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Auf der Fähre

Am nächsten Nachmittag kamen Marianne, Lotti und Trudi schon wieder ins Pfarrhaus gerannt, Edith solle mitkommen, sie gehen alle zum Eschenweiher hinunter.

Der Eschenweiher war ein stilles, langgestrecktes Wasser an der Sägenwiese.

Lehrers Bernhard, Hans und Otto waren nach dem Mittagessen daran vorbeispaziert.

»Schrecklich schmal!« hatte Hans gesagt.

»Aber ziemlich lang!« hatte Bernhard erwidert. »Wenn man von der Bank aus hinuntersieht und den Kopf nicht rechts und links dreht, meint man fast, es sei ein kleiner See.«

Hans wollte Bernhard nicht kränken; sonst hätte er laut herausgelacht. Ein See –! Bernhard hatte jedenfalls in seinem Leben noch nie einen See gesehen. Otto guckte Hans von der Seite an; er wusste wohl, was er dachte.

»Nein, Bernhard, von einem See kann man da nicht reden. Denk nur, wie tief ein See ist! In unserm Eschenweiher geht einem das Wasser höchstens bis daher –« Otto zeigte an seinen Gürtel.

»Da kann man also nicht einmal recht nass werden!« sagte Hans.

»Und dann müssten doch Schiffe da sein!« fuhr Otto fort.

»Im Sommer bin ich einmal auf einem Brett drauf herumgefahren«, erzählte Bernhard.

»Das ist etwas! Auf einem Brett, wo gerade zur Not einer stehen kann!« Hans musste sich Luft machen. »In unserm kleinen Schiff haben sechs Personen Platz. Und in einem ordentlichen Steinschiff etwa dreissig. Und auf einem Dampfschiff – aber natürlich von einem Dampfschiff habt ihr in Larstetten keinen Begriff!«

Bernhard schwieg besiegt, und die Knaben trennten sich bald. Bernhard ging den Eschenweiher entlang bis zur Säge, die seinem Vetter gehörte. Man baute da die Scheune um, und das grosse Tor stand angelehnt an der Mauer. Bernhard kam ein Gedanke.

Er ging auf des Vetters Sohn zu, der da arbeitete.

»Du, Gustav, könnte ich nicht das Tor haben für heut nachmittag?«

»Was willst?« rief Gustav, der meinte, nicht recht gehört zu haben.

»Das Tor.«

»Das Tor? Brauchst du nicht vielleicht noch das Rathausdach und den Kirchturm dazu?«

»Ich meine es im Ernst. Es ist nicht wegen mir, sondern wegen Larstetten –«

Und Bernhard erzählte von dem Gespräch vorhin und was er nun im Sinn habe.

»Ein Schiff soll unser Scheunentor in seinen alten Tagen noch werden –?« sagte Gustav belustigt. »Ja, wenn die Ehre von Larstetten auf dem Spiel steht, so wird es halt sein müssen.«

»Was man nicht erlebt!« sagten die zwei Arbeiter, die zugehört hatten. »Jetzt gibt's aus unserer Säge einen Seehafen!«

Mit vereinten Kräften schafften die drei Männer das Scheunentor auf den Eschenweiher hinaus, nachdem man auf beiden Seiten noch zwei breite Bretter festgenagelt hatte. Denn je mehr Leute Platz hatten, desto besser war es für Larstetten.

Dann rannte Bernhard ins Städtchen hinauf, um Otto und Hans zu holen. Die beiden folgten neugierig. Die Mädchen schlossen sich auch an.

»Es ist natürlich kein Dampfschiff!« sagte Bernhard, als man am Eschenweiher anlangte.

»Famos ist es! Prachtvoll!« schrien Hans und Otto.

Alle sprangen auf das Scheunentor, das breit auf dem Wasser lag. Es schaukelte angenehm und machte kleine Wellen.

»In Larstetten schiffahren!« rief Lotti entzückt.

