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Die gestörte Rechenstunde

Die Aufregung hatte Mama nicht geschadet. Die Besserung schritt rasch voran. Am Samstag kam Marianne heim, und bald war die ganze Familie wieder heiter und glücklich beisammen.

Fast hatte es zwar den Anschein, als sollte der Frieden noch einmal gestört werden. Am neunten März war Lottis Geburtstag. Zwei Tage zuvor aber klagte Lotti über Kopf- und Halsweh und über Müdigkeit; sie mochte nichts essen und war fiebrig, so dass Mama sie im Bett behielt.

»Es wird doch nicht der Scharlach werden«, sagte Mama etwas ängstlich zu Sophie. »Er geht in der Stadt um, und Lotti hat ihn noch nicht gehabt.«

Aber vom Achten auf den Neunten schlief Lotti gegen Morgen fest ein, nachdem sie die Nacht vorher sehr unruhig gewesen war. Sie schlief bis in den hellen Vormittag. Endlich erwachte sie.

»Mama, ich hab kein Halsweh mehr.«

»Gott Lob, Kind!« Mama beugte sich über sie und sah Lotti in die wieder frischeren Augen.

Lotti besann sich.

»Mama, heut ist mein Geburtstag.«

»Ja, mein Lottikind! Ich wünsche dir recht viel Glück. Der liebe Gott möge dir ein gutes neues Lebensjahr schenken.«

Lotti lag ein Weilchen; dann fing sie wieder an:

»Mama, ich könnte ganz gut ein wenig Geburtstagskuchen essen.«

»Aber jetzt hat Balbine keinen gebacken, Lotti! Gedulde dich bis übermorgen. Wir wollen recht dankbar sein, dass du nicht ernstlich krank geworden bist.«

Mama holte Milch und Brot für Lotti.

»Nun bleib noch schön ruhig liegen!« sagte sie. »Am Nachmittag versuchen wir dann aufzustehen.«

»Mama«, seufzte Lotti nach weiteren zehn Minuten. »Das ist ein bisschen ein langweiliger Geburtstag.«

Sie drehte sich gegen die Wand und betrachtete die grünlichen Kleebüschel an der weissen Tapete. Sie zählte die Kleeblätter und die Stiele und fand heraus, dass jeder Büschel einen Stiel zu wenig hatte. Aber auf die Dauer war das keine Unterhaltung.

Plötzlich wurde es draussen auf dem Vorplatz laut. Man hörte Tritte und Stimmen und ein unterdrücktes Lachen. Mama ging hinaus ins andere Zimmer. Da streckte Hans den Kopf zur Türe herein.

»Mama!« rief er leise.

»Still, Hans –« winkte Mama; denn sie glaubte, Lotti sei noch einmal eingeschlafen.

»Mama«, flüsterte Hans, »es ist etwas Wichtiges und Komisches! Es ist –«

»Kräh!« tönte es auf einmal laut durch die offene Türe. »Kräh, kräh –«

Lotti hatte sich aufgerichtet und lauschte. Dann lachte sie mit dem ganzen Gesicht:

»Mama! Mama!« rief sie. »Horch! ein Vogel – ein Rabe – Mama, das ist der Peter von Larstetten!«

Mama sah erstaunt auf Hans.

»Ja, Mama, Lotti hat recht!« sagte er. »Darf ich ihn hereinbringen?«

Und ehe Mama wusste, ob sie ja oder nein sagen solle, kam Hans mit einem Korbe, aus dem leibhaftig und munter der Peter von Larstetten herausstieg.

Nein, das Entzücken von Lotti!

