr her.

Aber der Junge, der ihn in Spanien das erste Mal dazu gebracht hatte, sich zu übereilen – übrigens auch zum zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten male; immer war's der Junge – er brachte ihn leider auch in Norwegen aus dem Geleise. Im warmen wie im kalten Lande war der Junge in gleicher Weise abstoßend.

Bald kamen auch aus der Schule Klagen über ihn; dann auch aus der Apotheke, wo sie bei Kallems altem Freunde zur Miete wohnten; dann vom Hof, dann von den Nachbarn, von den Brücken. Vielleicht hörten auch andere Eltern Klage über ihre Kinder; vielleicht waren die Leute in dieser Gegend überhaupt mit einer Klage schnell bei der Hand; davon wußte Kallem nichts, denn er lebte einsam und abgeschlossen. Dagegen wußte er, daß sein Sohn der am meisten begabte Junge auf der Schule war; das versicherte ihm der eine Lehrer nach dem andern; er wußte im übrigen auch, daß dem Sohne nichts fehlte, weder ein gutes Herz noch ein guter Wille; er war nur so gleichgültig und selbstzufrieden, wollte sich mokieren, wollte in alles, was ihn nicht anging, seine Nase stecken, war zu gleicher Zeit dreist und feig, so schändlich spöttisch, so grenzenlos unartig. Er konnte die Engel des Himmels um ihre Geduld bringen, und nun vollends Kallem, der keine hatte.

Dieser dünne, geschmeidige Hallunke, der nun mit feigen Seitenblicken auf das Pferd und die Peitsche vor ihm herhinkte, hatte Unfrieden in das Haus seines Vaters gebracht. Nicht bloß hatte er ihn in seinem Innersten unsicher gemacht, sondern ihn zuweilen seine Ohnmacht bis zur Hilflosigkeit fühlen lassen; dann hatte er geradezu Lust, den Jungen in Stücke zu schlagen.

Dann konnte er ihn vornehmen, drohen und betteln. In dieser letzten Sturmnacht hatte er ihn ordentlich gehütet; mit den eindringlichsten Worten die schändliche Angst des Knaben zu bannen gesucht, ihn ermahnt, durch Erzählungen aus der Naturgeschichte ihn darüber aufgeklärt, daß alle Prophezeiungen vom Weltuntergang Erfindung und Lüge wären – der Junge antwortete immer ja, ja – und glaubte kein Wort von all dem, was ihm der Vater sagte. Sobald als es losbrach, war er wie verrückt; – hinaus und davon in der jämmerlichsten Angst.

Und heute trifft er ihn hier auf offener Landstraße, eine Meile von der Stadt entfernt, in Regen und Wind und Schmutz – natürlich ohne Erlaubnis. Erst verunglimpft er den besten Knaben in der Schule, einen kleinen Burschen, über den sich Kallem oft gefreut und den er mit geringen Geldbeiträgen bei seiner kleinen Mission unterstützt hatte, wenn Josefine ihm davon erzählte; – und obendrein . . .

»Sieh da! Geht er nicht, beim Satan, hin und lacht!« dachte er, that aber, als ob er's nicht merkte.

Was gab es? Ja, das Pferd hinter ihm, mit dem Mann auf dem Rücken, der immer »beim Satan« rief, mit der Peitsche und den gleichmäßigen schweren Tritten in dem Schneeschmutz: tapp – tapp, tapp – tapp, tapp – tapp – das wuchs allmählich so maßlos, wuchs, bis es ein formloses, großes, verzerrtes Ungeheuer wurde . . . Der Knabe beeilte sich, an etwas anderes zu denken! Er stürzte in die englische Steinkohlengrube, die sich mit Wasser füllte, und fand das Pferd, das hinter dem Jungen herkeuchte. Nein, er kam nicht in die Grube: nur die helle Landstraße und »tapp – tapp, tapp – tapp« und »beim Satan« und die Peitsche und dann er selber vornweg auf anderthalb Beinen, hi hi–i–i!

»He?« kreischte es hinter ihm.

Der Laut lief dem Jungen den Rücken hinunter wie ein scharfes Stück Eis. Bald sah man Groß-Tust.