»Gelt!« sagte Otto. Er war fast so stolz wie Bernhard.

In der Mitte des Schiffes stand ein Schemel, und drei Stangen lagen bereit.

»Das ist nun unsere Fähre«, erklärte Hans, indem er eine der Stangen ergriff.

»Ja!« rief Marianne. »Wir warten am Ufer und rufen ›Hoiho! Hol über!‹ Wir können auch grosse Leute hinüberfahren, wenn sie vom Stampfenweg kommen oder vom Städtchen herab. Die sind gewiss froh. Es ist eine ziemliche Abkürzung.« Hans stemmte die Stange ein und lehnte sich über den Rand des Fahrzeugs hinaus.

»Gib acht, dass du nicht hineinfällst!« warnte Bernhard.

»O«, machte Hans. »Das geht nicht so schnell!« Er legte sich noch etwas weiter hinüber. »Den ganzen Sommer sind wir nicht ins Wasser gefallen, keins von uns.«

Er lenkte das Schiff in gerader Linie über den Weiher. Die Mädchen standen in der Mitte und spähten zum Stampfenweg hinauf und zurück zum Eschensteig. Niemand wollte sich zeigen, den man hätte können die Annehmlichkeit der Fähre geniessen lassen.

Endlich tauchte auf der Stampfenhöhe etwas wie eine Mütze auf.

»Dort kommt einer!«

»Es ist der Polizeidiener! Der Drehbaum!«

Die Mädchen sprangen hinaus.

»Herr Drehbaum, wollen Sie sich nicht hinüberfahren lassen zum Eschensteig?« lud Marianne ein.

»Sie brauchen nicht machen das weite Umweg!« rief Edith.

»Wir tun es umsonst!« fügte Lotti hinzu.

»Aber ich tue es nicht umsonst«, sagte Drehbaum schlecht gelaunt. »Und für Geld auch nicht. Das fehlte mir gerade. Überhaupt – wem gehört das Tor?«

»Dem Vetter in der Säge!« schrie Bernhard. »Der Gustav hat's uns selber auf den Weiher herausgetan.«

»Das war etwas Gescheites!« brummte Drehbaum, indem er sich zum Wege zurückwandte und missbilligend mit seinem Stocke fuchtelte. Im Weitergehen zankte er noch vor sich hin; man hörte etwas von Narreteien und von Verbieten.

Die Kinder sahen ihm nach.

»Sie sind keine besonders nette Polizeimann!« rief Edith.

Der Ärger verging indessen bald. Denn jetzt kam vom Städtchen her langsamen Schrittes mit dem Tragkorb auf dem Rücken die Botenfrau von Rollingen.

»Schnell, Hans! schnell –!« Hans, Otto und Bernhard stachelten mit aller Kraft, um rasch das jenseitige Ufer zu erreichen.

Die Botenfrau blieb erstaunt stehen, als das Fahrzeug auf sie lossteuerte.

»Frau Enzenstein«, riefen sie alle sieben. »Warten Sie, warten Sie! wir fahren Sie hinüber! Sie können sogar sitzen!«

Die Botenfrau trat entsetzt zwei Schritte zurück.

»Ich da drauf –?«

»Es ist ganz fest; sehen Sie –«, ermunterte Lotti und sprang mit beiden Füssen auf und nieder.

»Nein, nein, aufs Wasser bringt man mich nicht, Kinder, nicht mit zehn Pferden! Ich hab das von meinem Grossvater. Der hat einmal nach Amerika auswandern wollen, und wie er in Bremen sich das Wasser ansieht, auf dem er hätte hinüber sollen, fällt er hinein; man hat nie recht erfahren wie. Zwei Schiffleute haben ihn gerade noch am Fuss erwischt. Da hat er genug gehabt und ist wieder nach Larstetten zurück. Seither will keines von uns mit Wasser und Schiffahrt zu tun haben.«

Die Kinder sahen das ein und liessen die Botenfrau ziehen. Neben ihr aber hatte sich ein kleiner, etwa fünfjähriger Bub hingestellt, um sich das grosse Brett auf dem Weiher zu besehen.

