Otto Fürst von Bismarck
Gedanken und Erinnerungen - Zweiter Band
Otto Fürst von Bismarck

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Versailles.

I.

Die Verstimmung gegen mich, welche die höhern militärischen Kreise aus dem östreichischen Kriege mitgebracht hatten, dauerte während des französischen fort, gepflegt nicht von Moltke und Roon, aber von den »Halbgöttern«, wie man damals die höhern Generalstabsoffiziere nannte. Sie machte sich im Feldzuge für mich und meine Beamten bis in das Gebiet der Naturalverpflegung und Einquartirung fühlbar.Vgl. Schreiben Bismarck's an Roon vom 10. Aug. 1870 bei Poschinger, Bismarck-Portefeuille II 189 f. Sie würde noch weiter gegangen sein, wenn sie nicht in der sich immer gleichbleibenden, weltmännischen Höflichkeit des Grafen Moltke ein Correctiv gefunden hätte. Roon war im Felde nicht in der Lage, mir als Freund und College Beistand zu leisten; er bedurfte im Gegentheil schließlich in Versailles meines Beistands, um im Kreise des Königs seine militärischen Ueberzeugungen geltend zu machen.

Schon bei der Abreise nach Köln erfuhr ich durch einen Zufall, daß beim Ausbruch des Kriegs der Plan festgestellt war, mich von den militärischen Berathungen auszuschließen. Ich konnte das aus einem Gespräch des Generals von Podbielski mit Roon entnehmen, dessen unfreiwilliger Ohrenzeuge ich dadurch wurde, daß es in einem Nebencoupé stattfand, dessen Scheidewand von einer breiten Oeffnung über mir durchbrochen war. Der Erstre äußerte laut seine Befriedigung, etwa in dem Sinne: »Diesmal ist also dafür gesorgt, daß uns dergleichen nicht wieder passirt.« Bevor der Zug sich in Bewegung setzte, hörte ich genug, um zu verstehn, welches »damals« im Gegensatz gegen diesmal der General im Sinne hatte, nämlich meine Betheiligung an militärischen Berathungen in dem böhmischen Feldzuge und besonders die Aendrung der Marschrichtung auf Preßburg anstatt auf Wien.

Die durch diese Reden gekennzeichnete Verabredung wurde mir praktisch wahrnehmbar; ich wurde nicht nur zu den militärischen Berathungen nicht zugezogen, wie 1866 geschehn war, sondern es galt mir gegenüber strenge Geheimhaltung aller militärischen Maßregeln und Absichten als Regel. Dieses Ergebniß der unsern amtlichen Kreisen innewohnenden Rivalität der Ressorts war ein so augenfälliger Schaden für die Geschäftsführung, daß der in Angelegenheiten des Rothen Kreuzes im Hauptquartier anwesende Graf Eberhard Stolberg bei der freundschaftlichen Intimität, in der ich mit diesem, leider zu früh verstorbenen Patrioten stand, den König auf die Unzuträglichkeiten der Ausschließung seines verantwortlichen politischen Rathgebers aufmerksam machte. Nach dem Zeugnisse des Grafen hatte Se. Majestät darauf erwidert: »Ich sei in dem böhmischen Kriege in der Regel zu dem Kriegsrathe zugezogen worden, und es sei dabei vorgekommen, daß ich im Widerspruche mit der Majorität den Nagel auf den Kopf getroffen hätte; daß das den andern Generalen ärgerlich sei und sie ihr Ressort allein berathen wollten, sei nicht zu verwundern« – ipsissima verba regis, nach dem Zeugnisse des Grafen Stolberg nicht nur mir, sondern auch Andern gegenüber. Das Maß von Einfluß, welches der König mir 1866 verstattet hatte, stand allerdings im Widerspruche mit militärischen Traditionen, sobald der Ministerpräsident allein nach den Abzeichen der Uniform classificirt wurde, die er im Felde trug, als Stabsoffizier eines Cavallerie-Regiments; und es blieb 1870 mir gegenüber bei dem militärischen Boycott, wie man heut sagen würde. Wenn man die Theorie, welche der Generalstab mir gegenüber zur Anwendung brachte und die auch kriegswissenschaftlich gelehrt werden soll, so ausdrücken kann: der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten kommt erst wieder zum Wort, wenn die Heeresleitung die Zeit gekommen findet, den Janustempel zu schließen, so liegt schon in dem doppelten Gesicht des Janus die Mahnung, daß die Regirung eines kriegführenden Staats auch nach andern Richtungen zu sehn hat als nach dem Kriegsschauplatze. Aufgabe der Heeresleitung ist die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte; Zweck des Kriegs die Erkämpfung des Friedens unter Bedingungen, die der von dem Staate verfolgten Politik entsprechen. Die Feststellung und Begrenzung der Ziele, die durch den Krieg erreicht werden sollen, die Berathung des Monarchen in Betreff derselben ist und bleibt während des Kriegs wie vor demselben eine politische Aufgabe, und die Art ihrer Lösung kann nicht ohne Einfluß auf die Art der Kriegführung sein. Die Wege und Mittel der letztern werden immer davon abhängig sein, ob man das schließlich gewonnene Resultat oder mehr oder weniger hat erreichen wollen, ob man Landabtretungen fordern oder auf solche verzichten, ob man Pfandbesitz und auf wie lange gewinnen will.

Noch schwerer wirkt in gleicher Richtung die Frage, ob und aus welchen Motiven andre Mächte geneigt sein könnten, dem Gegner zunächst diplomatisch, eventuell militärisch beizustehn, welche Aussicht die Vertreter einer solchen Einmischung haben, an fremden Höfen ihren Zweck zu erreichen, wie die Parteien sich gruppiren würden, wenn es zu Conferenzen oder zu einem Congresse käme, ob Gefahr vorhanden, daß aus der Einmischung der Neutralen sich weitre Kriege entwickeln. Namentlich aber zu beurtheilen, wann der richtige Moment eingetreten sei, den Uebergang vom Kriege zum Frieden einzuleiten, dazu sind Kenntnisse der europäischen Lage erforderlich, die dem Militär nicht geläufig zu sein brauchen, Informationen, die ihm nicht zugänglich sein können. Die Verhandlungen in Nikolsburg 1866 beweisen, daß die Frage von Krieg und Frieden auch im Kriege stets zur Competenz des verantwortlichen politischen Ministers gehört und nicht von der technischen Armeeleitung entschieden werden kann; der competente Minister aber kann dem Könige nur dann sachkundigen Rath ertheilen, wenn er Kenntniß von der jeweiligen Lage und den Intentionen der Kriegführung hat.

Im fünften Kapitel ist der Plan zur Zerstücklung Rußlands erwähnt, den die Wochenblattspartei hegte und Bunsen in einer dem Minister von Manteuffel eingereichten Denkschrift in aller kindlichen Nacktheit entwickelt hatteS. Bd. I 131 ff.. Den damals unmöglichen Fall angenommen, daß der König für diese Utopie gewonnen wurde, angenommen ferner, daß die preußischen Heere und ihre etwaigen Verbündeten in siegreichem Vorschreiten waren, so würde sich doch eine artige Reihe von Fragen aufgedrängt haben: ob uns der weitre Erwerb polnischer Landstriche und Bevölkerungen wünschenswerth sei, ob es nothwendig, die vorspringende Grenze Congreßpolens, den Ausgangspunkt russischer Heere weiter nach Osten, weiter ab von Berlin zu rücken, analog dem Bedürfnisse, im Westen den Druck zu befestigen, den Straßburg und die Weißenburger Linien auf Süddeutschland ausübten, ob Warschau in polnischen Händen für uns unbequemer werden könnte als in russischen. Das alles sind rein politische Fragen, und wer wird leugnen wollen, daß ihre Entscheidung einen vollberechtigten Einfluß auf die Richtung, die Art, den Umfang der Kriegführung hätte fordern, daß zwischen Diplomatie und Strategie eine Wechselwirkung in Berathung des Monarchen hätte bestehn müssen?

Wenn ich mich auch in Versailles beschied, in militärischen Dingen zu einem Votum nicht berufen zu sein, so lag mir doch als dem leitenden Minister die Verantwortlichkeit für die richtige politische Ausnutzung der militärischen, wie der auswärtigen Situation ob, und ich war verfassungsmäßig der verantwortliche Rathgeber des Königs in der Frage, ob die militärische Situation irgend welche politische Schritte oder die Ablehnung irgend welcher Zumuthung andrer Mächte rathsam machte. Ich habe damals die Nachrichten über die militärische Lage, deren ich für die Beurtheilung der politischen bedurfte, so weit als möglich mir dadurch zu verschaffen gesucht, daß ich mich mit einigen der unbeschäftigten hohen Herrn, welche die »zweite Staffel« des Hauptquartiers bildeten und im Hôtel des Réservoirs zusammenkamen, in vertraulichen Beziehungen hielt, denn diese fürstlichen Herrn erfuhren über die militärischen Vorgänge und Absichten erheblich mehr als der verantwortliche Minister des Auswärtigen und machten mir manche für mich sehr werthvolle Mitteilung, von der sie annahmen, daß sie für mich natürlich kein Geheimniß sei. Auch der englische Correspondent im Hauptquartier, Russell, war in der Regel über die Absichten und Vorgänge in demselben besser wie ich unterrichtet und eine nützliche Quelle für meine Informationen.

II.