Es lag am Fuße der Anhöhe, die sie hinab mußten. Es waren viele Häuser, die meisten in einem Viereck um den Hof gelagert. Auf der andern Seite lärmte der Bach mit Mühle und Sägewerk; die Inseln draußen und die Landspitzen zu beiden Seiten schlossen die Bucht so vollständig ab, daß die See still wie ein Teich mit Eis in den Ecken dalag. Am Strande lagen eine Reihe von Schuppen für Bote Seite an Seite. Bei allen Höfen Obstgärten, teilweise recht umfängliche.

Aus dem Hauptgebäude von Groß-Tust stieg Rauch auf – endlich! Dort kochte die Mutter für Ole Mittagbrot. Und das Hungergefühl und der Kummer wurden in dem Knaben wach. Der Gedanke an eine warme Stube und trockene Kleider und die Erinnerung an seine eigene Mutter und ihr Heim in Spanien brachte ihn beinahe wieder zum Weinen; aber dann dachte er, daß der Vater wieder sagen würde: »Beim Satan, nun heult er!« Und da bezwang er sich.

Furchtsam blickte er nach dem Hofe.

Das Hauptgebäude lag mit der Langseite nach dem Garten zu und war ein rot angestrichener, zweistöckiger Holzbau mit weißen Fensterrahmen. Sie bogen aufwärts, der Knabe immer voran, der Vater hinterher.

An der Giebelseite vorbei kamen sie auf den Hof; gegenüber lagen die Ställe für das Vieh unter einem Dach; diese Gebäude waren ganz neu und bildeten mit der Scheune einen rechten Winkel. Ihnen gegenüber lag der Holzschuppen mit mehreren andern Gebäuden. Auf dem Hof stand eine Schar Ziegen, die an Tannenholz knapperten, umgeben von einer ungeheuren Menge von Sperlingen; die Versammlung fand unmittelbar vor der Scheune statt.

Da erblickten die Ziegen die Ankömmlinge; sie hoben die Köpfe und reckten alle auf einmal die Hälse, die Augen gespannt, die Ohren gespitzt, steif, den letzten Bissen unbeweglich im Munde, aufs äußerste neugierig. Nur der Bock kaute weiter, während er sie schwerfällig, gleichgültig ansah.

Zwischen der Giebelseite des Hauptgebäudes und dem Stall hielt der Vater still und stieg ab. Der Junge war schon auf dem Hofe und begaffte das Scheunendach, das aufgebrochen war und nun in stand gesetzt wurde; aber Arbeiter waren nicht zu sehen. Wahrscheinlich waren sie kurz zuvor nach dem Fischzug gegangen; die Leiter stand noch angelehnt. »Warte!« rief der Vater, und der Junge blieb stehen und wandte sich um; der Vater war damit beschäftigt, den Fuchs an einen der Schleifsteine, die an der Giebelseite des Hauptgebäudes lehnten, festzubinden; der Junge sah zu. »So ruhig wie er jetzt geworden ist,« dachte der Vater, kam dann herzu und machte mit der Peitsche ein Zeichen; der Junge sollte vorangehen, auf die große Steinfliese zu am Eingang gerade vor dem Hause. Und das that er. Er ging an einem Schlitten vorbei, der dort stand; er entdeckte zwei Kätzchen, die durch das Gitterwerk hindurch miteinander spielten, die eine drinnen, die andere draußen. Die Fenster, an denen sie vorbeigingen, lagen so niedrig, daß sie quer durch die Kammer, die auch auf der andern Seite Fenster hatte, und dann quer durch die Stube sehen konnten. Dort saß Ole in einem weißen, bis auf die Füße reichenden Hemde vor dem Herde und hatte die Beine hochgezogen; die Mutter stand daneben, über einige Töpfe gebeugt. Eduard hatte keine Zeit, mehr zu sehen. Er ging über die Steinfliese in den Korridor, und dort schlug ihm ein herber Fischgeruch, alter und frischer, entgegen, sowie Geruch von noch etwas, was er nicht sofort erkannte; der Vater zeigte weiter vorwärts nach rechts; auch links war eine Thür, eine feingemalte mit Messingklinke; dorthin sollte er nicht. Nein, dachte der Junge, so viel wußte ich nun auch, daß wir dort hinein müssen, wo Leute sind, und nicht in das kalte Gastzimmer! Er legte seine steifen Finger auf die Klinke und drückte.

