Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.

Am nächsten Morgen weckte sie ein lautes, anhaltendes Lärmen. Als sie völlig wach geworden, wurde es ihnen klar, daß die Glocken zum Kirchgang läuteten; sie hatten lange geschlafen, aber auch bis gegen 3 Uhr, d. h. bis in den hellen Morgen hinein gearbeitet.

Im Nu war Kallem aus dem Bette heraus und in das anstoßende Badezimmer hinein, wo er ein ordentliches Douchebad nahm; dafür hatte der alte Arzt doch Sinn gehabt. Und kaum war er halb angezogen, da lief er schon auf den Altan hinaus, um die Aussicht zu genießen. Er rief zurück, Ragni solle auch ein Bad nehmen, dann sich ankleiden und herauskommen und sehen; aber sie hat gestern gemerkt, wie gräßlich kalt das Wasser war und lag mit weit geöffneten Augen da und überlegte, ob sie sich herumdrücken oder es wirklich wagen sollte. Sie wählte das erste und stand daher bald in einem reizenden Morgenkleide an seiner Seite. Aber so unschuldig sie ihn auch ansah und so eifrig sie auch die herrliche Aussicht, den wundervollen Tag lobte – er vergaß doch das Bad nicht. Sie hatte gestern feierlich versprochen, es vom ersten Morgen an zu nehmen; so leicht wie sie sich erkältete, mußte sie es sich zur täglichen Regel machen, und besonders hier, wo Wärme und Kälte so schnell miteinander wechselten. Also –! Sie nahm die erbärmlichste Miene an, sie versuchte es wegzuscherzen; – aber er zeigte nach dem Badezimmer: wollte sie ihr Gelübde brechen? That sie es einmal, so geschah es später oftmals. Sie küßte ihn und sagte, er wäre böse; er küßte sie und sagte, sie wäre süß; aber die Douche! Da ging sie hinein und knöpfte das Kleid auf, als wollte sie unter die Douche gehen, aber schwupp – lag sie in ihrem Bett. Als er kam, zog sie die Decke über den Kopf; aber er faßte ohne weiteres Decke und Inhalt, und trug sie nach der Thür; da bat sie rührend um Gnade, und ihre Worte klangen so furchtsam, daß er mit Decke und Inhalt zurückging. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich nieder; sie küßte und flüsterte, und an ihrem warmen Leibe zerschellte die Logik.

Es läutete und läutete; Wagen kamen vorbei, in der Richtung von der Stadt weg. Kaum war der eine vorbei, so kam der andere. Die Thür stand offen; so oft die Glocken der bekannten drei Schläge wegen aussetzten, hörten sie das Summen der Fliegen im Zimmer und draußen die Vögel. Da vernahmen sie auch draußen auf dem See das Getöse eines kleinen Dampfers; sie hatten ihn, vermutlich mit Vergnügungsreisenden an Bord, vom andern Ufer herüberfahren sehen. Es mußte irgendwo ein Fest gefeiert werden, zu dem die Leute strömten.

Aus Südwesten wehte ein leichter Wind; und bei jedem Windstoß zog Wohlgeruch in die Kammer; er strömte förmlich von den Bäumen und Wiesen herein. Es flüsterte und wisperte in das Läuten hinein; die Luft war still.

Etwas später standen sie wieder draußen auf dem Altan und sahen die Leute zur Kirche gehen; aber immer wieder zogen Wagen, vollgestopft mit Leuten, an der Kirche vorüber und weiter hinauf. Der Dampfer kam ganz nahe; nun pfiff es auch vom Bahnhof her. Sie bemerkten beide zwei Schwalben, die vor der Veranda offenbar mit ihrem eignen Schatten über dem Sande spielten. Sie flogen über- und nebeneinander vorbei; die Schatten auf dem Sande machten die Schwingungen nach; die Vögel waren ihnen nahe und dann wieder etwas höher oben; wenn sie zu hoch geflogen und die Schatten verschwanden, senkten sie sich und fanden sie wieder. Sie sagte flüsternd, nächstes Jahr müßten sie Brutkästen aufstellen.

