Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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IX. Kapitel

Das Aufsehen, das die Verhaftung des angesehenen Millionärs im Zusammenhang mit den Enthüllungen der „Wiener Morgenpost“ machte, war so ungeheuer und überragend, daß tagelang alle politischen Ereignisse in den Hintergrund traten, die neuen Riesenstreiks, die bolschewistischen Erhebungen da und dort, die revolutionären Vorgänge in den Ländern Westeuropas, an Interesse verloren. Die Bevölkerung verschlang die Zeitungsberichte, die von den zwei Morden des Kavaliers erzählten, die „Morgenpost“ mußte ihre Auflage verdoppeln und neben Isbaregg war der Reporter James Finkelstein der Held des Tages. Finkelstein war tatsächlich ein gemachter Mann geworden; der Verleger der „Morgenpost“ mußte ihm das Einkommen verdreifachen, um ihn der Konkurrenz gegenüber zu halten, er wurde eingeladen, Vorträge zu halten, im Nu hatte er den Beinamen der „Sherlock Holmes von Wien“ bekommen und der Polizeipräsident veröffentlichte eine Danksagung an den „genialen, pflichttreuen und erfolgreichen Journalisten“. Frau Selma aber schwelgte in Wonne und es kränkte sie nur, daß sie nicht öffentlich den Ruhm Finkelsteins teilen durfte. Dafür beschloß sie, ihren James durch die Rosenfesseln der Ehe für immer an sich zu binden und der Arme wagte nicht, zu widersprechen.

Kolo machte der Polizei und dann dem Untersuchungsrichter die Aufgabe sehr leicht. Er leugnete nichts ab, gab unumwunden alles zu, benahm sich gefaßt und ruhig, nicht wie ein Bereuender, sondern wie einer, der sich eben mit unabwendbaren Tatsachen abzufinden weiß. Nur einmal verließ ihn seine eisige Ruhe, war er nahe daran, zusammenzubrechen. Das war, als er durch den Untersuchungsrichter erfuhr, daß es eigentlich Helga Esbersen sei, die ihn der Gerechtigkeit überliefert habe. Da fuhr Kolo jäh in die Höhe und schrie auf, wie ein zum Tode Verwundeter. Und von nun an gab er noch kürzere Antworten, wurde er ganz verschlossen, trieb den Untersuchungsrichter noch mehr zum schleunigen Abschluß des Verfahrens an.

Selbstverständlich hatte Dr. Löwenwald die Verteidigung des Freundes übernommen. Schon am Tage nach der Verhaftung war Löwenwald zu ihm geeilt, um stundenlang in seiner Zelle zu verweilen. Viel zu sagen hatten sie sich nicht. Löwenwald hatte ihm die Hand entgegengestreckt und ausgerufen:

„Kolo, es bedarf wohl nicht vieler Worte zwischen uns und du weißt selbst, daß du mir heute genau so lieb und teuer bist, wie du es gestern warst!“ Und Kolo hatte eingeschlagen und dann ruhig, als würde das nicht ihn, sondern eine dritte Person angehen, alles erzählt. Von jenem Tag angefangen, da er vor dem Delikatessengeschäft auf dem Graben hungernd und obdachlos gestanden hatte, bis zur jetzigen Stunde.

An einem schwülen Augusttag kam der Fall Isbaregg vor die Wiener Geschwornen. Dumpfe Unruhe lag über der ganzen Stadt. Andauernde Arbeitslosigkeit, Hungersnot, die Gewißheit einer vollständigen Mißernte, das Versagen der von Amerika versprochenen Hilfsaktionen, politische Unzufriedenheit, Verzweiflung und Erbitterung hatten zu neuen Gärungen geführt, man munkelte von umstürzlerischen Bewegungen, von geheimen Konventikeln, von roten Arbeiterbataillonen, die mit Handgranaten ausgerüstet seien, und die ganze Stadt harrte in fieberhafter Spannung gewaltsamer Geschehnisse. Das alles konnte aber das Interesse an dem Prozeß nicht vermindern, der Andrang zum Landesgericht war ungeheuer und Hunderte von Menschen umlagerten das Gebäude, während der Zutritt in den Saal nur gegen Karten gestattet war.

Die ganze ehemalige Hocharistokratie füllte die Plätze, die Erdödys, die Schwarzensterns und Dunkelsteins waren vollzählig versammelt, während die Verwandten der ermordeten Frau Isbaregg zum großen Teil unter den vorgeladenen Zeugen sich befanden. Und alle Blicke wandten sich immer wieder dem Angeklagten zu, der, wie aus Erz gegossen, aufrecht, starr, in eiserner Ruhe mit verschränkten Armen neben dem Justizsoldaten auf der Anklagebank saß.

Die Geschwornen waren ausgelost, der Protokollführer hatte die umfangreiche, vernichtende Anklageschrift verlesen und der Präsident des Gerichtshofes stellte an Koloman Isbaregg die Frage, ob er eine zusammenhängende Erwiderung abgeben oder aber auf die gestellten Fragen antworten wolle.

