Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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V. Kapitel

Stück auf Stück besah er gründlich, beschnupperte es förmlich, machte sich Notizen, grübelte, rannte im Zimmer auf und ab, entwarf Pläne, verwarf sie wieder, bis er das Material gesichtet, geordnet, verdaut hatte.

Der Bart verriet seine Herkunft nicht; es war auch unwahrscheinlich, heute nach drei Jahren zu eruieren, wo und von wem er gekauft worden war. Dasselbe galt für die Brille. Radmantel und Schlapphut, beide fast ungetragen, wiesen die Marke des Warenhauses Gerngroß auf. Wichtiger noch waren die Schuhe. Die Laschen hatte der Besitzer sorgfältig abgeschnitten, aber Finkelstein entzifferte mit Hilfe eines Vergrößerungsglases unschwer den Namen des Schusters, der auf den beiden noch vorzüglich erhaltenen Sohlen eingeprägt war. Da stand es deutlich: Josef Wodraschka, I., Seilergasse 13.

Und nun das Werkzeug. Auf dem Griff war schön eingraviert: Canadian Tools Factory, Toronto. Richtig — Koloman Isbaregg war ja von Toronto aus nach Österreich geflohen, um sich dem Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Das war entscheidend, das wies direkt auf lsbaregg als den Täter hin. Doch Beweis war es noch nicht, denn es mögen sich immerhin solche Werkzeuge genug auch hier befinden. Der Hut, der Mantel, die Schuhe mußten die Beweiskette bilden und vor allem die Postbegleitadresse mit dem sicher fingierten Namen des Absenders.

Der Journalist überlegte, Hut und Mantel — ihm — es lag beinahe außerhalb des Bereiches der Möglichkeit, daß man sich in dem großen Warenhaus erinnern sollte, wer vor drei Jahren diese Sachen gekauft hatte. Nein, überflüssige Arbeit und Mühe, dort nachzuforschen. Aber die Schuhe, diese orthopädischen Schuhe, sie konnten eher Klarheit bringen. Finkelstein packte die Schuhe ein, verließ sein Zimmer, leistete sich ein Autotaxi und fuhr zu dem Schuster in der Seilergasse. Der Meister saß im Laden und war allein. Finkelstein legte die Schuhe vor ihn hin.

„Verehrter Herr Wodraschka, es handelt sich um eine eminent wichtige Angelegenheit, aus der für Sie noch die größte Reklame herauswachsen kann. Diese Schuhe wurden von Ihnen vor drei Jahren zwischen 5. und 20. Mai geliefert. Schauen Sie in Ihren Büchern nach, strengen Sie Ihr Gedächtnis an, tun Sie, was Sie können, um zu ermitteln, wer der Mann war, der sie bei Ihnen bestellt hat.“

Der Schuhmacher rückte die Brille zurecht, musterte eingehend die Stiefel und nickte:

„Jawohl, das sind meine Schuhe, gute, solide Arbeit und wie neu sind sie noch! Aber, Herr, wie soll ich wissen, wer die Stiefel bestellt hat? Ich bin Spezialist für orthopädisches Schuhzeug, Krieg haben wir auch gehabt, jede Woche sind gerade vor drei, vier Jahren Dutzende solcher Stiefel aus meiner Werkstatt herausgegangen! Aber ich will Ihnen ja gerne gefällig sein und in den Büchern nachschlagen. Cölestin‘, bring‘ das Kassabuch, das Maßbuch und das Bestellbuch her, aber schnell!“

Aus einem dunklen, anstoßenden Raum kam mit den Büchern ein auffallend häßliches, blatternarbiges Mädchen mit einer schiefen Schulter. Der Meister blätterte Seite um Seite, las zwanzig, dreißig Namen von Kunden vor, denen er um die angegebene Zeit orthopädische Schuhe geliefert hatte, bis er endlich achselzuckend sagte:

„Da ist einer ohne Namen. Am 19. Mai, Angabe von 50 Kronen erhalten für ein Paar Stiefel. Da im Maßbuch steht drin Größe 41, rechter Schuh um zwei Zentimeter erhöht.“ Der Meister lachte: „Komisch, da muß ich rein die Stiefel gemacht haben, ohne ein genaues Maß gehabt zu haben! Kommt nicht oft vor. Und da im Kassabuch können Sie es lesen: 25. Mai Rest auf ein Paar orthopädische Stiefel 300 Kronen erhalten. Also, da kann ich nur sagen, daß der Käufer mir seinen Namen nicht genannt hat, weil der sonst dabeistehen würde.“

Im dunklen Hintergrund lachte und gluckste es. „Was ist, Cölestin‘?“ rief der Vater barsch seiner Tochter zu, die dort stand und sich verlegen den breiten Mund mit der Schürze zuhielt.