Sie kleideten sich völlig an, gingen hinunter und frühstückten. Sören Pedersen und seine Frau waren längst gekommen und hatten längst gegessen; sie waren in voller Arbeit.

Nun erfuhren sie, daß alle Leute in den Nachbarsprengel zogen, da der Bezirkspfarrer Meek sein fünfzigjähriges Jubiläum feierte und die Abschiedspredigt hielt. Den ganzen Morgen waren die Fußgänger unterwegs gewesen; nun kamen die Wagen. Meek war alle diese fünfzig Jahre bei derselben Gemeinde thätig – »ein ganz lieber Mann.«

Kallem und Ragni aßen in dem großen Zimmer; aber ihr Frühstück wurde unterbrochen. Es klopfte und herein kam lächelnd und bescheiden ein älterer magerer Mann mit Hornbrille; es war Doktor Kent, der zeitweilige Leiter des Krankenhauses. Von dort kam er jetzt. Sie standen beide auf. Er hatte eine gemütliche leise Stimme und lächelte freundlich zu seinen Worten. Er setzte sich etwas abseits, während sie weiter aßen und gab einige kurze Aufklärungen über die Kranken in der Anstalt und über den Gesundheitszustand in der Stadt und auf dem Lande. Auf Befragen erteilte er bündigen Bescheid über die Beamten, die Kallem als die Wortführer in Stadt und Gemeinde besuchen müßte und über die Mitglieder des Amtsgerichts, deren Bekanntschaft wünschenswert sei. Sogar das rein Geschäftsmäßige wurde in Doktor Kents Munde angenehm. Als sein leichter Wagen vorfuhr – er mußte zu einem Krankenbesuche aufs Land – bat Kallem, mitfahren zu dürfen. Aber sofort schloß sich Ragni der Bitte an, und so mußten sie einen größern Wagen leihen und saßen bald alle drei darin. Als sie fahren wollten, erinnerte sich Ragni daran, daß der Flügel etwas gestimmt werden müsse und fragte Sören Pedersen, ob er einen kenne, der ihn, wenigstens vorläufig, stimmen könnte. »Ja, Kristen Larsen.« – Während der Fahrt gab Kent über Kristen Larsen Auskunft. Er erzählte, er wäre oben in einem der entlegensten, elendesten Dörfer geboren und hätte wegen irgend einer Kleinigkeit mit dem Gericht zu thun gehabt – Kent glaubte sich zu erinnern, daß es deswegen gewesen, weil er einen Tanz, den er spielte, »die Vergebung der Sünden« genannt habe. Kristen Larsen war Erfinder; eine jetzt ganz allgemein verbreitete Strickmaschine und verschiedene Werkzeugsgerätschaften stammten von ihm. Er war ein kalter Mann – kalt wie Eisen im Winter. Sören Pedersen und seine Frau waren sein einziger Umgang. Wer nun diese wären? – Ihre Antecedentien kenne er nicht; sie stamme aus der hiesigen Gegend, er von Fünen. Beides tüchtige Arbeiter; aber bald wußten die Leute, daß sie tranken. Der Pastor versuchte dem abzuhelfen; er hatte sie liebgewonnen, als sie bei ihm in seinem neuen Hause arbeiteten. Merkwürdigerweise glückte es; sie hörten nicht bloß auf zu trinken, sondern Sören Pedersen wurde auch ein überaus eifriger Mäßigkeitsfreund und sehr gottesfürchtig; schließlich wußte er die Bibel auswendig. Buchstäblich wahr, er wußte sie auswendig! Er erzählte selber oft, wie es sein größtes Vergnügen wäre, wenn Aase ihm zuhörte, und in kleinern Versammlungen trug er ganze Kapitel der Bibel aus dem Kopfe vor, während die Leute dasaßen und aufpaßten. Der Pastor meldete ihn in einer Bibelschule an, und er hatte selber keinen höhern Wunsch als den, dorthin zu kommen; aber er wollte Aase mit haben. Als man darin nicht nachgab, verzichtete er auf die Bibelschule und wurde an allem unsicher. Nun traf er den Tausendkünstler Kristen Larsen, der sich gerade damals hier niederließ. Kristen Larsen hatte von der großen Gedächtniskraft Sören Pedersens gehört und versuchte hinter den Mechanismus derselben zu kommen. Aber den gäbe es gar nicht, sagte Sören Pedersen; das Ganze wäre ein Gnadengeschenk Gottes; denn Gott wäre nichts unmöglich. »Das steht im Matthäus,« antwortete Kristen Larsen, »aber im Buch der Richter steht, daß der Herr mit Juda war, aber Juda den Feind nicht aus dem Thale vertreiben konnte, da der Feind eiserne Wagen hatte?« Der ehrliche Sören Pedersen erschrak arg darüber, daß der Gott der Juden die eisernen Wagen nicht besiegte. – »In ein und demselben Buch Mosis steht,« fuhr Kristen Larsen fort, »›du sollst nicht töten,‹ steht aber auch, daß der Herr geradezu befahl, zu töten. Also liegen Widersprüche vor.« Das war Sören Pedersen ganz neu, trotzdem er die ganze Bibel auswendig wußte. Er wollte erfahren, wie das zusammenhinge, und verlangte nun in jeder frommen Versammlung Auskunft. Schließlich hatte er mindestens hundert Widersprüche, nach denen er fragte; es war nicht mehr zum aushalten. Die einen lachten wie besessen; die andern fühlten sich beleidigt. Endlich wurden er und Aase von den Zusammenkünften ausgeschlossen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen erzählen darf,« sagte Doktor Kent, »daß Ihr Schwager Sören Pedersen und seine Frau Aase eigenhändig aus dem Bethause hinausgeworfen hat! Sie wären früher als alle andern gekommen und wollten nicht gehen. Ihr Schwager ist sehr stark; aber Sören Pedersen hielt sich fest, bis der Pastor darauf verfiel, Aase zuerst vorzunehmen, und da rissen sie sich um sie, als wäre sie ein Scheit Holz.« Kallem und Ragni lachten laut auf. »Ich habe selber einen Zusammenstoß mit erlebt,« sagte Doktor Kent. »In der Schule hielt der Pastor Kirchenexamen; ich sitze mit in der Schulkommission. Sören Pedersen und Aase waren zur Stelle und alle ahnten nichts Gutes. »Gott kann nicht lügen,« sagte der Pastor. Da stand Sören Pedersen auf und sagte: »Es steht geschrieben, daß der Herr den Propheten einen lügnerischen Geist einflößte.« Wieder mußte Sören Pedersen hinaus.