Der Herd war in der Ecke links gleich neben der Thür, und es kann wohl sein, daß die beiden Augen machten. Die Mutter war ziemlich groß und hatte ein feines Gesicht; sie trug eine schwarze Haube; ihr blondes, mit Wasser gekämmtes Haar hing an den Wangen herunter und machte ihr Gesicht lang; sie ging von ihren Töpfen weg und den Ankömmlingen, die sie beide kannte, entgegen. Das Gesicht war ernst, aber freundlich; sie war etwas furchtsam oder vielleicht unsicher; die Augen schweiften anfangs ruhelos von dem einen zu dem andern. Oles Stiefel standen am Herd; aber seine Kleider, sein Hemd und die Strümpfe waren darüber rundherum an einen von den vielen Stäben zum Trocknen gehängt, die von dem einen Dachbalken zu dem andern reichten; auf den andern lag Holz und andere Sachen zum Trocknen. Ringsum standen Gerätschaften und Tassen, wie es an Wochentagen zu sein pflegt.

Die Stube war nicht gemalt, aber mit Holz bekleidet; unter den Fenstern zu beiden Seiten liefen rot angestrichene Bänke entlang. In der Ecke links auf der andern Seite des Fensters stand ein Tisch mit einem Bücherschrank darüber; zu Ende des Tisches gleich neben der Kammerthür hing die Schlaguhr; sie ging so gleichmäßig und ruhig, als wäre in dem Zimmer noch niemals Unfriede gewesen. Draußen sah Eduard die Kätzchen im Schlitten; das eine fuhr mit der Pfote heraus, das andere hinein. Und dann sah er Oles Gesicht unmittelbar vor sich; Ole lächelte, denn ihm war auch bange. Aber die Töpfe! Verhungert und verschmachtet wie Eduard war, wurden die Töpfe das beste für ihn. In dem einen, kleinen waren Kartoffeln, er stand unten und war fertig. Aber zwei Töpfe hingen noch über dem Feuer; war vielleicht in dem einen Fisch? Aber in dem andern –?

Die Mutter stand verlegen da und wußte nicht, was geschehen sollte, denn der barsche Mann und der Sohn blieben dort stehen. Gerade als sie sie bitten wollte, sich niederzusetzen oder etwas Ähnliches sagen wollte, fing der Vater an. Sie wisse wohl, was geschehen sei; – he? Nun käme der Junge her, um Verzeihung zu bitten und seine Strafe zu bekommen; das wäre notwendig; denn er wäre ein schlechter Junge, bei dem gute Worte nichts ausrichteten, bloß Prügel.

»Ach – hat es so viel auf sich?« sagte die Mutter mild, sie war ganz furchtsam und Ole wurde so bleich wie sein Hemd. – »Ja, er soll seine Prügel haben! – Erst um Verzeihung gebeten! Sofort sage ich!« – Ole fing an zu weinen, Eduard nicht. Ole konnte nicht still sitzen, stand auf und sah die Mutter an; »liebe –!« sagte er; er konnte nicht weiter. Aber es war deutlich, daß er meinte, sie solle vermitteln.

»Bitte um Verzeihung!« kreischte es; die Peitsche wurde unruhig. – »Aber Mutter!« schrie Ole. Eduard mußte nun vortreten; Ole hatte sich abgewandt; er wollte nichts mehr davon sehen; er war an so etwas nicht gewöhnt. Eduard wich aus, der Vater hinterher, daß die Sporen klirrten. Eduard lief in seiner Angst auf Oles Mutter zu mit ausgestreckter Hand; sie ergriff sie nicht; aber Ole begann aus vollem Halse zu schreien. So großes Mitgefühl war für den armen Eduard zu viel; er brüllte los, während er rund um die Mutter herum lief. Es wurde ein solcher Lärm, daß die Ziegen wieder mit Kauen aufhörten, hereinglotzten und lauschten; die Sperlinge, die auch zurückgekommen waren, flogen husch über das Dach.

Und was geschieht? Die Sperlinge zeigten dem Jungen den Weg. In rasendem Galopp war er an dem Vater vorbei und zur Thür hinaus, die hinter ihm weit offen stehen blieb; sie sehen die Ziegen nach allen Seiten auseinander fahren und den Jungen die Leiter aufs Dach hinaufklettern; sobald er dort war, fing er an, die Leiter nachzuziehen. – »Da sehen Sie ihn! Da sehen Sie ihn!« schrie der Vater vom Fenster aus; »he? –.« Und fort.

