Otto Fürst von Bismarck
Gedanken und Erinnerungen - Zweiter Band
Otto Fürst von Bismarck

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Dreißigstes Kapitel.

Zukünftige Politik Rußlands.

Die Gefahr auswärtiger Kriege, die Gefahr, daß der nächste auf der Westgrenze uns gegenüber die rothe Fahne ebenso gut wie vor hundert Jahren die dreifarbige in's Gefecht führen könne, lag zur Zeit von Schnäbele und BoulangerAm 20. April 1887 wurde der französische Grenzcommissar Schnäbele, der sich der Bestechung von Angehörigen des Deutschen Reichs in Elsaß-Lothringen schuldig gemacht hatte, von deutschen Geheimpolizisten beim Ueberschreiten der deutschen Grenze verhaftet, jedoch am 30. April wieder freigelassen. – Kriegsminister Boulanger trieb aus diesem Anlaß lebhaft zum Revanchekrieg in der von ihm beeinflußten Presse. vor und liegt noch heut vor. Die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs nach zwei Seiten hin ist durch den Tod von Katkow und Skobelew in etwas vermindert: es ist nicht nothwendig, daß ein französischer Angriff auf uns Rußland mit derselben Gewißheit gegen uns in das Feld rufen würde, wie ein russischer Angriff Frankreich; aber die Neigung Rußlands, still zu sitzen, hängt nicht allein von Stimmungen, sondern mehr noch von technischen Fragen der Bewaffnung zu Wasser und zu Lande ab. Wenn Rußland mit der Construction seines Gewehrs, der Art seines Pulvers und der Stärke seiner Schwarzen-Meer-Flotte seiner Meinung nach »fertig« ist, so wird die Tonart, in der heut die Variationen der russischen Politik gehalten sind, vielleicht einer freiern Platz machen.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß Rußland, wenn es seine Rüstung vollendet hat, dieselbe benutzen wird, um ohne Weitres und in Rechnung auf französischen Beistand uns anzugreifen. Der deutsche Krieg bietet für Rußland ebenso wenig unmittelbare Vortheile, wie der russische für Deutschland, höchstens im Betrage der Kriegscontribution würde der russische Sieger günstiger stehn als der deutsche, aber doch kaum auf seine Kosten kommen. Der Gedanke an den Erwerb Ostpreußens, der im siebenjährigen Kriege an das Licht trat, wird schwerlich noch Anhänger haben. Wenn Rußland schon den deutschen Bestandtheil der Bevölkerung seiner baltischen Provinzen nicht vertragen mag, so ist nicht anzunehmen, daß seine Politik auf die Verstärkung dieser für gefährlich gehaltnen Minderheit durch einen so kräftigen Zusatz wie den ostpreußischen ausgehn wird. Ebenso wenig erscheint dem russischen Staatsmanne eine Vermehrung der polnischen Unterthanen des Zaren durch Posen und Westpreußen begehrenswerth. Wenn man Deutschland und Rußland isolirt betrachtet, so ist es schwer, auf einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berechtigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauflust oder zur Verhütung der Gefahren unbeschäftigter Heere kann man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutsch-russischer aber wiegt zu schwer, um auf der einen oder andern Seite als Mittel nur zur Beschäftigung der Armee und ihrer Offiziere verwendet zu werden.

Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig ist, ohne Weitres Oestreich angreifen würde, und bin noch heut der Meinung, daß die Truppenaufstellung im russischen Westen auf keine direct aggressive Tendenz gegen Deutschland berechnet ist, sondern nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen die Türkei die westlichen Mächte zur Repression bestimmen sollte. Wenn Rußland sich für ausreichend gerüstet halten wird, wozu eine angemessene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört, so wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie es in dem Vertrage von Hunkiar-Iskelessi 1833 verfahren, dem Sultan anbieten, ihm seine Stellung in Constantinopel und den ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den Schlüssel zum russischen Hause, d. h. zum Schwarzen Meere, in der Gestalt eines russischen Verschlusses des Bosporus gewährt. Daß die Pforte auf ein russisches Protectorat in dieser Form eingehe, liegt nicht nur in der Möglichkeit, sondern, wenn die Sache geschickt betrieben wird, auch in der Wahrscheinlichkeit. Der Sultan hat in frühern Jahrzehnten glauben können, daß die Eifersucht der europäischen Mächte ihm gegen Rußland Garantien gewähre. Für England und Oestreich war es eine traditionelle Politik, die Türkei zu erhalten; aber die Gladstone'schen Kundgebungen haben dem Sultan diesen Rückhalt entzogen, nicht nur in London, sondern auch in Wien, denn man kann nicht annehmen, daß das Wiener Cabinet die Traditionen der Metternichschen Zeit (Ypsilanti, Feindschaft gegen die Befreiung Griechenlands) hätte in Reichstadt fallen lassen, wenn es der englischen Unterstützung sicher geblieben wäre. Der Bann der Dankbarkeit gegen den Kaiser Nicolaus war bereits durch Buol während des Krimkriegs gebrochen, und auf dem Pariser Congresse war die Haltung Oestreichs um so deutlicher in die alte Metternich'sche Richtung zurückgetreten, als sie nicht durch die finanziellen Beziehungen jenes Staatsmanns zum russischen Kaiser gemildert, vielmehr durch Kränkung der Eitelkeit des Grafen Buol verschärft war. Das Oestreich von 1856 würde ohne die zersetzende Wirkung ungeschickter englischer Politik selbst um den Preis Bosniens sich weder von England noch von der Pforte losgesagt haben. So wie die Sachen aber heut liegen, ist es nicht wahrscheinlich, daß der Sultan von England oder Oestreich noch so viel Beistand und Schutz erwartet, wie ihm Rußland, ohne eigne Interessen Preis zu geben, zusagen und vermöge seiner Nachbarschaft erfolgreich gewähren kann.

Wenn Rußland, nachdem es hinreichend fertig ist, um den Sultan und den Bosporus nöthigenfalls militärisch zu Wasser und zu Lande überzulaufen, dem Sultan persönlich und vertraulich vorschlägt, gegen Bewilligung einer ausreichenden Befestigung und Truppenzahl am nördlichen Eingang des Bosporus ihm seine Stellung im Serail und alle Provinzen nicht nur gegen das Ausland, sondern auch gegen seine eignen Unterthanen zu garantiren, so würde das ein Angebot sein, in dem eine erhebliche Versuchung zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan aus eignem oder auf fremden Antrieb die russische Insinuation zurückweist, so kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Bestimmung haben, auch vor entschiedner Sache sich der Stellung am Bosporus zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den Besitz seines Hausschlüssels zu gelangen.

Wie auch diese Phase der von mir vorausgesetzten russischen Politik verlaufen mag, so wird aus derselben immer die Situation entstehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde. Der erste Schritt der russischen Diplomatie nach diesen seit lange vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorsichtige Sondirung in Berlin sein, bezüglich der Frage, ob Oestreich oder England, wenn sie sich dem russischen Vorgehn kriegerisch widersetzten, auf die Unterstützung Deutschlands rechnen könnten. Diese Frage würde meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen sein. Ich glaube, daß es für Deutschland nützlich sein würde, wenn die Russen auf dem einen oder andern Wege, physisch oder diplomatisch, sich in Constantinopel festgesetzt und dasselbe zu vertheidigen hätten. Wir würden dann nicht mehr in der Lage sein, von England und gelegentlich auch von Oestreich als Hetzhund gegen russische Bosporus-Gelüste ausgebeutet zu werden, sondern abwarten können, ob Oestreich angegriffen wird und damit unser casus belli eintritt.

Auch für die östreichische Politik wäre es richtiger, sich den Wirkungen des ungarischen Chauvinismus so lange zu entziehn, bis Rußland eine Position am Bosporus eingenommen und dadurch seine Frictionen mit den Mittelmeerstaaten, also mit England und selbst mit Italien und Frankreich, erheblich verschärft und sein Bedürfniß, sich mit Oestreich à l'amiable zu verständigen, gesteigert hätte. Wenn ich östreichischer Minister wäre, so würde ich die Russen nicht hindern, nach Constantinopel zu gehn, aber eine Verständigung mit ihnen erst beginnen, nachdem sie den Vorstoß gemacht hätten. Die Betheiligung Oestreichs an der türkischen Erbschaft wird doch nur im Einverständnisse mit Rußland geregelt werden, und der östreichische Antheil um so größer ausfallen, je mehr man in Wien zu warten und die russische Politik zu ermuthigen weiß, eine weiter vorgeschobene Stellung einzunehmen. England gegenüber mag die Position des heutigen Rußland als verbessert gelten, wenn es Constantinopel beherrscht, Oestreich und Deutschland gegenüber ist sie weniger gefährlich, so lange es in Constantinopel steht. Es würde dann die preußische Ungeschicklichkeit nicht mehr möglich sein, uns wie 1855 für Oestreich, England, Frankreich auszuspielen und einzusetzen, um uns in Paris eine demüthigende Zulassung zum Congreß und eine mention honorable als europäische Macht zu verdienen.

Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen seines Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen wird, auf unsre Neutralität rechnen könne, so lange Oestreich nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich beantwortet, so wird Rußland zunächst denselben Weg wie 1876 in Reichstadt einschlagen und wieder versuchen, Oestreichs Genossenschaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland Anerbietungen machen könnte, ist ein sehr weites, nicht nur im Orient auf Kosten der Pforte, sondern auch in Deutschland auf unsre Kosten. Die Zuverlässigkeit unsres Bündnisses mit Oestreich-Ungarn gegenüber solchen Versuchungen wird nicht allein von dem Buchstaben der Verabredung, sondern auch einigermaßen von dem Charakter der Persönlichkeiten und von den politischen und confessionellen Strömungen abhängen, die dann in Oestreich leitend sein werden. Gelingt es der russischen Politik, Oestreich zu gewinnen, so ist die Coalition des siebenjährigen Kriegs gegen uns fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben sein, weil seine Interessen am Rheine gewichtiger sind als die im Orient und am Bosporus.

Jedenfalls wird auch in der Zukunft nicht blos kriegerische Rüstung, sondern auch ein richtiger politischer Blick dazugehören, das deutsche Staatsschiff durch die Strömungen der Coalitonen zu steuern, denen wir nach unsrer geographischen Lage und unsrer Vorgeschichte ausgesetzt sind. Durch Liebenswürdigkeiten und wirthschaftliche Trinkgelder für befreundete Mächte werden wir den Gefahren, die im Schoße der Zukunft liegen, nicht vorbeugen, sondern die Begehrlichkeit unsrer einstweiligen Freunde und ihre Rechnung auf unser Gefühl sorgenvoller Bedürftigkeit steigern. Meine Befürchtung ist, daß auf dem eingeschlagnen Wege unsre Zukunft kleinen und vorübergehenden Stimmungen der Gegenwart geopfert wird. Frühere Herrscher sahen mehr auf Befähigung als auf Gehorsam ihrer Rathgeber; wenn der Gehorsam allein das Kriterium ist, so wird ein Anspruch an die universelle Begabung des Monarchen gestellt, dem selbst Friedrich der Große nicht genügen würde, obschon die Politik in Krieg und Frieden zu seiner Zeit weniger schwierig war wie heut.

Unser Ansehn und unsre Sicherheit werden sich um so nachhaltiger entwickeln, je mehr wir uns bei Streitigkeiten, die uns nicht unmittelbar berühren, in der Reserve halten und unempfindlich werden gegen jeden Versuch, unsre Eitelkeit zu reizen und auszubeuten, Versuche, wie sie während des Krimkriegs von der englischen Presse und dem englischen Hofe und den auf England gestützten Strebern an unserm eignen Hofe gemacht wurden, indem man uns mit der Entziehung der Titulatur einer Großmacht so erfolgreich bedrohte, daß Herr von Manteuffel uns in Paris großen Demüthigungen aussetzte, um zur Mitunterschrift eines Vertrags zugelassen zu werden, an den nicht gebunden zu sein uns nützlich gewesen sein würdeS. Bd. I 304 f.. Deutschland würde auch heut eine große Thorheit begehn, wenn es in orientalischen Streitfragen ohne eignes Interesse früher Partei nehmen wollte als die andern, mehr interessirten Mächte. Wie das schwächre Preußen schon während des Krimkriegs Momente hatte, in denen es bei entschlossener Rüstung im Sinne östreichischer Forderungen und über dieselben hinaus den Frieden gebieten und sein Verständniß mit Oestreich über deutsche Fragen fördern konnte, so wird auch Deutschland in zukünftigen orientalischen Händeln, wenn es sich zurückzuhalten weiß, den Vortheil, daß es die in orientalischen Fragen am wenigsten interessirte Macht ist, um so sichrer verwerthen können, je länger es seinen Einsatz zurückhält, auch wenn dieser Vortheil nur in längerm Genusse des Friedens bestände. Oestreich, England, Italien werden einem russischen Vorstoße auf Constantinopel gegenüber immer früher Stellung zu nehmen haben als die Franzosen, weil die orientalischen Interessen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zusammenhange mit der deutschen Grenzfrage zu denken sind. Frankreich würde in russisch-orientalischen Krisen weder auf eine neue »westmächtliche« Politik, noch um seiner Freundschaft mit Rußland willen auf eine Bedrohung Englands sich einlassen können, ohne vorgängige Verständigung oder vorgängigen Bruch mit Deutschland.

