Otto Fürst von Bismarck
Gedanken und Erinnerungen - Zweiter Band
Otto Fürst von Bismarck

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Intrigen

I.

Graf Harry Arnim vertrug wenig Wein und sagte mir einmal nach einem Frühstücksglase: »In jedem Vordermanne in der Carrière sehe ich einen persönlichen Feind und behandle ihn dementsprechend. Nur darf er es nicht merken, so lange er mein Vorgesetzter ist.« Es war dies in der Zeit, als er nach dem Tode seiner ersten Frau aus Rom zurückgekommen, durch eine italienische Amme seines Sohnes in roth und gold Aufsehn auf den Promenaden erregte und in politischen Gesprächen gern Macchiavell und die Werke italienischer Jesuiten und Biographen citirte. Er posirte damals in der Rolle eines Ehrgeizigen, der keine Scrupel kannte, spielte hinreißend Klavier und war vermöge seiner Schönheit und Gewandheit gefährlich für die Damen, denen er den Hof machte. Diese Gewandheit auszubilden, hatte er frühzeitig begonnen, indem er als Schüler des Neustettiner Gymnasiums von den Damen einer wandernden Schauspielertruppe sich in die Lehre nehmen ließ und das mangelnde Orchester am Clavier ersetzte.

Unter den Persönlichkeiten, die neben ausländischen Einflüssen, neben der »Reichsglocke« und ihren Mitarbeitern in aristokratischen und Hofkreisen und in den Ministerien meiner Collegen, neben dem verstimmten Junkerthume und dessen Aera-Artikeln in der Kreuzzeitung, daran arbeiteten, mir das Vertraun des Kaisers zu entziehn, spielte Graf Harry Arnim eine hervorragende Rolle.

Am 23. August 1871 wurde er auf meinen Antrag zum Gesandten, demnächst zum Botschafter in Paris ernannt, wo ich seine hohe Begabung trotz seiner Fehler im Interesse des Dienstes nützlich zu verwerthen hoffte; er sah in seiner Stellung dort aber nur eine Stufe, von der aus er mit mehr Erfolg daran arbeiten konnte, mich zu beseitigen und mein Nachfolger zu werden. Er machte in Privatbriefen an den Kaiser geltend, daß das preußische Königshaus gegenwärtig das älteste in Europa sei, das sich in ununterbrochner Regirung erhalten habe, und daß dem Kaiser, als dem doyen der Monarchen, durch diese Gnade Gottes eine Verpflichtung erwachse, die Legitimität und Continuität andrer alter Dynastien zu überwachen und zu schützen. Die Berührung dieser Saite im Gemüthe des Kaisers war psychologisch richtig berechnet, und wenn Arnim allein ihn zu berathen gehabt hätte, so wäre es ihm vielleicht gelungen, das klare und nüchterne Urtheil dieses Herrn durch ein künstlich gesteigertes Gefühl von angestammter Fürstenpflicht zu trüben. Aber er wußte nicht, daß Se. Majestät mir in seiner graden und ehrlichen Weise die Briefe mittheilte und dadurch Gelegenheit gab, der politischen Einsicht, man könnte sagen, dem gesunden Verstande des Herrn die Schäden und Gefahren der Rathschläge darzulegen, denen wir auf dem von Arnim empfohlnen Wege der Herstellung der Legitimität in Frankreich entgegengehn würden.

Meine schriftlichen Auslassungen in diesem Sinne erlaubte der Kaiser später Arnim'schen Schmähschriften gegenüber zu veröffentlichen. In einer derselben ist Bezug darauf genommen, daß dem Könige bekannt sei, daß Arnim's Aufrichtigkeit in maßgebenden Kreisen angezweifelt werde, und daß man ihn am englischen Hofe als Botschafter nicht gewünscht habe, »weil man ihm kein Wort glauben würde«Schreiben an den Kaiser vom 14. April 1873, Anhang zu Bismarck's Gedanken und Erinnerungen I 237 ff.. Graf Arnim hat wiederholt Versuche gemacht, ein Zeugniß des englischen Cabinets gegen diese meine Andeutung zu erlangen, und von den ihm mehr als mir wohlwollenden englischen Staatsmännern die Versichrung erhalten, daß ihnen nichts derart bekannt sei. Doch war die von mir angedeutete präventive Zurückweisung Arnim's in einer Gestalt an den Kaiser gelangt, daß ich mich öffentlich auf Sr. Majestät Zeugniß über die Thatsache berufen konnte.

Nachdem Arnim sich 1873 in Berlin überzeugt hatte, daß seine Aussichten, an meine Stelle zu treten, noch nicht so reif waren, wie er angenommen hatte, versuchte er einstweilen das frühere gute Verhältniß herzustellen, suchte mich auf, bedauerte, daß wir durch Mißverständnisse und Intrigen Andrer auseinander gekommen wären, und erinnerte an Beziehungen, die er einst mit mir gehabt und gesucht hatte. Zu gut von seinem Treiben und von dem Ernst seines Angriffs auf mich unterrichtet, um mich täuschen zu lassen, sprach ich ganz offen mit ihm, hielt ihm vor, daß er mit allen mir feindlichen Elementen in Verbindung getreten sei, um meine politische Stellung zu erschüttern, in der irrigen Annahme, er werde mein Nachfolger werden, und daß ich an seine versöhnliche Gesinnung nicht glaube. Er verließ mich, indem er mit der ihm eignen Leichtigkeit des Weinens eine Thräne im Auge zerdrückte. Ich kannte ihn von seiner Kindheit an.

Mein amtliches Verfahren gegen Arnim war von ihm provocirt durch seine Weigerung, amtlichen Instructionen Folge zu leisten. Ich habe die Thatsache, daß er Gelder, die er zur Vertretung unsrer Politik in der französischen Presse erhielt, 6000 bis 7000 Thaler, dazu verwandte, in der deutschen Presse unsre Politik und meine Stellung anzugreifen, in den Gerichtsverhandlungen niemals berühren lassen. Sein Hauptorgan, in welchem er mich und mit steigender Siegeszuversicht angriff, war damals die »Spener'sche Zeitung«, die, im Absterben begriffen, ihm käuflich war. In derselben ließ er Andeutungen machen, als ob er allein ein Mittel wisse, den Kampf mit Rom siegreich zu Ende zu führen, und daß nur mein unberechtigter Ehrgeiz einen überlegnen Staatsmann, wie er sei, nicht an's Ruder kommen lasse. Gegen mich hat er sich über dieses Arcanum nicht ausgesprochen. Dasselbe bestand in dem von einzelnen Canonisten vertretnen Gedanken, daß die römisch-katholische Kirche durch die Beschlüsse des Vaticanums ihre Natur verändert habe, ein andres Rechtssubject geworden sei und die in ihrem frühern Dasein erworbenen Eigenthums- und Vertragsrechte verloren habe. Ich habe dieses Mittel früher als er erwogen, glaube aber nicht, daß es eine stärkre Wirkung auf den Austrag des Streits geübt haben würde, als die Gründung der altkatholischen Kirche es vermochte, deren Berechtigung logisch und juristisch noch einleuchtender und gerechtfertigter war, als es die angerathne Lossagung der Preußischen Regirung von ihren Beziehungen zur römischen Kirche gewesen sein würde. Die Zahl der Altkatholiken giebt das Maß für die Wirkung, welche dieser Schachzug auf den Bestand der Anhänger des Papstes und des Neokatholicismus geübt haben würde. Noch weniger versprach ich mir von dem Vorschlage, den Graf Arnim in einem der veröffentlichten Berichte gemacht hat, die preußische Regirung möge »Oratores« zur Erörtrung der dogmatischen Fragen in das Concil schicken. Ich vermuthe, daß er darauf durch den Titelkopf der von Paolo Sarpi verfaßten Geschichte des Tridentiner Concils gekommen ist, auf dem die Versammlung abgebildet ist und zwei an einem besondern Tische sitzende Personen als Oratores Caesareae Majestatis bezeichnet sind. Ist meine Vermuthung richtig, so hat Graf Arnim wissen müssen, daß »orator« in der clericalen Latinität jener Zeit der Ausdruck für Gesandter ist.

In dem Gerichtsverfahren gegen ihn verfolgte ich nur den Zweck, die von mir dienstlich gestellte, von Arnim definitiv abgelehnte Forderung der Herausgabe bestimmter, zweifellos amtlicher Bestandtheile der Botschaftsacten durchzusetzen. Mir kam es nur darauf an, als Vorgesetzter die amtliche Autorität zu wahren; ein Straferkenntniß gegen Arnim habe ich weder erstrebt noch erwartet, im Gegentheile würde ich, nachdem ein solches erfolgt war, seine Begnadigung wirksam befürwortet haben, wenn dieselbe in der durch das Contumacial-Erkenntniß geschaffnen Lage juristisch zulässig gewesen wäre. Mich trieb keine persönliche Rachsucht, sondern, wenn man eine tadelnde Bezeichnung finden will, eher bürokratische Rechthaberei eines in seiner Autorität mißachteten Vorgesetzten. War schon das Erkenntniß in dem ersten Proceß auf neun Monat Gefängniß ein meiner Ansicht nach übertrieben strenges, so war die Verurtheilung in dem zweiten Processe zu fünf Jahren Zuchthaus doch nur, wie der Verurtheilte selbst richtig bemerkt hat, dadurch möglich geworden, daß der regelmäßige Strafrichter nicht in der Lage ist, die Sünden der Diplomatie in internationalen Verhandlungen mit vollem Verständnisse zu beurtheilen. Dieses Erkenntniß würde ich nur dann für adäquat gehalten haben, wenn der Verdacht erwiesen gewesen wäre, daß der Verurtheilte seine Verbindungen mit dem Baron Hirsch benutzt hätte, um die Verzögerung der Ausführung seiner Instructionen Börsenspekulationen dienstbar zu machen. Ein Beweis dafür ist in dem Gerichtsverfahren weder geführt, noch versucht worden. Die Annahme, daß er lediglich aus geschäftlichen Gründen die Ausführung einer präcisen Weisung unterlassen habe, blieb immerhin zu seinen Gunsten möglich, obschon ich mir den Gedankengang, dem er dabei gefolgt sein müßte, nicht klar machen kann. Der erwähnte Verdacht ist aber meinerseits nicht ausgesprochen worden, obschon er dem Auswärtigen Amte und der Hofgesellschaft durch Pariser Correspondenzen und Reisende mitgetheilt worden war und in diesen Kreisen colportirt wurde. Es war ein Verlust für den diplomatischen Dienst bei uns, daß die ungewöhnliche Begabung Arnim's für diesen Dienst nicht mit einem gleichen Maße von Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit gepaart war.

