Otto Fürst von Bismarck
Gedanken und Erinnerungen - Zweiter Band
Otto Fürst von Bismarck

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Einunddreißigstes Kapitel.

Der Staatsrath.

Der durch das Gesetz vom 20. März 1817 gestiftete Staatsrath war bestimmt, den absoluten König zu berathen. An dessen Stelle ist heut zu Tage der verfassungsmäßig von seinen Ministern berathne König getreten und dadurch das Staatsministerium in den durch die Vorberathung des Staatsraths aufzuklärenden regirenden Factor, den früher der König allein darstellte, mit aufgenommen. Die Berathung des Staatsraths ist heut zu Tage informatorisch nicht nur für den König, sondern auch für die verantwortlichen Minister; seine Reactivirung im Jahre 1852 hatte den Zweck, nicht nur die königlichen Entschließungen, sondern auch die Vota der Staatsminister vorzubereiten.

Die Vorbereitung der Gesetzentwürfe durch das Staatsministerium ist unvollkommen. Ein vortragender Rath ist im Stande, das Schicksal eines Gesetzes festzulegen bis zu der Veröffentlichung, indem er alle Einwirkungen auf den Inhalt, die von dem Staatsministerium oder in den verschiednen Stadien der parlamentarischen Berathung versucht werden, an der Außenseite des Entwurfs abgleiten läßt, wenn der Gegenstand schwierig und die Zahl der Paragraphen groß ist. Schon im Staatsministerium beherrscht der Ressortminister nicht immer den Stoff, den ihm seine betreffenden Räthe in Gestalt eines Gesetzentwurfs mit Motiven vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen Minister Zeit und Mühe darauf, sich mit Inhalt und Tragweite eines neuen Gesetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Ressort eingreifen. Ist das aber der Fall, so regt sich das Unabhängigkeitsgefühl und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten ministeriellen Staaten und jeder Rath in seiner Sphäre beseelt ist. Die Wirkung eines beabsichtigten Gesetzes auf das praktische Leben im Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Ressortminister nicht im Stande sein, wenn er selbst ein einseitiges Product der Bürokratie ist, noch viel weniger aber seine Collegen. Diejenigen unter ihnen, die das Bewußtsein haben, nicht nur Ressortminister, sondern Staatsminister mit solidarischer Verantwortlichkeit für die Gesammtpolitik zu sein, machen nicht fünf Procent derer aus, welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen beschränken sich auf das Bestreben, ihr Ressort einwandfrei zu verwalten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminister und dem Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentarische Angriffe auf ihr Ressort mit Beredsamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die in der königlichen Unterschrift und der parlamentarischen Bewilligung liegen, sind ausreichend, um daneben die Frage, ob die Sache an sich vernünftig sei, vor einem bürokratisch-ministeriellen Gewissen nicht zur Entscheidung kommen zu lassen. Einreden eines Collegen, dessen Ressort nicht direct betheiligt ist, erregen die Empfindlichkeit des Ressortministers, und diese wird in der Regel geschont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne Anträge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnrung, daß die Erörtrungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit schärfrer Anstrengung des eignen Urtheils und größrer Regsamkeit des Gewissens geführt worden sind als die Ministerberathungen, die ich mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage gewesen bin.

Ich halte auch die Voraussetzung für trügerisch, daß ein ungeschickter Gesetzentwurf des Ministeriums im Landtage sachlich genügend richtig gestellt werden wird. Er kann und wird hoffentlich in der Regel abgelehnt werden; ist aber die Frage, die er betrifft, dringend, so liegt die Gefahr vor, daß auch ministerieller Unsinn glatt durch die parlamentarischen Stadien geht, namentlich wenn es dem Verfasser gelingt, den einen oder andern einflußreichen oder beredten Freund für sein Erzeugniß zu gewinnen. Abgeordnete, die einen Gesetzentwurf von mehr als hundert Paragraphen zu lesen sich die Mühe geben oder mit Verständniß zu lesen vermöchten, sind bei der Ueberzahl studirter Leute aus der Justiz und der Verwaltung wohl vorhanden, aber die Lust und das Pflichtgefühl zur Arbeit haben nur wenige, und diese sind vertheilt unter einander bekämpfende Fractionen und Parteibestrebungen, deren Tendenzen es ihnen erschweren, sachlich zu urtheilen. Die meisten Abgeordneten lesen und prüfen nicht, sondern fragen die für eigne Zwecke arbeitenden und redenden Fractionsführer, wann sie in die Sitzung kommen und wie sie stimmen sollen. Das Alles ist aus der menschlichen Natur erklärlich, und niemand ist darüber zu tadeln, daß er nicht aus seiner Haut hinaus kann; nur darf man sich darüber nicht täuschen, daß es ein bedenklicher Irrthum ist, anzunehmen, daß unsern Gesetzen heut zu Tage die Prüfung und vorbereitende Arbeit zu Theil werde, deren sie bedürfen, oder auch nur die, welche sie vor 1848 genossen.