Sobald als der Sohn ihn kommen sah, ließ er die Leiter fahren, so daß sie krachend herunterfiel. Der Junge lief wie eine Katze die Balken bis zum First hinauf, sah sich um und balancierte, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getrieben. Jetzt fühlte er keine Schmerzen in den Füßen.

Der Schreck des Vaters war ungeheuer: »Paß auf, sage ich dir; aber so paß doch auf. paß auf! Willst du dort weg und zwar sofort! Willst du wieder herunterkommen, du Schlingel!« Er lief unten auf dem Hofe in seinen Reitstiefeln und drohte hinauf.

»Nein, das glaubst du selber nicht! Nun spring' ich gleich auf den Hof hinunter!«

»Rasender Junge, beim Satan! Willst du es bleiben lassen!« – »Ja, willst du es denn bleiben lassen, mich zu schlagen?« – »Das verspreche ich nicht.« – »Das versprichst du also nicht?« und der Junge stieg höher hinauf. – »Doch, doch! Ach, du Spitzbube, du Lump!« – »Du hast es also versprochen?« – »Ja, ich hab's versprochen. Willst du wieder herunter!« – »Auch nicht an den Haaren ziehen, gar nichts thun!« – »Herunter! Du kannst ja dort fallen!« – »Auch nicht an den Haaren ziehen, nicht schlagen, gar nichts thun!« – »Ja, ja, ja. Komm nur herunter. Siehst du, da gleitest du ja aus! Eduard! Hörst du!« Er schrie. – »Ja, hältst du auch dein Versprechen?« – »Du verdientest etwas!« Er drohte mit der Peitsche hinauf. »Ja, ja, ich verspreche es! Paß auf!« Aber der Junge sagte: »Darf ich bis morgen hier bleiben? Mit Ole zusammen? Darf ich?« – »Ich antworte nichts mehr, bevor du nicht herunterkommst.« – »So, das thust du nicht, so, so, –!« – »O du Dummkopf, du elender Schlingel!« – »Ja, du gehst darauf ein?« – »Ja, zum Kuckuck. Aber so geh doch wenigstens vom äußersten Rande weg. Teufelsjunge!« »Hör, – es wäre sicherlich das beste, Vater, wenn du zuerst fortgingst.« – »Nein, dazu bringst du mich nicht. Nie und nimmer. Erst will ich dich unten sehen!« Das gefiel dem Jungen auch. Der Vater lehnte die Leiter an, und der Junge kam langsam herunter; doch nicht eher, als bis der Vater ein Stück zurückgetreten war. Und er hielt sich in der Entfernung, trotzdem der Vater mit ihm sprechen wollte und ihm versicherte, daß er ihm nichts Böses thun wollte. Er ging auch nicht ins Haus, so lange der Vater da blieb, und naß wie er war, zwang er damit den Vater, zu gehen.

Fünf, sechs Minuten später lagen beide Jungen auf der Diele und strampelten, Eduard in einem gleich großen Hemd wie Ole und im übrigen gleich nackt; jeder sollte sein Paar dicke Wollstrümpfe anziehen. Es waren solche, wie sie die Bauern tragen, die weit hinauf bis an die Schenkel reichen. Sie hielten es für das bequemste, das Anziehen auf dem sandbestreuten Fußboden zu versuchen. Dort pufften sie einander rücklings um und lachten, als wenn das, was wir eben miterlebt haben, schon vor vielen Tagen geschehen wäre. Alles, was Eduard vormachte, machte Ole nach; sie lachten so sehr, daß schließlich auch die stille Mutter mitlachen mußte; es war nämlich unglaublich, was dem Eduard alles einfiel. Die Strümpfe mußten sie anziehen, um am Tische sitzen zu können, ohne zu frieren; dort war kein Herd für die Beine. Und dann wurden sie denn so weit fertig, daß sie endlich aufstehen konnten. Nun zeigte es sich, was das andere Gericht war; es war Rahmbrei; Eduard hatte ihn noch nicht gegessen. Ole sollte etwas fröhlicher werden, als er bei seinem Kommen war, deshalb hatte die Mutter das zugegeben. Eduard klatschte in die Hände und lachte das Essen an.

