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Die Strafaufgabe

Das Wetter wurde jetzt warm und sonnig. An einem Freitag brachte Balbine vom Markte ein Büschel Schlüsselblumen heim.

»Die riechen nach Frühling!« sagten die Turnachkinder und drückten der Reihe nach ihre Nasen hinein.

Man merkte auch draussen auf den Gassen und Plätzen, dass es Frühling wurde. Wie es im Januar durch die ganze Stadt von Schlittschuhen geklirrt hatte, so klatschte und klapperte, schnurrte und surrte es jetzt von Kreiseln und Springseilen, von Stelzen und Reifen und Bällen. Die grossen Leute konnten sehen, wie sie durchkamen.

»Schlagt uns nicht tot! lasst uns gnädigst vorbei!« wehrte lachend Herr Zurbuchen vom »Goldenen Degen«, der mit Herrn Apotheker Lorez daherspazierte.

Von vorn surrten den beiden ein paar Kreisel entgegen, links hüpften die Mädchen in schnellen Sprüngen über ihr Seil, und rechts hopste Lotti Turnach hoch auf den Stelzen daher.

»Ich kann jetzt auf einem Bein!« schrie sie den Herren zu und schwang die Stelze auf die Schulter wie ein Soldat. »Es ist aber schwer! …«

Und weil man nun abends bis um halb sieben draussen beisammen sein konnte, fiel den Buben und Mädchen alles mögliche ein. Man wusste nicht, hatte Karl Binder zuerst den Gedanken gehabt oder Hans Turnach; kurz, es kam ein wunderschönes Spiel in Gang, ein wilder Krieg zwischen Römern und Helvetiern. Es war ganz schwierig, sich zu entscheiden, welcher Partei man angehören wollte. Die Römer waren ein sehr tapferes, stolzes, mächtiges Volk; sie herrschten über viele Länder, und es hatte grosse Helden unter ihnen gegeben, wie den Decius Mus und den Horatius Cocles –

»Das war der, gelt Hans, der vor der Brücke kämpfte und dann zuletzt noch über den Tiber schwamm!« Marianne hatte Hansens Heldenbuch auch gelesen.

»Ja, und erst Mucius Scävola!« rief Rudolf Lorez. »Der hat seine rechte Hand im Feuer verbrennen lassen, damit man sehe, wie standhaft die Römer seien –«

»Verbrennen –? seine ganze Hand –?« fragte seine kleine Schwester Sylvia mit entsetzten Augen.

Die Helvetier waren ebenfalls stolz und tapfer und sehr freiheitsliebend. Nicht so berühmt wie die Römer; aber dafür hatten sie früher hier im Lande gewohnt, rings um den See, und wo jetzt die Stadt stand. Also war es auch sehr schön, Helvetier zu sein.

Am besten konnte man Römer und Helvetier spielen vor dem Schulhaus am Graben. Da war ein grosser freier Platz. An der andern Seite aber ging es in eine alte Gasse, wo man sich in den Hinterhalt legte, um dann plötzlich gegen den Feind loszubrechen. Am Eingang der Hühnergasse befand sich auch eine grosse Holzbeige; es sah furchtbar aus, wenn die Helvetier unter ihrem Anführer Orgetorix da oben standen und mit den Scheitern drohten, so dass Cäsar, der römische Feldherr, bei allem Heldenmut nicht heran konnte mit seiner Schar.

Nebenan in dem kleinen Hofe, der Hermann Villeiners Vater gehörte, so dass man also hineindurfte, stand ein alter Wagen.

»Da könnt ihr hinauf!« sagte Hans zu Marianne, Lotti und den andern Mädchen. »Das ist die Wagenburg. Wenn die Helvetier besiegt wurden, so hatten sie immer noch die Wagenburg, die dann von den Frauen verteidigt wurde!«

»Ja, ja!« riefen die Mädchen, indem sie auf den Wagen kletterten, »Sylvias Puppe und Klärchen und Fritzchen Villeiner können unsere Kinder sein!«

Das dreijährige Klärchen und das zweijährige Fritzchen wurden, ohne dass man sie lange fragte, auf den Wagen geschleppt, wo sie sich sehr gut in ihre Rolle als Helvetierkinder fanden, indem sie jedesmal, wenn die Römer heranstürmten, jämmerlich zu heulen anfingen.