Welche Eindrücke die diplomatischen Kreise empfingen, zeigt u. A. der nachstehende Brief des Staatssekretärs von Bülow vom 23. October 1874:

»Die Kreuzzeitung enthält heute eine perfide Einsendung, offenbar von Graf Arnim selbst auf die Melodie: Was habe ich denn Böses gethan? Nichts, als ganz persönliche Actenstücke vor der Indiscretion von Botschaftern und Kanzlisten gerettet; ich würde sie längst herausgegeben haben, wenn das Auswärtige Amt nicht so rücksichtslos und grob gewesen wäre. Es ist schwer, während der Untersuchung auf solche Lügen und Verdrehungen zu antworten. Einstweilen bringt die Weserzeitung gestern die sehr nützliche Notiz über den Inhalt mehrerer der vermißten Actenstücke. Gestern war Feldmarschall von Manteuffel bei mir, zumeist um sich nach der causa Arnim zu erkundigen. Er sprach in sehr passender Weise seine Ueberzeugung aus, daß man nicht anders habe handeln können, und daß er den Reichskanzler und die Diplomatie bedaure, mit solchen Erfahrungen die Geschäfte leiten zu müssen. Da er übrigens Arnim von Jugend auf kenne, und unter oder neben ihm in Nancy genug habe leiden müssen, so überrasche die Katastrophe ihn nicht; Arnim sei ein Mann, der bei jeder Sache nur gefragt habe: Was nützt oder schadet sie mir persönlich? Wörtlich dasselbe sagten mir Lord Odo Russell als Ergebniß seiner römischen Erfahrungen und Nothomb als Erinnerung aus Brüssel. Am merkwürdigsten war mir, daß der Feldmarschall wiederholt darauf zurückkam, daß Arnim im Sommer 72 angefangen habe, gegen E. D. zu conspiriren, ihn, Manteuffel, in dieser Beziehung im Sommer 73 habe sondiren wollen und durch seine Haltung gegen Thiers dessen Sturz mit allen üblen politischen Folgen hauptsächlich mit verschuldet habe. Ueber letzteres Kapitel sprach er mit großer Sach- und Personalkenntniß und nicht ohne Hindeutung auf den Einfluß, den damals Arnim sich allerhöchsten Orts zu verschaffen gewußt, durch Schüren gegen Republik und für legitime Ueberlieferung. Am Tage von Thiers' Sturz habe er mit mehreren hervorragenden Orleanisten dinirt; die Bulletins aus Versailles seien ihm während des Diners zugegangen und mit Jubel begrüßt worden – ein Rückhalt für die Partei, ohne den sie vielleicht nicht den moralischen Muth zu dem coup d'état vom 24. Mai gehabt. Im gleichen Sinne sagte mir Nothomb, Thiers habe ihm im vorigen Winter von Arnim gesagt: cet homme m'a fait beaucoup de mal, beaucoup plus même que ne sait ni pense Monsieur de Bismarck.«

In dem Verleumdungsproceß gegen den Redacteur der »Reichsglocke«, Januar 1877, sagte der Staatsanwalt:

»Ich mache für diese verbrecherische Tendenz alle Mitarbeiter des Blattes, auch alle diejenigen, die das Blatt durch Rath und durch That unterstützen, moralisch verantwortlich, zunächst insbesondre den Herrn von Loë, sodann aber auch den Grafen Harry von Arnim. Es ist garnicht zu bezweifeln, daß alle die Artikel ›Arnim contra Bismarck‹, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, seit Jahr und Tag die Person des Fürsten Bismarck anzugreifen, herabzusetzen, im Interesse des Grafen Arnim geschrieben werden.«

II.

Meiner Ueberzeugung nach hat die römische Curie den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ebenso wie die meisten Politiker seit 1866 als wahrscheinlich betrachtet, als ebenso wahrscheinlich auch, daß Preußen unterliegen würde. Den Krieg vorausgesetzt, mußte der damalige Papst darauf rechnen, daß der Sieg Frankreichs über das evangelische Preußen die Möglichkeit bieten werde, den Vorstoß, den er selbst mit dem Concil und der Unfehlbarkeit gegen die akatholische Welt und gegen nervenschwache Katholiken gemacht hatte, zu weitern Consequenzen zu treiben. Wie das kaiserliche Frankreich und besonders die Kaiserin Eugenie damals zu dem Papste standen, ließ sich ohne zu gewagte Berechnung annehmen, daß Frankreich, wenn seine Heere siegreich in Berlin ständen, bei dem Friedensschlusse die Interessen der katholischen Kirche in Preußen nicht unberücksichtigt lassen würde, wie der Kaiser von Rußland Friedensschlüsse zu benutzen pflegt, um sich seiner Glaubensgenossen im Oriente anzunehmen. Es würden sich die gesta Dei per Francos vielleicht um einige neue Fortschritte der päpstlichen Macht bereichert haben, und die Entscheidung der confessionellen Kämpfe, die nach der Meinung katholischer Schriftsteller (Donoso Cortes de Valdegamas) schließlich »auf dem Sande der Mark Brandenburg« auszufechten sind, würde durch eine übermächtige Stellung Frankreichs in Deutschland nach verschiednen Richtungen hin gefördert worden sein. Die Parteinahme der Kaiserin Eugenie für die kriegerische Richtung der französischen Politik wird schwerlich ohne Zusammenhang mit ihrer Hingebung für die katholische Kirche und den Papst gewesen sein; und wenn die französische Politik und die persönlichen Beziehungen Louis Napoleon's zur italienischen Bewegung es unmöglich machten, daß Kaiser und Kaiserin dem Papste in Italien in befriedigender Weise gefällig waren, so würde die Kaiserin ihre Ergebenheit für den Papst im Falle des Sieges in Deutschland bethätigt und auf diesem Gebiete eine allerdings unzulängliche fiche de consolation für die Schäden gewährt haben, die der päpstliche Stuhl in Italien unter und durch Napoleon's Mitwirkung erlitten hatte.

Wenn nach dem Frankfurter Frieden eine katholisirende Partei, sei es royalistischer, sei es republikanischer Form, in Frankreich am Ruder geblieben wäre, so würde es schwerlich gelungen sein, die Erneuerung des Krieges so lange, wie geschehn, hinauszuschieben. Es war alsdann zu befürchten, daß die beiden von uns bekämpften Nachbarmächte, Oestreich und Frankreich, auf dem Boden der gemeinsamen Katholicität sich einander nähern und uns entgegentreten würden, und die Thatsache, daß es in Deutschland so wenig wie in Italien an Elementen fehlte, deren confessionelles Gefühl stärker war als das nationale, hätte zur Verstärkung und Ermuthigung einer solchen katholischen Allianz gedient. Ob wir ihr gegenüber Bundesgenossen finden würden, ließ sich nicht sicher voraussehn; jedenfalls hätte es in der Willkür Rußlands gestanden, die östreichisch-französische Freundschaft durch seinen Zutritt zu einer übermächtigen Coalition auszubilden, wie im siebenjährigen Kriege, oder uns doch unter dem diplomatischen Drucke dieser Möglichkeit in Abhängigkeit zu erhalten.

Mit der Herstellung einer katholisirenden Monarchie in Frankreich wäre die Versuchung, gemeinschaftlich mit Oestreich Revanche zu nehmen, erheblich näher getreten. Ich hielt es deshalb dem Interesse Deutschlands und des Friedens widersprechend, die Restauration des Königthums in Frankreich zu fördern, und gerieth in Gegnerschaft zu den Vertretern dieser Idee. Dieser Gegensatz spitzte sich persönlich zu gegenüber dem damaligen französischen Botschafter Gontaut-Biron und unserm damaligen Botschafter in Paris, Grafen Harry Arnim. Der Erstre war im Sinne der Partei thätig, der er von Natur angehörte, der legitimistisch-katholischen; der Letztre aber speculirte auf die legitimistischen Sympathien des Kaisers, um meine Politik zu discreditiren und mein Nachfolger zu werden. Gontaut, ein geschickter und liebenswürdiger Diplomat aus alter Familie, fand bei der Kaiserin Augusta Anknüpfungspunkte einerseits in deren Vorliebe für katholische Elemente in und neben dem Centrum, mit denen die Regirung im Kampfe stand, andrerseits in seiner Eigenschaft als Franzose, die in den Jugenderinnrungen der Kaiserin aus der Zeit ohne Eisenbahnen an deutschen Höfen fast in gleichem Maße wie die Eigenschaft des Engländers zur Empfehlung diente.Derselbe, wahrscheinlich von Gontaut an Ihre Majestät empfohlen, unterhielt einen lebhaften Briefwechsel mit Gambetta, der nach des Letztern Tode in die Hände von Madame Adam gerieth und als hauptsächliches Material für die Schrift La Société de Berlin gedient hat. Nach Paris zurückgekehrt, wurde Gérard eine Zeit lang Leiter der officiösen Presse, dann Legationssekretär in Madrid, Geschäftsträger in Rom und 1890 Gesandter in Montenegro. Ihre Majestät hatte französisch sprechende Diener, ihr französischer Vorleser GérardS. Bd. I 142 f. 145. 350. fand Eingang in die Kaiserliche Familie und Correspondenz. Alles Ausländische mit Ausnahme des Russischen hatte für die Kaiserin dieselbe Anziehungskraft, wie für so viele deutschen Kleinstädter. Bei den alten langsamen Verkehrsmitteln war früher an den deutschen Höfen ein Ausländer, besonders ein Engländer oder Franzose fast immer ein interessanter Besuch, nach dessen Stellung in der Heimath nicht ängstlich gefragt wurde; um ihn hoffähig zu machen, genügte es, daß er »weit her« und eben kein Landsmann war.

Auf demselben Boden erwuchs in ausschließlich evangelischen Kreisen das Interesse, welches die fremdartige Erscheinung eines Katholiken und, am Hofe, eines Würdenträgers der katholischen Kirche, damals einflößte. Es war zur Zeit Friedrich Wilhelm's III. eine interessante Unterbrechung der Einförmigkeit, wenn Jemand katholisch war. Ein katholischer Mitschüler wurde ohne jedes confessionelle Uebelwollen mit einer Art von Verwunderung wie eine exotische Erscheinung und nicht ohne Befriedigung darüber betrachtet, daß ihm von der Bartholomäusnacht, von Scheiterhaufen und dem dreißigjährigen Kriege nichts anzumerken war. Im Hause des Professors von Savigny, dessen Frau katholisch war, wurde den Kindern, wenn sie 14 Jahre alt waren, die Wahl der Confession freigestellt; sie folgten der evangelischen Confession des Vaters mit Ausnahme meines Altersgenossen, des nachmaligen Bundestagsgesandten und Mitbegründers des Centrums. In der Zeit, als wir beide Primaner oder Studenten waren, sprach er ohne polemische Färbung über die Motive der getroffnen Wahl und führte dabei die imponirende Würde des katholischen Gottesdienstes, dann aber auch den Grund an, katholisch sei doch im Ganzen vornehmer, »protestantisch ist ja jeder dumme Junge«.

Diese Verhältnisse und Stimmungen haben sich geändert in dem halben Jahrhundert, in dem die politische und wirthschaftliche Entwicklung alle Varietäten der Bevölkerung nicht blos Europas mit einander in nähere Berührung gebracht hat. Heut zu Tage kann man durch die Kundgebung, katholisch zu sein, in keinem Berliner Kreise mehr Aufsehn erregen oder auch nur einen Eindruck machen. Nur die Kaiserin Augusta ist von ihren Jugendeindrücken nicht frei geworden. Ein katholischer Geistlicher erschien ihr vornehmer als ein evangelischer von gleichem Range und von gleicher Bedeutung. Die Aufgabe, einen Franzosen oder Engländer zu gewinnen, hatte für sie mehr Anziehung als dieselbe Aufgabe einem Landsmanne gegenüber, und der Beifall der Katholiken wirkte befriedigender als der der Glaubensgenossen. Gontaut-Biron, dazu aus vornehmer Familie, hatte keine Schwierigkeit, sich in den Hofkreisen eine Stellung zu schaffen, deren Verbindungen auf mehr als einem Wege an die Person des Kaisers heranreichten.

Daß die Kaiserin in der Person Gérards einen französischen geheimen Agenten zu ihrem Vorleser nahm, ist eine Abnormität, deren Möglichkeit ohne das Vertrauen, welches Gontaut durch seine Geschicklichkeit und durch die Mitwirkung eines Theils der katholischen Umgebung Ihrer Majestät genoß, nicht verständlich ist. Für die französische Politik und die Stellung des französischen Botschafters in Berlin war es natürlich ein erheblicher Vortheil, einen Mann wie Gérard in dem kaiserlichen Haushalte zu sehn. Derselbe war gewandt bis auf die Unfähigkeit, seine Eitelkeit im Aeußern zu unterdrücken. Er liebte es, als Muster der neusten Pariser Mode zu erscheinen, in einer für Berlin auffälligen Uebertreibung, ein Mißgriff, durch welchen er sich indessen in dem Palais nicht schadete. Das Interesse für exotische und besonders Pariser Typen war mächtiger als der Sinn für einfachen Geschmack.

Gontaut's Thätigkeit im Dienste Frankreichs beschränkte sich nicht auf das Berliner Terrain. Er reiste 1875 nach Petersburg, um dort mit dem Fürsten Gortschakow den Theatercoup einzuleiten, welcher bei dem bevorstehenden Besuche des Kaisers Alexander in Berlin die Welt glauben machen sollte, daß er allein das wehrlose Frankreich vor einem deutschen Ueberfall bewahrt habe, indem er uns mit einem Quos ego! in den Arm gegriffen und zu dem Zweck den Kaiser nach Berlin begleitet habe.