Aber auf einmal saß Ole ernst und still da. Was nun? Die Hände gefaltet, die Augen niedergeschlagen? Da stand die Mutter vor ihnen; – auch sie ernst, die Hände gefaltet, die Augen niedergeschlagen. Das Gesicht war gebeugt, es glitt gleichsam weiter und weiter weg, oder es war, als würden Laden vorgeschoben und in der Stube alles Licht ausgelöscht. Und dann begann sie weit, weit weg mit einem langen, langen Tischgebet; in einförmigem, leisem Tone, als wenn sie mit einem andern spräche, der anderwärts war, nicht hier. Eduard fühlte sich wie ausgestoßen. Das Gefühl der Verlassenheit, der Angst kam über ihn, die alten Bilder, die alte Sehnsucht nach der Mutter. – Dann war es fort, wie ein Nebel zusammengerollt, der am Gebirge heruntersank.

Eduard war niemals vorher bei einem Tischgebet zugegen gewesen und ihre Art und ihr Wesen war ihm ganz und gar neu, und er verstand sie nicht, wenn sie so murmelte; er saß noch lange still. Ole sprach auch nicht; die ganze Zeit, während sie aßen, war er einsilbig und lächelte beinahe nicht. Das Essen war Gottes Gabe; deshalb mußte Ernst herrschen.

Aber so aßen sie denn mit Ernst! Zuletzt fragte die Mutter, ob sie es nicht für das beste hielten, etwas davon bis auf den Abend aufzuheben. Nein, meinten sie, das wäre ja gleichzeitig Abendbrot. Sie sollten zusammen in der Altenteilstube liegen, die als Gastzimmer verwandt wurde; dort war alles zurechtgelegt; und jetzt wollten sie ein Stündchen vor dem Ofen sitzen, dann aber ins Bett gehen.

Die Mutter erkannte, daß ihnen das Alleinsein am besten behagte und sie bekamen Gelegenheit dazu.

Und dann später in der Schlafstube! Erst der entsetzlichste Lärm; die Pelzdecken und Deckbetten flogen um sie herum; – dann wurde es allmählich ruhiger und endlich kam es zu einem Gespräch. Ole erzählte, wie die Jungen sich benommen hatten und Eduard versprach, den und jenen Jungen für ihn durchzuhauen – ja, wenn's nötig wäre, auch Andreas Heppe selber; – wenn er nicht mit »Gottes Wegen« und dergleichen still sein wollte, so wollte ihn Eduard tüchtig verhauen. Andreas Heppe wäre feig. Er wüßte schon, wen er zur Hilfe holen sollte; das reine Kinderspiel!

Als sie müder wurden, kam die Sentimentalität. Ole sprach von Josefine, Eduard ging auf den Ton ein und versicherte ihm, sie wäre heute unvergleichlich gewesen; er beschrieb sie, wie sie ihm nachruderte. Und Ole fand das groß, ja, an Josefine war etwas Großes; darüber wurden sie einig.

Eduard konnte nicht verstehen, weswegen Ole Missionar werden wollte. Was hätte denn das für Nutzen, wenn man auf wilde Abenteuer hinausreisen wollte, wo doch hier im Lande genug zu thun war? Ole sollte Pastor werden und er Arzt, und beide sollten in derselben Stadt wohnen. War das nicht besser?

Eduard malte das weiter aus; sie sollten Nachbarn sein und oft zusammenkommen, besonders abends zu einem Glas Punsch, wie jetzt der Vater und der Apotheker, und wie diese zusammen Schach spielen. Dann sollten sie sich einen ordentlichen Wagen kaufen und jeder sein Pferd vorspannen und zusammen ausfahren; das wäre gemütlicher. Oder sie konnten am Ufer wohnen und ein großes Bot gemeinsam haben; – alles gemeinsam.

Ole war es, als ob Josefine immer dabei wäre, wenn es Eduard auch nicht sagte. Aber es war deutlich, daß sie dabei war. Und Ole fand das so fein an Eduard und war ihm so ungeheuer dankbar; und das bestimmte ihn. Josefine Pastorsfrau, die auf dem Hofe alles besorgte –.

Ja, zuletzt ging er darauf ein; es wurde bestimmt, daß der eine Pastor, der andere Arzt werden und daß sie zusammen wohnen sollten. Gemeinsame Botfahrten, um zu fischen, war das letzte, wovon sie sprachen.

Sie hörten noch unbestimmt die Schritte und Reden der vom Fischzug Heimkehrenden, aber sie waren so müde.



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