In dem Korbe aber, in dem der Peter gereist war, steckte ein Brief von der Tante Doktor. Und in diesem Briefe stand, die Turmsette, die nun wirklich in nächster Zeit nach Amerika zu ihrem Sohne übersiedle, den Peter jedoch nicht mitnehmen könne, habe diesen Trudi und Otto schenken wollen. Die Tante aber finde, es sei schon etwas viel Getier im Hause: Zu den zwei Katzen, dem Hund und dem Kanarienvogel seien in letzter Zeit noch vier Meerschweinchen und eine Schildkröte gekommen. Da schicke die Tante nun den Peter ihrem Patenkind Lotti zum Geburtstag. Es gehe ja nun bald wieder in die Seeweid hinaus, wo der Peter sich gewiss sehr glücklich fühlen werde.

»Mama!« rief Lotti in lautem Jubel. »Nun ist's doch noch ein schöner Geburtstag geworden! Sieh, wie er hüpft! Und wenn du wüsstest, wie gescheit er ist –«

Hans hatte den Vogel auf das Fussende von Lottis Bett gesetzt. Peter sah sich neugierig in der fremden Stube um. Dann legte er den Kopf auf die Seite und betrachtete Lotti: Kenn ich die oder kenn ich sie nicht? Ein wenig sieht sie aus wie Doktors Trudi! Mit possierlichen Seitensprüngen hopfte er hin und her.

Lotti klatschte ein über das andere Mal in die Hände vor Vergnügen und erzählte Mama von den Kartoffeln, die der Peter sich aus der Pfanne hole, und wie er auf Fingerhüte und Scheren und Löffel aus sei. Mama hatte nur zu wehren, dass Lotti nicht zu viel spreche. Sie war sehr froh, als Lotti schliesslich sich zurücklegte, eine Weile noch den Raben vergnügt anblinzelte und dann wieder einschlief.

Hans trug den Raben weg und stiess draussen mit Balbine zusammen, die Holz heruntertrug.

»Du – du liebe Güte!« rief sie entsetzt. »Woher kommt das Unglückstier –!«

»Das ist kein Unglückstier; das ist der Peter von Larstetten.«

»Was, Peter von Larstetten«, sagte Balbine, misstrauisch den Kopf schüttelnd. »Ein Rabe ist ein Rabe! Nein, Hans, lass – ich will ihn nicht auf meinem Holzkorb! Es soll mich freuen, wenn ich unrecht habe; aber so viel ich weiss, bringt so ein schwarzer Vogel nichts Gutes ins Haus!«

Balbine hatte wirklich vollkommen unrecht. Der Vogel Peter bereitete der ganzen Familie nur Vergnügen. Sogar das Schwesterlein krähte vor Lust, wenn der Rabe seine lustigen Sprünge vor ihm aufführte.

Schnauzel war im Anfang sehr aufgeregt über den neuen Hausgenossen. Vögel gab es wohl auch auf dem Kornplatz, Spatzen und Tauben, die Schnauzel mit grosser Freude aufscheuchte. Aber einer, der sich gar nicht fürchtete, wenn man auf ihn losging, sondern die Flügel schlug und Augen machte und gar mit dem Schnabel kam – . Über diesen Schnabel ärgerte sich der sonst so gutmütige Schnauzel sehr.

Doch Ulrich nahm die beiden in seine Garnkammer, wo sie unter Bellen und Gekrächz sich vertragen lernten. Ja, er brachte sie bald dazu, aus derselben Schüssel zu fressen. Die Kinder hatten jedesmal ihren grossen Spass dabei. Zuerst ging's sehr eifrig und friedlich. Wenn aber dann nur noch zwei oder drei Brocken da waren, schielte Schnauzel hinüber und knurrte, und Peter schielte auch und streckte den Schnabel. So bewachten sie beide den letzten Brocken. Keiner getraute sich, ihn zu erschnappen, und keiner gönnte ihn dem andern. Schnauzel wäre wohl im Grunde der Stärkere gewesen; aber dafür war Peter der Frechere. Schliesslich machte Ulrich dann der Sache ein Ende, indem er dem einen oder dem andern den letzten Bissen zuschob.

»Mama, ich freue mich schrecklich auf die Schule!« sagte

Lotti, als sie bald nach ihrem Geburtstag wieder hinausdurfte.