Wenn aber eine Weile weder Römer noch Helvetier sich vor der Wagenburg zeigten, bekamen die Mädchen Lust, sich draussen in den Kampf der Männer zu mischen. Nur Sylvia erklärte dann, sie bleibe bei den Kindern.

»Also, bleib du bei den Kindern. Aber wenn der Feind kommt, musst du sie bis zum Äussersten verteidigen!« ermahnte Marianne.

»Ja, ja!« versprach Sylvia, obgleich sie durchaus nicht wusste, wie man das machte.

Auf der Seite der Helvetier wie auf der römischen legte man es darauf an, recht viele Gefangene zu machen. Sowie man einen Feind erwischt hatte, wurde er durch den Jochgalgen getrieben. Der Jochgalgen bestand aus zwei Stangen, über die man eine dritte quer festgebunden hatte. Es war eine furchtbare Schmach, mit gesenktem Rücken unter dem Hohngeschrei der Feinde durch den Jochgalgen zu gehen. Hans dachte jeden Morgen, da er sich auf das Kriegsspiel freute: Wenn ich nur nicht durch den Jochgalgen muss! Lotti aber und Karoline Rupprecht liessen sich absichtlich einmal fangen, um zu sehen, wie das sei. Sie waren sehr beleidigt, als die Buben sagten, der Jochgalgen sei nur für gefangene Männer, und mit ein paar leichten Lanzenhieben die zwei in ihre Wagenburg zurückjagten.

An einem Donnerstagabend entfaltete sich das Spiel besonders schön. Hans als Orgetorix war vor die Römer getreten und hatte mit stolzer Rede Eingang in das Römische Land verlangt:

»Wir wollen auch in einer so warmen und fruchtbaren Gegend leben. Unser Land ist uns zu rauh. Und wir können jetzt überhaupt nicht mehr zurück; wir haben unsere Städte und Dörfer verbrannt und unsere Habe und die Frauen mitgebracht!«

»Ja, und die Kinder auch!« sagte Lotti vorwitzig, die als Waffenträger neben Hans stand.

»Das ist uns ganz gleich«, entgegnete Otto Lauener aus der sechsten Klasse. Er war Julius Cäsar und lehnte vornehm an seiner Stange, die als Lanze diente. »Das ist uns ganz gleich. Ihr werdet doch nicht meinen, dass man euch so mir nichts dir nichts hereinlässt! Wir brauchen unser Land selber!«

»Ja, natürlich! wir brauchen es selber!« schrien alle Römer und erhoben feindlich ihre Stangen, während unter den Helvetiern sich ein zorniges Gemurr erhob. Sie zogen zur Beratung nach der Wagenburg zurück; die Römer aber marschierten über den Platz zum Schulhaus, wo sie sich breit auf der Freitreppe aufstellten. Plötzlich machte einer die Türe auf, und die ganze Schar verschwand im Schulhause.

»Wie die frech sind!« riefen die Helvetier.

»Sie sollen nur warten, bis wir morgen die Schlacht von Bibrakte machen!« sagte Walter Schürmann. »Im Geschichtsbuch steht zwar, die Römer haben gesiegt; aber wir wollen dann schon sehen!«

»Kommt«, schrien ein paar andere. »Wir lauern an der Türe auf und überfallen sie, wenn sie herauswollen!«

Die Helvetier stürmten durch den Schulhof die Treppe hinauf und drückten sich rechts und links an die Wand, um nicht gesehen zu werden.

Die Römer kamen aber nicht; es blieb alles still.

»Leis die Türe aufgemacht und in die Gänge!« befahl Orgetorix. »Sie haben sich irgendwo versteckt!«

Die Helvetier schlichen in das Schulhaus. In den Korridoren war weit und breit kein Römer zu sehen.

»Vielleicht in einem Schulzimmer!« flüsterten die Helvetier und tappten auf den Zehen von einer Türe zur andern, um zu horchen. Nichts.

»Dann sind sie oben!« flüsterte Villeiner.

»Aber wenn Herr Kronberg kommt?« Herr Kronberg war der Hausmeister, der ziemlich kurzen Prozess machte, wenn etwas gegen die Schulordnung geschah.

»Wir sagen, die andern seien zuerst hinauf!«

Lautlos ging's ins zweite Stockwerk. Wo steckten sie? Im Va, b oder c? Oder hinten in der sechsten Klasse?

Wahrhaftig, von dorther tönte ein Geräusch, als ob man Bänke rücke.