Im Kriegsrathe war Roon der einzige Vertreter meiner Ansicht, daß wir mit Abschluß des Kriegs Eile hätten, wenn wir die Einmischung der Neutralen und ihres Congresses sicher hintanhalten wollten; er befürwortete die Notwendigkeit, aggressiv mit schwerem Geschütz gegen Paris vorzugehn, gegenüber dem in den Kreisen hoher Frauen für humaner geltenden Systeme der Aushungerung. Die Zeit, die das letztre in Anspruch nehmen würde, ließ sich bei der Unbekanntschaft mit dem Pariser Verpflegungs-Etat nicht übersehnAm 22. September hatte Moltke an seinen Bruder Adolf geschrieben, er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creisau Hasen zu schießen (Moltke, Gesammelte Schriften IV 198).. Die Belagrung machte territorial keine Fortschritte, mitunter sogar Rückschritte, und die Vorgänge in den Provinzen waren nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich so lange man ohne Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbaki's. Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieselbe gegen unsre Verbindungslinie mit Deutschland operire oder auf dem Seewege an der untern Seine erscheinen werde. Wir verloren monatlich etwa zweitausend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain ab und verlängerten in unberechenbarer Weise die Periode, während welcher unsre Truppen den Wandlungen des Geschicks ausgesetzt blieben, die durch unvorhergesehne Unfälle im Kampfe und durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten konnten. Für mich lagen stärkre Beunruhigungen, die mir die Verschleppung der Entscheidung verursachten, auf dem politischen Gebiete, in der Besorgniß vor Einmischung der Neutralen. Je länger der Kampf dauerte, desto mehr mußte man mit der Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunst und die schwankenden Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung über unsre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatische Einmischung bereit finden lassen würden und diese dann den Anschluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch zur Zeit der Rundreise des Herrn Thiers im October »Europa nicht zu finden war«, so konnte die Entdeckung dieser Potenz doch an jedem der neutralen Höfe, sogar auf dem Wege republikanischer Sympathien in Amerika, durch den geringsten Anstoß herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hatte, indem es sondirende Fragen über die Zukunft des europäischen Gleichgewichts oder die menschenfreundliche Heuchelei, durch welche die Festung Paris gegen ernste Belagrung gedeckt wurde, zur Unterlage seiner Initiative nahm. Gelang im Laufe der Monate und Angesichts der schwankenden Aussichten vor Paris in der Zeit, welche die Signatur trug: »Vor Paris nichts Neues«, gelang es damals den feindlichen Elementen und den mißgünstigen, unehrlichen Freunden, die uns an keinem Hofe fehlten, eine Verständigung zwischen den übrigen Mächten oder auch nur zwischen zweien von ihnen herbeizuführen, um eine Warnung, eine scheinbar von der Menschenliebe eingegebene Frage an uns zu richten, so konnte niemand wissen, wie schnell sich ein solcher erster Ansatz zu einer gemeinsamen, zunächst diplomatischen Haltung der Neutralen entwickeln würde. Nationalliberale Parlamentarier haben einander im August 1870 geschrieben, »daß jede fremde Friedensvermittlung unbedingt abzuweisen sei«, haben mich aber nicht wissen lassen, wie dem vorzubeugen sei, wenn nicht durch schnelle Einnahme von Paris.

Graf Beust hat selbst es sich angelegen sein lassen, nachzuweisen, wie »redlich, wenn auch erfolglos« er sich bemüht habe, eine »collective Mediation der Neutralen« zu Stande zu bringendAus drei Viertel-Jahrhunderten. Stuttgart 1887. Theil II S. 361, 395 ff.. Er erinnert daran, daß er schon unter dem 28. September nach London und unter dem 12.Die ZiegelschupferinOctober nach Petersburg an die östreichischen Botschafter die Weisung gegeben hat, die Auffassung zu vertreten, ein collectiver Schritt allein werde Aussicht auf Erfolg haben; daß er zwei Monate später dem Fürsten Gortschakow sagen ließ: »Le moment d'intervenir est peut-être venu.« Er reproducirt eine am 13. October, in der für uns kritischen Zeit 14 Tage vor der Capitulation von Metz, von ihm an den Grafen Wimpffen in Berlin gerichtete und von diesem dort verlesene DepescheEs ist auffallend, daß Graf Wimpffen diese Instruction verlesen hat; sie weist ihn nur an, sich in einem bezeichneten Falle im Sinne derselben auszusprechen.. In derselben knüpft er an ein Memorandum an, durch das ich zu Anfang October auf die Folgen aufmerksam gemacht hatte, die sich an einen bis zu eintretendem Mangel an Lebensmitteln fortgesetzten Widerstand des von zwei Millionen Menschen bewohnten Paris knüpfen müßten, und bezeichnet es, ganz richtig, als meinen Zweck, die Verantwortlichkeit dafür von der preußischen Regirung abzulehnen.

»Dies vorausgeschickt,« fährt er fort, »kann ich den Ausdruck meiner Besorgniß nicht unterdrücken, daß dereinst vor dem Urtheil der Geschichte ein Theil dieser Verantwortlichkeit auf die Neutralen fallen würde, wenn sie sich die Gefahr unerhörten Unheils in stummer Gleichgültigkeit vor Augen stellen ließen. Ich muß daher Eure Exzellenz auffordern, wenn der Gegenstand gegen Sie berührt wird, offen unser Bedauern darüber auszusprechen, daß in einer Lage, in welcher die königlich preußische Regierung Katastrophen, wie die in jenem Memorandum angedeutete, vorhersieht, dennoch das entschiedenste Bestreben sich kundgibt, jede persönliche Einwirkung dritter Mächte fernzuhalten. . . . Rücksichten auf eigne Interessen sind es nicht, welche die Regierung Oesterreich-Ungarns beklagen lassen, daß auf dem Punkte, zu welchem die Dinge gediehen sind, jede friedliche Einflußnahme der neutralen Mächte fehlt. Aber es ist ihr unmöglich, in der Weise, wie es neuerlich von Seiten des St. Petersburger Cabinets geschieht, die absolute Enthaltung des unbetheiligten Europas zu billigen und zu empfehlen. Sie hält es vielmehr für Pflicht, auszusprechen, daß sie noch an allgemein europäische Interessen glaubt, und daß sie einen durch unparteiische Einwirkung der Neutralen herbeigeführten Frieden der Vernichtung weiterer Hunderttausende vorziehen würde.«

Darüber, welcher Art die »unparteiische Vermittlung« gewesen sein würde, läßt der Graf Beust keinen Zweifel: mitiger les exigences du vainqueur, adoucir l'amertume des sentiments qui doivent accabler le vaincuDepesche an Graf Chotek vom 12. October, Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten. II 397.. Daß die Gefühle der Franzosen über die erlittne Niederlage heut uns gegenüber weniger bitter sein würden, wenn die Neutralen uns genöthigt hätten, uns mit weniger zu begnügen, das wird ein so guter Kenner der französischen Geschichte und des französischen Nationalcharakters, wie der Graf Beust, schwerlich geglaubt haben.

Eine Einmischung konnte nur die Tendenz haben, uns Deutschen den Siegespreis vermittelst eines Congresses zu beschneiden. Diese mich Tag und Nacht beunruhigende Gefahr erzeugte in mir das Bedürfniß, den Friedensschluß zu beschleunigen, um ihn ohne Einmischung der Neutralen herstellen zu können. Daß dies vor der Eroberung von Paris nicht thunlich sein würde, ließ sich nach dem herkömmlichen Vorgewicht der Hauptstadt in Frankreich voraussehn. So lange Paris sich hielt, war auch von den leitenden Kreisen in Tours und Bordeaux und von den Provinzen nicht anzunehmen, daß sie die Hoffnung auf einen Umschwung aufgeben würden, mochte derselbe von neuen levées en masse, wie sie in der Schlacht an der Lisaine zur Geltung kamen, oder von der endlichen »Auffindung Europas«, oder von dem Glanznebel erwartet werden, der die englischen resp. westmächtlichen Schlagworte: »Humanität, Civilisation« in deutschen, namentlich weiblichen Gemüthern an großen Höfen umgab – so lange bot sich an den auswärtigen Höfen, die über die Situation in Frankreich doch mehr durch französische als durch deutsche Berichte orientirt waren, die Möglichkeit, den Franzosen in ihrem Friedensschlüsse beiständig zu sein. Für mich spitzte sich daher meine Aufgabe dahin zu, mit Frankreich abzuschließen, bevor eine Verständigung der neutralen Mächte über ihre Einflußnahme auf den Frieden zu Stande gekommen wäre, grade so, wie es 1866 unser Bedürfniß war, mit Oestreich abzuschließen, bevor französische Einmischung in Süddeutschland wirksam werden konnte.

