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Im kalten Monat Januar

Gleich nach Neujahr wurde es sehr kalt. Es fiel kein Schnee. Jeden Tag stand die Sonne am klaren Himmel; aber mit allem Scheinen brachte sie keine Wärme zustande.

»Brrr –! Frisch, frisch!« sagten die Leute auf der Strasse zu einander statt des Morgengrusses und eilten rasch weiter. Die Gemüsefrauen auf der Brücke steckten bis über die Nase in Mänteln und Tüchern; sie hatten ihre Füsse auf Kästchen, in denen Kohlen glühten, und rieben die Hände, die kalt wurden trotz der dicken Handschuhe.

Es war gar nicht angenehm, am Morgen aufzustehen. Lotti streckte dreimal den Fuss heraus und zog ihn wieder zurück. Marianne wollte tapfer sein und war schon bis zum Waschtisch gekommen. Aber da fand sie es so schrecklich kalt, dass sie noch einmal ins Bett zurückschlüpfte –

»Nur ein bisschen mich noch einmal anwärmen –!«

Lotti hauchte, um zuzusehen, wie ihr Atem als weisse Dampfwolke durch die Luft ging.

»Sophie, wir können nicht aufstehen! Es ist zu grässlich kalt!« rief sie, als Sophie warmes Wasser brachte. Gestern hatte Lottis und Mariannes Krug eine dünne Eisschicht gehabt.

»Das ist noch gar nichts«, sagte Sophie. »Bei mir zu Hause war das Wasser in der Waschschüssel oft ein einziger Eisklumpen, und am Morgen, wenn ich erwachte, war mir die Bettdecke an den Mund gefroren. Und einmal bin ich auf dem weiten Schulweg abends hingesessen und eingeschlafen; grad dass der Vater mich noch gefunden hat mit der Laterne. Er hat schon gemeint, ich sei erfroren, so steif war ich. Ich weiss noch gut, ich habe immer geträumt von drei braunen Enten, die um einen Ofen herumliefen –«

»Um einen geheizten?« fragte Lotti, die während dieser interessanten Erzählung in die Strümpfe gekommen war.

»Hattest du auch Frostbeulen, Sophie?« fragte Marianne, indem sie einen Fuss an dem andern rieb.

Am ärgsten war es mit den Frostbeulen in der Schule, wo man stillsitzen sollte.

»Ist ein Rösslein dort hinten, das scharrt, oder ist's die Marianne Turnach?« hatte gestern Fräulein Heller gerufen.

Es war noch ein Trost, dass Lily Rabus und Berta Strobel auch Frostbeulen hatten, und dass man einander, indem man die Augen einkniff und mit den Zähnen in die Lippen biss, andeuten konnte, was man auszustehen habe.

Aber der Januar brachte neben den Frostbeulen und dem zugefrorenen Waschwasser auch sehr Hübsches.

»Sie sind da! Heut sind sie gekommen!« sagte Grossmama eines Abends, als die Kinder von der Schule heimgekehrt waren.

»O! sind's recht viele? Können wir sie morgen sehen?« riefen die Kinder. Sie wussten alle, dass es die Bergfinken und die Grünfinken waren, die sich bei Grossmama eingestellt hatten.

Grossmamas Wohnzimmer ging auch jetzt, wie früher an der Kronengasse, gegen lauter Gärten, und so wie der Dezember gekommen war, hatte sie aussen am Fenster ein Futterbrettchen festgemacht mit einem kleinen Tännchen in der Mitte. Kaum war das Brettchen da, so flog wie jedes Jahr als erster Gast eine Spechtmeise herbei. Mit ihrem langen Schnabel, ihrem grauen Rücken und rostroten Bäuchlein, das vom reichlichen Herbstfutter noch artig rund war, hüpfte sie auf dem Brettchen hin und her: Aha, das scheint für unsereinen eingerichtet! Zutraulich guckte sie zum Fenster herein: Guten Nachmittag! Der Sommer ist schön gewesen. Wir wollen hoffen, dass der Winter es nicht zu bös mache!