Von wem der Gedanke ausgegangen ist, weiß ich nicht; wenn von Gontaut, so wird er bei Gortschakow einen empfänglichen Boden gefunden haben bei dessen eitler NaturVgl. o. S. 126 f., seiner Eifersucht auf mich und dem Widerstande, den ich seinen Ansprüchen auf Präpotenz zu leisten gehabt hatte. Ich hatte ihm in vertraulichem Gespräch sagen müssen: »Sie behandeln uns nicht wie eine befreundete Macht, sondern comme un domestique, qui ne monte pas assez vite, quand on a sonné.« Gortschakow beutete es aus, daß er dem Gesandten Grafen Redern und den auf ihn folgenden Geschäftsträgern an Autorität überlegen war, und benutzte mit Vorliebe zu Verhandlungen den Weg der Mittheilung seinerseits an unsre Vertretung in Petersburg unter Vermeidung der Instruirung des russischen Botschafters in Berlin behufs Besprechung mit mir. Ich halte es für Verleumdung, was Russen mir gesagt haben, das Motiv dieses Verfahrens sei gewesen, daß in dem Etat des auswärtigen Ministers ein Pauschquantum für Telegramme ausgeworfen sei und Gortschakow deshalb seine Mitteilungen lieber auf deutsche Kosten durch unsern Geschäftsträger als auf russische besorgt habe. Ich suche, obschon er sicher geizig war, das Motiv auf politischem Gebiete. Gortschakow war ein geistreicher und glänzender Redner und liebte es, sich als solchen namentlich den fremden, in Petersburg beglaubigten Diplomaten gegenüber zu zeigen. Er sprach französisch und deutsch mit gleicher Beredsamkeit, und ich habe seinen docirenden Vorträgen oft stundenlang gern zugehört als Gesandter und später als College. Mit Vorliebe hatte er als Zuhörer fremde Diplomaten und namentlich jüngre Geschäftsträger von Intelligenz, denen gegenüber die vornehme Stellung des auswärtigen Ministers, bei dem sie beglaubigt waren, dem oratorischen Eindrucke zu Hülfe kam. Auf diesem Wege gingen mir die Gortschakow'schen Willensmeinungen in Formen zu, die an das Roma locuta est erinnerten. Ich beschwerte mich in Privatbriefen bei ihm direct über diese Form des Geschäftsbetriebes und über die Tonart seiner Eröffnungen und bat ihn, in mir nicht mehr den diplomatischen Schüler zu sehn, der ich in Petersburg ihm gegenüber bereitwillig gewesen wäre, sondern jetzt mit der Thatsache zu rechnen, daß ich ein für die Politik meines Kaisers und eines großen Reichs verantwortlicher College sei.

Als 1875 während der Vacanz des Botschafterpostens ein Legationssekretär als Geschäftsträger fungirte, wurde Herr von Radowitz, damals Gesandter in Athen, en mission extraordinaire nach Petersburg geschickt, um die Geschäftsführung auch äußerlich auf den Fuß der Gleichheit zu bringen. Er hatte dadurch Gelegenheit, sich durch entschlossene Emancipation von Gortschakow's präpotenter Beeinflussung dessen Abneigung in einem so hohen Grade zuzuziehn, daß die Abneigung des russischen Cabinets gegen ihn ungeachtet seiner russischen Heirath vielleicht noch heut nicht erloschen ist.

Die Rolle des Friedensengels, sehr geeignet, Gortschakow's Selbstgefühl durch den ihm über alles theuern Eindruck in Paris zu befriedigen, war von Gontaut in Berlin vorbereitet worden; es läßt sich annehmen, daß seine Gespräche mit dem Grafen Moltke und mit Radowitz, die später als Beweismittel für unsre kriegerischen Absichten angeführt wurden, von ihm mit Geschick herbeigeführt waren, um vor Europa das Bild eines von uns bedrohten, von Rußland beschützten Frankreich zur Anschauung zu bringen. In Berlin am 10. Mai 1875 angekommen, erließ Gortschakow unter dem Datum dieses Ortes ein zur Mittheilung bestimmtes telegraphisches Circular, welches mit den Worten anfing: »Maintenant, also unter russischem Druck, la paix est assurée,»als ob das vorher nicht der Fall gewesen wäre. Einer der dadurch avisirten außerdeutschen Monarchen hat mir gelegentlich den Text gezeigt.

Ich machte dem Fürsten Gortschakow lebhafte Vorwürfe und sagte, es sei kein freundschaftliches Verhalten, wenn man einem vertrauenden und nichts ahnenden Freunde plötzlich und hinterrücks auf die Schulter springe, um dort eine Circus-Vorstellung auf seine Kosten in Scene zu setzen, und daß dergleichen Vorgänge zwischen uns leitenden Ministern den beiden Monarchien und Staaten zum Schaden gereichten. Wenn ihm daran liege, in Paris gerühmt zu werden, so brauchte er deshalb unsre russischen Beziehungen noch nicht zu verderben, ich sei gern bereit, ihm beizustehn und in Berlin Fünffrankenstücke schlagen zu lassen mit der Umschrift: Gortchakoff protège la France; wir könnten auch in der deutschen Botschaft ein Theater herstellen, wo er der französischen Gesellschaft mit derselben Umschrift als Schutzengel im weißen Kleide und mit Flügeln in bengalischem Feuer vorgeführt würde.

Er wurde unter meinen bittern Invectiven ziemlich kleinlaut, bestritt die für mich beweiskräftig feststehenden Thatsachen und zeigte nicht die ihm sonst eigne Sicherheit und Beredsamkeit, woraus ich schließen durfte, daß er Zweifel hatte, ob sein kaiserlicher Herr sein Verhalten billigen werde. Der Beweis wurde vervollständigt, als ich mich bei dem Kaiser Alexander mit derselben Offenheit über Gortschakow's unehrliches Verfahren beschwerte; der Kaiser gab den ganzen Thatbestand zu und beschränkte sich rauchend und lachend darauf, zu sagen, ich möge diese vanité sénile nicht zu ernsthaft nehmen. Die dadurch allerdings ausgesprochne Mißbilligung hat aber niemals einen hinreichend authentischen Ausdruck gefunden, um die Legende von unsrer Absicht, 1875 Frankreich zu überfallen, aus der Welt zu schaffen.

Mir lag eine solche damals und später so fern, daß ich eher zurückgetreten sein würde, als zu einem vom Zaune zu brechenden Kriege die Hand zu bieten, der kein andres Motiv gehabt haben würde, als Frankreich nicht wieder zu Athem und zu Kräften kommen zu lassen. Ein solcher Krieg hätte meiner Ansicht nach nicht zu haltbaren Zuständen in Europa auf die Dauer geführt, wohl aber eine Uebereinstimmung von Rußland, Oestreich und England in Mißtrauen und eventuell in activem Vorgehn einleiten können gegen das neue und noch nicht consolidirte Reich, das damit die Wege betreten haben würde, auf denen das erste und das zweite französische Kaiserreich in einer fortgesetzten Kriegs- und Prestige-Politik ihrem Untergange entgegengingen. Europa würde in unserm Verfahren einen Mißbrauch der gewonnenen Stärke erblickt haben, und Jedermanns Hand, einschließlich der centrifugalen Kräfte im Reich selbst, würde dauernd gegen Deutschland erhoben oder am Degen gewesen sein. Grade der friedliche Charakter der deutschen Politik nach den überraschenden Beweisen der militärischen Kraft der Nation hat wesentlich dazu beigetragen, die fremden Mächte und die innern Gegner früher, als wir erwarteten, wenigstens bis zu einem tolerari posse mit der neudeutschen Kraftentwicklung zu versöhnen und das Reich zum Theil mit Wohlwollen, zum Theil als einstweilen annehmbaren Friedenswächter sich entwickeln und festigen zu sehn.

Es war für unsre Begriffe merkwürdig, daß der Kaiser von Rußland bei der Geringschätzung, mit der er sich über seinen leitenden Minister äußerte, ihm doch die ganze Maschine des Auswärtigen Amtes in der Hand ließ und ihm dadurch den Einfluß auf die Missionen gestattete, den er thatsächlich ausübte. Trotz der Klarheit, mit der der Kaiser die Abwege erkannte, die einzuschlagen sein Minister sich durch persönliche Gründe verleiten ließ, unterwarf er die Concepte, die ihm Gortschakow zu eigenhändigen Briefen an den Kaiser Wilhelm vorlegte, nicht der scharfen Sichtung, deren sie bedurft hätten, wenn der Eindruck verhütet werden sollte, daß die wohlwollende Gesinnung des Kaisers in der Hauptsache den anspruchsvollen und bedrohlichen Stimmungen Gortschakow's Platz gemacht habe. Der Kaiser Alexander hatte eine elegante und deutliche feine Handschrift, und die Arbeit des Schreibens hatte nichts Unbequemes für ihn, aber wenn auch die in der Regel sehr langen und in die Details eingehenden Schreiben von Souverän zu Souverän ganz von der eignen Hand des Kaisers herrührten, so habe ich doch nach Stil und Inhalt in der Regel auf die Unterlage eines von Gortschakow redigirten Concepts schließen zu können geglaubt; wie denn auch die eigenhändigen Antworten unsres Herrn von mir zu entwerfen waren. Auf diese Weise hatte die eigenhändige Correspondenz, in der beide Monarchen die wichtigsten politische Fragen mit entscheidender Autorität behandelten, zwar nicht die constitutionelle Garantie einer ministeriellen Gegenzeichnung, aber doch das Correctiv ministerieller Mitwirkung, vorausgesetzt, daß sich der Allerhöchste Briefsteller genau an das Concept hielt. Darüber erhielt der Verfasser des letztern allerdings keine Sicherheit, da die Reinschrift garnicht oder doch nur versiegelt in seine Hände kam.

Wie weit verzweigt die Gontaut-Gortschakow'sche Intrige gewesen war, ergiebt folgendes Schreiben, das ich am 13. August 1875 aus Varzin an den Kaiser richtete:Bismarck-Jahrbuch IV 35 ff., Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I 258 ff.

»Eurer Majestät huldreiches Schreiben vom 8. c.Lies 6. c., s. dasselbe im Anhang I 256 ff. aus Gastein habe ich mit ehrfurchtsvollem Danke erhalten und mich vor Allem gefreut, daß Eurer Majestät die Kur gut bekommen ist, trotz allen schlechten Wetters in den Alpen. Den Brief der Königin Victoria beehre ich mich wieder beizufügen; es wäre sehr interessant gewesen, wenn Ihre Majestät Sich genauer über den Ursprung der damaligen Kriegsgerüchte ausgelassen hätte. Die Quellen müssen der hohen Frau doch für sehr sicher gegolten haben, sonst würde Ihre Majestät Sich nicht von Neuem darauf berufen und würde die englische Regirung auch nicht so gewichtige und für uns so unfreundliche Schritte daran geknüpft haben.

Ich weiß nicht, ob Eure Majestät es für thunlich halten, die Königin Victoria beim Worte zu nehmen, wenn Ihre Majestät versichert, es sei Ihr ›ein Leichtes, nachzuweisen, daß Ihre Befürchtungen nicht übertrieben waren‹. Es wäre sonst wohl von Wichtigkeit zu ermitteln, von welcher Seite her so kräftige Irrthümer2. Thess. 2, 11. nach Windsor haben befördert werden können. Die Andeutung über Personen, welche als ›Vertreter‹ der Regirung Eurer Majestät gelten müssen, scheint auf Graf Münster zu zielen. Derselbe kann ja sehr wohl, gleich dem Grafen Moltke, akademisch von der Nützlichkeit eines rechtzeitigen Angriffs auf Frankreich gesprochen haben, obschon ich es nicht weiß und er niemals dazu beauftragt worden ist. Man kann ja sagen, daß es für den Frieden nicht förderlich ist, wenn Frankreich die Sicherheit habe, daß es unter keinen Umständen angegriffen wird, es mag thun, was es will. Ich würde noch heut, wie 1867 in der Luxemburger Frage, Eurer Majestät niemals zureden, einen Krieg um deswillen sofort zu führen, weil wahrscheinlich ist, daß der Gegner ihn bald beginnen werde; man kann die Wege der göttlichen Vorsehung dazu niemals sicher genug im Voraus erkennen. Aber es ist auch nicht nützlich, dem Gegner die Sicherheit zu geben, daß man seinen Angriff jedenfalls abwarten werde. Deshalb würde ich Münster noch nicht tadeln, wenn er in solchem Sinne gelegentlich geredet hätte, und die englische Regirung hätte deshalb noch kein Recht gehabt, auf außeramtliche Reden eines Botschafters amtliche Schritte zu gründen, und sans nous dire gare die andern Mächte zu einer Pression auf uns aufzufordern. Ein so ernstes und unfreundliches Verfahren läßt doch vermuthen, daß die Königin Victoria noch andre Gründe gehabt habe, an kriegerische Absichten zu glauben als gelegentliche Gesprächswendungen des Grafen Münster, an die ich nicht einmal glaube. Lord O. Russell hat versichert, daß er jederzeit seinen festen Glauben an unsre friedlichen Absichten berichtet habe. Dagegen haben alle Ultramontane und ihre Freunde uns heimlich und öffentlich in der Presse angeklagt, den Krieg in kurzer Frist zu wollen, und der französische Botschafter, der in diesen Kreisen lebt, hat die Lügen derselben als sichre Nachrichten nach Paris gegeben. Aber auch das würde im Grunde noch nicht hinreichen, der Königin Victoria die Zuversicht und das Vertrauen zu den von Eurer Majestät Selbst dementirten Unwahrheiten zu geben, das Höchstdieselbe noch in dem Briefe vom 20. Juni ausspricht. Ich bin mit den Eigenthümlichkeiten der Königin zu wenig bekannt, um eine Meinung darüber zu haben, ob es möglich ist, daß die Wendung, es sei ›ein Leichtes nachzuweisen‹, etwa nur den Zweck haben könnte, eine Uebereilung, die einmal geschehn ist, zu maskiren, anstatt sie offen einzugestehn.