Es ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen, zu welchen Entschließungen man in Wien und Florenz gelangt sein würde, wenn bei Wörth, Spichern, Mars la Tour der Erfolg auf Seite der Franzosen oder für uns weniger eclatant gewesen wäre. Ich habe zur Zeit der genannten Schlachten Besuche von republikanischen Italienern gehabt, die überzeugt waren, daß der König Victor Emanuel mit der Absicht umginge, dem Kaiser Napoleon beizustehn, und diese Tendenz zu bekämpfen geneigt waren, weil sie von der Ausführung der dem Könige zugeschriebenen Absichten eine Verstärkung der ihrem Nationalgefühl empfindlichen Abhängigkeit Italiens von Frankreich befürchteten. Schon in den Jahren 1868 und 1869 waren mir ähnliche antifranzösische Anregungen von italienischer und nicht blos republikanischer Seite vorgekommen, in denen die Unzufriedenheit mit der französischen Suprematie über Italien scharf hervortrat. Ich habe damals wie später auf dem Marsche nach Frankreich in Homburg (Pfalz) den italienischen Herrn geantwortet: wir hätten bisher keine Beweise davon, daß der König von Italien seine Freundschaft für Napoleon bis zum Angriffe auf Preußen bethätigen werde; es sei gegen mein politisches Gewissen, eine Initiative zum Bruch zu ergreifen, welche Italien Vorwand und Rechtfertigung feindlicher Haltung gegeben hätte. Wenn Victor Emanuel die Initiative zu dem Bruche ergriffe, so würde die republikanische Tendenz derjenigen Italiener, welche eine solche Politik mißbilligten, mich nicht abhalten, dem Könige, meinem Herrn, zur Unterstützung der Unzufriednen in Italien durch Geld und Waffen, welche sie zu haben wünschten, zu rathen.

Ich fand den Krieg, wie er lag, zu ernst und zu gefährlich, um in einem Kampfe, in dem nicht nur unsre nationale Zukunft, sondern auch unsre staatliche Existenz auf dem Spiele stand, mich zur Ablehnung irgend eines Beistands bei bedenklichen Wendungen der Dinge für berechtigt zu halten. Ebenso wie ich 1866 nach und infolge der Einmischung durch Napoleon's Telegramm vom 4. Juli vor dem Beistande einer ungarischen Insurrection nicht zurückgeschreckt warS. o. S. 53., würde ich auch den der italienischen Republikaner für annehmbar gehalten haben, wenn es sich um Verhütung der Niederlage und um Vertheidigung unsrer nationalen Selbständigkeit gehandelt hatte. Die Belleitäten des Königs von Italien und des Grafen Beust, die durch unsre ersten glänzenden Erfolge zurückgedrängt waren, konnten bei der Stagnation vor Paris um so leichter wieder aufleben, als wir in den maßgebenden Kreisen eines so gewichtigen Factors wie England über zuverlässige Sympathien und namentlich über solche, welche bereit gewesen wären, sich auch nur diplomatisch zu bethätigen, keineswegs verfügen konnten.

In Rußland gewährten die persönlichen Gefühle Alexander's II., nicht nur die freundschaftlichen für seinen Oheim, sondern auch die antifranzösischen, uns eine Bürgschaft, die freilich durch die französirende Eitelkeit des Fürsten Gortschakow und durch seine Rivalität mir gegenüber abgeschwächt werden konnte. Es war deshalb eine Gunst des Schicksals, daß die Situation eine Möglichkeit bot, Rußland eine Gefälligkeit in Betreff des Schwarzen Meers zu erweisen. Aehnlich wie die Empfindlichkeiten des russischen Hofs, die sich vermöge der russischen Verwandschaft der Königin Marie an den Verlust der hanöverschen Krone knüpften, ihr Gegengewicht in den Concessionen fanden, die dem oldenburgischen Verwandten der russischen Dynastie auf territorialem und finanziellem Gebiete 1866 gemacht worden waren, bot sich 1870 die Möglichkeit, nicht nur der Dynastie, sondern auch dem russischen Reiche einen Dienst zu erweisen in Betreff der politisch unvernünftigen und deshalb auf die Dauer unmöglichen Stipulationen, die dem Russischen Reiche die Unabhängigkeit seiner Küsten des Schwarzen Meers beschränkten. Es waren die ungeschicktesten Bestimmungen des Pariser Friedens; einer Nation von hundert Millionen kann man die Ausübung der natürlichen Rechte der Souveränetät an ihren Küsten nicht dauernd untersagen. Die Servitut der Art, welche fremden Mächten auf russischem Gebiete eingeräumt war, war für eine große Nation eine auf die Dauer nicht erträgliche Demüthigung. Wir hatten hierin eine Handhabe, um unsre Beziehungen zu Rußland zu pflegen.

Fürst Gortschakow ist auf die Initiative, mit der ich ihn in dieser Richtung sondirte, nur widerstrebend eingegangenAus diesen Mittheilungen geht hervor, daß Gortschakow's Depesche vom 31. October 1870 (Staatsarchiv XX 111 Nr. 4223) auf preußische Anregung zurückzuführen ist.. Sein persönliches Uebelwollen war stärker als sein russisches Pflichtgefühl. Er wollte keine Gefälligkeit von uns, sondern Entfremdung gegen Deutschland und Dank bei Frankreich. Um unser Anerbieten in Petersburg wirksam zu machen, habe ich der durchaus ehrlichen und stets wohlwollenden Mitwirkung des damaligen russischen Militärbevollmächtigten Grafen Kutusoff bedurft. Ich werde dem Fürsten Gortschakow kaum Unrecht thun, wenn ich nach meinen mehre Jahrzehnte dauernden Beziehungen zu ihm annehme, daß die persönliche Rivalität mit mir bei ihm schwerer wog als die Interessen Rußlands: seine Eitelkeit, seine Eifersucht gegen mich waren größer als sein Patriotismus.

Bezeichnend für die krankhafte Eitelkeit Gortschakow's waren einige gelegentliche Aeußrungen mir gegenüber, gelegentlich seiner Berliner Anwesenheit im Mai 1876. Er sprach von seiner Ermüdung und seiner Neigung, abzuscheiden, und sagte dabei: »Je ne puis cependant me présenter devant Saint-Pierre au ciel sans avoir présidé la moindre chose en Europe.« Ich bat ihn in Folge dessen, das Präsidium in der damaligen Diplomatenconferenz, die aber nur eine officiöse war, zu übernehmen, was er that. In der Muße des Zuhörens bei seiner längern Präsidialrede schrieb ich mit Bleistift: pompous, pompo, pomp, pom, po. Mein Nachbar, Lord Odo Russell, entriß mir das Blatt und behielt es.

Eine andre Aeußrung bei dieser Gelegenheit lautete dahin: »Si je me retire, je ne veux pas m'éteindre comme une lampe qui file, je veux me coucher comme une astre.« Es ist nach diesen Auffassungen nicht verwunderlich, daß ihm sein letztes Auftreten im Berliner Congreß 1878 nicht genügte, zu dem der Kaiser nicht ihn, sondern den Grafen Schuwalow als Hauptbevollmächtigten ernannt hatte, so daß nur dieser und nicht Gortschakow über die russische Stimme verfügte. Gortschakow hatte seine Mitgliedschaft des Congresses dem Kaiser gegenüber gewissermaßen erzwungen, was in Folge der rücksichtsvollen Behandlung, die im russischen höhern Dienste verdienten Staatsmännern gegenüber Tradition ist, gelingen konnte. Er suchte noch auf dem Congresse seine russische Popularität im Sinne der »Moskauer Zeitung« nach Möglichkeit frei zu halten von den Rückwirkungen russischer Concessionen, und bei Congreßsitzungen, wo solche in Aussicht standen, blieb er aus, unter dem Vorwande des Unwohlseins, trug aber Sorge, sich am Parterrefenster seiner Wohnung unter den Linden als gesund sehn zu lassen. Er wollte sich die Möglichkeit wahren, vor der russischen »Gesellschaft« in Zukunft zu behaupten, daß er an den russischen Concessionen unschuldig wäre: ein unwürdiger Egoismus auf Kosten seines Landes.

Außerdem blieb der russische Abschluß auch nach dem Congresse immer noch einer der günstigsten, wo nicht der günstigste, den Rußland jemals nach türkischen Kriegen gemacht hat. Directe Eroberungen für Rußland waren die in Kleinasien: Batum, Kars u. s. w. Aber wenn Rußland wirklich es in seinen Interessen gefunden hat, die Balkanstaaten griechischer Confession von der türkischen Herrschaft zu emancipiren, so war doch auch in dieser Richtung ein ganz gewaltiger Fortschritt des griechisch-christlichen Elements, und noch mehr ein erheblicher Rückzug der Türkenherrschaft das Ergebniß. Zwischen den ursprünglichen Ignatieff'schen Friedensbedingungen von San Stefano und dem Congreßergebnisse war der Unterschied politisch bedeutungslos, wie die Leichtigkeit des Abfalls Südbulgariens und dessen Anschluß an das nördliche beweist. Und selbst wenn er nicht stattgefunden hätte, blieb die russische Gesammterrungenschaft nach dem Kriege auch in Folge der Congreßbeschlüsse eine glänzendere als die frühern.

Daß Rußland Bulgarien durch Verleihung an den Neffen der damaligen russischen Kaiserin, den Prinzen von Battenberg, in unsichre Hände gab, war eine Entwicklung, die auf dem Berliner Congresse nicht vorausgesehn werden konnte. Der Prinz von Battenberg war der russische Candidat für Bulgarien, und bei seiner nahen Verwandschaft mit dem Kaiserhause war auch anzunehmen, daß diese Beziehungen dauerhaft und haltbar sein würden. Der Kaiser Alexander III. erklärte sich den Abfall seines Vetters einfach mit dessen polnischer Abstammung: »Polskaja mat« war sein erster Ausruf bei der Enttäuschung über das Verhalten seines Vetters.