Sehr possierlich war die Spechtmeise wenn sie frass. Wie ein kleiner Holzhacker klopfte sie mit dem spitzen Schnabel auf den Hanf los, den sie in den Krallen hielt, verschluckte den öligen Inhalt und drehte sich blitzschnell um nach einem neuen Korn.

Ihre Vettern, die Spiegelmeisen, kamen auch, fein angezogen in grünem Frack, gelber Weste und langer schwarzer Krawatte. Die niedlichsten aber waren die Blaumeisen. Es war wundernett, wenn die winzigen blauschillernden Vögel sich mit dem Rücken nach unten an die Nussäckchen der kleinen Tanne hängten und sorglos hin- und herwiegend die Körner herauspickten. Die Spechtmeise guckte dann erstaunt hinauf; so sich anhängen, das konnte sie nicht.

Wild und laut aber wurde es auf dem Vogelbrettchen, wenn im Januar das ungebärdige, trotzige Volk der Bergfinken und Grünfinken anlangte. In ganzen Scharen kamen sie dahergeschwirrt. Fast war das Brettchen zu klein.

»Grossmama, jetzt sind siebzehn da –! Nein, zwanzig!« riefen die Kinder, die entzückt dem Getümmel unter dem Bäumchen zusahen. »Wie sie streiten und sich stossen und übereinander hüpfen! Und wie sie piepen und schreien! O – jetzt hat ein Spatz kommen wollen; aber sie lassen ihn nicht! Nur die Spechtmeise traut sich von der Seite her und holt schnell ein Korn – . Es ist zu lustig, Grossmama!«

Die Kinder standen, so oft sie konnten, an Grossmamas Fenster. Man musste behutsam herankommen. Der kleine Werner vergass das immer und drückte im Eifer seine kleine runde Nase an die Scheibe, so dass die Vögel – uitt –! davonflogen. Da war Grossmamas Kater fast vernünftiger. Grossmamas Kater hatte ein weisses Fell, einen dicken Kopf und ein sehr ernsthaftes Gesicht. Er hiess Aristoteles nach einem alten griechischen Gelehrten. Tagsüber war er bei Grossmama und nach dem Nachtessen hinten bei Onkel Alfred auf dem Schreibtisch; Onkel Alfred behauptete, er helfe ihm studieren.

Aristoteles sass stundenlang regungslos am Fenster und sah dem Treiben der Vögel zu. Nur manchmal krümmte er begehrlich seinen langen Schwanz, als ob er dächte: Wenn die widerwärtige Scheibe nicht wäre, wollt ich mir schnell genug den Fettesten von euch geholt haben!

Bald nachdem Grossmamas Finken angelangt waren, kamen die Kinder mit einer neuen fröhlichen Kunde nach Haus.

»Er ist zu, Mama!« meldeten sie. »Er hat furchtbar lang gebraucht; aber jetzt ist er fest!«

Der so furchtbar lang gebraucht hatte, war der Stadtgraben. Ungeduldig hatte man darauf gewartet, dass er zufriere, und dann ging es noch einmal mehrere Tage, bis der Polizeidiener die Buben nicht mehr fortjagte, die hinauswollten, um die Dicke des Eises zu erproben.

Die Turnachkinder liefen am Mittwoch gleich nach dem Essen zum Stadtgraben. Lotti hatte auch ein Paar Schlittschuhe erbeutet und bemühte sich, sie recht laut klappern zu lassen, als sie mit Hans und Marianne durch die Schwalbengasse ging.

Hans hatte im Nu seine Schlittschuhe an.

»Ich will sehen, ob ich noch holländern kann«, sagte er. Holländern nannten es die Buben in Hansens Klasse, wenn einer den andern an der Achsel hielt und den Fuss nach jedem Zuge so kühn als möglich vornüber schlenkerte.