Verzeihn E. M., wenn das Interesse des ›Fachmannes‹ mich über diesen abgemachten Punkt nach dreimonatlicher Enthaltung hat weitläuftig werden lassen«.Das Weitere s. im Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I 260 f.

III.

Graf Friedrich Eulenburg erklärte sich Sommer 1877 körperlich bankrott, und in der That war seine Leistungsfähigkeit sehr verringert, nicht durch Uebermaß von Arbeit, sondern durch die Schonungslosigkeit, mit der er sich von Jugend auf jeder Art von Genuß hingegeben hatte. Er besaß Geist und Muth, aber nicht immer Luft zu ausdauernder Arbeit. Sein Nervensystem war geschädigt und schwankte schließlich zwischen weinerlicher Mattigkeit und künstlicher Aufregung. Dabei hatte ihn in der Mitte der 70er Jahre, wie ich vermuthe, ein gewisses Popularitätsbedürfniß überfallen, das ihm früher fremd geblieben war, so lange er gesund genug war, um sich zu amüsiren. Diese Anwandlung war nicht frei von einem Anflug von Eifersucht auf mich, wenn wir auch alte Freunde waren. Er suchte sie dadurch zu befriedigen, daß er sich der Verwaltungsreform annahm. Sie mußte gelingen, wenn sie ihm Ruhm erwerben sollte. Um den Erfolg zu sichern, machte er bei den parlamentarischen Verhandlungen darüber unpraktische Concessionen und bürokratisirte den wesentlichen Träger unsrer ländlichen Zustände, den Landrathsposten, gleichzeitig mit der neuen Local-Verwaltung. Der Landrathsposten war in frühern Zeiten eine preußische Eigenthümlichkeit, der letzte Ausläufer der Verwaltungshierarchie, durch den sie mit dem Volke unmittelbar in Berührung stand. In dem socialen Ansehn aber stand der Landrath höher als andre Beamte gleichen Ranges. Man wurde früher nicht Landrath mit der Absicht, dadurch Carrière zu machen, sondern mit der Aussicht, sein Leben als Landrath des Kreises zu beschließen. Die Autorität eines solchen wuchs mit den Jahren seiner Amtsdauer; er hatte keine andern Interessen als die des Kreises zu vertreten und für keine andern Wünsche als die seiner Eingesessenen zu streben. Es liegt auf der Hand, wie nützlich eine solche Institution nach oben und nach unten wirkte, und mit wie geringen Mitteln an Menschen und Geld die Kreisgeschäfte betrieben werden konnten. Seitdem ist der Landrath ein reiner Regirungsbeamter geworden, seine Stellung ein Durchgangsposten für weitre Beförderung im Staatsdienste, eine Erleichterung der Wahl zum Abgeordneten; und in der Eigenschaft des letztern wird er, wenn er strebsam ist, seine Beziehungen nach oben als Beamter wichtiger finden als die zu den Einsassen seines Kreises. Zugleich sind die neugeschaffnen örtlichen Amtsvorstände nicht Organe der Selbstverwaltung, nach Analogie der städtischen Behörden, sondern eine unterste schreiberartig wirkende Klasse der Bürokratie geworden, durch welche jede unpraktische oder müßige Anregung der unzulänglich beschäftigten und den Realitäten des Lebens fremden Centralbürokratie über das platte Land verbreitet wird und die die unglücklichen Selbst-Verwalter nöthigt, Berichte und Listen zusammenzustellen, um die Wißbegierde von Beamten zu befriedigen, die mehr Zeit als Staatsgeschäfte haben. Es ist für Landwirthe oder Industrielle nicht möglich, solchen Anforderungen im »Nebenamte« zu genügen. An ihre Stelle treten nothwendig mehr und mehr remunerirte Schreiber, deren Kosten durch die Eingesessenen aufzubringen sind und die von der höhern Bürokratie ad nutum abhängig sind.

Als Nachfolger des Grafen Eulenburg hatte ich Rudolf von Bennigsen in's Auge gefaßt und habe im Laufe des Jahres 1877 in Varzin zweimal, im Juli und im December, Besprechungen mit ihm gehabt. Es fand sich dabei, daß er dem Boden unsrer Verhandlung eine weitre Ausdehnung zu geben suchte, als mit den Ansichten Sr. Majestät und mit meinen eignen Auffassungen vereinbar war. Ich wußte, daß es schon eine schwierige Aufgabe sein würde, ihn für seine Person dem Könige annehmbar zu machen; er aber faßte die Sache so auf, als ob es sich um einen durch die politische Situation gegebenen Systemwechsel handelte, um die Uebernahme der Leitung durch die nationalliberale Partei. Das Streben nach dem Mitbesitz des Regiments hatte sich schon erkennbar gemacht in dem Eifer, mit dem die Partei das Stellvertretungsgesetz betrieben hatte in der Meinung, auf diesem Wege ein collegialisches Reichsministerium anzubahnen, in dem anstatt des allein verantwortlichen Reichskanzlers selbständige Ressorts mit collegialischer Abstimmung wie in Preußen die Entscheidung hätten. Bennigsen wollte daher nicht einfach Eulenburg's Nachfolger werden, sondern verlangte, daß mit ihm wenigstens Forckenbeck und Stauffenberg einträten. Der Erstre sei der geeignete Mann für das Innre und werde dort dieselbe Geschicklichkeit und Thatkraft wie in der Verwaltung der Stadt Breslau bewähren; er selbst würde das Finanzministerium wählen; Stauffenberg müsse an die Spitze des Reichsschatzamts treten, um mit ihm zusammen zu wirken.

Ich sagte ihm, es sei nichts vacant als die Stelle Eulenburg's; ich sei bereit, ihn für diese dem Könige vorzuschlagen, und würde mich freuen, wenn ich den Vorschlag durchsetzte. Wenn ich aber Sr. Majestät rathen wollte, noch zwei Ministerposten proprio motu frei zu machen, um sie mit Nationalliberalen zu besetzen, so werde der hohe Herr das Gefühl haben, daß es sich nicht um eine zweckmäßige Stellenbesetzung, sondern um einen Systemwechsel handle, und einen solchen werde er prinzipiell ablehnen. Bennigsen dürfe überhaupt nicht darauf rechnen, daß es dem Könige und unsrer ganzen politischen Lage gegenüber möglich sein werde, seine Fraction gewissermaßen mit in das Ministerium zu nehmen und als ihr Führer den ihrer Bedeutung entsprechenden Einfluß im Schoße der Regirung auszuüben, gewissermaßen ein constitutionelles Majoritätsministerium zu schaffen. Bei uns sei der König thatsächlich und ohne Widerspruch mit dem Verfassungstexte Ministerpräsident, und Bennigsen würde, wenn er als Minister etwa die bezeichnete Richtung einhalten wollte, bald zwischen dem Könige und seiner Fraction zu wählen haben. Er möge sich klar machen, daß wenn es mir gelänge, seine Ernennung durchzusetzen, damit ihm und seiner Partei eine mächtige Handhabe zur Verstärkung und Erweiterung ihres Einflusses geboten sei; er möge sich das Beispiel Roon's vergegenwärtigen, der als der einzige Conservative in das liberale Auerswald'sche Ministerium trat und der Krystallisationspunkt wurde, um den es sich in ein conservatives verwandelte. Er möge nichts Unmögliches von mir verlangen, ich kennte den König und die Grenzen meines Einflusses genau genug; mir wären die Parteien ziemlich gleichgültig, sogar ganz gleichgültig, wenn ich von den eingestandnen und nicht eingestandnen Republikanern absähe, die nach rechts mit der Fortschrittspartei abschlössen. Mein Ziel sei die Befestigung unsrer nationalen Sicherheit; zu ihrer innern Ausgestaltung werde die Nation Zeit haben, wenn erst ihre Einheit und damit ihre Sicherheit nach Außen consolidirt sein werde. Für die Erreichung des letztern Zwecks sei gegenwärtig auf dem parlamentarischen Gebiete die nationalliberale Partei das stärkste Element. Die conservative Partei, der ich im Parlament angehört, habe die geographische Ausdehnung, deren sie in der heutigen Bevölkerung fähig sei, erreicht und trage nicht das Wachsthum in sich, um zu einer nationalen Majorität zu werden; ihr naturgeschichtliches Vorkommen, ihr Standort sei beschränkt in unsern neuen Provinzen; im Westen und Süden von Deutschland habe sie nicht dieselben Unterlagen wie in Alt-Preußen; in Bennigsen's Heimath, Hanover, namentlich habe man nur zwischen Welfen und Nationalliberalen zu wählen, und die letztern böten einstweilen die beste Unterlage von allen denen, auf welchen das Reich Wurzel schlagen könne. Diese politische Erwägung veranlasse mich, ihnen, als der gegenwärtig stärksten Partei, entgegen zu kommen, indem ich ihren Führer zum Collegen zu werben suchte, ob für die Finanzen oder das Innre, sei mir gleichgültig. Ich sähe die Sache von dem rein politischen Standpunkte an, bedingt durch die Auffassung, daß es für jetzt und bis nach den nächsten großen Kriegen nur darauf ankomme, Deutschland fest zusammenwachsen zu lassen, es durch seine Wehrhaftigkeit gegen äußre Gefahren und durch seine Verfassung gegen innre dynastische Brüche sicher zu stellen. Ob wir uns nachher im Innern etwas conservativer oder etwas liberaler einrichteten, das werde eine Zweckmäßigkeitsfrage sein, die man erst ruhig erwägen könne, wenn das Haus wetterfest sei. Ich hätte den aufrichtigen Wunsch, ihn zu überreden, daß er, wie ich mich ausdrückte, zu mir in das Schiff springe und mir bei dem Steuern helfe; ich läge am Landungsplatze und wartete auf sein Einsteigen.

Bennigsen blieb aber dabei, nicht ohne Forckenbeck und Stauffenberg eintreten zu wollen, und ließ mich unter dem Eindrucke, daß mein Versuch mißlungen sei, einem Eindrucke, der schnell verstärkt wurde durch das Einlaufen eines ungewöhnlich ungnädigen Schreibens des KaisersVom 30. Dec. 1877, Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I 277 f., aus dem ich ersah, daß Graf Eulenburg zu ihm mit der Frage in das Zimmer getreten sei: »Haben Eure Majestät schon von dem neuen Ministerium gehört? Bennigsen.« Dieser Mittheilung folgte der lebhafte schriftliche Ausbruch kaiserlicher Entrüstung über meine Eigenmächtigkeit und über die Zumuthung, daß Er aufhören solle, »conservativ« zu regiren. Ich war unwohl und abgespannt, und der Text des kaiserlichen Schreibens und der Eulenburgische Angriff fielen mir dermaßen auf die Nerven, daß ich von Neuem ziemlich schwer erkrankte, nachdem ich dem Kaiser durch BülowSo ist jedenfalls hier wie unten zu lesen statt »Roon«, wie in dem Entwurfe und auch in der Redaction letzter Hand steht. geantwortet hatte, ich könne ihm einen Nachfolger Eulenburg's doch nicht vorschlagen, ohne mich vorher vergewissert zu haben, daß der Betreffende die Ernennung annehmen werde; ich hätte Bennigsen für geeignet gehalten und seine Stimmungen sondirt, bei ihm aber nicht die Auffassung gefunden, die ich erwartet hätte, und die Ueberzeugung gewonnen, daß ich ihn nicht zum Minister vorschlagen könne; die ungnädige Verurtheilung, die ich durch das Schreiben erfahren hätte, nöthige mich, mein Abschiedsgesuch vom Frühjahr zu erneuern. Diese Correspondenz fand in den letzten Tagen des Jahres 1877 statt, und meine neue Erkrankung fiel grade in die Neujahrsnacht.