Die russische Entrüstung über das Ergebniß des Berliner Congresses war eine der Erscheinungen, die bei einer dem Volk so wenig verständlichen Presse, wie es die russische in auswärtigen Beziehungen ist, und bei dem Zwange, der auf sie mit Leichtigkeit geübt wird, sich im Widerspruche mit aller Wahrheit und Vernunft ermöglichen ließ. Die ganzen Gortschakow'schen Einflüsse, die er, angespornt durch Aerger und Neid über seinen frühern Mitarbeiter, den deutschen Reichskanzler, in Rußland übte, unterstützt von französischen Gesinnungsgenossen und ihren französischen Verschwägerungen (Wannowski, Obrutschew) waren stark genug, um in der Presse, die »Moskauer Wedomosti« an der Spitze, einen Schein von Entrüstung herzustellen über die Schädigung, welche Rußland auf dem Berliner Congresse durch deutsche Untreue erlitten hätte. Nun ist auf dem Berliner Congresse kein russischer Wunsch ausgesprochen worden, den Deutschland nicht zur Annahme gebracht hätte, unter Umständen durch energisches Auftreten bei dem englischen Premierminister, obschon letztrer krank und bettlägerig war. Anstatt hierfür dankbar zu sein, fand man es der russischen Politik entsprechend, unter Führung des lebensmüden, aber immer noch krankhaft eitlen Fürsten Gortschakow und der Moskauer Blätter, an der weitern Entfremdung zwischen Rußland und Deutschland fortzuarbeiten, für die weder im Interesse des einen noch des andern dieser großen Nachbarreiche das mindeste Bedürfniß vorliegt. Wir beneiden uns nichts und haben nichts von einander zu gewinnen, was wir brauchen könnten. Unsre gegenseitigen Beziehungen sind nur gefährdet durch persönliche Stimmungen, wie die von Gortschakow waren, und wie es die von hochstehenden russischen Militärs bei ihren französischen Verschwägerungen sind, und durch monarchische Verstimmungen, wie sie schon vor dem siebenjährigen Kriege durch sarkastische Bemerkungen Friedrich's des Großen über die russische Kaiserin entstanden. Deshalb ist die persönliche Beziehung der Monarchen beider Länder zu einander von hoher Bedeutung für den Frieden der beiden Nachbarreiche, für dessen Störung keine Interessendivergenz, sondern nur persönliche Empfindlichkeiten maßgebender Staatsmänner einen Anlaß bieten konnten.

Von Gortschakow sagten seine Untergebenen im Ministerium: »Il se mire dans son encrier« wie analog Bettina über ihren Schwager, den berühmten Savigny, äußerte: »Er kann keine Gossen überschreiten, ohne sich darin zu spiegeln.« Ein großer Theil der Gortschakow'schen Depeschen und namentlich die sachlichsten sind nicht von ihm, sondern von Jomini, einem sehr geschickten Redacteur und Sohn eines Schweizer Generals, den Kaiser Alexander für russischen Dienst anwarb. Wenn Gortschakow dictirte, so war mehr rhetorischer Schwung in den Depeschen, aber praktischer waren die von Jomini. Wenn er dictirte, so pflegte er eine bestimmte Pose anzunehmen, die er einleitete mit dem Worte: »écrivez!«, und wenn der Schreiber dann seine Stellung richtig auffaßte, so mußte er bei besonders wohlgerundeten Phrasen einen bewundernden Ausblick auf den Chef richten, der dafür sehr empfänglich war. Gortschakow beherrschte die russische, die deutsche und die französische Sprache mit gleicher Vollkommenheit.

Graf Kutusoff war ein ehrlicher Soldat ohne persönliche Eitelkeit. Er war ursprünglich nach der Bedeutung seines Namens in hervorragender Stellung in Petersburg als Offizier der Garde-Kavallerie, hatte aber nicht das Wohlwollen des Kaisers Nicolaus; und als dieser, wie mir in Petersburg erzählt worden ist, vor der Front ihm zurief: »Kutusoff, du kannst nicht reiten, ich werde dich zur Infanterie versetzen,« nahm er seinen Abschied und trat erst im Krimkriege in geringer Stellung wieder ein, blieb unter Alexander II. in der Armee und wurde endlich Militärbevollmachtigten in Berlin, wo seine ehrliche Bonhomie ihm viele Freunde erwarb. Er begleitete uns als russischer Flügeladjutant des preußischen Königs im französischen Kriege, und es war vielleicht ein Effect der ungerechten Beurtheilung seiner Reitfähigkeit, die ihm vom Kaiser Nicolaus zu Theil geworden war, daß er alle Marschetappen, auf denen der König und sein Gefolge gefahren wurden, nicht selten 50 bis 70 Werst im Tage, zu Pferde zurücklegte. Für seine Bonhomie und die Tonart auf den Jagden in Wusterhausen ist es bezeichnend, daß er gelegentlich vor dem Könige erzählte, seine Familie stamme aus Preußisch-Litthauen und sei unter dem Namen Kutu nach Rußland gekommen, worauf Graf Fritz Eulenburg in seiner witzigen Art bemerkte: »Den schließlichen ›Soff‹ haben Sie also erst in Rußland sich angeeignet« – allgemeine Heiterkeit, in welche Kutusoff herzlich einstimmte.

Neben der Gewissenhaftigkeit der Meldungen dieses alten Soldaten bot die regelmäßige eigenhändige Correspondenz des Großherzogs von Sachsen mit dem Kaiser Alexander einen Weg, unverfälschte Mittheilungen direct an diesen gelangen zu lassen. Der Großherzog, der stets wohlwollend für mich war und geblieben ist, war in Petersburg ein Anwalt der guten Beziehungen zwischen beiden Cabineten.

Die Möglichkeit einer europäischen Intervention war für mich eine Ursache der Beunruhigung und der Ungeduld angesichts der Stagnation der Belagrung. Kriegerische Wechselfälle sind in Situationen, wie die unsrige vor Paris war, bei der besten Leitung und der größten Tapferkeit nicht ausgeschlossen; sie können durch Zufälligkeiten aller Art herbeigeführt werden, und für solche bot unsre Stellung zwischen der numerisch reichlich starken belagerten Armee und den nach Zahl und Oertlichkeit schwer zu controllirenden Streitkräften der Provinzen ein reiches Feld, auch wenn unsre Truppen vor Paris, im Westen, Norden und Osten Frankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der Gesundheitszustand des deutschen Heeres sich in den Beschwerden eines so ungewöhnlich harten Winters bewahren werde, entzog sich jeder Berechnung. Es war unter diesen Umständen keine übertriebene Aengstlichkeit, wenn ich in schlaflosen Nachten von der Sorge gequält wurde, daß unsre politischen Interessen nach so großen Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen Paris schwer geschädigt werden könnten. Eine weltgeschichtliche Entscheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwischen den beiden Nachbarvölkern stand auf dem Spiele und in Gefahr, durch persönliche und vorwiegend weibliche Einflüsse ohne historische Berechtigung gefälscht zu werden, durch Einflüsse, die ihre Wirksamkeit nicht politischen Erwägungen verdankten, sondern Gemüthseindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civilisation, die aus England bei uns importirt werden, auf deutsche Gemüther noch immer haben; war uns doch während des Krimkriegs von England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt worden, daß wir »zur Rettung der Civilisation« die Waffen für die Türken ergreifen müßten. Die entscheidenden Fragen konnten, wenn man wollte, als ausschließlich militärische behandelt werden, und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht der Betheiligung an der Entscheidung zu versagen; sie waren aber doch solche, von deren Lösung die diplomatische Möglichkeit in letzter Instanz abhing, und wenn der Abschluß des französischen Kriegs ein weniger günstiger für Deutschland gewesen wäre, so blieb auch dieser gewaltige Krieg mit seinen Siegen und seiner Begeistrung ohne die Wirkung, die er für unsre nationale Einigung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der Herstellung des Deutschen Reichs der Sieg über Frankreich vorhergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum vollen Abschluß zu bringen, so waren weitre Kriege ohne vorgängige Sicherstellung unsrer vollen Einigung in Sicht.

III.

Es ist nicht anzunehmen, daß die übrigen Generale von rein militärischem Standpunkte andrer Meinung als Roon sein konnten; unsre Stellung zwischen der uns an Zahl überlegnen eingeschlossenen Armee und den französischen Streitkräften in den Provinzen war strategisch eine bedrohte und ihr Festhalten nicht erfolgversprechend, wenn man sie nicht als Basis angriffsweisen Fortschreitens benutzte. Das Bedürfniß, ihr bald ein Ende zu machen, war in militärischen Kreisen in Versailles ebenso lebhaft wie die Beunruhigung in der Heimath über die Stagnation. Man brauchte noch garnicht mit der Möglichkeit von Krankheiten und unvorhergesehnen Rückschlägen infolge von Unglück oder Ungeschick zu rechnen, um von selbst auf den Gedankengang zu gerathen, der mich beunruhigte, und sich zu fragen, ob das Ansehn und der politische Eindruck, die das Ergebniß unsrer ersten raschen und großen Siege an den neutralen Höfen gewesen waren, nicht vor der scheinbaren Thatlosigkeit und Schwäche unsrer Haltung vor Paris verblassen würden und ob die Begeistrung anhalten würde, in deren Feuer sich eine haltbare Einheit schmieden ließ.