»Das ist recht, Lotti.«

»Am meisten freu' ich mich darauf, Fräulein Matthias und den Kindern vom Peter zu erzählen, Mama!«

Auf dem Schulweg aber besann sich Lotti auf einmal anders. Sie beschloss, das vom Raben Peter als Geheimnis und Überraschung zu behalten. Als die Mädchen sie nach ihren Geburtstagsgeschenken fragten, erzählte sie bloss von dem Kuchen mit den acht Lichtern, von den Stelzen, dem Bilderbuche und der Tasse mit den roten Blümchen. Diese Zurückhaltung war sehr schwer für Lotti.

Als sie mit Hedwig Zohner und Karoline Rupprecht heimging, konnte sie denn auch nicht mehr ganz schweigen. Die drei waren Freundinnen; manchmal stritten sie sich zwar ein bisschen.

»Hört!« sagte Lotti, »ich bringe wahrscheinlich morgen etwas in die Schule. Etwas furchtbar Lustiges! Könnt ihr erraten was?«

Nein, Karoline und Hedwig konnten nicht erraten.

»Einen – denkt, einen Raben!«

»Das ist gar nicht so etwas Besonderes, ein Rabe«, erwiderte Karoline. »Hinter dem Hause von meiner Tante auf dem grossen Acker am Kreuzberg sind immer eine Menge Raben.«

»Ach, das sind ja bloss Krähen, hat Papa gesagt. Meiner gehört zu den Dohlen; das sind die feinsten und nettesten Raben.«

»Jedenfalls mag ich Katzen viel lieber als Raben!« entgegnete Karoline.

»Katzen –!« machte Lotti geringschätzig.

»Ja, du solltest einmal unsere sehen! Zwei herzige, ganz junge! Eine hat gelb und weisse und schwarze Flecken. Das ist eine Glückskatze. Sicher würden meine Kätzchen dem Fräulein Matthias besser gefallen als dein Rabe!«

»Das glaube ich gar nicht!« sagte Lotti.

»Vielleicht hätte sie am allermeisten Freude an meinen Mäusen«, begann nun auch Hedwig Zohner.

»Was sagst du? an Mäusen?« rief Lotti. »Viele Leute mögen Mäuse nicht ausstehen! Balbine tut schrecklich, wenn sie eine sieht!«

»Ich meine nicht gewöhnliche Mäuse«, erwiderte Hedwig, »sondern weisse. Wenn ihr wüsstet, wie allerliebst sie sind! Mamas Vetter hat sie uns gebracht. Sie haben rote Augen, und wenn sie fressen, machen sie ein Männchen –«

»Ein Männchen machen meine Katzen manchmal auch«, sagte Karoline. »Und sie können mit dem eigenen Schwanz spielen und noch allerlei –«

»Aber so gescheit und komisch wie mein Rabe sind sie jedenfalls nicht!« rief Lotti.

»Das ist noch die Frage!« gab Karoline zurück, worauf die drei Mädchen sich trennten, ohne Adieu zu sagen. Erstens weil sie ärgerlich aufeinander waren und dann, weil ihnen wichtige Dinge durch den Kopf gingen. Auch Karoline und Hedwig fassten, jede für sich, einen Plan.

Mama war zuerst nicht einverstanden mit Lottis Vorhaben.

»O, Mama, sag ja!« bettelte aber Lotti. »Letztes Jahr nach Weihnacht hat auch die ganze Klasse die neuen Puppen in die Schule mitbringen dürfen!«

»Das ist nun wirklich nicht ganz dasselbe, Lotti!«

»Aber einmal ist Anna Lenz mit einem Krebs gekommen! Fräulein Matthias mag gewiss gern den Peter sehen. Vielleicht lässt sie uns dann Sätze machen über ihn!«

So gab denn Mama die Erlaubnis, und Marianne und Lotti steckten den Peter in einen Korb. Wenn er im Dunkeln sass, blieb er immer ganz lange still. Marianne legte zur Sicherheit noch eine Speckrinde hinein, damit der Peter eine Unterhaltung habe.

