Hugo Bettauer
Faustrecht
Hugo Bettauer

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Neuntes Kapitel

An diesem Abend ging Fels, nachdem er das Souper mit Grace und Mister Kerens auf dem Dachgarten des St. Regis eingenommen hatte, in die untere Stadt, um in dem Viertel, das vorzugsweise von Österreichern und Ungarn bewohnt war, ein Kaffeehaus nach Wiener Art aufzusuchen. Am Vormittag war ein deutscher Schnelldampfer angekommen, der die Zeitungen mit sich geführt haben mußte, und Fels hielt sich gerne durch ein flüchtiges Durchlesen der Wiener Blätter auf dem Laufenden. Es war recht voll im »Café Austria« und ein undefinierbarer Geruch nach einem Gemisch von Gulyasch, Apfelstrudel, Melange und Virginiazigarren wurde durch die Windfächer umhergewirbelt. Fels sah mehrere bekannte Gesichter unter den Gästen, Leute, die nach dem Krieg ihr Fortkommen in der alten Heimat nicht mehr finden konnten und ausgewandert waren, um in Amerika ein noch erbärmlicheres Dasein zu führen; in einem Herrn erkannte Fels einen ehemaligen Wiener Advokaturskonzipienten, der seinem Chef mit zwanzigtausend Kronen durchgebrannt war, und als der Kellner auf Fels zutrat, um ihn nach seinen Wünschen zu fragen, fuhr er peinlich berührt zusammen. Dieser Kellner mit dem bleichen, müden, abgemagerten Gesicht war in demselben Bataillon, das Fels als Oberleutnant geführt hatte, Leutnant gewesen, ein schneidiger, mutiger Bursch, der mit Fels und später auch mit Dr. Bär zusammen oft genug geglaubt hatte, daß sie die nächsten Stunden nicht überleben würden. Als der Krieg ausbrach, war er noch ohne Beruf gewesen, da er eben erst das zweite Semester Juris hinter sich hatte. Und nun fand ihn Fels nach fast drei Jahren wieder als Kellner in einem schäbigen Lokal, in dem schwerlich die Stammgäste über so viel Wissen, Anstand und gute Erziehung verfügten wie der Kellner, der ihnen die heimatlichen Gerichte herbeischleppen mußte. Fels schwankte, ob er sich dem ehemaligen Kriegskameraden bemerkbar machen sollte. Schließlich tat er es doch, da er dachte, daß dem armen Kerl sein Mitgefühl dienlicher sein könnte als sein Taktempfinden. Aber er verschob dies auf später, wenn sich die Schar der Gäste gelichtet haben würde. Vorläufig versenkte er sich in die Lektüre der neuen Nummern der »Weltpresse«, und mit einem gewissen Behagen stellte er fest, daß ersichtlicherweise für ihn kein würdiger Ersatz gefunden worden war. Eben wollte er die letzte Nummer beiseite legen, als sein Auge noch über die »Personalnachrichten« glitt und an einer Notiz haften blieb: »Herr August Langer, Chef der Firma August Langer, Maschinenfabriksgesellschaft mit beschränkter Haftung, ist an einem Lungenspitzenkatarrh erkrankt und hat sich in die Kuranstalt Semmering begeben. Herr Langer wurde bekanntlich im Februar durch den gleichzeitigen Verlust seiner Gattin und Schwägerin, die beide auf noch unaufgeklärte Weise einem Raubmord zum Opfer fielen, schwer betroffen.«

Fels kaute an seiner Unterlippe, wie immer, wenn ihn Gedanken schwer beschäftigten, und starrte vor sich hin. Die Erinnerung an vergangene Tage, die nicht einmal ein halbes Jahr von heute trennte, stieg in ihm auf. Wenige Monate und doch eine Welt an Geschehnissen und Erlebnissen. Warum aber mußte diese Erinnerung gerade heute kommen, an diesem Tage, der ihm zum schönsten, freudigsten seines Lebens geworden war! Und die Schatten der Vergangenheit legten sich ihm schwer auf das Gemüt und verfinsterten die Sonne des Glückes, die ihn vor einigen Minuten noch umstrahlt hatte.