Der Kaiser antwortete mir auf das Schreiben Bülow's, er sei über das Sachverhältniß getäuscht worden und wünsche, daß ich seinen vorhergehenden Brief als nicht geschrieben betrachte.Vgl. Brief des Kaisers vom 2. Januar 1878 im Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I 279 f. – Uebrigens stellt sich dieser Brief nicht als Antwort auf das amtliche Schreiben Bülow's dar, sondern als Erwiderung auf Bismarck's Schreiben vom 30. December 1877. Jede weitre Verhandlung mit Bennigsen verbot sich durch diesen Vorgang von selbst, ich hielt es aber in unserm politischen Interesse nicht für zweckmäßig, Letztern von der Beurtheilung in Kenntniß zu setzen, die seine Person und Candidatur bei dem Kaiser gefunden hatte. Ich ließ die für mich definitiv abgeschlossene Unterhandlung äußerlich in suspenso; als ich dann wieder in Berlin war, ergriff Bennigsen die Initiative, um die seiner Meinung nach noch schwebende Angelegenheit in freundschaftlicher Form zum negativen Abschluß zu bringen. Er fragte mich im Reichstagsgebäude, ob es wahr sei, daß ich das Tabakmonopol einzuführen strebe, und erklärte auf meine bejahende Antwort, daß er dann die Mitwirkung als Minister ablehnen müsse. Ich verschwieg ihm auch dann noch, daß mir jede Möglichkeit, mit ihm zu verhandeln, durch den Kaiser schon seit Neujahr abgeschnitten war. Vielleicht hatte er sich auf anderm Wege überzeugt, daß sein Plan einer grundsätzlichen Modification der Regirungspolitik im Sinne der nationalliberalen Anschauungen bei dem Kaiser auf unüberwindliche Hindernisse stoßen würde, namentlich seit einer von Stauffenberg gehaltnen Rede über die Nothwendigkeit der Abschaffung des Art. 109 der preußischen Verfassung (Forterhebung der Steuern).Die Gründe, warum die Verhandlungen mit v. Bennigsen scheiterten, sind in der Nordd. Allg. Zeitung vom 29. Aug. 1880, 13., 21. und 22. Oct. 1881 entwickelt.

Wenn die nationalliberalen Führer ihre Politik geschickt betrieben hätten, so hätten sie längst wissen müssen, daß bei dem Kaiser, dessen Unterschrift sie zu ihrer Ernennung bedurften und begehrten, es keinen empfindlichern politischen Punkt gab als diesen Artikel, und daß sie sich den hohen Herrn nicht sichrer entfremden konnten als durch den Versuch, ihm dieses Palladium zu entreißen. Als ich Sr. Majestät vertraulich den Verlauf meiner Verhandlungen mit Bennigsen erzählte und dessen Wunsch in Betreff Stauffenberg's erwähnte, war der Kaiser noch unter dem Eindrucke der Rede des Letztern und sagte, indem er mit dem Finger auf seine Schulter deutete, wo auf der Uniform die Regimentsnummer sitzt: »Nro. 109 Regiment Stauffenberg«. Wenn der Kaiser damals den von mir zur Herstellung der Uebereinstimmung mit der Reichstagsmajorität gewünschten Eintritt Bennigsen's genehmigt und selbst wenn der Letztre bald die Unmöglichkeit eingesehn hätte, das Cabinet und den König in seine Fractionsrichtung zu bringen, so würden sich doch, wie ich heut überzeugt bin, die einigermaßen doctrinäre Schärfe des Fractionsprogramms und die Empfindlichkeit der monarchischen Auffassung des Kaisers nicht lange mit einander vertragen haben. Damals war ich dessen nicht so sicher gewesen, um nicht den Versuch zu machen, ob ich Se. Majestät bewegen könnte, sich der nationalliberalen Auffassung zu nähern. Die Schärfe des Widerstandes, die allerdings durch Eulenburg's feindliche Einwirkung gesteigert worden war, übertraf meine Erwartung, obschon mir bekannt war, daß der Kaiser gegen Bennigsen und seine frühere Thätigkeit in Hanover eine instinctive monarchische Abneigung hegte. Obwohl die nationalliberale Partei in Hanover und die Wirksamkeit ihres Führers vor und nach 1866 die »Verstaatlichung« Hanovers wesentlich erleichtert hatte, und der Kaiser ebenso wenig wie sein Vater 1805 eine Neigung hatte, diesen Erwerb rückgängig zu machen, so war der fürstliche Instinct in ihm doch herrschend genug, um solches Verhalten eines hanöverschen Unterthanen gegen die welfische Dynastie mit innerlichem Unbehagen zu beurtheilen.

Es ist eine der vielen unwahren Legenden, daß ich die Nationalliberalen hätte »an die Wand drücken« wollenVgl. auch die Aeußerungen Bismarck's in der Rede vom 2. Mai 1891, Politische Reden XIII 35.. Im Gegentheil, die Herrn versuchten es so mit mir zu machen. Durch den Bruch mit den Conservativen infolge der ganzen Verleumdungsära durch die »Reichsglocke« und die »Kreuzzeitung« und der Kriegserklärung, die unter Führung meines mißvergnügten frühern Freundes Kleist-Retzow erfolgte, durch das neidische Uebelwollen meiner Standesgenossen, der Landjunker, durch alle diese Verluste von Anlehnungen, durch die Feindschaften am Hofe, die katholischen und weiblichen Einflüsse daselbst waren meine Stützpunkte außerhalb der nationalliberalen Fraction schwächer geworden und bestanden allein in dem persönlichen Verhältniß des Kaisers zu mir. Die Nationalliberalen nahmen davon nicht etwa einen Anlaß, unsre gegenseitigen Beziehungen dadurch zu stärken, daß sie mich unterstützten, sondern machten im Gegentheil den Versuch, mich gegen meinen Willen in das Schlepptau zu nehmen. Zu diesem Zwecke wurden Beziehungen zu mehren meiner Collegen angeknüpft; durch die Minister Friedenthal und Botho Eulenburg, welcher Letztre das Ohr meines Vertreters im Präsidium, des Grafen Stolberg hatte, wurden ohne mein Wissen amtliche Verständigungen mit den Präsidien beider Parlamente nicht nur bezüglich der Sitzungs- und Vertagungsfragen, sondern auch in Betreff materieller Vorlagen gegen meinen, den Collegen bekannten Willen eingeleitet. Der Gesammtandrang auf meine Stellung, das Streben nach Mitregentschaft oder Alleinherrschaft an meiner Stelle, das sich in dem Plane selbständiger Reichsminister und in den erwähnten Heimlichkeiten verrathen hatte, trat handgreiflich zu Tage in der Conseilsitzung, die der Kronprinz als Vertreter seines verwundeten Vaters am 5. Juni 1878 abhielt, um über die Auflösung des Reichstags nach dem Nobiling'schen Attentate zu beschließen. Die Hälfte meiner Collegen oder mehr, jedenfalls die Majorität des Ministeriums und des Conseils, stimmte abweichend von meinem Votum gegen die Auflösung und machte dafür geltend, daß der vorhandne Reichstag, nachdem das Nobiling'sche Attentat auf das Hödel'sche gefolgt sei, bereit sein werde, seine jüngste Abstimmung zu ändern und der Regirung entgegen zu kommen. Die Zuversicht, die meine Collegen bei dieser Gelegenheit kundgaben, beruhte offenbar auf vertraulicher Verständigung zwischen ihnen und einflußreichen Parlamentariern, während mir gegenüber kein Einziger von den letztern auch nur eine Aussprache versucht hatte. Es schien, daß man sich über die Theilung meiner Erbschaft bereits verständigt hatte.

Ich war sicher, daß der Kronprinz, auch wenn alle meine Collegen andrer Ansicht gewesen wären, die meinige annehmen werde, abgesehn von der Zustimmung, die ich unter den 20 oder mehr zugezognen Generalen und Beamten, wenigstens bei den erstern fand. Wenn ich überhaupt Minister bleiben wollte, was ja eine Opportunitätsfrage geschäftlicher sowohl wie persönlicher Natur war, die ich bei eigner Prüfung mir bejahte, so befand ich mich im Stande der Nothwehr und mußte suchen, eine Aenderung der Situation im Parlament und in dem Personalbestande meiner Collegen herbeizuführen. Minister bleiben wollte ich, weil ich, wenn der schwer verwundete Kaiser am Leben blieb, was bei dem starken Blutverlust in seinem hohen Alter noch unsicher, fest entschlossen war, ihn nicht gegen seinen Willen zu verlassen, und es als Gewissenspflicht ansah, wenn er stürbe, seinem Nachfolger die Dienste, die ich ihm vermöge des Vertrauens und der Erfahrung, die ich mir erworben hatte, leisten konnte, nicht gegen seinen Willen zu versagen. Nicht ich habe Händel mit den Nationalliberalen gesucht, sondern sie haben im Complot mit meinen Collegen mich an die Wand zu drängen versucht. Die geschmacklose und widerliche Redensart von dem »an die Wand drücken, bis sie quietschten«, hat niemals in meinem Denken, geschweige denn auf meiner Lippe Platz gefunden – eine der lügenhaften Erfindungen, mit denen man politischen Gegnern Schaden zu thun sucht. Obenein war diese Redensart nicht einmal eignes Product derer, welche sie verbreiteten, sondern ein ungeschicktes Plagiat. Graf Beust erzählt in seinen Memoiren (»Aus drei Viertel-Jahrhunderten« Thl. I S. 5):

»Die Slaven in Oesterreich haben mir das beiläufig nie von mir gesprochene Wort aufgebracht, ›man müsse sie an die Wand drücken‹. Der Ursprung dieses Wortes war folgender: Der frühere Minister, spätere Statthalter von Galizien, Graf Goluchowski, pflegte sich mit mir in französischer Sprache zu unterhalten. Seinen Bemühungen war es vorzugsweise zu danken, daß nach meiner Uebernahme des Ministerpräsidiums 1867 der galizische Landtag vorbehaltlos für den Reichsrath wählte. Damals hatte ich zu Graf Goluchowski gesagt: ›Si cela se fait, les Slaves sont mis au pied du mur‹ – eine von der obigen sehr verschiedene Aeußerung.«

Ich habe unter meinen Argumenten für Auflösung besonders geltend gemacht, daß dem Reichstage ohne Verletzung seines Ansehns die Zurücknahme seines Beschlusses nur durch vorgängige Auflösung möglich gemacht werden könne. Ob hervorragende Nationalliberale damals die Absicht hatten, nur meine Collegen oder meine Nachfolger zu werden, kann unentschieden bleiben, da erstres immer den Uebergang zu der andern Alternative bilden konnte; den zweifelsfreien Eindruck aber hatte ich, daß zwischen einigen meiner Collegen, einigen Nationalliberalen und einigen Leuten von Einfluß am Hofe und im Centrum über die Theilung meiner politischen Erbschaft die Verhandlungen bis zur Verständigung oder nahezu so weit gediehn waren. Diese Verständigung bedingte ein ähnliches Aggregat wie in dem Ministerium Gladstone zwischen Liberalismus und Katholicismus. Der Letztre reichte durch die nächsten Umgebungen der Kaiserin Augusta, einschließlich des Einflusses der »Reichsglocke«, des Hausministers von Schleinitz bis in das Palais des alten Kaisers; und bei ihm fand der Gesammtangriff gegen mich einen thätigen Bundesgenossen in dem General von Stosch. Derselbe hatte auch am kronprinzlichen Hofe eine gute Stellung, theils direct durch eignes Talent, theils mit Hülfe des Herrn von Normann und seiner Frau, mit denen er schon von Magdeburg her vertraut war und deren Uebersiedlung nach Berlin er vermittelt hatte.