»Wo musst du hin, Eduard?« fragte Otto.

»Nach Rollingen in die Mühle.«

»So, dann darfst du mit uns hinüberfahren zum Stampfenweg.«

Der Bub rührte sich nicht. Marianne sprang hinaus, um ihn zu holen.

»Nein!« schrie er jetzt und rannte über die Wiese hinauf.

»Fang ihn, Marianne«, rief Hans, »und bring ihn! Wenn er auf dem Schiff ist, findet er es dann gewiss nett.«

Marianne fasste den kleinen Eduard. Aber der fing an so fürchterlich zu brüllen und sich zu wehren, dass sie ihn wieder losliess. Heulend entfloh er gegen das Städtchen.

»Wie man so dumm sein kann!« sagte Hans und stiess das Schiff hinaus.

Da bewegte sich drüben hinter den Büschen des Stampfenweges wieder etwas.

»Ein Mann!« Man hörte meckern. »Ein Mann mit vier Ziegen – und einem grossen Hund!«

Diesmal kam die ganze Schiffsgesellschaft heran, umringte den Mann – es war Bieland, der manchmal im Doktorgarten arbeitete – und redete auf ihn ein, um ihm die Vorteile der Fähre klarzumachen.

Bieland schüttelte den Kopf.

»Sie tun doch nicht vielleicht dem Wasser fürchten wie der Familie von Frau Enzenstein?« fragte Edith.

»Das nicht gerade. Aber mein besseres Gewand hab ich an, und euere Geschichte da kommt mir etwas wacklig vor. Nein, ich danke.«

»Aber die Ziegen doch? Die Ziegen? Wir möchten so schrecklich gern jemand hinüberführen!« riefen die Buben und Mädchen.

Bieland überlegte und lachte.

»So nehmt sie! Sie können meinetwegen ja zur Abwechslung einmal eine Schiffahrt machen. Da – aber gebt acht!«

Mit Freudengeschrei bemächtigten die Kinder sich der Ziegen. Es war ein schweres Stück Arbeit, sie auf das Schiff zu bringen. Glücklicherweise hatte jede einen Strick um. Der Hund Zangger blieb bei seinem Herrn.

»Vier Ziegen! das ist doch etwa so viel wie zwei Menschen, gelt, Hans!« rief Trudi und versuchte, eine der Ziegen an sich zu ziehen.

Die Tiere aber, besonders als das Schiff nun hinausgestossen wurde, stolperten und drängten sich zusammen. Es gefiel ihnen gar nicht auf dem Wasser; sie hätten viel lieber den Weg um den Eschenweiher herum gemacht; aber es hatte sie niemand gefragt.

Mit sechs oder acht Stössen war das Schiff dem andern Ufer nahe. Hans sah nach einer guten Landungsstelle aus für die Ziegen. Derweil kam der Hund Zangger vom untern Ende des Weihers dahergerannt und stellte sich bellend ans Ufer. War es nun, dass ihn reute, nicht mitgefahren zu sein, oder meinte er, er müsse nach den Ziegen sehen, kurz, er tat einen Sprung und schoss auf das Schiff.

»Ui –!« Das Schiff schwankte heftig. Die Ziegen fuhren erschreckt zurück und stiessen Trudi um. Die andern Kinder wollten sie in die Höhe ziehen –

»Halt!« schrie Hans. »Nicht – nicht alle auf eine Seite –« Er verstummte; denn plötzlich schnappte das Schiff auf, und im Bogen flog Hans in den Weiher. Auf der andern Seite aber rutschte die ganze Gesellschaft in das Wasser, Ziegen und Hund, Buben und Mädchen in einem Knäuel.

»Wetter noch einmal! Was ist denn! –« rief Bieland und eilte zur Stelle des Schiffbruches, von wo ihm ein schreckliches Geschrei, Gebell und Gemecker entgegentönte.