»Jetzt haben wir sie! jetzt haben wir sie!« jubelten die Helvetier mit unterdrückter Stimme. »Still, nur still –«

Sie stellten sich vor der Türe auf. Der kleine Joseph Puhl aus der vierten Klasse war ganz aufgeregt. Mit gezückter Lanze stand er zuvorderst.

»Wenn wir sie alle kriegten –!« flüsterte er. »Und sie alle durch den Jochgalgen müssten, der hochmütige Cäsar auch!«

Von drinnen hörte man wieder ein Geräusch.

»Aha, sie merken, dass wir da sind; aber sie getrauen sich nicht heraus!« sagte Villeiner. Er öffnete die Türe ein wenig. »So kommt, wenn ihr den Mut habt!«

»Ja, kommt!« riefen Hans Turnach und Karl Binder. »Kommt, ihr römischen Feiglinge, ihr Sklavenseelen!«

»Ihr Sklavenseelen, ihr römischen Feiglinge!« rief die ganze helvetische Schar in ihrem Freiheitsstolz.

Da riss ein fester Griff von innen die Türe weit auf. Joseph Puhl sprang vor und traf mit seinem Lanzenstoss mitten – auf die schwarze Weste von Herrn Professor Taubenmüller, dem Präsidenten der Schulpflege.

Denn es waren nicht die Römer, die hier im VIb sich aufgehalten; diese hatten längst das Schulhaus durch die hintere Türe verlassen. Die heraustraten, waren die Herren von der Schulpflege, welche sich über neue Bänke beraten hatten, bis der Ruf: »Ihr Feiglinge, ihr Sklavenseelen!« sie veranlasste, vor die Tür zu treten.

Die Buben liessen ihre Stangen sinken und standen starr. Es war grässlich! Was hatten sie hineingerufen –? Man durfte gar nicht daran denken. Und der Joseph Puhl –! Herr Professor Taubenmüller rieb sich mit bösem Gesicht die Weste; der Stoss war unsanft gewesen. Hinten sah Herr Altschmid hervor: Hans Turnach, Karl Binder und Walter Schürmann wären am liebsten in die Erde gesunken vor Verlegenheit.

Nun wussten die Herren wohl, dass der Zuruf nicht ihnen gegolten. Ja, Herrn Altschmid zuckte es wie ein Lächeln übers Gesicht, als er die bewaffnete Schar erblickte, hinter der auch einige Mädchenköpfe hervorguckten. Aber nein – das ging denn doch über den Spass –! Es war den Schülern streng verboten, nach den Stunden das Schulhaus zu betreten.

»Was soll das bedeuten! Was habt ihr hier zu tun!« rief Herr Altschmid.

»Wir sind – wir waren die Helvetier –« stotterte Walter Schürmann. »Wir – wir haben gemeint, die Römer seien da –«

»Ja wohl, die Römer!« sagte der Herr Professor Taubenmüller und nahm den Joseph Puhl, der regungslos stehen geblieben war, am Arm. »Man wird euch jetzt zeigen, wer da ist!«

Er schüttelte den Buben und sah ihm näher ins Gesicht.

»Ah – das ist ja der – wie heissest du? Wohnst du nicht beim Buchbinder Klein im ›Grünen Winkel‹ –? Da wollte ich eben hin! Nun kann ich ihm nebenbei ein wenig von dir erzählen. Gleich mit der Stange dreinschlagen –! Wäre statt mir einer deiner Kameraden dagestanden, du hättest ihm ein Auge ausstossen können! Vorwärts, geh, ich komme nach.«

Mit diesen Worten wollte der Herr Professor den Knaben vor sich herschieben. Aber nun war auf einmal Leben in Joseph Puhl gekommen. Er sträubte sich, weiterzugehen. Er drückte den Arm an die Stirn und rief:

»Nein – nicht! Nicht dem Vetter sagen – nicht!«

»Auch noch widerspenstig! Auch noch unfolgsam!« sagte der Herr Professor, der nun sehr ärgerlich wurde.

»Tu nicht so unvernünftig, Bub! Füg dich!« rief Herr Altschmid, da Josephs Lehrer nicht da war. »So machst du ja die Sache viel ärger!«

Aber Joseph verlor alle Besinnung. Er hielt sich am Treppengeländer fest, immer schreiend:

»Nein, nicht –! Sonst darf ich – sonst lässt –« Aus dem Schreien und Weinen heraus hörte man nur undeutlich etwas wie »Ferien« und »heimreisen«. Als der Herr Professor ihn losmachen wollte, stiess er mit dem Ellbogen nach ihm. Drei- oder viermal mit dem Ellbogen. Er wusste offenbar gar nicht mehr, was er tat und wen er vor sich hatte.