Die Kämpfe in den Provinzen bei Orleans und Dijon blieben Dank der heldenmüthigen Tapferkeit der Truppen, wie sie in dem Maße nicht immer als Unterlage strategischer Berechnung vorausgesetzt werden kann, für uns siegreich. In dem Gedanken, daß der geistige Schwung, mit dem unsre Minderheiten dort trotz Frost, Schnee und Mangel an Lebensmitteln und Kriegsmaterial die numerisch stärkern französischen Massen überwunden hatten, durch irgend welche Zufälligkeiten gelähmt werden könnte, mußte jeder Heerführer, der nicht ausschließlich mit optimistischen Conjecturen rechnete, zu der Ueberzeugung kommen, daß wir bestrebt sein müßten, durch Fördrung unsres Angriffs auf Paris unsrer ungewissen Situation so bald als möglich ein Ende zu machen.

Es fehlte uns aber, um den Angriff zu activiren, an dem Befehl und an schwerem Belagerungsgeschütz, wie im Juli 1866 vor den Floridsdorfer LinienS. o. S. 54.. Die Befördrung desselben hatte mit den Fortschritten unsres Heers nicht Schritt gehalten; um sie zu bewirken, versagten unsre Eisenbahnmittel an den Stellen, wo die Bahnen unterbrochen waren oder, wie bei Lagny, ganz aufhörten.

Die schleunige Anfuhr von schwerem Geschütz und von der Masse schwerer Munition, ohne welche die Beschießung nicht begonnen werden durfte, hätte durch den vorhandnen Eisenbahnpark jedenfalls schneller, als der Fall war, bewirkt werden können. Es waren aber, wie Beamte mir meldeten, circa 1500 Axen mit Lebensmitteln für die Pariser beladen, um ihnen schnell zu helfen, wenn sie sich ergeben würden, und diese 1500 Axen waren deshalb für Munitionstransport nicht verfügbar. Der auf ihnen lagernde Speck wurde später von den Parisern abgelehnt und nach meinem Abgange aus Frankreich, infolge der durch General v. Stosch in Ferrières bei Sr. Majestät veranlaßten Aendrung unsres Staatsvertrags über die Verpflegung deutscher Truppen, diesen überwiesen und mit Widerstreben verbraucht wegen zu langer Lagerung.

Da die Beschießung nicht begonnen werden konnte, bevor das für wirksame Durchführung ohne Unterbrechung erforderliche Quantum Munition zur Hand war, so wurde in Ermanglung von Bahn-MateriaI nun eine erhebliche Anspannung von Pferden und für diese ein Aufwand von Millionen erforderlich. Mir sind die Zweifel nicht verständlich, die darüber obwalten konnten, ob diese Millionen verfügbar wären, sobald das Bedürfniß für kriegerische Zwecke vorlag. Es erschien mir als ein erheblicher Fortschritt, als Roon, schon nervös aufgerieben und erschöpft, mir eines Tags mittheilte, daß man jetzt ihm persönlich die Verantwortlichkeit mit der Frage zugeschoben habe, ob er bereit sei, die Geschütze in absehbarer Zeit heranzuschaffen; er sei in Zweifel in Betreff der Möglichkeit. Ich bat ihn, die ihm gestellte Aufgabe sofort zu übernehmen, und erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe aus die Bundeskasse anzuweisen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, die er als ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Befördrung der Geschütze verwenden wolle. Er gab die entsprechenden Aufträge, und die in unserm Lager lange mit schmerzlicher Ungeduld erwartete und mit Jubel begrüßte Beschießung des Mont Avron war das Ergebniß dieser wesentlich Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige Unterstützung fand er für das Heranschaffen und die Verwendung der Geschütze bei dem Prinzen Kraft Hohenlohe. Wenn man sich fragt, was andre Generale bestimmt haben kann, die Ansicht Roon's zu bekämpfen, so wird es schwer, sachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende ergriffnen Maßregeln aufzufinden.Man vgl. zum Folgenden auch v. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck S. 468 ff. und – von der Gegenseite – v. Blume, Die Beschießung von Paris 1870/71 und die Ursachen ihrer Verzögerung. Berlin, E. S. Mittler und Sohn 1899, sowie die Tagebuchaufzeichnungen Blumenthal's (Tagebücher des Generalfeldmarschalls Graf v. Blumenthal 1866 und 1870/71). – Einige Stellen aus Bismarck's Briefen an seine Gattin aus dem Kriege 1870/71, Stuttgart und Berlin 1903, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger mögen als Stimmungsbilder hier Platz finden: Versailles, 23. Oct. (S. 55): Vor Paris wird es wohl noch dauern; ich weiß nicht, ob die Generäle des Stabes früher andre Absichten gehabt haben oder was sonst, aber das Belagrungsgeschütz ist nicht heran, und vor November werden wir wohl keinen Schuß auf die Wälle thun. – Versailles, 28./29. Oct. (S. 56 f.): Ich muß heut noch meine Entrüstung über den auch Dir gemeldeten und in vielen Zeitungen gedruckten Gedanken zu Papier bringen, als hemmte ich das Spiel unsrer Geschütze gegen Paris und trüge damit die Schuld an der Verlängrung des Kriegs. Jeden Morgen seit Wochen hoffte ich durch das Donnern geweckt zu werden, über 200 stehn schon, aber sie schießen nicht, und sollen doch noch nicht einmal Paris, sondern nur einige Forts zum Ziele nehmen. Es schwebt über der Sache irgend eine Intrige, angesponnen von Weibern, Erzbischöfen und Gelehrten, bekannte hohe Einflüsse sollen mitspielen, damit das Lob des Auslands und die Phrasenberäucherung keine Einbuße erleiden. Jeder klagt über Hindernisse anonymer Natur, der eine sagt, man stellt die Artillerie-Transporte auf den Bahnen zurück, damit sie nicht eintreffen, der andre schilt auf Mangel früherer Vorbereitung, der dritte sagt, die Munition sei noch zu wenig, der vierte, die Armirung unfertig, der fünfte, es sei alles da, nur der Befehl zu schießen nicht. Dabei frieren und erkranken die Leute, der Krieg verschleppt sich, die Neutralen reden uns drein, weil ihnen die Zeit lang wird, und Frankreich waffnet mit den 100 000en von Gewehren aus England und Amerika. – Versailles, 16. Nov. (S. 62): Unsre Geschütze schweigen noch immer, nachdem man etwa 3mal so viele hergefahren hat, als einstweilen gebraucht werden können. Ich war von Hause aus, d. h. vor 2 Monaten, garnicht für die Belagrung von Paris, sondern für andre Kriegsmethoden; aber nachdem die große Armee hier 2 Monat festgenagelt und währenddem der Enthusiasmus bei uns verraucht und der Franzose rüstet, muß die Belagrung auch durchgeführt werden; es scheint aber, als wolle man die 400 schweren Brummer und ihre 100 000e von Centner Kugeln bis nach dem Frieden stehn lassen und dann wieder nach Berlin fahren. Dabei handelt es sich nicht einmal um Bombardement der Stadt, sondern nur der detachirten Forts. Das wissen die vielleicht garnicht, deren Einfluß diese Zögerungen zugeschrieben werden. – Versailles, 22. Nov. (S. 63): Roon ist krank aus Aerger über die Intrigen gegen das Bombardement der Pariser Forts. Wenn das einmal bekannt wird, weshalb unsre guten Soldaten so lange im Granatfeuer schlafen müssen und nicht angreifen dürfen, das wird böses Blut geben, und bekannt wird es werden, denn es sind zu viel Leute, die daran glauben. Ob der König es weiß und duldet oder getäuscht wird, darüber ist Streit, ich glaube letztres gern. Das Complott, wenn es existirt, sitzt bis im Generalstabe, der mir außer dem guten und klugen alten Moltke überhaupt nicht gefällt; ihm ist der Erfolg kaiserwahnsinnig in die Krone gefahren . . . mit Moltke's Namen decken sich andre . . . – Versailles, 7. Dec. (S. 65): Nach den glänzenden Siegen an Loire und im Norden sitzt unsre große Pariser Armee nach wie vor still, »fest gemauert« oder ob ihr wie Thor »ein weiblich Gewand die Knie umwallt« und (sie) am Gehen hindert, Gott weiß es. . . . Auch Moltke ist – und natürlich mit entscheidender Stimme – gegen den Angriff. . . . Der gute Roon aber ist vor Aerger über unsre Passivität und seine vergeblichen Versuche, uns zum Angriff zu bringen, recht krank gewesen. . . . – Versailles, 12. Dec. (S. 67): Endlich ist Roon mit der Anfuhr der Munition beauftragt, und in 8 Tagen hofft er soviel wie nöthig zu haben. Wäre das 2 Monat früher geschehn! – Versailles, 24. Dec. (S. 70): Endlich ist Aussicht auf Feuer vor Paris, hoffentlich noch vor Sylvester. Was Roon's und meine monatlange Arbeit nicht durchsetzte, scheint der Sturm der Berliner Blätter und der Wiederhall, den der Reichstag davon herbrachte, bewirkt zu haben. Auch Moltke soll bekehrt sein, seit er anonyme Zeitungsgedichte erhielt, die zeigten, daß sein System, als ob die Sache ihn nichts anginge, vor der öffentlichen Meinung keine Gnade fand. – Versailles, 1. Jan. 1871 (S. 72): Mont Avron in Einem Tage zusammengeschossen und ohne Verlust besetzt. Die bisherigen Gegner des Angriffs sind bekehrt, fast etwas sauerblickend über die raschen Erfolge der Artillerie, denn jeder sagt sich nun im Stillen, das hätten wir vor 2 Monat auch gekonnt, wenn nicht ein Dutzend Leute von Einfluß aus verschiednen Gründen es hinderten. – Versailles, 4. Jan. (S. 74): Es hätte längst anders sein können, wenn früher geschossen wurde. Nach den glänzenden Erfolgen der ersten Versuche mit der Belagrungsartillerie streitet das niemand mehr, und man findet schwer jemand, der eingestände, jemals gegen Schießen gewesen zu sein, und doch ist es erst 3 Wochen her, daß von denen, die zum Kriegsrath zugezogen werden, Roon der einzig Rechtgläubige war und der »General-Adjutant« Boyen noch die Reichstagsherrn zu überzeugen suchte, daß Roon aus Mangel an Verstand und ich aus Verbittrung gegen den Generalstab – die Einzigen wären, die nach Schießen verlangten, weil wir es beide nicht verständen. Boyen's weitern Zusammenhang kennst Du, er ist gewissermaßen »Gesandter« am hiesigen Hoflager.