IV.

Bei dem Plane, mich durch ein Cabinet Gladstone zu ersetzen, war auf den Grafen Botho Eulenburg gerechnet, seit dem 31. März 1878 Minister des Innern, welchem seine Verwandschaft den traditionellen Hofeinfluß seiner und der Dönhoff'schen Familie sicherte. Er ist gescheidt, elegant, eine vornehmere Natur als Harry von Arnim, glatter polirt als Robert Goltz; aber ich habe auch mit ihm das Erlebniß gehabt, daß begabte Mitarbeiter und eventuelle Nachfolger, die ich heranzuziehn suchte, mir ihr Wohlwollen nicht dauernd bewahrten.

Meine Beziehungen zu ihm wurden zuerst geschädigt durch einen Ausbruch der Empfindlichkeit, die bei ihm äußerlich durch die volle Höflichkeit guter Erziehung verdeckt wurde, aber doch von einer für den geläufigen und vertraulichen Geschäftsverkehr störenden Schärfe war. Mein damaliger Beistand für vertrauliche Geschäfte, der Geheim-Rath Tiedemann, veranlaßte durch die Form, in der er einen Auftrag während meiner Abwesenheit von Berlin bei dem Grafen ausrichtete, diesen zu einer mir unerwarteten brieflichen Explosion. Da mein Auftrag an Tiedemann ein sachliches und noch lebendiges Interesse hat, so lasse ich die Correspondenz folgen.

»Kissingen, den 15. August 1878.

Eure Hochwohlgeboren bitte ich, Herrn Minister Grafen Eulenburg und Herrn Geheim-Rath Hahn mein Bedauern darüber auszusprechen, daß der Entwurf des Socialistengesetzes in der Provinzial-Correspondenz amtlich publicirt worden ist, bevor er im Bundesrath vorgelegt war. Die Veröffentlichung präjudicirt jeder Amendirung durch uns und ist für Baiern und andre Dissentirende verletzend. Nach meinen Verhandlungen von hier aus mit Baiern muß ich annehmen, daß letztres an seinem Widerspruche gegen das Reichsamt unbedingt festhält. Würtemberg und, wie ich höre, auch Sachsen widersprechen dem Reichsamt nicht im Prinzip, wohl aber angebrachtermaßen, indem sie die Zuziehung von Richtern perhorresciren. Diesem Widerspruche kann ich mich persönlich nur anschließen. Es handelt sich nicht um richterliche, sondern um politische Functionen, und auch das preußische Ministerium darf in seinen Vorentscheidungen nicht einem richterlichen Collegium unterstellt und auf diese Weise für alle Zukunft in seiner politischen Bewegung gegen den Socialismus lahm gelegt werden. Die Functionen des Reichsamts können nach meiner Auffassung nur durch den Bundesrath entweder direct oder durch Delegation an einen jährlich zu wählenden Ausschuß geübt werden. Der Bundesrath repräsentirt die Regirungsgewalt der Gesammt-Souveränetät von Deutschland, dabei etwa dem Staatsrathe unter andern Verhältnissen entsprechend.

Bisher muß ich indessen annehmen, daß Baiern auf diesen für Würtemberg, Sachsen und für mich persönlich annehmbaren Ausweg nicht eingehn wird. Auch die Klausel in Nro. 3 Artikel 23, daß nur arbeitslose Individuen ausgewiesen werden dürfen, ist für den Zweck ungenügend.

Ferner bedarf das Gesetz meines Erachtens eines Zusatzes in Betreff der Beamten dahingehend, daß Betheiligung an socialistischer Politik die Entlassung ohne Pension nach sich zieht. Die Mehrzahl der schlecht bezahlten Subalternbeamten in Berlin, und dann der Bahnwärter, Weichensteller und ähnlicher Kategorien sind Socialisten, eine Thatsache, deren Gefährlichkeit bei Aufständen und Truppentransporten einleuchtet.

Ich halte ferner, wenn das Gesetz wirken soll, für die Dauer nicht möglich, den gesetzlich als Socialisten erweislichen Staatsbürgern das Wahlrecht und die Wählbarkeit und den Genuß der Privilegien der Reichstagsmitglieder zu lassen.

Alle diese Verschärfungen werden, nachdem einmal die mildere Form in allen Zeitungen gleichzeitig bekannt gegeben, denselben also wohl amtlich mitgetheilt ist, im Reichstage sehr viel weniger Aussicht haben, als der Fall sein könnte, wenn eine mildere Version nicht amtlich bekannt geworden wäre.

Die Vorlage, so wie sie jetzt ist, wird praktisch dem Socialismus nicht Schaden thun, zu seiner Unschädlichmachung keinesfalls ausreichen, namentlich da ganz zweifellos ist, daß der Reichstag von jeder Vorlage etwas abhandelt. Ich bedaure, daß meine Gesundheit mir absolut verbietet, mich jetzt sofort an den Verhandlungen des Bundesrathes zu betheiligen, und muß mir vorbehalten, meine weitern Anträge im Bundesrathe im Hinblick auf die ordentliche Reichstagssession im Winter zu stellen.

v. Bismarck.«

 

»Berlin, den 18. August 1878.

Eure Durchlaucht

haben den Geheimen Regierungsrath Tiedemann beauftragt, mir und dem Geheimen Rath Hahn Ihr Bedauern darüber auszusprechen, daß der Entwurf des Socialistengesetzes in der Provinzial-Correspondenz amtlich publicirt worden ist, ehe er im Bundesrath vorgelegt war. Den Geheimen Rath Hahn trifft hierbei keine Verantwortlichkeit, da er nicht ohne meine Zustimmung gehandelt hat. Letztere habe ich erst ertheilt, nachdem Abends zuvor die den Entwurf enthaltende Drucksache des Bundesraths ohne besondere Anempfehlung discreter Behandlung ausgegeben und mir Seitens des Herrn Präsidenten des Reichskanzleramts mitgetheilt worden war, daß unter diesen Umständen die Veröffentlichung des Entwurfs durch die Zeitungen am folgenden, also an demselben Tage, an welchem die Provinzial-Correspondenz erschien, mit Sicherheit zu erwarten sei, eine Annahme, welche sich demnächst als völlig zutreffend erwiesen hat. Die Sitzung des Bundesraths fand am 14. d. M. Nachmittags 2 Uhr statt, die Provinzial-Correspondenz wurde an demselben Tage Nachmittags ausgegeben; die Mittheilung des Inhalts des Gesetzentwurfs in derselben hat also nicht früher stattgefunden als die Vorlegung des Entwurfs im Bundesrathe.

Ob es dennoch besser gewesen wäre, jene Mittheilung in der Provinzial-Correspondenz zu unterlassen, habe ich nicht die Absicht weiter zu erörtern. Ew. Durchlaucht erleuchtetes Urtheil zu vernehmen, wird mir stets von hohem Werthe sein, auch wenn dasselbe von dem meinigen abweicht. Dagegen kann ich es nicht stillschweigend hinnehmen, daß Ew. Durchlaucht Ihr Mißfallen mir durch Einen Ihrer Untergebenen haben eröffnen und die darin liegende Mißachtung meiner Stellung um so schärfer haben hervortreten lassen, als Sie mich hierbei mit Einem meiner Untergebenen auf Eine Linie stellten. Das Verletzende dieses Verfahrens springt so sehr in die Augen, daß die Annahme der Absichtlichkeit und die hieran nothwendiger Weise sich knüpfende Gedankenreihe nahe liegen. Der letzteren Folge zu geben, werde ich nicht zögern, sobald ich mich überzeuge, daß diese Annahme zutrifft. Indem ich einstweilen davon ausgehe, daß dies nicht der Fall ist, beschränke ich mich darauf, Ew. Durchlaucht dringend zu bitten, ein ähnliches Verfahren nicht wiederkehren zu lassen.

Mit etc.

Graf Eulenburg.«

 

»Gastein, den 20. August 1878.

Eure Excellenz haben, wie ich aus dem geehrten Schreiben vom 18. entnehme, die, wie es scheint, wenig vorsichtige, mir jedenfalls unerwartete Folge, die der Geheim-Rath Tiedemann meiner vertraulichen und formlosen Aeußerung gegeben hat, mir mit vollem Gewichte zur Last geschrieben, ohne mir auch nur das Beneficium der Unvollkommenheit des Geschäftsganges bei eingreifender Badekur zu gewähren. Nach Inhalt Ihres Schreibens bin ich unter dem Eindruck, daß Ihnen gegenüber eine Tactlosigkeit in der Form begangen ist, für die ich Sie um Verzeihung bitte, obschon ich sie nicht verschuldet, höchstens ermöglicht habe. Daß Eurer Excellenz dabei der Gedanke an eine Absichtlichkeit meinerseits hat nahe treten können, ist mir unerwartet und betrübend, indem ich die freundschaftliche Natur unsrer persönlichen Beziehungen zu einander zu gesichert glaubte, um ein derartiges Mißverständniß aufkommen zu lassen.

Mit etc.

v. Bismarck.«

Es ist bekannt, unter welchen Umständen Graf Eulenburg im Februar 1881 seinen Abschied nahm,Verlesung einer Erklärung Bismarck's im Herrenhause durch Geheimrath Rommel, wodurch Eulenburg sich verletzt fühlte, s. Politische Reden VIII 287 ff. und daß er im August desselben Jahres zum Oberpräsidenten in Kassel ernannt wurde.

An seinen Namen knüpft sich folgender Briefwechsel zwischen Sr. Majestät und mir. Den Gegenstand meines darin erwähnten Vortrags vom 17. December 1881 habe ich nicht zu ermitteln vermocht.

»Berlin, den 18. December 1881.

Einen eigenthümlichen Traum muß ich Ihnen erzählen, den ich diese Nacht träumte, so klar, wie ich ihn hier mittheile.

Der Reichstag trat nach den jetzigen Ferien zum ersten Mal zusammen. Während der Discussion trat der Graf Eulenburg ein; sogleich schwieg die Discussion; nach einer langen Pause ertheilte der Präsident dem letzten Redner von Neuem das Wort. Schweigen! Der Präsident hebt die Sitzung auf. Nun entsteht ein Tumult und Geschrei. Keinem Mitgliede darf ein Orden während der Session des Reichstags ertheilt werden; der Monarch darf nicht in der Session genannt werden. Andern Tages Sitzung. Eulenburg erscheint und wird mit solchem Zischen und Lärm empfangen – darüber erwache ich in einer nervösen Agitation, daß ich lange mich nicht erholen konnte und zwei Stunden von ½5 bis ½7 Uhr nicht schlafen konnte.

Das alles geschah in meiner Gegenwart im Hause so klar, wie ich es hier niederschreibe.

Ich will nicht hoffen, daß der Traum sich realisiere, aber eigentümlich bleibt die Sache. Da dieser Traum erst nach dem sechsstündigen ruhigen Schlaf eintrat, so könnte er doch keine unmittelbare Folge unserer Unterredung sein.

Enfin ich mußte Ihnen diese Curiosität doch erzählen.

Ihr

Wilhelm.«

 

»Berlin, den 18. December 1881.

Eurer Majestät danke ich ehrfurchtsvoll für das huldreiche Handschreiben. Ich glaube doch, daß der Traum das Ergebniß nicht grade meines vorhergehenden Vortrages, aber doch der Gesammtheit der Eindrücke der letzten Tage, auf Grund der mündlichen Berichte von Puttkamer, der Zeitungsartikel und meines Vortrags war. Die Bilder des Wachens tauchen im Spiegel des Traumes nicht sofort, sondern erst dann wieder auf, wenn der Geist durch Schlaf und Ruhe still geworden ist. Eurer Majestät Mittheilung ermuthigt mich zur Erzählung eines Traumes, den ich Frühjahr 1863 in den schwersten Conflictstagen hatte, aus denen ein menschliches Auge keinen gangbaren Ausweg sah. Mir träumte, und ich erzählte es sofort am Morgen meiner Frau und andern Zeugen, daß ich auf einem schmalen Alpenpfad ritt, rechts Abgrund, links Felsen; der Pfad wurde schmaler, so daß das Pferd sich weigerte, und Umkehr und Absitzen wegen Mangel an Platz unmöglich; da schlug ich mit meiner Gerte in der linken Hand gegen die glatte Felswand und rief Gott an; die Gerte wurde unendlich lang, die Felswand stürzte wie eine Coulisse und eröffnete einen breiten Weg mit dem Blick auf Hügel und Waldland wie in Böhmen, Preußische Truppen mit Fahnen und in mir noch im Traume der Gedanke, wie ich das schleunig Eurer Majestät melden könnte. Dieser Traum erfüllte sich, und ich erwachte froh und gestärkt aus ihm.