Die andern Knaben standen entsetzt. Etwas rasch zornig war ja der Joseph Puhl manchmal beim Spiel. Aber so –!

Mit einem Ruck brachte ihn der Herr Professor mitten auf die Treppe. Da plötzlich, als Joseph merkte, dass aller Widerstand umsonst war, liess er nach. Er weinte nur noch vor sich hin und ging neben Herrn Professor Taubenmüller zum Hof hinunter und hinaus auf den Graben …

Wortlos vor Bestürzung verliessen die Buben und Mädchen das Schulhaus. An der Ecke trafen sie mit den Römern zusammen; aber die Helvetier wollten nichts mehr von Kampf und Jochgalgen wissen. Das mit dem Joseph Puhl war zu arg gewesen. Gegen einen Herrn Professor so zu tun –!

Für die übrigen Helvetier war die Sache natürlich auch nicht angenehm. Sie hatten vorhin einen scharfen Verweis erhalten, und wahrscheinlich gab es am andern Morgen noch Strafaufgaben oder Nachsitzstunden. Aber das war ja ganz unwichtig neben Joseph Puhls Geschichte. Was er wohl für eine Strafe erhielt –?

Am folgenden Tag hörte man von Kindern, die in Buchbinder Kleins Haus wohnten, wie es gegangen war. Herr Klein hatte Joseph nicht geschlagen. Er hatte ganz ruhig zugehört.

»Ich überlasse Ihnen, wie Sie den Joseph zu Hause strafen wollen für dieses Benehmen, für diese unerhörte Widersetzlichkeit! Jedenfalls werde ich beantragen, dass er in der Schule die schlechteste Betragensnote bekommt!« hatte Herr Professor Taubenmüller seinen Bericht geschlossen.

»So, die schlechteste?« hatte der Buchbinder Klein geantwortet. »Dann sind wir ja schnell fertig. Dann geht der Joseph eben in den Ferien nicht heim zu seiner Mutter. Gelt, Bürschchen, so haben wir's ausgemacht: Keine Klage dieses Vierteljahr von irgendwelcher Seite und im Zeugnis die Betragensnote Eins oder wenigstens Zwei. Nun gibt's eine Vier! Da braucht es von mir weiter nichts mehr«, wendete er sich an den Herrn Professor. »Er hat dann seinen Teil!«

Joseph Puhl habe darauf von neuem schrecklich zu weinen begonnen und sei von Herrn Klein hinauf in die Wohnung geschickt worden. –

In den nächsten Tagen sprach man auf den Spielplätzen und in den Schulpausen fast nur von Joseph Puhl. Sein Lehrer hatte ihn hinten in eine leere Bank gesetzt; denn einen Knaben, der stosse und schlage wie ein unverständiges Tier, könne man vorläufig nicht bei den andern lassen. Als aber Joseph gar so still und betrübt dasass, nahm Herr Hirt ihn wieder vor. Doch merkte man wohl, dass es Joseph gleichgültig war, ob er allein oder unter seinen Kameraden sitze, und dass er immer nur an eine Sache denke. Manchmal, wenn es beim Schreiben ganz still in der Klasse war, hörte man den Joseph Puhl seufzen. Er tat seinem Lehrer leid. Es war eine fatale Geschichte.

Eines Tages trafen die Turnachkinder den Joseph Puhl am Kornplatz. Er sass auf der Mauer und sah in das rasch fliessende Wasser hinunter. Die Kinder setzten sich zu ihm.

»Du warst aber auch furchtbar unartig, Joseph!« begann Lotti.

»Ja«, sagte Hans. »Wenn du doch nur gegen einen von uns so getan hättest! Wir hätten dich einfach ein wenig durchgehauen, und dann wäre es in Ordnung gewesen.«

Joseph nickte kummervoll.

»Wärst du eben schrecklich gern zu deiner Mutter heim?« fragte Marianne.

Joseph nickte wieder und drehte sein nasses Taschentuch in den Händen.

»Gelt, sie hat eine Menge Gänse?« drang Lotti weiter in Joseph. Sie wusste allerlei durch Anna Klein. »Sind die jungen Gänse auch so herzig wie die Entchen? So gelb? und watscheln so komisch?«

Joseph schluchzte, was jedenfalls ein Ja bedeutete.