Dem Vortheile, den der deutschen Politik ihre Freiheit von directen orientalischen Interessen gewährt, steht der Nachtheil der centralen und exponirten Lage des Deutschen Reichs mit seinen ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die Leichtigkeit antideutscher Coalitionen gegenüber. Dabei ist Deutschland vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch keine Ziele, die nur durch siegreiche Kriege zu erreichen wären, in Versuchung geführt wird. Unser Interesse ist, den Frieden zu erhalten, während unsre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme Wünsche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen sind. Dementsprechend müssen wir unsre Politik einrichten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder einschränken, uns in dem europäischen Kartenspiele die Hinterhand wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen lassen; wenn nicht, plectuntur Achivi.

Unsre Zurückhaltung kann vernünftiger Weise nicht den Zweck haben, über irgend einen unsrer Nachbarn oder möglichen Gegner mit geschonten Kräften herzufallen, nachdem die andern sich geschwächt hätten. Im Gegentheil sollten wir uns bemühn, die Verstimmungen, die unser Heranwachsen zu einer wirklichen Großmacht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden Gebrauch unsrer Schwerkraft abzuschwächen, um die Welt zu überzeugen, daß eine deutsche Hegemonie in Europa nützlicher und unparteiischer, auch unschädlicher für die Freiheit andrer wirkt als eine französische, russische oder englische. Die Achtung vor den Rechten andrer Staaten, an der namentlich Frankreich in den Zeiten seines Uebergewichts es hat fehlen lassen, und die in England doch nur so weit reicht, als die englischen Interessen nicht berührt werden, wird dem Deutschen Reiche und seiner Politik erleichtert, einerseits durch die Objectivität des deutschen Charakters, andrerseits durch die verdienstlose Thatsache, daß wir eine Vergrößrung unsres unmittelbaren Gebiets nicht brauchen, auch nicht herstellen könnten, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Gebiete zu stärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unsre Einheit innerhalb der erreichbaren Grenzen zu Stande gebracht hatten, ist stets gewesen, das Vertraun nicht nur der mindermächtigen europäischen Staaten, sondern auch der großen Mächte zu erwerben, daß die deutsche Politik, nachdem sie die injuria temporum, die Zersplittrung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht sein will. Um dieses Vertraun zu erzeugen, ist vor allen Dingen Ehrlichkeit, Offenheit und Versöhnlichkeit im Falle von Reibungen oder von untoward events nöthig. Ich habe dieses Recept nicht ohne Widerstreben meiner persönlichen Empfindlichkeiten befolgt in Fällen wie Schnäbele (April 1887), Boulanger, Kaufmann (September 1887), Spanien gegenüber in der Carolinen-Frage, den Vereinigten Staaten gegenüber in Samoa, und vermuthe, daß die Gelegenheiten, zur Anschauung zu bringen, daß wir befriedigt und friedliebend sind, auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Ich habe während meiner Amtsführung zu drei Kriegen gerathen, dem dänischen, dem böhmischen und dem französischen, aber mir auch jedesmal vorher klar gemacht, ob der Krieg, wenn er siegreich wäre, einen Kampfpreis bringen würde, werth der Opfer, die jeder Krieg fordert und die heut so viel schwerer sind als in dem vorigen Jahrhundert. Wenn ich mir hätte sagen müssen, daß wir nach einem dieser Kriege in Verlegenheit sein würden, uns wünschenswerthe Friedensbedingungen auszudenken, so würde ich mich, so lange wir nicht materiell angegriffen waren, schwerlich von der Nothwendigkeit solcher Opfer überzeugt haben. Internationale Streitigkeiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe ich niemals aus dem Gesichtspunkte des Göttinger Comments und der Privatmensuren-Ehre aufgefaßt, sondern stets nur in Abwägung ihrer Rückwirkung auf den Anspruch des deutschen Volks, in Gleichberechtigung mit den andern großen Mächten Europas ein autonomes politisches Leben zu führen, wie es auf der Basis der uns eigenthümlichen nationalen Leistungsfähigkeit möglich ist.