Von dem militärischen wie von dem politischen Standpunkte erscheint das zögernde Vorgehn widersinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Unentschlossenheit unsrer Heeresleitung zu suchen waren, darf man aus der raschen und entschlossenen Führung des Kriegs bis vor Paris schließen. Die Vorstellung, daß Paris, obwohl es befestigt und das stärkste Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre Festung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Umwege über Berlin in unser Lager gekommen, mit der Redensart von dem »Mekka der Civilisation« und andern in dem cant, der öffentlichen Meinung in England üblichen und wirksamen Wendungen der Humanitätsgefühle, deren Betätigung England von allen andern Mächten erwartet, aber seinen eignen Gegnern nicht immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unsern maßgebenden Kreisen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris nicht durch Geschütze, sondern nur durch Hunger herbeigeführt werden dürfe. Ob der letztre Weg der menschlichere war, darüber kann man streiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Ausbruch gekommen sein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Freiwerden der anarchischen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahingestellt bleiben, ob bei der englischen Einwirkung zu Gunsten der Humanität des Aushungerns nur Empfindsamkeit und nicht auch politische Berechnung im Spiele war. England hatte kein praktisches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirthschaftlich noch politisch. Jedenfalls vermehrte die Verschleppung der Ueberwältigung von Paris und des Abschlusses der kriegerischen Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unsrer Siege uns verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin ließen erkennen, daß in den fachkundigen Kreisen der Stillstand unsrer Thätigkeit Besorgniß und Unzufriedenheit erregte, und daß man der Königin Augusta einen brieflichen Einfluß auf ihren hohen Gemal im Sinne der Humanität zuschrieb. Eine Andeutung, die ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne, daß die Gerüchte unbegründet seien, sondern in einer scharfen Bedrohung jeder Aeußrung einer derartigen Verstimmung gegen die Königin.

Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung ging in der Regel nicht von dem Könige aus, sondern von dem Generalstabe der Armee oder des Höchstcommandirenden am Orte, des Kronprinzen. Daß diese Kreise englischen Auffassungen, wenn sie sich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich waren, war menschlich natürlich: die Kronprinzessin, die verstorbene Frau Moltke's, die Frau des Generalstabschefs, spätern Feldmarschalls Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächst maßgebenden Generalstabsoffiziers von Gottberg waren sämmtlich Engländerinnen.

Die Gründe der Verzögrung des Angriffs auf Paris, über die die Wissenden Schweigen beobachtet hatten, sind durch die in der »Deutschen Revue« von 1891 erfolgten Veröffentlichungen aus den Papieren des Grafen RoonAusgabe in Buchform: Roon's Denkwürdigkeiten, III4 243 ff. Gegenstand publicistischer Erörtrung geworden. Alle gegen die Darstellung Roon's gerichteten Ausführungen umgehn die Berliner Einflüsse und die englischen, auch die Thatsache, daß 800, nach Andern 1500 Axen mit Lebensmitteln für die Pariser wochenlang festlagen; und alle, mit Ausnahme eines anonymen Zeitungsartikels, umgehn ebenso die Frage, ob die Heeresleitung rechtzeitig für die Herbeischaffung von Belagrungsgeschütz Sorge getragen habe. Ich habe keinen Anlaß gefunden, an meinen vorstehenden, vor dem Erscheinen der betreffenden Nummern der »Deutschen Revue« gemachten Aufzeichnungen irgend etwas zu ändern.

IV.

Die Annahme des Kaisertitels durch den König bei Erweitrung des Norddeutschen Bundes war ein politisches Bedürfniß, weil er in den Erinnrungen aus Zeiten, da er rechtlich mehr, factisch weniger als heut zu bedeuten hatte, ein werbendes Element für Einheit und Centralisation bildete; und ich war überzeugt, daß der festigende Druck auf unsre Reichsinstitutionen um so nachhaltiger sein müßte, je mehr der preußische Träger desselben das gefährliche, aber der deutschen Vorgeschichte innelebende Bestreben vermiede, den andern Dynastien die Ueberlegenheit der eignen unter die Augen zu rücken. König Wilhelm I. war nicht frei von der Neigung dazu, und sein Widerstreben gegen den Titel war nicht ohne Zusammenhang mit dem Bedürfnisse, grade das überlegne Ansehn der angestammten preußischen Krone mehr als das des Kaisertitels zur Anerkennung zu bringen. Die Kaiserkrone erschien ihm im Lichte eines übertragnen modernen Amts, dessen Autorität von Friedrich dem Großen bekämpft war, den Großen Kurfürsten bedrückt hatte. Bei den ersten Erörtrungen sagte er: »Was soll mir der Charakter-Major?« worauf ich u. A. erwiderte: »Ew. Majestät wollen doch nicht ewig ein Neutrum bleiben, ›das Präsidium‹? In dem Ausdrucke ›Präsidium‹ liegt eine Abstraction, in dem Worte ›Kaiser‹ eine große Schwungkraft«S. o. S. 77..