»Und, gelt, deine Mutter macht allemal Kuchen, wenn du kommst? Ist es Speckkuchen oder Apfelkuchen?«

»Speck«, schluchzte Joseph.

»Tut sie viel Speck darauf?«

»Lotti, du bist grässlich!« wehrte Hans leise. »Das ist doch jetzt nicht wichtig, ob viel oder wenig Speck!«

»Ja, Lotti«, sagte Marianne. »Man macht nur, dass er noch mehr weint, wenn man von den Gänsen und von dem Speck redet! Joseph, wenn du deinen Vetter recht, recht, recht bitten würdest –!«

Joseph schüttelte den Kopf. Vom Münster herüber schlug es sechs Uhr. Joseph stand auf und trottete trübselig heim, ohne sich weiter um die Turnachkinder zu kümmern. Diese blieben noch eine Weile sitzen.

»Wenn ihm Herr Hirt nur eine recht lange Strafaufgabe gegeben hätte und er dann doch noch ein Zwei bekommen könnte!« fing Marianne wieder an.

»Für so etwas gibt es gar keine, die lang genug wäre!« erwiderte Hans. »Da müsste Joseph Tag und Nacht schreiben und rechnen und würde doch nicht fertig bis zur Zeugnisausteilung.«

»Hans, wenn man –« Marianne sprang auf.

»Wenn wir –« Hans sprang auch auf. Die beiden sahen einander an. Im selben Augenblick kam ihnen derselbe Gedanke.

»Wenn wir ihm helfen würden! Wenn alle, die dabei gewesen sind, eine Strafaufgabe schrieben! Etwas recht Schweres, Hans!« Marianne war ganz aufgeregt. »Ich weiss – hinten im Lesebuch ist ein langes Gedicht, das ich gar nicht mag. Das lern' ich und schreib' es auswendig –«

»Ja, und wir müssen uns alle das Ehrenwort geben, dass wir nicht abgucken und niemand fragen!« rief Hans. »Ich entlehne von einem Sechstklässler das Rechenbuch. Otto Lauener hat gesagt, da habe es schreckliche Sachen, die man fast nicht zustand bringe –«

»Und ich«, sagte Lotti, indem sie sich gleichfalls erhob und ihr halbvollendetes Papierschiffchen in die Tasche schob. »Ich könnte vielleicht stricken; das mag ich am wenigsten! Ja, ich stricke noch einmal so ein langweiliges Musterstück, drei Reihen rechts, drei links – oder ich mache dann vier links, Marianne!« sagte sie mutig.

Die Kinder konnten kaum warten, den andern ihren Plan mitzuteilen. Auf der Wagenburg in der Hühnergasse fand am folgenden Tage eine grosse Besprechung statt. Alle Helvetier und Römer stimmten ohne Ausnahme ein.

»Das ist eine feine Idee! Ja, natürlich! Alle zusammen machen wir eine Riesenstrafaufgabe: Eine, die so lang ist, wie von da zum Grünen Winkel hinunter –!« schrien sie.

»Ich zeichne den Rhein mit seinen Zuflüssen!« erklärte Otto Lauener. »Das ist gehörig schwer! Der Main, der schlängelt sich so von rechts her –« Otto Lauener holte mit dem Arme so kräftig aus, dass Hans Turnach beinahe eine Ohrfeige erhalten hätte.

»Und ich schreibe Noten!« rief ein anderer. »Das ist, mein ich, widerwärtig genug. Besonders, wenn man die Linien selber zieht!«

»Marianne«, flüsterte Sylvia, »ist es, damit Joseph Puhl heim darf zu den Gänsen? Dann will ich eine Tafel voll grosse S schreiben. Die kann ich gut.«

»Nein, Sylvia!« verwies Lotti. »Du muss etwas nehmen, was du nicht kannst! Irgendein schweres langes Wort. Schreib du: Konstantinopolitanischerdudelsackpfeifergesell!«

Sylvia sah sie entsetzt an.

»Natürlich, Lotti! mach du wieder Dummheiten!« sagte Hans. »Wo wir noch gar nicht wissen, ob es gerät –!«

»Ja, und dann freut sich Joseph vielleicht umsonst!« meinte Marianne.

»Dem sagt man nichts vorher!«

»So! er könnte aber wirklich auch eine Aufgabe schreiben!« warf Haubinger aus Hansens Klasse ein.