Die Landschaft, die sie unter diesen schnurrigen Geschichten durchfuhren, war eine hochgelegene, frühlingshelle Ebene, die von größern oder kleinen Stücken Waldes durchzogen wurde – oder umgekehrt ein Wald, den angebaute Wiesen durchzogen. Die Gehöfte waren stattlich, die Felder fruchtbar; der Weg führte abwechselnd durch Wald, über Felder, über Hügel und in Windungen über Bäche. Steinhaufen, wo man's am allerwenigsten erwartete; Stege und Wege kreuz und quer. Wer von den Prärien Amerikas und den Ebenen Mitteleuropas herkam, der mußte an all der Unruhe seine helle Freude haben. Derselbe funkelnde Sonnenschein wie gestern, derselbe kräftige Duft von Wiese und Wald – und die Blumenpracht und der Vogelfang; – da rief der Kukuk!

Es war kurz vor dem Johannisfest und die Flora dementsprechend; Ragni freute sich über den Reichtum derselben. Von allen Fächern war Botanik ihr das liebste und der Gegensatz zwischen der Flora, die sie studiert hatte, und dieser hier interessierte sie lebhaft. Sie fragte, ob Berberitze und Acklei in vielen Gegenden Norwegens wild wüchse. Doktor Kent meinte, sie müßten schon lange, lange eingeführt sein; vielleicht von den Mönchen des Klosters dort unten.

Als sie wieder von der Wiese her in einen kleinen Streifen Wald, besonders Tannenwald, hineinkamen, sah sie zum drittenmale die Linnäa; da hielt sie es nicht länger im Wagen aus; sie stiegen alle aus.