Ein Denkmal seiner Flüchtigkeit hat sich der Reichstag von 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bunds gesetzt, das in die Verfassung des Deutschen Reichs übergegangen ist. Der einem Beschlusse des Frankfurter Bundestags nachgebildete Artikel 68 des Entwurfs zählte fünf Verbrechen auf, die, wenn sie gegen den Bund begangen werden, so bestraft werden sollen, als wenn sie gegen einen einzelnen Bundesstaat begangen wären. Die fünfte Nummer war mit »endlich« eingeführt. Der wegen seiner Gründlichkeit gerühmte Twesten stellte den Verbesserungsantrag, die drei ersten Nummern zu streichen, hatte aber offenbar den zu verbessernden Artikel nicht zu Ende gelesen und das »endlich« stehn lassen. Sein Antrag wurde angenommen und in allen Stadien der Berathung beibehalten, und so hat denn der Artikel (jetzt 74) die sonderbare Fassung:

Jedes Unternehmen gegen die Existenz, die Integrität, die Sicherheit oder die Verfassung des Deutschen Reichs, endlich die Beleidigung des Bundesraths, des Reichstags u. s. w.

Vor 1848 war man beflissen, das Richtige und Vernünftige zu finden, heut genügt die Majorität und die königliche Unterschrift. Ich kann nur bedauern, daß die Mitwirkung weitrer Kreise zur Vorbereitung der Gesetze, wie sie im Staatsrath und im Volkswirthschaftsrath gegeben war, gegenüber ministerieller oder monarchischer Ungeduld nicht hinreichend hat zur Geltung gebracht werden können. Ich habe, wenn ich Muße fand, mich mit diesen Problemen zu beschäftigen, zu meinen Collegen gelegentlich den Wunsch geäußert, daß sie ihre legislatorische Thätigkeit damit beginnen möchten, die Entwürfe zu veröffentlichen, der publicistischen Kritik preis zu geben, möglichst viele sachkundige und an der Frage interessirte Kreise, also Staatsrath, Volkswirthschaftsrath, nach Umständen die Provinziallandtage zu hören, und alsdann erst die Berathung im Staatsministerium möchten eintreten lassen. Das Zurückdrängen des Staatsrats und ähnlicher Berathungskörper schreibe ich hauptsächlich der Eifersucht zu, mit der diese unzünftigen Rathgeber in öffentlichen Angelegenheiten von den zünftigen Räthen und von den Parlamenten betrachtet werden, zugleich aber auch dem Unbehagen, mit dem die ministerielle Machtvollkommenheit innerhalb des eignen Ressorts auf das Mitreden Andrer blickt.

Die ersten Staatsrathssitzungen, denen ich nach seiner Wiedereinberufung 1884 unter dem Vorsitz des Kronprinzen Friedrich Wilhelm beiwohnte, machten nicht nur mir, sondern, wie ich glaube, allen Theilnehmern einen geschäftlich günstigen Eindruck. Der Prinz hörte die Vorträge an, ohne ein Bedürfniß, die Vortragenden zu beeinflussen, zu erkennen zu geben. Bemerkenswerth war, daß die Vorträge zweier ehemaligen Gardes du Corps-Offiziere, von Zedlitz-Trützschler, späterem Oberpräsidenten in Posen und Cultusminister, und von Minnigerode, einen solchen Eindruck machten, daß der Kronprinz im Sinne der Versammlung verfuhr, indem er die beiden Herrn später zu Referenten bestellte, obschon die theoretisch sachkundigsten Vorträge ohne Zweifel von den anwesenden sachgelehrten Professoren gehalten waren. Die Einwirkung, die dadurch frühern Gardeoffizieren auf die Gestaltung von Gesetzvorlagen zufiel, befestigte mich in der Ueberzeugung, daß die rein und nur ministerielle Prüfung von Entwürfen nicht der richtige Weg ist, um die Gefahr zu vermeiden, daß unpraktische, schädliche und gefährliche Vorlagen in sprachlich unvollkommner Fassung ihren Weg aus den Niederschriften der legislativen Liebhabereien eines einzelnen vortragenden Rathes, unbeirrt oder doch ohne ausreichende Richtigstellung durch alle Stadien des Staatsministeriums, der Parlamente und des Cabinets bis in die Gesetzsammlung finden und dann bis zu etwaiger Abhülfe einen Theil der Last bilden, die sich wie eine Krankheit schleichend fortschleppt.


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