»Nein, nein! wir sagen ihm nichts!« rief die Mehrzahl. »Erst wenn es gerät!«

»Der wird dann ein Gesicht machen! Jetzt sieht er so drein –« Villeiner zog seine dicken Backen so viel als möglich in die Länge. »Und nachher auf einmal so –« Villeiners Gesicht ging wieder in die Breite; er hüpfte auf einem Bein und warf mit einem Juchschrei den Hut in die Höhe.

»Aber wem bringen wir eigentlich die Strafaufgaben?« fragte plötzlich einer.

Darüber konnte man verschiedener Meinung sein.

»Dem Herrn Klein, weil er doch dem Joseph erlauben muss, heimzureisen!«

»Ach, der Herr Klein macht sich gewiss nichts aus Strafaufgaben!«

»Und jedenfalls hat er nicht Zeit, alles durchzusehen!«

Nein, also nicht zu Herrn Klein. Eher zu Herrn Hirt. Er gab doch Joseph die Betragensnote.

»Oder zu Herrn Professor Taubenmüller selbst?«

»Huh! nein!«

»Doch, doch!« schrien viele. »Gegen ihn ist Joseph so schrecklich grob gewesen. Er ist böse. Also muss man vor allem machen, dass er wieder gut wird!«

Nach lebhaftem Hin und Her vereinigte man sich endlich auf Herrn Professor Taubenmüller.

In den nächsten Tagen war das herrlichste Wetter. Die Sonne schien hell auf den Graben. Von den Bäumen schmetterten ein paar Finken in die blaue Luft hinaus. Aber unten auf dem Platze blieb es still. Die Helvetier und die Römer sassen alle zu Hause, jeder an seinem Tisch mit der Feder in der Hand. Mancher stöhnte ein wenig und schaute zum Fenster hinaus. So lustig wär's draussen! Aber dann rückte er wieder zurecht und fuhr tapfer fort. Es war dann auch lustig, wenn der Joseph Puhl wirklich heim durfte.

Vierunddreissig Buben und Mädchen versammelten sich am Dienstag um fünf Uhr vor dem Hause, in dem Herr Professor Taubenmüller wohnte. Flüsternd zeigten sie einander ihre Blätter. Lotti war stolz, dass sie zu ihrem Musterstück noch drei Sätze mit »wenn« und drei mit »weil« geschrieben hatte. Zuletzt war ihr zwar ein Unglück begegnet. Es hatte unten hin – Lotti konnte gar nicht begreifen wie – auf einmal einen grossen Tintenfleck gegeben.

»So, jetzt kannst du von vorn anfangen!« sagte Hans. »Ausreiben darf man nicht.«

Lotti war nah am Weinen. Noch einmal von vorn!

Doch Marianne half. Sie malte über den Fleck ein grosses dunkelblaues Veilchen mit einem artigen grünen Stielchen.

»Wenn das nur passt auf eine Strafaufgabe!« warf Hans ein.

Aber Sophie, die daneben bügelte, meinte, es gehe. Veilchen möge jeder gern, auch ein Herr Professor.

Die Magd des Herrn Professor Taubenmüller war hoch erstaunt, als sie die Haustüre aufmachte und die Schar sah.

»Ihr seid gewiss nicht am rechten Ort. Hier wohnt der Herr Professor Taubenmüller.«

»Ja, wir müssen zu ihm!«

»Alle?«

»Ja, alle!« Man hatte ausgemacht, dass jedes seine Arbeit selber bringe, weil es feierlicher sei.

Die Magd rieb sich das Kinn.

»So wird man euch halt hineinlassen müssen. Wartet da. Ich will's dem Herrn Professor sagen.«

Die Kinder standen in dem braun getäfelten Korridor und sahen einander an. Keines lachte. Auf einmal kam ihnen die Sache sehr bedenklich vor. Wenn nun der Herr Professor nichts wissen wollte von den Strafaufgaben und wenn er noch böser wurde, weil sie so ungeheissen kamen –? Aber es war nicht mehr Zeit, sich zu besinnen.

»Ihr sollt da hereinkommen!« rief die Magd von der hintern Türe.

Vor Verlegenheit sich auf die Lippen beissend, rückte die Schar vor. Niemand wollte zuerst ins Zimmer. Da sass der gefürchtete Herr in einem weiten Armsessel vor seinem Schreibtisch.