Der böse Traum, aus dem Eure Majestät nervös und agitirt erwachten, kann doch nur so weit in Erfüllung gehn, daß wir noch manche stürmische und lärmende Parlamentssitzung haben werden, durch welche die Parlamente ihr Ansehn leider untergraben und die Staatsgeschäfte hemmen; aber Eurer Majestät Gegenwart dabei ist nicht möglich, und ich halte dergleichen Erscheinungen wie die letzten Reichstagssitzungen zwar für bedauerlich als Maßstab unsrer Sitten und unsrer politischen Bildung, vielleicht unsrer politischen Befähigung; aber für kein Unglück an sich: l'excès du mal en devient le remède.

Verzeihn Eure Majestät mit gewohnter Huld diese durch Allerhöchstdero Schreiben angeregte Ferienbetrachtung; denn seit gestern bis zum 9. Januar haben wir Ferien und Ruhe.«

Die Beschwerde des Grafen Eulenburg über Tiedemann und die darin sofort gestellte Cabinetsfrage waren mir in ihrer Form um so mehr auf die Nerven gefallen, als ich an den Folgen einer schweren Erkrankung litt, die durch die Einwirkung der auf den Kaiser gemachten Attentate und den gleichzeitigen Zwang zur Arbeit in dem Präsidium des Berliner Congresses hervorgerufen, zwar aus amtlichem Pflichtgefühle zurückgedrängt, aber durch die Gasteiner Kur mehr verschärft als geheilt war. Diese Kur, der mein Mitarbeiter, der Staatsminister Bernhard von Bülow, am 20. October 1879 erlag, wirkt auf überarbeitete Nerven nicht beruhigend, wenn sie durch Arbeit oder Gemüthsbewegung gestört wird.

Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte ich die Vorlage des Socialistengesetzes im Reichstage zu vertreten und fand dabei die Erfahrung bestätigt, daß die oratorische Leistung auf der Tribüne eine geringere Nervenanstrengung erfordert als die Correctur einer langen schnell gesprochnen Rede, deren Wortlaut an leitender Stelle vertreten werden soll. Während einer solchen Correctur kam bei mir eine seit Monaten vorbereitete Nervenkrisis körperlich zum Ausbruche, glücklicherweise in der leichtern Form der Nesselsucht.

Die Aufgaben eines leitenden Ministers einer europäischen Großmacht mit parlamentarischer Verfassung sind an sich hinreichend aufreibender Natur, um die Arbeitsfähigkeit eines Mannes zu absorbiren; sie werden es in höherm Maße, wenn der Minister, wie in Deutschland und Italien, einer Nation über das Stadium ihrer Ausbildung hinwegzuhelfen und wie bei uns mit einem starken Isolirungstrieb der Parteien und Individuen zu kämpfen hat. Wenn man Alles, was der Mensch an Kräften und Gesundheit besitzt, an die Lösung solcher Aufgaben setzt, so ist man gegen alle Erschwerungen derselben, welche nicht sachlich nothwendig sind, doppelt empfindlich. Ich glaubte schon zu Anfang der 70er Jahre mit meiner Gesundheit zu Ende zu sein und überließ deshalb das Präsidium des Cabinets dem einzigen mir persönlich Nahestehenden unter meinen Collegen, dem Grafen Roon, wurde aber damals nicht durch sachliche Schwierigkeiten entmuthigt. Um letztres herbeizuführen, mußte die feindliche Intrige der Kreise hinzutreten, auf deren Unterstützung ich vorzugsweise glaubte rechnen zu können, und die sich zur Zeit der »Reichsglocke« in den Beziehungen der durch dieses Blatt vertretnen Elemente in erster Linie zum Hofe und den Conservativen und zu vielen meiner amtlichen Mitarbeiter kennzeichnete. Die Thatsache, daß ich bei dem mir sonst so gnädigen Monarchen keinen genügenden Beistand gegen die Hof- und Hauseinflüsse des Reichsglockenringes fand, hatte mich am meisten entmuthigt und das Gewicht der Erwägungen vervollständigt, die mich zu meinem Abschiedsgesuche vom 27. März 1877 bewogen hatten. Die Gürtelrose, an welcher ich krank war, als Graf Schuwalow 1878 von mir die Berufung des Congresses verlangte, kennzeichnete den Fehlbetrag in dem damaligen Zustande meiner Gesundheit, war eine Quittung über Erschöpfung der Nerven. Mehr als die »Reichsglocke« und deren Zubehör am Hofe hatte daran der Mangel an Aufrichtigkeit in der Mitwirkung einiger meiner amtlichen Mitarbeiter Antheil. Meine Vertretung durch das Vicepräsidium des Grafen Stolberg nahm durch den Einfluß, den die Minister Friedenthal und dann Graf Botho Eulenburg auf meinen Vertreter ausübten, eine Gestalt an, die mir schließlich den Eindruck machte, daß ich mich einem Systeme allmäligen Abdrängens von den Geschäften der politischen Leitung gegenüber befand. Das Symbol dieses Systems machte sich in der Thatsache kenntlich, daß die amtlichen Kundgebungen des Staatsministeriums aus der damaligen Zeit meiner Mitunterschrift entbehrten. Es geschah das nicht auf meinen Wunsch oder mit meiner Zustimmung, sondern unter Benutzung meiner Gleichgültigkeit gegen Aeußerlichkeiten, und ich habe diese Vorgänge ungerügt gelassen, bis ich über die systematische Absichtlichkeit derselben keinen Zweifel mehr haben konnte.

Die auf spätre Ereignisse Licht werfenden Einzelnheiten gehören nicht alle in die Situation zur Zeit der Conseilsitzung im Juni 1878, aber sie beleuchten zum Theil retrospectiv die damalige Lage und ihre Triebfedern. Graf Botho Eulenburg als Minister des Innern gab damals auf der Tribüne des Landtags ohne Zwang sein Wohlwollen für den Abgeordneten Rickert gegenüber einem Artikel der »Nordd. Allg. Ztg.« mit absichtlicher Klarheit zu erkennen, für mich um so einleuchtender, als ich keinen Zweifel hatte, daß er jenen von ihm gemißbilligten Artikel mit mir in Verbindung brachte. Wie in der Nacht beim Gewitter jeder Blitz die Gegend deutlich zeigt, so gestatteten auch mir einzelne Schachzüge meiner Gegner die Gesammtheit der Situation zu überblicken, die durch äußerlich achtungsvolle Kundgebungen von persönlichem Wohlwollen bei thatsächlicher Boycottirung erzeugt wurde. Ob ein Cabinet Gladstone, dessen Mission durch die Namen Stosch, Eulenburg, Friedenthal, Camphausen, Rickert und beliebige Abschwächungen des Gattungsbegriffs »Windthorst« mit katholischen Hofeinflüssen bezeichnet werden kann, wenn es gelang, dasselbe zu Stande zu bringen, in sich haltbar gewesen wäre, ist eine Frage, die sich die Interessenten wohl nicht vorgelegt hatten; der Hauptzweck war der negative, mich zu beseitigen, und über den waren einstweilen die Inhaber der Antheilscheine auf die Zukunft einig. Jeder konnte nachher wieder hoffen, den Andern hinauszudrängen, wie das bei uns im System aller der heterogenen Coalitionen liegt, die nur in der Abneigung gegen das Bestehende einig sind. Die ganze Combination hatte damals keinen Erfolg, weil weder der König noch der Kronprinz dafür zu gewinnen waren. Ueber die Beziehungen des Letztern zu mir waren die strebenden Gegner damals wie später 1888 stets falsch unterrichtet. Er hatte bis an sein Lebensende dasselbe Vertrauen zu mir wie sein Vater, und die Neigung, es zu erschüttern, erreichte bei seiner Gemalin niemals dieselbe kampfbereite Entschiedenheit wie bei der Kaiserin Augusta, die sich auch in der Wahl der Mittel freier bewegte.

Neben den aufreibenden Kämpfen persönlicher Natur waren mir sachliche Schwierigkeiten und anstrengende Arbeiten erwachsen aus dem Bruche mit der Freihandelspolitik, den mein Brief an den Freiherrn von ThüngenVom 16. April 1879, Politische Reden VIII 54 f. über Schutzzoll symptomatisch kennzeichnet, dann aus der Secession und dem Uebergange der Secessionisten zu dem Centrum. Ich verfiel in einen Gesundheitsbankrott, der mich lähmte, bis Dr. Schweninger meine Krankheit richtig erkannte, richtig behandelte und mir ein relatives Gesundheitsgefühl verschaffte, das ich seit vielen Jahren nicht mehr gekannt hatte.

V.

Herr von Gruner, während der Neuen Aera Unterstaatssekretär in dem Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, wurde bald nach meiner Uebernahme des Ministeriums des Auswärtigen zur Disposition gestellt und durch Herrn von Thile ersetzt. Er gehörte schon seit meiner Ernennung zum Bundesgesandten zu meinen Gegnern, da er diese Stellung als ein Erbtheil von seinem Vater Justus Gruner angesehn hatte; er blieb mir Feind und war geschäftlich unfähig. Im November 1863 richtete er an Se. Majestät ein Schreiben über den Budgetstreit in demselben Sinne, in dem der Oberstlieutenant von Vincke auf Olbendorf (vgl. Bd. I S. 332) und Roggenbach denselben Schritt zu thun für gut befunden hatten. Indem diese Herrn ihre Vorschläge an den König richteten, gingen sie von der Voraussetzung aus, daß derselbe, wenn er ihrem Rathe folgend, dem Abgeordnetenhause nachgäbe, ein andres Ministerium, wenigstens einen andern Ministerpräsidenten und Minister des Auswärtigen berufen werde, ein Ergebniß, für das außerhalb des öffentlichen Lebens Einflüsse in Thätigkeit waren, denen der Hausminister von Schleinitz mit andern dem Hofe nahestehenden Personen seine Dienste widmete. Auch später lebte Herr von Gruner in den Kreisen, die 1876 die »Reichsglocke« protegirten und speisten.

Nachdem der Redacteur dieses Blattes im Januar 1877 verurtheilt und ich im März das von Sr. Majestät abgelehnte Abschiedsgesuch eingereicht hatte, kam es im Juni, während ich mich zur Kur in Kissingen befand, im Geschäftswege zu meiner Kenntniß, daß Herr von Gruner in das Hausministerium berufen, zugleich ohne Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers zum Wirklichen Geheimen Rath ernannt sei, und daß Herr von Schleinitz an den Curator des »Reichs- und Staats-Anzeigers« das Ansinnen gestellt habe, diese Ernennung in dem amtlichen Blatte zu publiciren.

Ich schrieb darüber unter dem 8. Juni an den Chef der Reichskanzlei Geheim-Rath Tiedemann, zur Mittheilung an das Staatsministerium:

»Meiner Ansicht nach ist der amtliche Theil des Reichs- und Staats-Anzeigers für solche Veröffentlichungen da, welche bezüglich der Reichs- und der Preußischen Staats-Angelegenheiten unter Verantwortung des Reichskanzlers resp. des Preußischen Staatsministeriums erfolgen. Kommt die Ernennung Gruner's ohne Weitres in den amtlichen Theil, so kann selbst durch die vorgängige Erwähnung der Ueberweisung an das Hausministerium die Präsumtion nicht entkräftet werden, daß das Staatsministerium die Ernennung Gruner's zum Wirkl. Geheimen Rath mit seiner Verantwortlichkeit deckt. Die öffentliche Meinung und der Landtag würden kaum annehmen, daß das Staatsministerium diese Auszeichnung seines notorischen Gegners gewünscht habe; sie würden vielmehr die Wahrheit leicht errathen, daß das Staatsministerium bei Hofe nicht das hinreichende Ansehn, bei Sr. Majestät nicht den hinreichenden Einfluß gehabt habe, um diese Ernennung zu hindern; man würde auch darüber garnicht zweifelhaft sein, daß diese im Staatsanzeiger veröffentlichte Ernennung eine vom Staatsministerium more solito contrasignirte gewesen sei. Der Glaube, daß das Staatsministerium sich im Besitz des von der Verfassung vorausgesetzten Einflusses auf die Allerhöchsten Entschließungen befände, würde auch dann nicht gefördert werden, wenn etwa die ungnädige Allerhöchste Randbemerkung und die darauf erfolgte Antwort des Staatsministeriums öffentlich bekannt würden. Man würde in Versuchung sein, in Betreff von Inhalt und Wirkung Vergleiche mit dem Vorgange in Frankreich anzustellen, der dort zu dem jüngsten Ministerwechsel führte.