Die Linnäa hatte gerade angefangen, ihre glockenförmigen, hellroten Blüten zu öffnen; ihr würziger Duft durchzog den Wald. Ragni kam mit ihr sofort ins Gespräch; wenn sie nur jetzt allein sein könnte; – sie hatten einander sechs Jahre lang nicht gesehen, oder da sie im Frühjahr gereist war, sechs ein halb Jahre lang. Sie pflückte eine Blume und nahm sie an sich. Sie sah auch die pyrola uniflora wehmütig gebeugt und einsam dastehen. Kallem hatte dieselbe Pflanze gefunden; sie fragte, wie sie auf norwegisch hieße. Er fragte Kent, ob sie nicht Leuchter des heiligen Olaf genannt werde, – fragte wie ein Apotheker und bekam Antwort aus einem Herbarium. Ragni suchte immer weiter und weiter von ihnen entfernt. Der Duft, der ihr aus der Blume entgegenströmte, als sie sie an sich nahm, veranlaßte sie, noch weiter vorzudringen; sie war gesandt worden, um sie hineinzulocken. Also tiefer hinein, aber auch ein wenig seitwärts – von den andern weg. Sie hörte sie plaudern; im Walde hört man ja so weit; sie hörte ein paar aufgescheuchte Vögel. Aber hier waren ihre Schritte auf dem Waldboden das einzige Geräusch. Nur eine Sauerkleepflanze fand sie in Blüte, die aus all ihren kleeartigen Blättern verstimmt herausblickte; – wußte sie, daß sie ihr Gefolge verloren hatte?

»Weiter vorwärts,« sagten alle; ja, dort hinein zogen sie die Linnäen und die heiligen Leuchter des Waldes und der Sauerklee; der letzte stand nur deswegen so weit entfernt. Und nun war Ragni bei den Siebensternen in großer Familienversammlung; alle warteten auf sie. Hier war in diesem Jahre kein Fuß gegangen. Ragni kniete zwischen ihnen nieder und erzählte, daß sie weit, weit hergekommen sei, ja, erzählte es ohne Worte; das war zwischen ihnen nicht nötig. Nun hatte sie Thür nach Thür aufgeschlossen, um nach Norwegen hereinzukommen; sobald sie die eine geöffnet, lag noch eine davor . . ., bis sie jetzt unter ihnen stand. Sobald sie die Linnäen erblickte, wußte sie, daß sie an der letzten Thür stand. Hier war das Innerste. Alles dieses Große. Gefährlich draußen auf dem Meere, all dieses Starke und Harte, dieses Bunte und Geschäftige, all diese Herrlichkeit und dieser Schreck . . . sie zeigten tiefer hinein: hier hinein müssen wir, um zu verstehen, daß nicht alles in tausend Stücke zerbricht. Hier sitzen, die das Steuer führen.

»Wir haben auch auf dich gewartet. Hier ist das tiefste Geheimnis.« – »Ach, sagt es mir!« – »Sei gut!« – »Ja. das ist das einzige, wozu ich wirklich Anlage habe. Aber wenn nun die andern nicht –?« – »Laß die andern sein, wie sie wollen; aber du sollst gut sein.«

Nun verstand sie, da sie in das tiefste Innere gedrungen war. Nun verstand sie, was das Stärkste war. –

»Ragni,« rief Kallem aus weiter Ferne; der Wald hallte von seiner klaren Stimme wider. »Ja!« Eines von der Familie wollte mit, sie nahm es zu sich empor.

Dann eilte sie wieder auf den Weg zu. Am Waldrand stand eine actes, um ihr den Weg hinüberzuweisen. Nun wollte sie mit. Und gerade am Wege stand ein Dickicht und darunter, wohl verborgen, eine ganze Gesellschaft Maiblümchen; wo hatte sie ihre Augen gehabt? Sie wußten, woher sie jetzt kam; auch sie waren als Wächter aufgestellt, um ihr den Weg ins Innere zu zeigen. Sobald sie einander sahen, verstanden sie sich; das ist so bei Verwandten. Einige wollten mit.