Auch bei dem Kronprinzen habe ich für mein Streben, den Kaisertitel herzustellen, welches nicht einer preußisch-dynastischen Eitelkeit, sondern allein dem Glauben an seine Nützlichkeit für Fördrung der nationalen Einheit entsprangVgl. über Bismarck's Ansicht von der praktischen Bedeutung des Kaisertitels besonders Wilmomski, Meine Erinnerungen an Bismarck. Breslau, G. Trewendt, 1900. S. 118 ff., im Anfange (bei)Die Präposition »bei« scheint bei Umschrift des Textes ausgefallen zu sein. Da der Krieg gegen Frankreich vom ersten Tage an günstig für Deutschland verlief, kann von einem Anfang der günstigen Wendung des Kriegs nicht gesprochen werden. Bismarck aber unterscheidet genau zwei Phasen der Unterhandlungen mit dem Kronprinzen, die eine Anfang September, die andere später in Versailles. der günstigen Wendung des Kriegs nicht immer Anklang gefunden. Seine Königliche Hoheit hatte von irgend einem der politischen Phantasten, denen er sein Ohr lieh, den Gedanken aufgenommen, die Erbschaft des von Karl dem Großen wiedererweckten »römischen« Kaiserthums sei das Unglück Deutschlands gewesen, ein ausländischer, für die Nation ungesunder Gedanke. So nachweisbar letztres auch geschichtlich sein mag, so unpraktisch war die Bürgschaft gegen analoge Gefahren, welche des Prinzen Rathgeber in dem Titel »König« der Deutschen sahn. Es lag heut zu Tage keine Gefahr vor, daß der Titel, welcher allein in der Erinnrung des Volks lebt, dazu beitragen würde, die Kräfte Deutschlands den eignen Interessen zu entfremden und dem transalpinen Ehrgeize bis nach Apulien hin dienstbar zu machen. Das aus einer irrigen Vorstellung entspringende Verlangen, das der Prinz gegen mich aussprach, war nach meinem Eindrucke ein völlig ernstes und geschäftliches, dessen Inangriffnahme durch mich gewünscht wurde. Mein Einwand, anknüpfend an die Coexistenz der Könige von Bayern, Sachsen, Würtemberg mit dem intendirten Könige in Germanien oder Könige der Deutschen führte zu meiner Ueberraschung auf die weitre Consequenz, daß die genannten Dynastien aufhören müßten, den Königstitel zu führen, um wieder den herzoglichen anzunehmen. Ich sprach die Ueberzeugung aus, daß sie sich dazu gutwillig nicht verstehn würden.Sachlich ist dazu zu bemerken: Nach dem sonst vorliegenden Quellenmaterial – namentlich dem Immediatberichte des Fürsten Bismarck vom 23. Sept. 1888, dem Briefe des Fürsten an Ottokar Lorenz vom 7. Nov. 1896 (vgl. Ottokar Lorenz, Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reichs. Jena, Gustav Fischer, 1902. S. 617), sowie den Tagebüchern des Kronprinzen und des Cabinetsraths Abelen – fanden zwischen dem Kronprinzen und dem Grafen Bismarck zwei eingehende Besprechungen statt über die Neugestaltung Deutschlands, die Behandlung der süddeutschen Bundesgenossen, sowie auch über den Titel des neu zu wählenden Oberhauptes, ob »Kaiser« oder »König«, nämlich am 3. Sept. 1870 zu Donchery im Quartier des Kronprinzen und vorher auf einem mehrstündigen Ritt, »wahrscheinlich bei Beaumont oder bei Sedan«. Dieser mehrstündige Ritt beider Herren hat aber weder bei Beaumont noch vorher stattgefunden, sondern am Nachmittag des 2. September, als sie im Gefolge des Königs die Schlachtfelder von Sedan beritten. Im Texte ist also zu lesen: Besprechungen dieses Themas fanden zwischen uns zweimal statt, einmal zu Pferde und einmal im Zimmer, nach Sedan. Die zweite erwähnt übrigens Bismarck im Briefe an die Gattin vom 6. Sept. 1870: »Mit dem Kronprinzen hatte ich eine mich sehr befriedigende Unterredung in Donchery«, Bismarck's Briefe an seine Gattin aus dem Kriege 1870/71 S. 39. Daraus und aus dem Briefe an O. Lorenz geht hervor, daß die scharfe Auseinandersetzung, von der die Gedanken und Erinnerungen berichten, auf jenem mehrstündigen Ritte erfolgte, während zu Donchery die Tags vorher unerledigt gebliebene Meinungsverschiedenheit befriedigend ausgeglichen wurde. Auch die von O. Lorenz aus seiner Unterredung mit Bismarck (am 14. Oct. 1889) bezeugte Aeußerung, das Gespräch zwischen dem Kronprinzen und ihm habe stattgefunden, als sie zusammen über eine Wiese ritten; sie hätten sich so in Eifer geredet, daß der Kronprinz die Führung des Pferdes verloren und Bismarck bei der Unsicherheit des Terrains – einer durch Abzugsgräben durchzogenen Wiese – sich gedrungen gefühlt habe, den Kronprinz zur Vorsicht zu mahnen (O. Lorenz a. a. O. S. 619) – stimmt durchaus mit meiner auf die Quellen gestützten Auffassung zusammen. Das von Abzugsgräben durchzogene Wiesengelände findet sich bei Floing und wurde beim Ritte über das Schlachtfeld berührt, ebenso wie die von Busch erwähnte Pappelallee bei Donchery. – Man vgl. auch die auf Fürst H. Bismarck's Informationen zurückgehenden Mittheilungen in den Hamb. Nachrichten vom 7. Aug. 1902 (Nr. 184): Der Kronprinz, Fürst Bismarck und die Kaiserfrage. Wollte man dagegen Gewalt anwenden, so würde dergleichen Jahrhunderte hindurch nicht vergessen und eine Saat von Mißtraun und Haß ausstreun.Daran schließen sich in dem Entwurf die nachträglich gestrichenen Sätze: »Die Erinnrung an die Sendlinger Mordweihnacht (1705) stehe heut noch wie ein Gespenst zwischen Bayern und Oestreich; wir Brandenburger sollten nicht vergessen, daß vor nicht viel unter tausend Jahren der Markgraf Gero dreißig wendische Fürsten zu Gaste lud und ermorden ließ, und daß infolge dessen die Deutschen auf zweihundert Jahre aus dem Gebiete, in dem sie Fuß gefaßt hatten, hinausgeworfen wurden. Zu solchen Praktiken könne ein Edelmann nicht die Hand bieten.« – Die That des Markgrafen Gero, der 30 wendische Fürsten beim Mahle überfiel und tödtete, berichtet Widukind, Res gestae Saxonica II 20; daß er sie selbst in treuloser Weise zum Mahle geladen habe, sagt Widukind nicht ausdrücklich. Ueber die Sendlinger Mordweihnacht (25. Dec. 1705) vgl. Sepp, Der bayrische Bauernkrieg mit den Schlachten bei Sendling und Uidenbach. München 1884.

In dem Geffcken'schen TagebucheZum 16. November, vergl. Kaiser Friedrich's Tagebücher, herausg. Von M. v. Poschinger, S. 120. findet sich die Andeutung, daß wir unsre Stärke nicht gekannt hätten; die Anwendung dieser Stärke in damaliger Gegenwart wäre die Schwäche der Zukunft Deutschlands geworden. Das Tagebuch ist wohl nicht damals auf den Tag geschrieben, sondern später mit Wendungen vervollständigt worden, durch die höfische Streber den Inhalt glaublich zu machen suchten. Ich habe meiner Ueberzeugung, daß es gefälscht sei, und meiner Entrüstung über die Intriganten und Ohrenbläser, die sich einer arglosen und edlen Natur wie Kaiser Friedrich aufdrängten, in dem veröffentlichten ImmediatberichteVom 23. Sept. 1888, Bismarckregesten, herausg. v. H. Kohl, II 464. Ausdruck gegeben. Als ich diesen schrieb, hatte ich keine Ahnung davon, daß der Fälscher in der Richtung von Geffcken, dem hanseatischen Welfen, zu suchen sei, den seine Preußenfeindschaft seit Jahren nicht gehindert hatte, sich um die Gunst des preußischen Kronprinzen zu bewerben, um diesen, sein Haus und seinen Staat mit mehr Erfolg schädigen, selbst aber eine Rolle spielen zu können. Geffcken gehörte zu den Strebern, die seit 1866 verbittert waren, weil sie sich und ihre Bedeutung verkannt fanden.

Außer den bairischen Unterhändlern befand sich in Versailles als besondrer Vertraunsmann des Königs Ludwig der ihm als Oberststallmeister persönlich nahestehende Graf Holnstein. Derselbe übernahm auf meine Bitte in dem Augenblick, wo die Kaiserfrage kritisch war und an dem Schweigen Baierns und der Abneigung König Wilhelm's zu scheitern drohte, die Ueberbringung eines Schreibens von mir an seinen Herrn, das ich, um die Befördrung nicht zu verzögern, sofort an einem abgedeckten Eßtische auf durchschlagendem Papiere und mit widerstrebender Tinte schriebS. Bd. I 382 f. Das Concept ist auf durchschlagendem Papier geschrieben.. Ich entwickelte darin den Gedanken, daß die bairische Krone die Präsidialrechte, für die die bairische Zustimmung geschäftlich bereits vorlag, dem Könige von Preußen ohne Verstimmung des bairischen Selbstgefühls nicht werde einräumen können; der König von Preußen sei ein Nachbar des Königs von Baiern, und bei der Verschiedenheit der Stammesbeziehungen werde die Kritik über die Concessionen, welche Baiern mache und gemacht habe, schärfer und für die Rivalitäten der deutschen Stämme empfindlicher werden. Preußische Autorität innerhalb der Grenzen Baierns ausgeübt, sei neu und werde die bairische Empfindung verletzen, ein deutscher Kaiser aber sei nicht der im Stamme verschiedne Nachbar Baierns, sondern der Landsmann; meines Erachtens könne der König Ludwig die von ihm der Autorität des Präsidiums bereits gemachten Concessionen schicklicher Weise nur einem deutschen Kaiser, nicht einem Könige von Preußen machen. Dieser Hauptlinie meiner Argumentation hatte ich noch persönliche Argumente hinzugefügt, in Erinnrung an das besondre Wohlwollen, welches die bairische Dynastie zu der Zeit, wo sie in der Mark Brandenburg regirte (Kaiser Ludwig), während mehr als einer Generation meinen Vorfahren bethätigt habeDie persönlichen Argumente fehlen durchaus in dem amtlichen Schreiben vom 27. Nov. 1870. Dagegen scheint aus den Mittheilungen bei v. Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Berlin, E. Trewendt, I (2. Aufl.) S. 270 f. hervorzugehen, daß sie in einem zweiten rein privaten Schreiben enthalten gewesen sind, vgl. E. Marcks, Fürst Bismarck's Gedanken und Erinnerungen, Berlin, Gebrüder Paetel, 1899, S. 42 ff. – Daß sie Bismarck auch zu jener Zeit nicht fern lagen, lehrt die Mittheilung der Frau v. Kobell, wonach Bismarck im December 1870 in einem Toaste auf Ludwig II. sagte: »Se. Majestät der König wird an mir, so lange ich lebe, einen so ergebenen Diener finden, als wäre ich noch sein Lehnsträger« (S. 41). Vgl. auch Rusch, Tagebücher, engl. Ausg. I 359.. Ich hielt dieses argumentum ad hominem einem Monarchen von der Richtung des Königs gegenüber für nützlich, glaube aber, daß die politische und dynastische Würdigung des Unterschieds zwischen kaiserlich deutschen und königlich preußischen Präsidialrechten entscheidend in's Gewicht gefallen ist. Der Graf trat seine Reise nach Hohenschwangau binnen zwei Stunden, am 27. November, an und legte sie unter großen Schwierigkeiten und mit häufiger Unterbrechung in vier Tagen zurück. Der König war wegen eines Zahnleidens bettlägrig, lehnte zuerst ab, ihn zu empfangen, nahm ihn aber an, nachdem er vernommen hatte, daß der Graf in meinem Auftrage und mit einem Briefe von mir komme. Er hat darauf im Bette mein Schreiben in Gegenwart des Grafen zweimal sorgfältig durchgelesen, Schreibzeug gefordert und das von mir erbetne und im Concept entworfne Schreiben an den König Wilhelm zu Papier gebracht. Darin war das Hauptargument für den Kaisertitel mit der coercitiven Andeutung wiedergegeben, daß Baiern die zugesagten, aber noch nicht ratificirten Concessionen nur dem deutschen Kaiser, aber nicht dem Könige von Preußen machen könne.Das von Staatsminister Delbrück in der Reichstagssitzung vom 5. December 1870 verlesene, von Bismarck entworfene Schreiben Ludwig's II. an König Wilhelm lautete: »Nach dem Beitritt Süddeutschlands zu dem deutschen Verfassungsbündniß werden die Eurer Majestät übertragenen Präsidialrechte über alle deutschen Staaten sich erstrecken. Ich habe mich zu deren Vereinigung in einer Hand in der Ueberzeugung bereit erklärt, daß dadurch den Gesammtinteressen des deutschen Vaterlandes und seiner verbündeten Fürsten entsprochen werde, zugleich aber in dem Vertrauen, daß die dem Bundespräsidium nach der Verfassung zustehenden Rechte durch Wiederherstellung eines Deutschen Reiches und der deutschen Kaiserwürde als Rechte bezeichnet werden, welche Eure Majestät im Namen des gesammten deutschen Vaterlandes auf Grund der Einigung seiner Fürsten ausüben. Ich habe mich daher an die deutschen Fürsten mit dem Vorschlage gewendet, gemeinschaftlich mit mir bei Eurer Majestät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines deutschen Kaisers verbunden werde. Sobald mir Eure Majestät und die verbündeten Fürsten Ihre Willensmeinung kundgegeben haben, würde ich meine Regierung beauftragen, das Weitere zur Erzielung der entsprechenden Vereinbarungen einzuleiten.« Die im Texte erwähnte »coercitive Andeutung« ist in den Worten enthalten: in dem Vertrauen, daß u. s. w. Ich hatte diese Wendung ausdrücklich gewählt, um einen Druck auf die Abneigung meines hohen Herrn gegen den Kaisertitel auszuüben. Am siebenten Tage nach seiner Abreise, am 3. December, war Graf Holnstein mit diesem Schreiben des Königs wieder in Versailles; es wurde noch an demselben Tage durch den Prinzen Luitpold, jetzigen Regenten, unserm Könige officiell überreicht und bildete ein gewichtiges Moment für das Gelingen der schwierigen und vielfach in ihren Aussichten schwankenden Arbeiten, die durch das Widerstreben des Königs Wilhelm und durch die bis dahin mangelnde Feststellung der bairischen Erwägungen veranlaßt waren. Der Graf Holnstein hat sich durch diese in einer schlaflosen Woche zurückgelegte doppelte Reise und durch die geschickte Durchführung seines Auftrags in Hohenschwangau ein erhebliches Verdienst um den Abschluß unsrer nationalen Einigung durch Beseitigung der äußern Hindernisse der Kaiserfrage erworben.