Aber als Lotti ins Schulzimmer eintrat, stand ein Herr am Tische bei Fräulein Matthias. Es war ein Herr von der Schulpflege. Im Laufe des Jahres und besonders gegen den Frühling kamen öfters solche Herren, um zu sehen, ob die Kinder etwas gelernt hätten und ob sie folgsam und ruhig seien.

»An die Plätze, Kinder, schnell!« rief Fräulein Matthias, indem sie mit ernstem Gesicht vor die Klasse trat.

Jetzt grade ging es also nicht mit dem Raben. Lotti stellte den Korb in die Ecke, wo sie Hut und Mantel hingehängt hatte, und setzte sich in ihre Bank. Aber sie konnte nicht recht aufpassen; sie dachte an den Peter. Ein Mädchen hinter ihr zupfte sie am Ärmel und frug flüsternd:

»Was ist denn in dem Korb?«

Lotti antwortete nicht. Sie sah zu dem Herrn Schulpfleger hinüber, der das Rechnungsheft von Marie Glogger durchblätterte. Er hatte einen schwarzen Bart und runzelte eben jetzt die Stirne.

Er wird doch bald wieder gehen! dachte Lotti. Aber der Herr Schulpfleger lehnte sich, nachdem er das Heft hingelegt hatte, an das Fenster und hörte aufmerksam zu, wie die Kinder rechneten.

Jetzt ging die Türe auf, und herein kam, rot vom eiligen Gehen, Karoline Rupprecht, ebenfalls mit einem Korb.

»Karoline, du bist ja viel zu spät!« rief Fräulein Matthias. »Und was soll der Korb!«

Karoline guckte seitwärts nach dem Herrn Schulpfleger und machte ein verlegenes Gesicht. Um nicht Zeit zu verlieren, schickte Fräulein Matthias Karoline an ihren Platz. In der Pause wollte sie dann mit ihr reden.

Aber die Rechenstunde ging heute gar nicht gut. Mit der einen Abteilung nahm Fräulein Matthias mündlich das Einmaleins durch. Der andern hatte sie Zusammenzählaufgaben an die Wandtafel geschrieben. Lotti und Karoline waren jedoch nicht fleissig. Karoline sah immer zurück nach Lotti und machte ein geheimnisvolles Gesicht. Das ärgerte Lotti; sie zog den Mund schief und rümpfte die Nase, worauf Karoline dasselbe tat. Hedwig Zohner kam ebenfalls nicht vorwärts in ihrem Heft. Alle Augenblicke guckte sie unter den Tisch, wo die Schulsachen lagen, und rückte da an etwas herum.

»Karoline! Hedwig! warum schreibt ihr nicht!« rief Fräulein Matthias. »Und Lotti Turnach! du solltest nun doppelt fleissig sein, nachdem du fünf Tage gefehlt hast!«

Lotti wollte Fräulein Matthias folgen und weiterschreiben. Aber dann fing Karoline von neuem an sich umzudrehen, und Lotti machte wieder eine kleine Grimasse, welche Karoline zurückgab. Die beiden waren heute wirklich ein wenig unartig.

Nun entstand auch hinten in den zwei letzten Bänken Unruhe. Zwei Mädchen kicherten leise, und Selma Leuenstein streckte die Hand auf. Da Fräulein Matthias das nicht gleich beachtete, rief Selma laut über die Klasse:

»Fräulein Matthias, da hinten tut eines immer miauen!«

Der Herr Schulpfleger sah verwundert auf. Was war denn das heute? Sonst ging es in Fräulein Matthias' Klasse doch immer in Frieden und in schönster Ordnung!

Fräulein Matthias aber kam rasch herüber zur zweiten Abteilung.

»Wer macht hier Unruhe!« rief sie in sehr strengem Ton.

Da – man hörte es ganz deutlich – ertönte wieder ein leises »Miau«.