Kallem rief: »Ragni!« Sie antwortete: »Ja, ja!« und kam auf die Straße heraus: da sah sie, wie weit sie zurück war. Die beiden Männer standen am Wagen und unterhielten sich; sie waren ganz oben auf der Anhöhe. Die schlanke Gestalt Kallems und die kleine schmächtige des Doktors hoben sich scharf ab. Beide hatten die Hände voll. Sie kam eilig heran und hörte Kallem von weitem Vortrag halten über einen jungen Sturmhut, den er in der Hand hielt; er gab in deutscher Sprache die begeisterten Worte eines deutschen Botanikers über diese prächtige Giftblume wieder, die er in Norwegen gefunden hatte. Doktor Kent überreichte ihr liebenswürdig eine polygala amara; er wußte, daß für sie, die eben von Amerika kam, die blaue Blume neu war. Sie dankte herzlich. Sie stiegen in den Wagen und begannen sofort ihren Fund zu ordnen und baten sie, sich auszusuchen. Sie kamen von einem kleinen Moor; Kent hatte sich die Spitze einer Moortanne ins Knopfloch gesteckt. Sie hatten alles mitgenommen, sogar die Schmeerwurz. »Das Raubtier,« sagte Ragni; »sie wollte sie nicht haben. – »Du bist in allem Ästhetiker,« bemerkte Kallem. Sie warf ihm einen freundlichen Blick zu, so würzig etwa wie der Duft ihrer Linnäen. »Bemerken Sie, daß wir ganz allein auf diesem Wege sind?« fragte Doktor Kent. Er erzählte, daß alle zu dem alten Meek in die Kirche gegangen seien, um seine Abschiedspredigt zu hören; zwanzig Jahre alt, wäre er bei seinem Vater, wie es damals Sitte, Kaplan geworden und hätte nach ihm das Amt geerbt. Nun war er 70 Jahre alt und wollte mit seiner Enkelin – eine Reise ins Ausland unternehmen! Also ein rüstiger Herr? – Ja, und gesunde Lebensweise; immer zu Fuß und immer unterwegs. Er wäre hier der Mittler. – Der Mittler? – Ja, jeder Bezirk habe ja seinen Makler zwischen Wissenschaft und Praxis. Von ihm sei viel Gutes für diesen Bezirk ausgegangen, und dadurch für die andern. – »Er ist also beliebt?« – »Der beliebteste Mann im Umkreis.« – »Wie ist er denn auf der Kanzel?« – »Da hat er nun 50 Jahr lang gestanden und Geschichten erzählt. Darüber wurde seiner Zeit gespottet; einige fanden es sogar profan; aber jetzt ahmen es mehrere nach.« – »Was sind denn das für Geschichten?« – Die letzte Geschichte, die Doktor Kent gehört hatte, handelte von einer Frau, die 30 Jahre lang in Saint Louis in Amerika im Gefängnis gesessen hatte und 70 Jahre alt aber der unbotmäßigste Gefangene war. Da sollten die Gefangenen in ein anderes Haus ziehen, dessen Vorsteherin eine Frau, eine Quäkerin, war. Die Alte wollte sich nicht fortschaffen lassen; sie setzte sich mit aller Kraft zur Wehr und mußte gebunden und auf einem Stuhle fortgetragen werden. Als sie mit ihr ankamen, stand die Vorsteherin des Gefängnisses in der Thür und nahm das rasende Weib in Empfang. »Laßt sie los!« sagte sie. – »Aber wird das angehen?« – »Laßt sie los!« Man that es. Sobald die Alte frei war, beugte sich ihre neue Oberin über sie, umarmte sie und gab ihr den Willkommenkuß, als wäre sie ihre Schwester. Da fiel die alte Frau vor ihr aufs Knie und fragte: »Kannst du wirklich glauben, daß an mir etwas Gutes ist?« Seitdem gehorchte sie ihr.