Das Mädchen kicherte: „Vater, ich weiß ganz genau, wer die Stiefel damals bestellt und abgeholt hat.“

Finkelstein sprang auf das Mädchen zu: „Fräulein, ich bitte Sie, reden Sie nur, sagen Sie alles, was Sie wissen, es soll Ihr Schade nicht sein, ich wer‘ mich schon bei Ihnen revanchieren!“

Und Cölestine erzählte verschämt: „Weißt, Vater, ich war Ostern mit der Tant‘ im Prater und wir haben uns Karten aufschlagen lassen. Mir hat die Frau gesagt, ich tät‘ bald Namenstag haben, und wenn ich an dem Tag einen schönen Herrn sehen tät, so würd‘ ich großen Eindruck auf sein Herz machen. Na, und weil doch richtig bald darauf, am 19. Mai, mein Namenstag ist, da hab‘ ich halt ordentlich aufgepaßt, ob ich einen schönen Mann sehen möcht‘. Und richtig ist am Vormittag ein großer, schöner, feiner Herr gekommen, der für seinen Bruder, der hinken tut, ein Paar Stiefel bestellt hat. Er hat es sehr eilig gehabt und fünfzig Kronen beangabt und gesagt, er muß die Schuhe in zwei Täg‘ haben und es sollen Einundvierziger sein und der rechte höher. Und dann hab‘ ich ihn noch einmal gesehen, wie er die Schuh‘ geholt hat, und ich hab‘ mich gewundert, daß er sie selbst fortgetragen hat.“ „Ah, da schaut‘s her, was die Weibsbilder alles im Kopf haben, wenn es um einen schönen Mann geht,“ meinte der Meister schmunzelnd, aber Finkelstein hatte nicht die Nerven für neckische Unterhaltung.

„Fräulein, liebes Fräulein Cölestine, wie hat der Mann ausgesehen?“

„Na, schön war er halt und groß, ein bissel mager und schwarze Haar‘. Und Augen hat er Ihnen gehabt, ui je, Augen, daß es einem durch und durch gegangen ist.“

Mehr war aus Cölestine nicht herauszubekommen und Finkelstein vereinbarte nun für neun Uhr morgens des nächsten Tages ein Rendezvous, nachdem sie ihm hoch und heilig geschworen hatte, den schönen Mann bei Tag und Nacht immer wieder aus Tausenden heraus zu erkennen. Der Reporter raste nun ins Bureau, machte seinem Chef davon Mitteilung, daß er an einer Sensation arbeite, von der bald ganz Wien, nein, ganz Deutschösterreich — was heißt Deutschösterreich — die ganze Welt sprechen werde und schrieb dann an Kolo Isbaregg einen sehr höflichen Brief, in dem es nach den einleitenden Worten hieß:

„Ein scheinbar verarmter und heruntergekommener invalider Offizier namens Johann Liechtenfels bittet uns flehentlich, einen Aufruf an die Mildtätigkeit unserer Leser zu veröffentlichen und beruft sich dabei auf Sie, mit dem er zusammen im Felde gestanden haben will. Wir möchten seiner Bitte nicht willfahren, ohne von Ihnen eine Bestätigung seiner Angaben erhalten zu haben.“

Stolz auf seine Schlauheit, aber auch vollständig erschöpft, eilte dann Finkelstein zu Frau Selma Rosenzweig, um ihr in fliegender Hast und größter Aufregung die Erlebnisse dieses ereignisreichen Tages zu schildern.

Der Effekt seiner Mitteilungen war ein unerwarteter. Frau Selma klatschte nicht in die Hände vor Vergnügen, sie umarmte ihn nicht, nannte ihn nicht wie sonst, wenn er ihre Toilette besonders schwungvoll in der „Morgenpost“ geschildert hatte, „geliebtes Goldbubi“, sondern sie saß bleich, keuchend, zitternd da, starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und sagte dann tonlos:

„James, mir kommt ein grauenhafter Gedanke! Der Mann hat nicht nur mir meine Geldtasche gestohlen und den Geiger ermordet, er hat auch seine Frau umgebracht!“

Totenstille, Finkelstein stierte vor sich hin, um dann zu murmeln:

„Selma, das ist Unsinn, sie hat doch Selbstmord begangen!“

„James, woher weiß man das?“

„Nun, es ist ja ihr Abschiedsbrief gefunden worden! Sie hat sich mit Morphium vergiftet!“

„James, er hat sie umgebracht, sag‘ ich dir! Forsch‘ nach und du wirst sehen, ich hab‘ recht!“

Und Finkelstein sank ganz in sich zusammen und dachte nach und erblickte Sensationen vor sich, wie sie die Welt noch nicht erlebt, und er richtete sich hoch auf und schrie mit weit ausgreifender Gebärde:

„Selma, du kannst recht haben und dann bin ich ein gemachter Mann! Alle Kollegen werden zerspringen! Aber jetzt gib mir etwas Gutes zu essen!“


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