Alle Kinder drehten sich und horchten. Bloss Karoline sass mit hochgezogenen Achseln über ihrem Heft.

»Miau – miau –«

Wer konnte nur so ungezogen sein!

Jetzt streckte Selma Leuenstein wieder die Hand auf:

»Fräulein Matthias, es ist kein Kind! Es kommt aus dem Korb von Karoline –«

Und nun erhoben sich alle vier Mädchen der letzten Bank und schrien in höchster Aufregung:

»Ein Kätzchen, Fräulein Matthias! Ein Kätzchen –!«

Auch der Herr Schulpfleger schritt herzu. Von Ordnung in der Klasse war keine Rede mehr. Die Kinder lachten und streckten sich, um das entsprungene Kätzchen zu sehen; einige Mädchen vorn stiegen auf die Bank.

»O! noch eins –!« riefen die hinten.

»Das ist die Glückskatze!« schrie Lotti, die ihren Ärger über Karoline vergass.

»Karoline!« rief Fräulein Matthias. »Was ist das! Was sollen die Katzen hier –!«

Das Glückskätzchen aber sprang behend gegen Selma, die zu äusserst sass, und als sie es fasste, entkam es mit einem Satz und lief über den ganzen Tisch weg bis zu Hedwig Zohner.

»Halt es! halt es doch!« riefen die Kinder.

Hedwig aber hatte eine Schachtel unter ihrem Tisch hervorgezogen und streckte sie ängstlich in die Höhe, wie um sie vor dem Kätzchen zu schützen. Da auf einmal krabbelte es weiss unter dem halb offenen Deckel hervor und an ihren Armen herunter.

Fräulein Matthias schlug die Hände zusammen. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.

»Mäuse –! Mäuse –!« schrien die Kinder, die einen voll Schrecken, die andern entzückt, während die sechs weissen Mäuschen blindlings nach allen Seiten hinausfuhren. Das wuselte nur so am Boden umher, und die Kätzchen hopsten hinter den Mäusen drein, und die Kinder haschten nach den Katzen –

»Sie frisst es! sie frisst es!« jammerte Hedwig laut auf, als das graue Kätzchen eine der Mäuse zwischen seinen kleinen Tatzen hielt.

Doch das graue Kätzchen liess die Maus wieder fahren und rannte gegen den Herrn Schulpfleger, der es fast zertreten hätte.

»Na, ich muss gestehen«, sagte er, indem er zwei Schritte zurückwich und dabei an den Korb stiess, der auf dem Schemel in der Ecke stand, »ich muss gestehen, das geht heute ja merkwürdig zu in Ihrer Klasse, Fräulein Matthias –«

»Kräh!« tönte es hinter ihm. Er wendete sich um und erblickte einen grossen schwarzen Vogel, der auf dem Henkel des umgestürzten Korbes stand.

»Da hört aber doch alles auf –!« rief der Herr Schulpfleger. »Sind wir eigentlich hier in einer Menagerie oder in einer Schule –«

»Ach! O! Nein! Ein Rabe – ein Rabe!« schrie die Klasse, jetzt völlig aus Rand und Band, und die, welche unter den Tischen nach den Katzen und Mäusen gehascht, tauchten wieder hervor.

Der Rabe aber tat einen Sprung und packte kriegslustig das Glückskätzchen, das gerade unter dem Tisch hervorrannte, am Bein. Schreiend stürzte Karoline herzu, um ihre Katze zu retten –

»Wer hat den Vogel gebracht?« rief Fräulein Matthias. »Wer den Vogel gebracht hat, soll ihn einfangen! Das ist ja zu arg! Wem gehört er?«

»Mir!« klang Lottis Stimme durch den Lärm. »Er ist von Larstetten; er ist ganz zahm –«