Nun stiegen Kallem und Kent aus; sie bogen nach einem Bauerhof ab, der ein Stück vom Wege entfernt lag. Dort sprang vor dem Söller ein schwarzer Hund auf; er sah den Wagen an und bellte, aber nur ein paarmal; dann ging er ihnen einige Schritte entgegen, schnupperte sie an, lief zurück und legte sich wieder. Sonst war niemand zu sehen. Der Junge wandte die Pferde und fuhr beiseite. Die beiden Ärzte gingen zu dem Alten hinein, Ragni auf dem Hofe auf und ab. Durch das Fenster sah sie einen alten Mann im Bett liegen und seine Alte neben ihm sitzen; sie sang mit zitternder Stimme für den Kranken und fuhr selbst dann fort, als sich die Thür hinter ihr öffnete.

Ragni sah sich auf dem Hofe um; sie setzte sich auf die Treppe vor dem Vorratshause.

Nichts kann unser Inneres so zur Ruhe bringen, als ein Bauernhof ohne Arbeiter. Nicht der Wald; denn da ist immer Bewegung, mag man nun lauschen oder Umschau halten; nicht das ruhige Meer; denn es kommt nie völlig zur Ruhe; nicht die Wiese; denn dort wimmelt es von Leben. Und so ist es überall sonst. Aber in einem abgeschlossenen Bauerhof, wo die Hühnerschar pickt und gackert und dich sicher macht und dort der Hund liegt, und die Katze ein paar Schritte geht, steht und wieder ein paar Schritte geht, der Pflug neben der Egge lehnt, die Schleifsteine trocken stehen und die Wagen mit herabhängender Deichsel, die Tischglocke stumm dahängt, – alles, was ging, ruht hier wie du, und was sich noch bewegt, vermehrt den Frieden. Wenn du weit weg das Schwein stehen und wühlen siehst, so ist es ganz mit sich selber beschäftigt; wenn das Pferd nagt und die Fliegen wegwedelt, so ist es sein Behagen; wenn die kleinen Vögel kommen und grüßen, so giebt das die Sorglosigkeit, die zu allem Frieden gehört.

Mitten in die Ruhe hinein drang die Angst, die ihr seit der Begegnung mit Josefine anhing. Klagte in ihrem eigenen Gewissen sie etwas an? Nein, und tausendmal nein! – Nicht einmal die Kinder ihrer Schwester? – Nein, in diesen Verhältnissen hätte sie nicht einmal für sie leben können. Was sonst? Was hatte sie gethan? Ihn geliebt, weshalb sollte sie das nicht thun?

Die Stille war weg; sie ging hinter die Gebäude und fand dort zwei Arten orobus, nicht weit von einander entfernt, erst draußen auf der Wiese die Vogelerbse und dann noch eine im Dickicht: aber auf ihren Namen konnte sie sich nicht besinnen. Als sie zurückging, fand sie einen prächtigen Hahnenkamm und eine dritte Art Veilchen: zwei andere hatten ihr die Männer gegeben. War das eine Flora! Sieh da! die reizendste veronica; ach, die Krone fiel ab: aber da ist eine neue: die hält. Später hörte sie, daß in dieser Gegend die spröde Blume auch Männertreue hieße.

Wieder auf dem Hofe! Durch die Fenster sah sie, wie Kallem mit dem Ohr über der Brust des kranken Alten lag. Bald kam Doktor Kent heraus und mit ihm die Frau: er schrie, aber sie war fast taub. Kallem stand dort so hoch in der Thür und nun kam er auf sie zu. Wie sie ihn liebte!

*

Nachmittags saßen sie zusammen in dem nach Südosten gelegenen Arbeitszimmer des Doktors: bis auf die Bücher waren sie nun in Ordnung. Sören Pedersen kam mit seiner Frau Aase vom Vorsaal durch das Speisezimmer herein; er mit pfiffigem Gesicht, sie verschüchtert. Der Pastor nebst Frau wären eben zum Thor hereingekommen!

Kallem sah, wie Ragni erbleichte. Da die andern zugegen waren, begnügte er sich, ruhig zu. sagen: »Nur herein!« – ging dann in die große Stube und von dort auf den Vorsaal, um sie zu empfangen.