Koloman Isbaregg erhob sich, seine Augen schweiften mit leiser Ironie über die schwitzenden, aufgeregten Menschen vor ihm und er sagte laut, scharf und betont:

„Ich erkläre, daß die Anklageschrift in allen wesentlichen Punkten vollständig der Wahrheit entspricht. Ich habe jener Dame, die aus begreiflicher Rücksicht nicht genannt wird, die Geldtasche gestohlen, ich habe dadurch die Mittel erlangt, in die Pension Metropolis zu ziehen, ich habe mit Vorsatz und in gewinnsüchtiger Absicht den Alois Geiger genau so erwürgt, wie es erzählt wird, ich habe meine Ehegattin Dagmar mit Morphium vergiftet, um sie zu beerben und in den Alleinbesitz ihres großen Vermögens zu gelangen. Ich leugne nichts, gestehe alles ein und bitte die notwendigen Fragen zu stellen, die ich gerne beantworten werde.“

Ein Murmeln und Raunen ging durch den Saal und man fühlte, daß dieser kühne Verbrecher Sympathien gewann, Bewunderung erregte.

Die Zeugenvernehmungen gingen rasch vor sich. Die Besitzerin der Pension Metropolis, mehrere Mitbewohner, der Schuster, seine Tochter, die ehemalige Gräfin Rasumoffsky, verschiedene andere Verwandte, der Baron Kutschera — sie alle sagten ihr Sprüchlein auf und weder Kolo noch sein Verteidiger traten ihnen entgegen. Wie sich überhaupt Dr. Löwenwald vollständig passiv verhielt und kaum in die Verhandlung eingriff. Als Helga Esbersen als Zeugin aufgerufen wurde, ging eine lebhafte Bewegung durch den Saal und alles blickte nach der Türe. Aber Helga kam nicht und der Gerichtsdiener konstatierte, daß die Zeugin der Vorladung keine Folge geleistet habe. Dr. Löwenwald äußerte seine Verwunderung darüber und teilte mit, das Fräulein Esberseh unmittelbar vor der Verhandlung bei ihm gewesen sei. Sie habe einen sehr aufgeregten Eindruck gemacht und gesagt, sie werde zur Verhandlung kommen, wolle aber vorher noch ihr Wiener Bankdepot beheben. Der Gerichtshof beschloß, auf ihre Einvernahme zu verzichten, was um so unbedenklicher sei, als der nun an die Reihe kommende Hauptzeuge James Finkelstein alles das aussagen könne, was Fräulein Esbersen zu bekunden hätte.

Unter allgemeiner Spannung betrat nun der Reporter den Zeugenstand und erzählte aufgeregt und lebhaft gestikulierend von seiner Jagd nach Kolo Isbaregg. Nachdem er seine lange Erzählung beendet hatte, ging ein lebhaftes Beifallsgemurmel durch den Saal, das aber plötzlich von einem schallenden Gelächter abgeschnitten wurde. Man hatte nämlich gehört, wie Kolo lsbaregg sich mit einem leisen melancholischem Lächeln auf den Lippen nach seinem Verteidiger umwandte und halblaut sagte: „Bestimmung! Der eine stirbt an der Cholera, der andere an Finkelstein!“

Die fast heitere Stimmung, die die zynische Bemerkung lsbareggs hervorgerufen hatte, verflog, als der Präsident die Mittagspause ankündigte, nach der dann der Staatsanwalt und der Verteidiger ihre Plaidoyers halten würden. Denn kaum wurden die Saaltüren geöffnet, als sich auch schon wilde Gerüchte über Straßenkämpfe verbreiteten. Es hieß, daß Arbeitslose unter der Führung von Anarchisten das Parlament und die Polizeidirektion gestürmt hätten, zwischen Polizei und bewaffneten Banden heftige Kämpfe In Entwicklung und vom Arsenal her bewaffnete Proletariergruppen mit Maschinengewehren im Anzug seien. Eine furchtbare Aufregung bemächtigte sich der Leute im Saal, die sich ersichtlich auch den Geschwornen mitteilte und als aus der Ferne das Knattern von Gewehrsalven ertönte, fiel eine Dame in Ohnmacht und es entstand eine Panik. Nach wenigen Minuten schon erschien der Gerichtshof wieder im Schwurgerichtssaal und der Präsident, der einen verstörten und fast geistesabwesenden Eindruck machte, erteilte dem Staatsanwalt das Wort.

Unter allgemeiner Unruhe, der der Präsident nicht entgegentrat, wetterte der Staatsanwalt gegen den Angeklagten los. Er nannte Koloman lsbaregg den scheußlichsten Verbrecher des Jahrhunderts, beleuchtete ihn als feigen, heimtückischen Gesellen, der seine Opfer im Schlaf überfalle, kein Mitleid kenne, nie im Affekt, nie in Not und Bedrängnis gemordet habe, sondern immer mit kalter Überlegung und aus den niedrigsten, selbstsüchtigsten Instinkten. Er sprach schließlich sein Bedauern darüber aus, daß die Gesetze dieses Staates die Todesstrafe nicht mehr kennen, ja nicht einmal die lebenslängliche Haft, so daß Isbaregg dereinst nach zwanzig Jahren wieder wie eine reißende Bestie über unschuldige, wehrlose Menschen würde herfallen können.

Als er geendet hatte und sich der Verteidiger Dr. Ludwig Löwenwald erhob, erdröhnten wieder aus der Ferne her Schüsse und gleichzeitig drang dumpfes Brüllen aus nächster Nähe in den Saal. Erschreckt fuhren die Damen und Herren von ihren Sitzen auf und nur schwer konnte der Präsident die Ruhe herstellen. Das Brüllen erklang aber immer wieder und die Worte „Hunger! Hunger! Hunger!“ grollten dumpf herein. Man wußte, daß sich die Unruhe der Straße nunmehr auch den Sträflingen des Landesgerichtes mitgeteilt hatte, die, wie seit Monaten und Jahren schon, durch den gemeinsamen Ruf „Hunger!“ gegen ihre Haft protestierten.


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