Eine neue Schwierigkeit erhob Se. Majestät bei der Formulirung des Kaisertitels, indem er, wenn schon Kaiser, Kaiser von Deutschland heißen wollte. In dieser Phase haben der Kronprinz, der seinen Gedanken an einen König der Deutschen längstSeit jenem Ritte vom 2. Sept. und der Auseinandersetzung in Donchery am 3. Sept. – Immerhin verlangte der Kronprinz noch am 6. December nach seinem Tagebuche für das Reichswappen die deutsche Königskrone, wenigstens als »Attribut der Kaiserwürde«. fallen gelassen hatte, und der Großherzog von Baden mich, jeder in seiner Weise, unterstützt, wenn auch keiner von Beiden der zornigen Abneigung des alten Herrn gegen den »Charakter-Major«S. o. S. 71. 140 f. offen widersprach. Der Kronprinz unterstützte mich durch passive Assistenz in Gegenwart seines Herrn Vaters und durch gelegentliche kurze Aeußrungen seiner Ansicht, die aber meine Gefechtsposition dem Könige gegenüber nicht stärkten, sondern eher eine verschärfte Reizbarkeit des hohen Herrn zur Folge hatten. Denn der König war noch leichter geneigt, dem Minister, als seinem Herrn Sohne Concessionen zu machen, in gewissenhafter Erinnrung an Verfassungseid und Ministerverantwortlichkeit. Meinungsverschiedenheiten mit dem Kronprinzen faßte er von dem Standpunkte des pater familias auf.

In der Schlußberathung am 17. Januar 1871 lehnte er die Bezeichnung Deutscher Kaiser ab und erklärte, er wolle Kaiser von Deutschland oder garnicht Kaiser sein.Man vgl. dazu Kaiser Friedrich's Tagebücher zum 17. Januar 1871, S. 129 ff., Abeken, Ein schlichtes Leben in bewegter Zeit, S. 483 f. Ich hob hervor, wie die adjectivische Form Deutscher Kaiser und die genitivische Kaiser von Deutschland sprachlich und zeitlich verschieden seien. Man hätte Römischer Kaiser, nicht Kaiser von Rom gesagt; der Zar nenne sich nicht Kaiser von Rußland, sondern Russischer, auch »gesammtrussischer« (wserossiski) Kaiser. Das Letztre bestritt der König mit Schärfe, sich darauf berufend, daß die Rapporte seines russischen Regiments Kaluga stets »pruskomu« adressirt seien, was er irrthümlich übersetzte. Meiner Versichrung, daß die Form der Dativ des Adjectivums sei, schenkte er keinen Glauben und hat sich erst nachher von seiner gewohnten Autorität für russische Sprache, dem Hofrath Schneider, überzeugen lassen. Ich machte ferner geltend, daß unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. auf den Thalern Borussorum, nicht Borussiae rex erscheine, daß der Titel Kaiser von Deutschland einen landesherrlichen Anspruch auf die nichtpreußischen Gebiete involvire, den die Fürsten zu bewilligen nicht gemeint wären; daß in dem Schreiben des Königs von Baiern in Anregung gebracht sei, daß »die Ausübung der Präsidialrechte mit Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werde«; endlich daß derselbe Titel auf Vorschlag des Bundesraths in die neue Fassung des Artikel 11 der Verfassung aufgenommen sei.

Die Erörtrung ging über auf den Rang zwischen Kaisern und Königen, zwischen Erzherzogen, Großfürsten und preußischen Prinzen. Meine Darlegung, daß den Kaisern im Prinzip ein Vorrang vor Königen nicht eingeräumt werde, fand keinen Glauben, obwohl ich mich darauf berufen konnte, daß Friedrich Wilhelm I. bei einer Zusammenkunft mit Karl VI., der doch dem Kurfürsten von Brandenburg gegenüber die Stellung des Lehnsherrn hatte, als König von Preußen die Gleichheit beanspruchte und durchsetzte, indem man einen Pavillon erbaun ließ, in den die beiden Monarchen von den entgegengesetzten Seiten gleichzeitig eintraten, um einander in der Mitte zu begegnen.

Die Zustimmung, die der Kronprinz zu meiner Ausführung zu erkennen gab, reizte den alten Herrn noch mehr, so daß er auf den Tisch schlagend sagte: »Und wenn es so gewesen wäre, so befehle ich jetzt, wie es sein soll. Die Erzherzoge und Großfürsten haben stets den Vorrang vor den preußischen Prinzen gehabt, und so soll es ferner sein.« Damit stand er auf, trat an das Fenster, den um den Tisch Sitzenden den Rücken zuwendend. Die Erörtrung der Titelfrage kam zu keinem klaren Abschluß; indessen konnte man sich doch für berechtigt halten, die Ceremonie der Kaiserproclamation anzuberaumen, aber der König hatte befohlen, daß nicht von dem Deutschen Kaiser, sondern von dem Kaiser von Deutschland dabei die Rede sei.

Diese Sachlage veranlaßte mich, am folgenden Morgen, vor der Feierlichkeit im Spiegelsaale, den Großherzog von Baden aufzusuchen, als den ersten der anwesenden Fürsten, der voraussichtlich nach Verlesung der Proclamation das Wort nehmen würde, und ihn zu fragen, wie er den neuen Kaiser zu bezeichnen denke. Der Großherzog antwortete: »Als Kaiser von Deutschland, nach Befehl Sr. Majestät.« Unter den Argumenten, die ich dem Großherzoge dafür geltend machte, daß das abschließende Hoch auf den Kaiser nicht in dieser Form ausgebracht werden könne, war das durchschlagendste meine Berufung auf die Thatsache, daß der künftige Text der Reichsverfassung bereits durch einen Beschluß des Reichstags in Berlin präjudicirt sei. Die in seinen constitutionellen Gedankenkreis fallende Hinweisung auf den Reichstagsbeschluß bewog ihn, den König noch einmal aufzusuchen. Die Unterredung der beiden Herrn blieb mir unbekannt, und ich war bei Verlesung der Proclamation in Spannung. Der Großherzog wich dadurch aus, daß er ein Hoch weder auf den Deutschen Kaiser, noch auf den Kaiser von Deutschland, sondern auf den Kaiser Wilhelm ausbrachte.

Se. Majestät hatte mir diesen Verlauf so übel genommen, daß er beim Herabtreten von dem erhöhten Stande der Fürsten mich, der ich allein auf dem freien Platze davor stand, ignorirte, an mir vorüberging, um den hinter mir stehenden Generalen die Hand zu bietenDas bestätigt der dem »Preußischen Staatsanzeiger« eingesendete Bericht, der zwar von der Umarmung des Kronprinzen, des Großherzogs von Baden und anderer verwandter Fürsten, auch von der Begrüßung der militärischen Deputationen erzählt, aber nichts von einem Dank an den Bundeskanzler., und in dieser Haltung mehre Tage verharrte, bis allmälig die gegenseitigen Beziehungen wieder in das alte Geleise kamen.


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