Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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IX. Kapitel

Tage und Wochen kamen, die Kolo späterhin in der Erinnerung als die qualvollsten seines ganzen Lebens betrachtete. Es begann jenes erotische Komödienspiel, das einer Frau leicht fällt, für den Mann aber Selbstzerstörung und Höllenqualen bedeutet. Mit Dagmar war von dem Augenblick an, da sie sich hingebungsvoll an seine Brust geschmiegt und seine Küsse empfangen hatte, eine entscheidende Änderung vorgegangen. Das Herbe in ihr wurde weich, die Seele verließ nicht mehr ihren Leib, sie verlor jede Kritik über sich selbst und den Mann, wurde schmiegsam, gütig, heiter, die aufgeloderte, in bitteren Jahren zurückgedrängte Sinnlichkeit, die ihr erster Mann in ihr gedrosselt hatte, umhüllte sie mit ihren sengenden, glühenden Flammen. Und je zärtlicher sie wurde, je wilder und hemmungsloser sie die Arme um den geliebten Mann schlang, um sich mit ihren durstigen Lippen an seinem Mund festzusaugen und ihm ins Ohr zu flüstern, wie heiß und rasend sie ihn liebe, desto kälter wurde Kolo innerlich, desto mehr fühlte er sich abgestoßen. Und da er ihre Küsse erwidern, da er die Komödie spielen mußte, wollte er sie zum Ende führen, so fühlte er sich vergewaltigt und in die zärtlichen Worte, die er aus heiserer Kehle stammelte, zischte der Haß hinein, der Haß des starken Mannes gegen das Weib, das ihm die Kraft und die Freiheit nehmen will. Die feinfühlige, überempfindliche Dagmar aber fühlte nur die Küsse, hörte nur die gesprochenen Worte, ihr Unterbewußtsein, an dem sie früher so gelitten, war taub und blind. Dagmar merkte nicht, wie sehr ihrem Bräutigam daran lag, die Stunden des Alleinseins mit ihr zu verkürzen oder ganz zu vermeiden; es fiel ihr nicht auf, daß er sich jetzt in Gesellschaft ihrer Verwandten und Bekannten, die ihm früher unsympathisch und lästig gewesen waren, sehr wohl fühlte, sie wunderte sich nicht, daß er den neugewonnenen Freund Löwenwald fast nicht mehr von seiner Seite ließ, so daß sie beinahe nie allein waren. Dagmar freute sich der verstohlenen Momente, da sie sich an ihn schmiegen konnte, sie war glücklich, wenn ihr Fuß den seinen fand, wenn sie unter dem Tisch seine Hand, sein Knie streicheln konnte und nicht einen Augenblick lang tauchte der Verdacht in ihr auf, daß dieser Mann sie nicht lieben, sondern wie alle die anderen, die sich um sie beworben hatten, nur die millionenreiche Erbin in ihr sehen könnte.

Kolo Isbaregg hatte Stunden, in denen er dem aufreibenden, schweren Spiel ein Ende machen wollte, weil er fürchtete, sonst plötzlich aus der Rolle zu fallen und brutal die Maske ablegen zu müssen. Schließlich — er war noch jung, wußte viel und kannte viel, das Leben nahm wieder halbwegs geordnete Formen an und er würde sich irgendwie durchschlagen können! Wenn er aber dann nach solchem Entschluß sein schönes Junggesellenheim verließ und die Straße betrat, die hastenden, schwitzenden, bekümmerten Menschen sah, die noch immer vor den Auslagen der Lebensmittelgeschäfte gierig stehen blieben, dann schüttelte er sich und schritt den Weg weiter, den er begonnen.

Eines Tages, zu Ende des Monats Juli, nur eine Woche vor dem festgesetzten Hochzeitstermin, blieb er einen ganzen Abend mit Dagmar allein, da Löwenwald eine große Verteidigungsrede ausarbeiten mußte und ihn erst in der Nacht im Café treffen wollte. Sie sprachen von der Zukunft, Kolo schlug den Ankauf eines uralten Schlosses in Tirol vor und plante große Reisen, wenn erst die internationalen Beziehungen weit genug gediehen sein würden. Dagmar stimmte ihm in allem zu, sprang aber plötzlich auf, setzte sich auf seine Knie, umschlang ihn und rief: „Schau, du, das ist ja alles so gleichgültig! Die Hauptsache ist, daß ich dich habe und wir allein sein werden und ganz unserer Liebe leben können!“ Ihr Leib drängte sich ungestüm an den seinen, ihre Hände klammerten sich an ihm fest, sie lag an seiner Brust und stöhnend kam es von ihren Lippen: „Du, warum warten, nimm mich gleich — du — nimm mich!“

In dem Manne aber regte sich nichts von Leidenschaft und Lust, nur Ekel stieg in ihm auf, seine Hand, die auf ihrer nackten Brust gelegen, rückte aufwärts zum Halse, um den sich die Finger fest schlossen. Und er mußte sich gewaltsam zur Besinnung rufen, um die Finger nicht zusammenzukrampfen und den heißen, feuchten Hals nicht zu würgen. Aber er fand die Besinnung, machte sich langsam und zart los, sprach beschwichtigende Worte, küßte Dagmar auf die Haare und sagte mit so viel Zärtlichkeit, als er sich abringen konnte: „Nicht doch, Dagmar, laß uns nichts tun, was uns morgen reuen könnte, laß uns nichts von der großen Stunde vorwegnehmen, die uns für immer vereinigen soll!“

Und Dagmar hörte nicht den falschen Ton, ihr Stolz fühlte sich unter dieser Zurückweisung nicht verletzt, der Intellekt schwieg, wo nur die Sinne sprachen.


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