»Wer gut holländert, kann schon fast Bogen fahren«, erklärte Hans, indem er vor Marianne und Lotti einen Halbkreis versuchte, wobei er allerdings in einen Herrn hineinschoss, der ihn ärgerlich wegschob.

»Die Buben –! alle Augenblicke hat man einen zwischen den Füssen –«

Ja, überall schossen die Buben herum, kreuz und quer wie Bremsen. Und die Mädchen nicht minder. Beständig kamen neue Scharen die Treppe herunter, und das lustige Gewimmel wurde immer grösser.

Marianne und Lotti hatten ihre Schlittschuhe endlich auch angeschraubt.

»So, Hans«, rief Lotti, als der Bruder an ihnen vorbeifuhr. »Jetzt hilf uns nur aufstehen. Lernen können wir's dann allein.«

»Ja, ja, Lotti, du wirst schon sehen –« sagte Hans, indem er den Schwestern half. »So – da hast du's –«

Lotti hatte sich kaum von der Bank erhoben, als sie zu ihrem Erstaunen schon wieder sass, diesmal aber auf dem Boden. Hans stellte sie mit einiger Mühe auf. Marianne tat mutig einen Zug und fiel ebenfalls hin. Hans nahm auf jede Seite eine der Schwestern und zog sie vorwärts.

»Jetzt geht es schon ein wenig!« sagte Lotti vergnügt. Aber Hans entdeckte, dass Lotti und Marianne gar nicht auf dem Eisen des Schlittschuhs standen, sondern bloss auf dem umgekippten Stiefel.

»Das ist nichts«, sagte er und liess sie los. »Seht einmal, so steht man –«

»Ich glaube, meine Schlittschuhe sind schlecht; sie halten gar nicht«, erklärte Lotti.

»Das sagt jeder am Anfang«, belehrte sie Hans. »Ihr müsst versuchen, das Gleichgewicht zu halten und dann einen festen Anlauf nehmen.«

Marianne und Lotti versuchten das Gleichgewicht zu halten und nahmen einen festen Anlauf, worauf sie nach links hinausfielen. Sie nahmen einen zweiten Anlauf der sie sofort wieder zu Fall brachte, aber auf die rechte Seite. Sie krabbelten auf, und Lotti schaute umher.

»Das ist merkwürdig«, sagte sie. »Man fällt hin und weiss gar nicht warum!«

Und nun ging es fort mit Fallen und Aufstehen und wieder Hinfallen. Bald zog Hans von vorn, bald schob er von hinten.

»So! haltet euch jetzt ein wenig aneinander und zählt im Takt! Ich komm dann wieder«, sagte Hans und verliess sie, um für ein Weilchen seinen eigenen Weg zu fahren, was man ihm nicht übelnehmen konnte.

Marianne und Lotti befolgten Hansens Rat. Das Halten bestand allerdings bloss darin, dass immer die eine die andere wieder umriss, wenn sie sich gerade erhoben hatte. Manchmal konnten beide vor Lachen gar nicht mehr aufstehen.

So – jetzt – das ging ja fein: links, rechts, links – wie Hans gesagt hatte. Plumps – da lag man wieder! Aha, eine Spalte! Vor denen musste man sich in acht nehmen. Dort drüben hatte es eine schöne, glatte Stelle – plumps –! Nein, so ganz glatt, das war auch nichts!

»Jetzt probieren wir es einmal jedes für sich allein!« sagte Marianne und steuerte mit ausgestreckten Armen drauf los. Lotti wackelte hinterdrein. Die beiden waren gefährlich, wenn sie einem nahe kamen; denn sie hielten sich, wo sie nur gerade konnten – Marianne hier an zwei Mädchen, die paarweise vorbeifuhren, – Lotti dort an einer Reihe Buben, die sie aber bloss abschüttelten und liegen liessen. Hierauf fasste Marianne in der Not einen Herrn am Pelzrock und dann einen andern, der sich zu einem kunstvollen Bogen schief hinüberlegte, am Ellbogen. Die Mütze flog dem Herrn ab, und als Marianne sie aufheben wollte, kam sie unversehens darauf zu sitzen.