Ich bin nicht ohne Besorgniß, daß wir in dem Grunerschen Vorgange nur eine Sonde zu erblicken haben, die von Herrn von Schleinitz und seinen Rathgebern (nicht von Sr. Majestät dem Kaiser) angelegt wird, um zu probiren, was man uns bieten kann und wie hoch wir unsre ministerielle Autorität anschlagen. Meiner Ansicht nach ist Fügsamkeit gegen diese unberechtigten Einflüsse auf die Allerhöchsten Entschließungen nicht das Mittel, sie abzuschneiden; im Gegentheil, sie werden wachsen, und der Conflict, der jetzt ein blos formaler ist, würde sich auf ungünstigern Feldern und unter Hineinziehung großer Parteifragen demnächst wiederholen.

Ich könnte mich nach meiner augenblicklichen Lage jeder amtlichen Aeußerung enthalten, aber ich habe das Gefühl, daß die für mich persönlich doch sehr wichtige Frage meines Wiedereintritts in die Geschäfte auf diesem Wege auch ohne Rücksicht auf meine Gesundheit präjudicirt werden würde. Da ich hoffe, daß meine Gesundheit sich bessern wird, und da ich für diesen Fall mir gern den Wiedereintritt in die Geschäfte, so weit er dem Allerhöchsten Willen entspricht, offen erhalte, so nehme ich ein persönliches Interesse daran, daß das Ansehn der ministeriellen Stellung hinreichend gewahrt werde, um mir die Wiederaufnahme einer solchen nach meinem Gewissen möglich zu erhalten.

Die richtige der Logik des ersten Beschlusses entsprechende Erledigung wäre meiner Ansicht nach die Ablehnung der von dem Hausminister beantragten Veröffentlichung für den amtlichen Theil des Staats-Anzeigers. Die amtliche Aufnahme ist vor Mißdeutung in der Oeffentlichkeit nicht zu schützen und bleibt immer ein partieller Sieg der Reichsglocken-Intrige über die gegenwärtige Regirung. Bekanntmachungen des Hausministeriums gehören an und für sich nicht in den ›Reichs- und Staats-Anzeiger‹; soll letztrer außerdem ein ›Königlicher Haus-Anzeiger‹ sein, so können doch meiner Ansicht nach in seinem amtlichen Theile immer keine Anordnungen des Hausministers Platz greifen, der keine Verantwortlichkeit für den Inhalt des amtlichen Blattes trägt; dieselben müßten immer in der einen oder andern Gestalt das von dem Hausminister nachzusuchende Placet des verantwortlichen Staatsministeriums erhalten, bevor sie abgedruckt werden. Dieses Placet ist im vorliegenden Falle nicht nachgesucht; der Hausminister hat ein Verfügungsrecht über den Staats-Anzeiger in Anspruch genommen, und wäre deshalb sein Verlangen angebrachtermaßen schon unter Anführung dieses formellen Grundes abzulehnen. Geht ein Befehl zur Aufnahme einer Angelegenheit des Königlichen Hauses von Sr. Majestät dem Könige selbst aus, so wird seine Ausführung in den Fällen, welche die Regel bilden, ja kein Bedenken haben; nur wird es sich auch selbst in unverfänglichen Fällen empfehlen, die amtlichen Bekanntmachungen des Königlichen Hauses durch ihren Platz von denen des Staates gesondert erscheinen zu lassen. Diese Sonderung wäre meines Erachtens in der Art vorzunehmen, daß die das Königliche Haus angehenden Allerhöchsten Anordnungen nicht promiscue mit denen des Staatsministeriums erscheinen, sondern es würde neben den beiden großen amtlichen Rubriken des Staatsanzeigers ›Deutsches Reich‹ und ›Königreich Preußen‹, am höflichsten zwischen beiden, eventuell auch nach ›Königreich Preußen‹ eine dritte mit der Bezeichnung ›Königliches Haus‹ einzuschalten sein, von den andern beiden Rubriken ebenso mittelst durchgehender Striche geschieden, wie jetzt ›Preußen‹ und das ›Reich‹. Damit ließe sich die formale Frage für die Zukunft erledigen, und in einer, wie mir scheint, nach keiner Seite hin verletzenden Form.

Etwas andres ist es aber, wenn eine Allerhöchste Entschließung amtlich bekannt gemacht wird, welche in der Oeffentlichkeit, ungeachtet der in den Arten verbleibenden Versicherung des Gegentheils, dasjenige bekundet, was man im constitutionellen Sprachgebrauch Mangel an Vertrauen des Monarchen zu seinen Ministern zu nennen pflegt. Dagegen haben Minister natürlich kein andres Hülfsmittel als den Rücktritt aus ihrer Stellung. Unzweifelhaft trifft der vorliegende Fall, soweit er diese Natur hat, mehr mich als meine Collegen. Die letztern sind von der Reichsglocke und andern Blättern, in denen die Tendenzen der Herrn von Gruner, von Schleinitz, Graf Nesselrode, Nathusius-Ludom vertreten wurden, theils garnicht, theils doch nicht in dem Maße wie ich öffentlich verleumdet worden.

Eine Begnadigung des Herrn von Nathusius, eine Auszeichnung des Grafen Nesselrode und des Herrn von Gruner grade in der Zeit, wo die Verleumdungen des Organs dieser Herrn gegen mich die öffentliche Meinung und die Gerichte beschäftigten, wo der Zusammenhang jener Herrn mit diesen Blättern offenkundig wurde, enthalten einen Act Königlichen Wohlwollens für Leute, die durch weiter nichts bekannt sind als durch ihre Feindschaft gegen die Regirung und durch öffentliche Verletzung meiner Ehre. Letztre aber sollte, so lange ich des Königs Diener bin, unter Sr. Majestät Schutze stehn. Wird mir das Gegentheil dieses Schutzes zu Theil, so liegt ein persönliches Motiv vor, welches mich viel gebieterischer aus dem Dienste vertreibt, als die Rücksicht auf meine Gesundheit es jemals könnte. Diese Entschließungsgründe liegen nur persönlich für mich vor, werden aber je nach der Entwicklung der Sache für die Möglichkeit meines Wiedereintritts in die Geschäfte entscheidend sein.

Meinen Herrn Collegen stelle ich ergebenst anheim, im Interesse ihrer ministeriellen Zukunft dafür Sorge tragen zu wollen, daß die amtliche Publication von Gruner's Ernennung, wenn Se. Majestät nicht überhaupt darauf verzichten will, doch in einer Form stattfinde, aus der die Nichtcontrasignatur zweifellos ersichtlich ist. Es würde dies in der oben vorgeschlagnen Dreitheilung der Ernennungen zwischen Reich, Preußen und Haus erreichbar sein, namentlich wenn die Presse dazu eine Erläuterung erhält. Empfehlen würde es sich aber meines Erachtens, wenn die Anstellung Gruner's im Hausministerium vorher in separato unter der Hausministerial-Rubrik veröffentlicht und am andern Tage bekannt gegeben würde, daß Se. Majestät geruht hätte, den im Hausministerium etc. Angestellten den Titel eines Wirklichen Geheim-Raths etc. zu verleihn; eine etwas abweichende Gestalt des Wortlauts der Bekanntmachung von der sonst üblichen, wenn auch nur eine ganz geringe, würde sich immer empfehlen.«

Diesem, an den Geheim-Rath Tiedemann gerichteten, unter fliegendem Siegel an den Minister von Bülow beförderten Schreiben fügte ich für Letztern mit dem Anheimstellen vertraulicher Benutzung bei den Collegen Folgendes hinzu:

10./6. 77.

». . . Ich bin, wie ich glaube, von dem Vorgange in einem stärkern Maße betroffen als meine Collegen; höchstens Camphausen ist außer mir noch von der Reichsglockenpartei verleumdet worden, aber doch lange nicht mit dem Maße von Niedertracht, wie es mir gegenüber geschehn ist. Man hat ihn sachlich in Bezug auf sein Amt mit unwürdigen Mitteln angegriffen, aber doch seine persönliche Ehre nicht angetastet. Das Staatsministerium im Ganzen ist gewiß in der Lage, sich durch die Form der Ernennung Gruner's verletzt zu finden und gegen diese Verletzung zu reagiren, um seine Rechte und seine Würde für die Zukunft sicher zu stellen. Die Verletzung aber, die in der Thatsache der Ernennung Gruner's liegt, trifft wesentlich mich allein; seine langjährige Feindschaft gegen mich persönlich ist es allein, welche die Aufmerksamkeit auf ihn hat lenken können, denn er besitzt weder Fähigkeiten noch Verdienste, war im Auswärtigen Amte durch seine, in wichtigen Momenten an Geisteskrankheit grenzende Unfähigkeit ein Hinderniß und hat nunmehr seit 15 Jahren nichts geleistet, als mit der ganzen Verbissenheit verkannter Selbstüberschätzung gegen mich gesprochen, geschrieben, intrigirt. Ich sehe dabei für den Augenblick ganz davon ab, daß grade diese Reichsglocken-Elemente mir die Erfüllung meiner Amtspflicht in einem meine Kräfte überschreitenden Maße erschweren. Ich spreche jetzt nur von dem Schlag, der dadurch persönlich gegen mich hat geführt werden sollen, daß dieser Mensch Sr. Majestät hat mit Erfolg empfohlen werden können. Wenn ich dem gegenüber in meinem Schreiben an Tiedemann sage, daß für meine Herrn Collegen ein zwingendes Motiv zum Rücktritt in diesem Gruner'schen Falle nicht liegt, so erscheint mir meine Lage demselben gegenüber als eine wesentlich andre.

Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie namentlich mit Camphausen, Friedenthal und Falk in diesem Sinne vertraulich reden wollten. Das Verhalten Wilmowski's gestaltet sich anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte bisher auf ihn als auf einen sichern Bundesgenossen gegen die Schleinitz'sche Camarilla gerechnet; seine Thätigkeit in diesem Falle aber verstehe ich nicht recht. Er wird mit Eulenburg und Leonhardt zusammen das Staatsministerium um das Maß von Selbstachtung und Consideration bringen, ohne welches sich in diesen schwierigen Lagen am Hofe und schließlich auch im Lande die Staatsgeschäfte nicht führen lassen. Gegen Eulenburg wird man sich nur so äußern können, wie es wiedererzählt werden kann. Wie stellt sich eigentlich Hofmann zu der Sache?

Mir scheint die Kur gut zu bekommen, doch markirt sich jeder Rückschlag über ärgerliche Eindrücke in empfindlicher Weise und läßt mich voraussehn, daß mein Gesundheitszustand ein geschäftsfähiger schwerlich wieder werden wird. Vor der einfachen Besorgung der Amtsgeschäfte würde ich nicht zurückschrecken; aber die faux frais der Hofintrigen vermag ich nicht mehr in der Weise zu tragen wie früher, vielleicht auch deshalb, weil sie an Umfang und Wirkung in erschreckender Weise zugenommen haben. Diese eigentlichen Gründe meiner fortbestehenden Absicht, zurückzutreten, habe ich vor drei Monaten verschwiegen, obschon es wesentlich dieselben waren; und ich werde auch demnächst aus Rücksicht für den Kaiser keine andern Motive für mein Ausscheiden anführen können als den Zustand meiner Gesundheit.«

Die Sache schloß damit ab, daß die Ernennung Gruner's zum Wirklichen Geheimen Rathe im Staatsanzeiger nicht veröffentlicht wurde.


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