Die traditionelle russische Politik, die sich theils auf Glaubens-, theils auf Blutsverwandschaft gründet, der Gedanke, die Rumänen, die Bulgaren, die griechischen, gelegentlich auch die römisch-katholischen Serben, die unter verschiednen Namen zu beiden Seiten der östreichisch-ungarischen Grenze vorkommen, zu »befreien« von dem türkischen Joche und dadurch an Rußland zu fesseln, hat sich nicht bewährt. Es ist nicht unmöglich, daß in ferner Zukunft alle diese Stämme dem russischen Systeme gewaltsam angefügt werden, aber daß die Befreiung allein sie nicht in Anhänger der russischen Macht verwandelt, hat zuerst der griechische Stamm bewiesen. Er wurde seit Tschesme (1770) als Stützpunkt Rußlands betrachtet, und noch in dem russisch-türkischen Kriege von 1806 bis 1812 schienen die Ziele der kaiserlich russischen Politik unverändert zu sein. Ob die Unternehmungen der Hetärie zur Zeit des auch schon im Westen populär gemachten Ypsilant'schen Aufstandes, des durch die Fanarioten vermittelten Ausläufers gräcisirender Orientpolitik, noch die einheitliche Zustimmung der verschiednen russischen Strömungen hatten, die von Araktschejew bis zu den Decabristen durch einander liefen, ist gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erstlinge der russischen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durchschlagende, Enttäuschung für Rußland. Die griechische Befreiungspolitik hört mit und seit Navarin auch in den Augen der Russen auf, eine russische Spectalität zu sein. Es hat lange gedauert, ehe das russische Cabinet aus diesem kritischen Ergebniß die Consequenzen zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu schwer, um für jede Wahrnehmung des politischen Instincts leicht lenksam zu sein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen, Serben, Bulgaren dieselbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle diese Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem sie frei geworden, keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueberzeugung theilt, daß auch der »einzige Freund« des Zaren, der Fürst von Montenegro, was bei seiner entfernten und isolirten Situation auch einigermaßen entschuldbar ist, nur so lange die russische Flagge hissen wird, als er Aequivalente an Geld oder Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt sein, daß der Bladika bereit war und vielleicht noch bereit ist, als großherrlich türkischer Connetable an die Spitze der Balkanvölker zu treten, wenn dieser Gedanke bei der Pforte eine hinreichend günstige Aufnahme und Unterstützung fände, um für Montenegro nützlich werden zu können.

Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die Folgerungen ziehn und praktisch machen will, so wäre es natürlich, sich auf die weniger phantastischen Fortschritte zu beschränken, die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen sind. Der geschichtlich poetischen Seite, die der Kaiserin Katharina vorschwebte, als sie ihrem zweiten Enkel den Namen Constantin gab, fehlt das placet der Praxis. Befreite Völker sind nicht dankbar, sondern anspruchsvoll, und ich denke mir, daß die russische Politik in der heutigen realistischen Zeit mehr technisch als schwunghaft vorgehn wird in Behandlung der orientalischen Fragen. Ihr erstes praktisches Bedürfniß für Kraftentwicklung im Oriente ist die Sicherstellung des Schwarzen Meers. Gelingt es, einen festen Verschluß des Bosporus durch Geschütz- und Torpedoanlagen zu erreichen, so ist die Südküste Rußlands noch besser geschützt als die baltische, der die überlegnen englisch-französischen Flotten im Krimkriege nicht viel anzuhaben vermochten.

So mag die Berechnung des Petersburger Cabinets sich gestalten, wenn sie als Zielpunkt zunächst den Verschluß des Schwarzen Meeres und die Gewinnung des Sultans für diesen Zweck durch Liebe, durch Geld, durch Gewalt in Aussicht nimmt. Wenn die Pforte sich der freundschaftlichen Annäherung Rußlands erwehrt und gegen die angedrohte Gewalt das Schwert zieht, so wird Rußland wahrscheinlich von andrer Seite angegriffen werden, und auf diesen Fall sind m. E. die Truppenanhäufungen an der Westgrenze berechnet. Gelingt es, den Verschluß des Bosporus in Güte zu erreichen, so werden vielleicht die Mächte, die sich dadurch beeinträchtigt finden, einstweilen stille sitzen, weil eine jede auf die Initiative der andern und auf die Entschließung Frankreichs warten würde. Unsre Interessen sind mehr als die der andern Mächte mit dem Gravitiren der russischen Macht nach Süden verträglich; man kann sogar sagen, daß sie dadurch gefördert werden. Wir können die Lösung eines neuen von Rußland geschürzten Knotens länger als die andern abwarten.


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