Lotti ergriff den Muff einer Dame, und zwar so kräftig, dass die Dame ein Stock weit ohne Muff davonfuhr und sich erstaunt umsah. Gleich darauf packte Lotti im Stolpern den Besenstiel eines Eiskehrers; beinahe wäre dieser hingefallen.

»Das sind doch Manieren!« brummte er.

Nun versuchten die Schwestern ihr Glück wieder zusammen. Plötzlich aber stiessen sie einen Freudenschrei aus. Sie hatten Onkel Alfred entdeckt.

»Onkel Alfred!« riefen sie. »Wir sind auch da! Wir können es schon ziemlich!« Und der Länge nach fielen die beiden vor den Onkel hin.

»Ihr seid auch da! Natürlich! wo seid ihr nicht!« rief der Onkel, indem er Marianne und Lotti in die Höhe zog. »Schrecklich – solche Nichten!« wendete er sich zu der jungen Dame und dem Herrn, mit denen er gelaufen war. »Haben Sie auch welche?«

Die beiden schüttelten lachend den Kopf.

»Dann danken Sie dem Schicksal und haben Sie Mitleid mit mir!«

»Sollen wir Sie in Ihren Onkelpflichten etwas unterstützen?« sagte die junge Dame und nahm an jede Hand eines der Kinder. Die beiden Herren machten links und rechts den Abschluss.

Und nun ging es zu fünft schön im Takte, einen Schwung links, einen Schwung rechts, unter den Brücken durch, den ganzen Graben hinauf und wieder hinunter. Es war unmöglich zu stolpern, unmöglich zu fallen; wie getragen ging's, wie im Fluge …

»Mama, das Schlittschuhlaufen ist prachtvoll!« rief Lotti die Treppe hinauf. »Ich bin etwa siebenundzwanzigmal hingefallen und Marianne auch. Aber zuletzt haben wir noch mit Onkel Alfred Bogen gefahren!«

In den nächsten zwei Wochen waren die Turnachkinder jeden Tag auf dem Eise und sprachen von nichts als vom Schlittschuhlaufen. Und damit Balbine, die nicht gern in der Kälte an den Stadtgraben spazieren ging, auch einen Begriff bekomme, nahmen Marianne und Lotti den Werner zwischen sich und zeigten Balbine in der Küche das Holländern, das sie nun schon loshatten. Hans aber machte ihr vor, wie man vorwärts und rückwärts kreisle, bis es Balbine angst und bang wurde und die Teller und Schüsseln zu klirren begannen.

Das erste am Morgen war immer, dass man nach dem Thermometer sah und am Barometer klopfte.

»Wenn es nur noch recht lang kalt bliebe!« war der sehnlichste Wunsch der Turnachkinder.

Und alle Buben und Mädchen in der Stadt wünschten dasselbe. Aber die armen und die alten Leute und die Gemüsefrauen, die Droschkenkutscher und die Weichenwärter an der Eisenbahn, die den ganzen Tag oder gar die ganze Nacht draussen sein mussten, dachten jeden Morgen: Wenn doch nur der Wind sich bald drehen wollte! Und da die Kinder ja sonst viel Vergnügen hatten, nahm das Wetter diesmal die Partei der andern Leute: In der letzten Januarwoche schlug es um; der Westwind wehte und es fing an zu schneien. Die Oberfläche des Eises verwandelte sich in eine weiche Sulze, und eines Nachmittags stand wieder ein Polizeidiener an der Treppe des Stadtgrabens, und die ganze Herrlichkeit hatte für einmal ein Ende.


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