»Was ist das für ein Aufzug? Was wollt ihr?« fragte er kurz.

Alle drehten sich nach Hans Turnach um. Es war verabredet, dass er spreche.

»Herr Professor«, begann Hans. »Wir bringen unsere Strafaufgaben – wir haben –« er stotterte vor Beklemmung.

»Strafaufgaben –? Wer hat sie euch gegeben?«

»Wir selber«, antwortete Hans. »Es ist wegen dem Joseph Puhl – wir haben gedacht, er könne keine machen, die gross genug wäre – und da –«

»Joseph Puhl«, unterbrach ihn der Herr Professor, die Stirne runzelnd. »Sein Benehmen war unerhört, unverzeihlich! Ganz unverzeihlich! Daran ist nichts zu ändern!« Der Herr Professor sah mit strengem Gesicht auf Hans.

»Wir möchten –« hob dieser noch einmal an.

»Nichts zu ändern!« wiederholte der Herr Professor und schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch.

Hans hielt erschrocken inne. Also ging es nicht –! Die ganze Geschichte war verloren –! Walter Schürmann zog ihn am Ärmel zurück.

»Siehst du! ich hab's gedacht!« flüsterte er.

»Herr Professor – .« Alle schauten zurück. Marianne Turnach! Dass die sich getraute –!

»Herr Professor, Joseph Puhl möchte so furchtbar gern heim. Und das von jenem Donnerstag tut ihm schrecklich leid. Er hat sich nur so gewehrt, weil er gleich Angst hatte, er dürfe nicht heim zu seiner Mutter, wenn –«

»Ja«, fiel Lotti ein. Wenn Marianne redete, durfte sie auch etwas sagen. »Ja, sie wohnt in einem kleinen Haus mit blauen Läden, und mitten durch das Dorf läuft ein Bach; es heisst Läumelfingen, und wenn Joseph allemal heim kommt, so –«

Hans gab Lotti nach rückwärts einen Puff. Sie war imstande und fing von dem Speckkuchen an.

»Läumelfingen?« sagte der Herr Professor.

»Ja, Läumelfingen!« riefen alle Kinder, aufs neue Hoffnung schöpfend. Sie rückten etwas näher, und dabei fiel dem Otto Lauener seine Geographiezeichnung gerade dem Herrn Professor zu Füssen.

»Was soll das sein?« fragte dieser, als Lauener das Blatt aufhob. »Auswendig gezeichnet? Nun – nicht gerade schlecht.«

Jetzt wagte Hermann Villeiner seine Winkel hinzuhalten und Marianne ihr Gedicht und Hans seine Rechnungen aus dem Sechstklässlerbuch … Vierunddreissig Hände mit blauen Heften und weissen Blättern streckten sich nach dem Herrn Professor aus, und ganz vorn stand Lotti mit ihrem Probestück.

»Zuletzt ist noch ein Lochgang«, erklärte sie. »Das ist immer einmal abgenommen und eine Luftmasche. Und das Veilchen da hat Marianne gemacht, damit man den Tintenfleck nicht sieht.«

»So, so!« sagte der Herr Professor, wandte sich dann aber mit nochmaligem Stirnrunzeln zu den andern.

»Das ist nichts! Das geht nicht! Was einer selber tut, muss er auch selber büssen.« Er nahm eines der Hefte und legte es wieder weg. »Sonderbarer Einfall! So eine Art Massenopfer – . Von euerem Standpunkt aus ja nicht übel –! Einer für alle – hier nun alle für einen! Hm – man müsste –«, er ergriff sein Papiermesser und wiegte es hin und her. »Man müsste also einmal Gnade für Recht ergehen lassen! Einmal, ausnahmsweise –! Legt das Zeug daher –«

Alle drängten an den Schreibtisch und kniffen einander vor Vergnügen schnell ein wenig in die Arme. Dass der Herr Professor die Aufgaben sehen wollte, war ein gutes Zeichen! Ganz zuletzt kam noch Sylvia halb ängstlich, halb stolz mit ihrer Schreibtafel. Sie hatte sechsmal »Herr Professor Taubenmüller« darauf geschrieben. Die Tante hatte ihr aber dabei geholfen, weil Sylvia doch erst in die erste Klasse ging.