Die Begegnung war steif. Der Pastor bat, die Besuchszeit entschuldigen zu wollen; ihm passe es so am besten, er käme aus der Abendkirche. Eigentlich wollten sie nur fragen, ob Schwager und Schwägerin bei ihnen zu Abend essen wollten. Sonntags ist ein Geistlicher gewöhnlich erst abends sein eigner Herr. – Die Stimme hatte etwas von dem feierlichen Predigerton und sein Gesicht und Wesen einen Abglanz von der Kirche. Josefine stand da und sah sich um, und dazu ging der Pastor auch bald über.

Er fand es »heimlich« hier; der Flügel war »ein prächtiges Stück«. Während sie ihn betrachteten, sprach Josefine, sich rasch Ragni zuwendend, ihre ersten Worte: »Sie spielen ja so schön?« – »Oh –.« – »Können Sie uns nicht etwas vorspielen?« Der Pastor fügte hinzu: »Bitte, thun Sie das!«

Ragni sah zu ihrem Mann auf – wie ein Ertrinkender nach Hilfe ausschaut. »Ragni muß in Stimmung sein, um spielen zu können,« sagte er. »Sie ist natürlich müde,« entschuldigte der Pastor; sie setzten sich. Kallem und der Pastor einander gegenüber, Josefine seitwärts; Ragni setzte sich nicht.

»Ihr müßt natürlich beide müde sein,« fuhr der Pastor fort; »ihr seid ja so lange unterwegs gewesen und habt jetzt euch hier eingerichtet; ich hörte von Doktor Kent, ihr wäret beinahe fertig?« – Ja, das wären sie; aber sie hätten auch an Sören Pedersen und Aase, seiner Frau, eine ausgezeichnete Hilfe. Ragni befürchtete, daß diese noch im Speisezimmer sein könnten und ging eilig dort hinein; nein, sie waren weg; sie waren auch nicht im Zimmer des Doktors.

Das Gesicht des Pastors hatte einen eigentümlichen väterlichen Ausdruck bekommen. Wir mußten Sören Pedersen und seine Frau zur Arbeit nehmen, da die andern, die wir sonst nehmen, nicht zu bekommen waren. Aber sie verdienen es eigentlich nicht, daß man ihnen Arbeit giebt.« – »So?« – »Geschickt sind sie ja; aber sie vertrinken alles, was sie verdienen, und bleiben tagelang von der Arbeit weg; so auch hier. Sie geben großes Ärgernis in der Gemeinde.« – »Alle Wetter!« Ragni strich dicht an Kallem vorbei und mit der Hand über seinen Kopf; sie that, als hole sie etwas vom Flügel. Der Pastor ließ sich durch den leichtfertigen Ton des Doktors nicht abschrecken. »Wir haben alles mögliche für sie beide zu thun versucht – sie trinkt nämlich genau wie er. Ihr würdet euch wundern, wenn ihr hörtet, wie gut die Leute gegen sie gewesen sind. Alles vergebens und schlimmer als vergebens. – Ja, ich will auf die Geschichte nicht tiefer eingehen.« Er sah seine Frau an, die in ihrem dicht anschließenden Kleide stark und undurchdringlich dasaß, tadellos, wie aus einem Stück gegossen vom Scheitel bis zur Sohle. Sie sah mit ihren Augen, ohne bestimmt zu sehen, wie sie es eingeübt hatte. Kallem wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie angeschrien. Aber Ragni stand weiter zurück, von den andern nicht gesehen, aber ihm gerade gegenüber.

»Das ist doch häßlich,« sagte er, »daß der alte Doktor unmittelbar neben das Krankenhaus ein anderes gebaut hat. Daß man fremde Leute so nahe auf dem Nacken haben soll!« – »Ja, der Alte baute es für seinen Schwager. Und nun ist der auch tot.« – »Ich höre es; könnte ich noch mehr Geld in Häuser stecken, so würde ich es kaufen, trotzdem ich seiner nicht bedarf.« Josefine wandte sich ein wenig, zweifellos um zu sehen, ob Ragni dort stand. »Ich glaube nicht, daß es käuflich ist,« sagte sie, »ich kenne die Erben.« Ein Weilchen war es still.