Der erste, der aus dem Wasser kroch, war Bernhard, triefend und schnaubend wie ein Walross. Otto plätscherte mit seiner Stange herum, die er nicht losgelassen hatte. Edith und Marianne wurden, als sie sich auf die Füsse geholfen, von neuem umgeworfen durch die Ziegen, die einfach über sie hinwegstrampelten. Hans war kopfüber ins Wasser gefallen; als er sich aufrichten wollte, hielt ihn Lotti am Ärmel fest, und er musste sehen, wie er samt der zappelnden Schwester ans Land kam. Der Hund Zangger, der eigentlich schuld an allem war, gab sich die grösste Mühe, den Schemel zu retten, als ob das die Hauptsache wäre. Zuletzt zog Bieland trotz seinem »besseren Gewand« noch Trudi heraus, die hart am Ufer im Wasser sass und sich am Bein einer Ziege hielt; die Ziege und Trudi schrien, wie wenn sie am Spiess stäken.

Endlich waren alle sieben Kinder glücklich auf dem Lande. Das Wasser floss in Strömen an ihnen herunter.

»Heul doch nicht so grässlich, Trudi!« sagte Otto, als er so weit war, dass er wieder reden konnte.

»Ich-h-heule nicht«, weinte Trudi. »Aber ich frier-rrr-re.« Sie schlotterte am ganzen Leib.

»Rrr –« zitterten und schnatterten auch die andern. Es war nicht mehr Sommer; das Wasser war kalt gewesen, und es blies ein rauher Wind.

»Hört«, sagte Bieland, »das beste ist, ihr rennt heim, so schnell ihr nur könnt. Und ihr da –« er wandte sich zu seinen Ziegen, die kläglich meckerten, »ihr lauft auch, damit ihr mir nicht den Husten bekommt.«

»Den Husten!« lachte Lotti, so gut es ging neben dem Zähneklappern, und rannte mit den andern den Eschensteig hinauf. Eine lange Wasserstrasse zog sich hinter ihnen durch das ganze Städtchen, und eine kleinere zweigte zum Pfarrhaus ab.

Entsetzt schlug die Tante die Hände zusammen, als die triefenden Kinder ankamen. Wenn sich nun eins erkältet hatte! Und die Kleider –! Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als die ganze Mannschaft ins Bett zu schicken.

Erst waren die fünf etwas verdutzt, so unversehens am hellen Tag im Bett zu stecken. Aber dann ging bald durch die offene Tür eine lebhafte Unterhaltung an. Jedes schilderte, auf welche besondere Weise es hineingefallen und wieder herausgekommen war; dann gab man sich Rätsel auf, und als Tante Doktor nach einer Weile hereinkam, rief Otto:

»Mama, ist es zur Strafe oder nur zur Wärme, dass wir ins Bett mussten? Wir finden es nämlich furchtbar lustig!«

Lehrers Bernhard aber war nicht minder vergnügt. Er hatte für gut gefunden, sich zum Trocknen in die Säge zu begeben; seine Mutter verstand in solchen Sachen keinen Spass. Er sass während seine Kleider am Herd hingen, in der Küche der guten Base, eingehüllt in den Winterüberzieher des Vetters.

Da kam Gustav herein:

»Oha –!«

»Ja, wir sind hineingefallen, alle sieben. Und der Hans hat grade vorher erzählt, sie seien den ganzen Sommer nie in ihren See gefallen, in ihren grossen. Und er hat gesagt, im Eschenweiher könne man nicht einmal recht nass werden. Aber du hättest sehen sollen, wie uns das Wasser übers Gesicht und die Haare gelaufen ist, dem Hans auch!«

»So? Mehr kann man nicht verlangen«, sagte der Vetter. »Dann hat also der Eschenweiher seine Sache recht gemacht, und die Ehre von Larstetten wäre gerettet.«


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