»Ei, ei!« sagte der Herr Professor und betrachtete die langen, steifen Buchstaben. »Nun – wir wollen sehen! Wir wollen sehen! Jedenfalls soll er auch noch herkommen, dass ich ein Wörtlein mit ihm rede. Er muss lernen sich zusammenzunehmen, seinen Jähzorn zu bekämpfen. Einer, der sich so gehen lässt, wird nie ein rechter Mensch! Merkt's euch! Nie!«

»Ja, Herr Professor, ja! Adieu, Herr Professor! Wir danken vielmal, vielmal!« riefen die Kinder, indem sie dem Herrn Professor die Hand gaben. Sie hatten alle aus seinem Ton gemerkt, dass die Sache gewonnen war, gewonnen! –

Sehr manierlich hatten sie den Weg hergemacht. Um so lauter ging es auf der Rückkehr zu. Wie ein wildes Heer rannten sie die Ackerstrasse und den Greifenweg hinunter, bogen zum Graben ein und stürzten auf den »Grünen Winkel« los.

»Joseph! Joseph!« schrien sie vor dem Hause. »Joseph! Herunterkommen sollst du –! Wir müssen dir etwas sagen!«

Die einen drangen hinauf in die Wohnung, so dass Frau Klein mit eingestemmten Armen unter der Küchentür erschien. Aber schon zogen die Buben den Joseph die Stiege hinunter auf die Strasse und fingen alle miteinander an, auf ihn einzureden, was sie getan und wie es bei Herrn Professor Taubenmüller gegangen.

»Zuerst war es sehr unheimlich, und wir haben schon gemeint, es sei alles aus! Aber dann wurde er ganz nett! Und jetzt darfst du, Joseph! Du darfst! Der Herr Professor richtet es dann ein mit Herrn Hirt und mit deinem Vetter. Er weiss schon, wie man das macht! Natürlich! Er ist ja der Präsident –! Du musst dann auch noch ein wenig zu ihm. Aber es ist jedenfalls nicht so schrecklich! Wie die Sylvia ihre Tafel gezeigt hat, hat er fast ein wenig lachen müssen –«, so tönte es durcheinander, und Joseph Puhl stand betäubt in der Mitte und wusste die längste Zeit nicht, was man da an ihn hinschrie.

Als er endlich begriff, machte er keinen Luftsprung, wie Villeiner prophezeit hatte; er tat auch keinen Juchschrei. Dunkelrot vor Überraschung stand er da, und in seinem Gesichte, das fast zwei Wochen lang nicht mehr gelacht hatte, zuckte es wunderlich, als ob die grosse Betrübnis sich gar nicht so schnell verscheuchen lasse. Aber dann brach die Freude durch, und glückselig schaute Joseph Puhl seine Kameraden an. Reden konnte er vorläufig noch nicht.

Herr Professor Taubenmüller hatte wirklich gewusst, wie man es mache. Als am 6. April um zwölf Uhr in den Klassen des Grabenschulhauses die Zeugnisse ausgeteilt worden waren, schossen die Buben von allen Seiten auf Joseph Puhl los:

»Zeig! zeig her –!«

Joseph bekam sein Zeugnis eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht.

In dem Zeugnisse aber war an Stelle der Betragensnote folgendes zu lesen:

»Am 22. März hat Joseph sich sehr ungebührlich aufgeführt. Da er aber bereut und da sein Betragen vor- und nachher gut war, wird ihm verziehen. Wir empfehlen Herrn Klein, Joseph heimreisen zu lassen.

G. Hirt. Prof. Taubenmüller.«

Und Buchbinder Klein liess Joseph reisen. Da alle dafür waren, konnte er nicht mehr widerstehen. Auch hatte es ihm gefallen, dass die ganze Kameradschaft für seinen kleinen Vetter eingestanden war.

Am ersten Ferientage morgens acht Uhr wanderte Joseph Puhl mit seinem bescheidenen Handköfferchen dem Bahnhof zu, begleitet von einer grossen Schar Helvetier und Römer. In der Einsteigehalle konnte man zwar so viel Buben und Mädel nicht brauchen, wie der Schaffner erklärte. Aber da war ja gleich vorn der Bahnsteg. Und als der Zug abfuhr und Joseph Puhl richtig aus dem zweitletzten Wagen hinaufguckte, da schrie und jauchzte, vom weissen Dampf umhüllt, die Schar auf ihn herunter:

»Adieu, Joseph! Gute Reise! Grüss die Gänse! und wenn du Speckkuchen issest, so denk an uns! Ja, und bring einen mit! Hurra!«


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