Der Pastor schlug ein neues Thema an; denselben Vormittag hätte er im Morgenblatt einen Artikel gelesen über die Unsicherheit, die in Amerika in allen Verhältnissen herrschte. Er sprach wie ein Sachverständiger und immer zu seiner Frau. Sah er eine andere Person an – wie jetzt Ragni, die ja aus Amerika kam – so war das vorübergehend; er wandte sich bald wieder seiner Frau zu.

Pastor Tust war ein stattlicher, hübscher Mann, seitdem eine gewisse Wohlbeleibtheit den knochigen Untergrund des Gesichts gefüllt hatte; die Stimme war frisch und die Melanchthon-Augen strahlten wirklich in seine Worte hinein. Seine Worte und sein Auftreten waren meist überredend; aber man fühlte die Kraft hinter der Milde.

Ganz unerwartet machte Josefine eine aufwärtsgehende Bewegung mit dem Kopfe. »Ja, es ist natürlich Zeit zu gehen!« sagte er und stand auf; »ich vergesse mich ganz. – Na – ihr kommt mit?« – Josefine stand auf; ebenso Kallem. Aber dieser hatte auch eine Frau, die Blicke warf, graue und sanftmütige. »Danke, wir sind müde. Ein andermal.«

Und damit geleiteten sie die beiden hinaus. Kallem ging ans Fenster und sah ihnen nach, wie sie hoch und stattlich weggingen. Bald hatten sie die Kirche als Hintergrund; alle Vorübergehenden grüßten ehrerbietig. Er stand noch, als sie schon nicht mehr zu sehen waren. Dann ging er ein paarmal durch die Stube und wandte sich plötzlich um. »Ach, hol mir Sören Pedersen und Aase!« – und dann ging er selber. Aber sie waren nicht zu finden; Sigrid erzählte, sie seien gegangen, sobald als Pastors gekommen wären. »Nun, paß auf, nun betrinken sie sich! Ach, spring ihnen nach und lade sie ein, heute mit uns zu Abend zu essen. Sag, daß wir allein sind.« Das Mädchen lief fort; Kallem rief ihr nach: »Laß nicht locker, ob sie nun wollen oder nicht!« –

»Hören Sie nun, Sattlermeister!« sagte der Doktor, als sie beide wieder in dem großen Zimmer standen, sie hinter ihrem Manne: »Hören Sie –, der Pastor sagt, Sie trinken, Pedersen; Sie wie Ihre Frau, und er kann Sie nicht davon abbringen?« – »Da sagt der Pastor die Wahrheit.« – »Aber das ist eine böse Krankheit, Pedersen.« – »O ja – hinterher.« – »Wollen Sie es mir überlassen, Sie zu kurieren?« – »Ihi, recht gern, Herr Doktor! – aber im Ernste: es wird lange dauern!« – »Zwei Minuten.« – »Zwei Minuten?« Er lächelte. Aber bevor das Lächeln vorüber war, hatte ihn Kallem in der Gewalt seiner Augen, die einen mächtigen, verwirrenden Ausdruck annehmen konnten. Der Sattler wechselte die Farbe und wich zurück. Der Doktor hinterher; er hieß ihn sich setzen. Das that er sofort. »Sehen Sie mich an!« Aase wurde es fast schlimm. »Setzen Sie sich auch!« sagte der Doktor zu ihr herüber, und sie wurde gleichsam auf einen Stuhl geblasen. Der Arzt hatte sofort erkannt, wen er vor sich hatte; es dauerte nicht zwei Minuten, bis Sören Pedersen hypnotisiert war und ebenso Frau Aase, trotzdem diese nur zugesehen hatte. Der Doktor befahl ihnen, wieder ihre Augen zu öffnen: beide thaten es sofort. »Hören Sie nun, Sören Pedersen! Von jetzt ab hören Sie auf, Branntwein oder Spiritus in irgendwelcher Form zu trinken; auch keinen Wein, kein starkes Bier – einen – einen Monat lang. Hören Sie! Wenn der Monat vorbei ist – jetzt ist es halb sieben – denn kommen Sie pünktlich mit der Minute hierher!«

»Und Sie auch, Aase. So oft er trinken will, schreien Sie. Und hinterher singt ihr beide.« – »Aber wir können nicht singen.« – »Ihr singt trotzdem!«



 << zurück weiter >>