Aber davon merkte man wenig. Der Rabe wollte nichts von Lotti wissen. Der Tumult und die vielen Leute brachten ihn ganz auseinander. Halb flatternd, halb springend jagte er quer über die Klasse weg. Lachend und schreiend duckten die Mädchen ihre Köpfe. Jetzt tappte er mit dem Fuss in die Tinte, besah ihn einen Augenblick und rannte dann weiter, auf allen Heften schwarze Zeichen hinterlassend. Eins der Mäuschen, das vor ihm herflüchtete, fasste er am Schwanz und schlenkerte es über den Tisch hinunter. Eine Tapfere in der vordersten Bank erwischte ihn am Flügel; er riss sich los, erreichte den Stuhl, schwang sich auf die Lehne, auf den Zählrahmen und von da auf die Wandtafel –

»Korokikoh!« rief er. Das sagte er nur, wenn er ganz böse war.

Und in seinem Zorn da droben sah er so komisch aus, dass sogar der Herr Schulpfleger in ein lautes Lachen ausbrach. Und Fräulein Matthias lachte mit, und alle Kinder lachten nun erst recht nach Herzenslust.

»Korokikoh!« schrie der Rabe noch einmal; denn das Auslachen mochte er gar nicht.

Als aber der Herr Schulpfleger nach ihm langte, drohte er mit dem Schnabel, und blitzschnell wendete er sich auch auf die andere Seite gegen Fräulein Matthias.

Die Kätzchen und die Mäuse waren unter Gekreisch und Gehetz endlich eingefangen worden. Aber der Rabe blieb droben auf der Wandtafel und zankte und spreizte die Flügel, bis der Herr Schulpfleger vorschlug, dass alle mit Ausnahme Lottis das Zimmer verlassen. Die Mädchen drängten hinaus. So eine lustige Stunde, wie das war –!

Und wirklich, vor der leeren Stube wurde der Rabe ruhig. Er zwinkerte pfiffig mit seinen glänzenden Augen und sah dann zu Lotti hinunter: Was ist? Hab ich's ihnen gehörig gesagt? Haben sie das Feld geräumt?

Als Lotti auf einen Stuhl stieg und den Arm ausstreckte, hüpfte der Rabe darauf und liess sich gutwillig wieder in den Korb zu der Speckrinde stecken.

So konnten die Kinder denn ihre Plätze wieder einnehmen. Es war aber gut, dass die Pause bald kam; denn man war mit dem Lachen, Schwatzen und Fragen über die Geschichte noch lange nicht zu Ende.

Ein wenig etwas hören mussten Lotti, Karoline und Hedwig schon, dass sie so eigenmächtig das Getier mitgebracht hatten.

»Und warum denn nur alles am selben Tag?«

Als aber Fräulein Matthias erfuhr, dass das so eine Art Wettstreit zwischen den dreien gewesen war, begann sie aufs neue zu lachen.

»Ja, ja, Kinder! ihr törichten Kinder! Euere Tiere sind allerliebst, jedes in seiner Art! Aber als meine Schüler will ich sie doch nicht; ich habe an euch grade genug. Tragt sie jetzt hinunter zur Frau Hausmeister und fragt, ob ihr sie bis elf Uhr einstellen dürft!«

In einem hatte Lotti jedoch recht gehabt: Sätze liessen sich in Menge machen über den Raben, und über die Kätzchen und die weissen Mäuse nicht minder. Auch die allerfaulsten und ungeschicktesten Schülerinnen streckten eifrig die Hand, und im Nu war die ganze Wandtafel voll. Und was für nette und spasshafte Sätze das gab!

Der Herr Schulpfleger aber hatte sich in der Pause verabschiedet.

»Fräulein Matthias«, hatte er lachend gesagt, indem er seinen Hut genommen, »Sie werden erlauben, dass ich nächste Woche noch einmal komme zu einer einfachen Rechenstunde. Das heute kam mir eher vor wie eine Treibjagd oder, wenn Sie wollen, wie eine Zirkusvorstellung; die Dressur der Tiere hat zwar zu wünschen übrig gelassen!«


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