Mit einem energischen Ruck richtete sich Fels auf und seine Hand beschrieb einen Strich in der Luft, als würde sie damit gewaltsam ein Kapitel beenden, ein Schlußzeichen machen. Es war ein Uhr morgens geworden, das Lokal fast leer, nur einige unermüdliche Poker- und Tarockspieler schlugen an zwei Tischen noch ihre Karten heftig auf das grüne Tuch. Der Kellner aber stand an die Kassa gelehnt und blickte aus den müden Augen teilnahmslos vor sich hin. Fels rief ihn durch ein leises Klopfen an das Glas zu sich. In einem grotesk schlechten Englisch fragte der Kellner nach den Befehlen des Gastes. Fels sah ihm voll ins Gesicht und erwiderte deutsch:

»Wir sind nicht im Schützengraben, lieber Winzer, und ich habe Ihnen nichts mehr zu befehlen.«

Sprachlos starrte ihn der Kellner an, dann ging eine Blutwelle über das hübsche, intelligente Gesicht, und er stammelte die Worte hervor:

»Himmel, Fels, du bist – Sie sind es?«

»Das ›Sie‹ möchte ich mir ausgebeten haben! Wir waren ›du‹ im Schützengraben, auf Retablierung und in der Etappe, und so bleibt es auch heute dabei.«

Wie ein Schluchzen kam es aus der Kehle des Kellners: »Oh, wenn wir doch noch im Schützengraben wären! Wie herrlich war diese Zeit mit ihren Gefahren und Entbehrungen, verglichen mit dem Heute! Für mich wenigstens, – für Sie – –«

»Für dich meinst du wohl!«

»Also für dich scheint es ja heute besser zu sein als damals.« Und ein prüfender Blick voll Neid und Schmerz glitt über den eleganten, hell gekleideten Gast.

»Ja, da hast du recht, mir geht es gut, viel besser sogar, als ich es eigentlich verdiene, während es dir ja nicht gelungen zu sein scheint. Aber bitte, übergib deine Ledertasche irgend einem der Kerle, die hier herumstehen, und setze dich als Gast zu mir, oder, besser noch, wir suchen ein anderes Lokal auf.«

Das war rasch geschehen. Winzer rechnete mit einem »Kollegen« ab, vertauschte das Kellnersakko mit einem Rock, dem man die Schicksale seines auf die Rutschbahn geratenen Besitzers unschwer anmerkte, und nach wenigen Minuten saßen die Freunde im »Little Hungary«, einem von der vornehmen Lebewelt frequentierten ungarischen Weinlokal, vor einem kalten Imbiß und einer Flasche Sekt. Und Winzer erzählte:

»Mein Schicksal ist so banal, wie das von tausend anderen. Nach deiner Enthebung im Jahre neunzehnhundertsiebzehn blieb ich draußen, machte die siegreiche Offensive im Herbst mit, bezog im Winter wieder eine Stellung in den Bergen, entkam bei der mißglückten Frühjahrsoffensive wie durch ein Wunder dem sicheren Tod und geriet zum guten Schluß bei dem Zusammenbruch im November neunzehnhundertachtzehn noch in Kriegsgefangenschaft. Es gelang mir aber, zu entfliehen, und zu Weihnachten war ich wieder in Wien. Was sollte ich nun anfangen? Als der Krieg ausbrach, war ich dreiundzwanzig Jahre alt und nun beinahe achtundzwanzig. Mein alter Herr konnte bei der rasenden Teuerung mit seiner Pension gerade mit Anstand verhungern. Vom Weiterstudieren war keine Rede, alle in Betracht kommenden Stellungen waren besetzt, Zivilkleider hatte ich keine, mein ganzes Gepäck nahmen mir bei der Heimfahrt die wackeren Jugoslawen ab, der Mann meiner Schwester war in russischer Kriegsgefangenschaft gestorben und das arme Mädel mußte froh sein, sich als Stenotypistin ihr Brot verdienen zu können, – das also war die Heimat, die mich begrüßte. Im Frühjahr starb mein Vater in Graz, – an Altersschwäche behauptete der Totenschein, an Unterernährung in Wirklichkeit, und jetzt band mich nichts mehr an das Vaterland. Ich pumpte mir bei einigen Tanten und Onkeln ein paar Tausender zusammen und fuhr eines Tages nach Amerika, wo ich ohne Kenntnis der englischen Sprache mit ganzen hundert Dollars ankam. Das andere kannst du dir denken. Um fünf Uhr morgens stand ich Tag für Tag vor der ›Staatszeitung‹, um die ausgeschriebenen Stellen zu studieren, und konnte nichts finden. Immer war schon ein anderer genommen worden, gleichgültig, ob ich mich um einen Posten als Geschirrabwascher oder als Nachtwächter in einem Warenhaus bewarb. Bis ich auf der Straße lag, ohne Geld, ohne Obdach, ohne Aussichten. Im ›Café Austria‹ hatte ich, solange ich noch einen Dollar besaß, als Gast verkehrt, und als ich mich nach meiner ersten obdachlosen Nacht im Zentralpark dorthin begab, um einen Kaffee schuldig zu bleiben, da sah mir der Wirt, Herr Janowitzer, unschwer mein ganzes Elend an und rettete mir vielleicht das Leben, indem er mich aufforderte, bei ihm als Hilfskellner zu bleiben. Das ist nun schon nahezu zwei Jahre her, ich habe satt zu essen, verdiene gerade genug, um mir ein anständiges, sauberes Zimmer leisten und an meinem freien Tag ein Bad aufsuchen zu können, und wenn ich mein zwanzigjähriges Kellnerjubiläum feiern werde, wird die ›Staatszeitung‹ sicher im Abendblatt mein Bild bringen. Vorausgesetzt, daß ich nicht bald wieder stellenlos bin, denn der Herr Janowitzer will verkaufen, und es fragt sich sehr, ob mich ein neuer Besitzer nicht hinausschmeißt.«

Fels hatte schweigend zugehört, nur bei den letzten Worten leuchtete es in seinen Augen auf. Er zahlte rasch und führte Winzer, während er in großen Zügen von seinen Schicksalen erzählte, zurück in das »Café Austria«.

»Komm noch hinein, ich habe etwas vergessen.« Der Wirt, Herr Janowitzer, war eben damit beschäftigt, den letzten spielenden Gästen heftig zuzureden, endlich schlafen zu gehen, als Fels mit seinem Kellner eintrat. »Herr Janowitzer,« wandte sich Fels an ihn, »bevor Sie selbst schlafen gehen, möchte ich gern noch ein kleines Geschäft mit Ihnen besprechen. Ich höre, daß Sie das ›Café Austria‹ verkaufen wollen?«

»Jawohl,« antwortete der behäbige Wiener Cafetier mit einem erstaunten Blick auf seinen Kellner.

»Gut; ich verstehe unter Verkauf die Übertragung der Lizenz, Übergabe des Lokales samt Einrichtung, Geschirr, Wäsche und so weiter und die Verpflichtung, in einem Umkreis von einer Meile nach allen vier Richtungen innerhalb der nächsten fünf Jahre kein anderes Kaffeehaus zu errichten, noch sich an einem solchen direkt oder indirekt zu beteiligen. Wie hoch wäre unter solchen Umständen die Verkaufssumme?«

Der Wirt überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Zehntausend Dollar, aber bar innerhalb vierundzwanzig Stunden auszuzahlen.«

»Viel Geld, aber ich mache das Geschäft. Bitte um Tinte und Papier, damit wir den Kaufvertrag sofort festlegen.«

Herr Janowitzer schüttelte vollständig verwirrt den Kopf, Winzer starrte verblüfft drein, aber schon war in wenigen Worten der Vertrag entworfen, Fels schrieb einen Scheck von zehntausend Dollar auf die Nassau-Bank aus und damit war er Besitzer des gutgehenden »Café Austria« geworden. Nicht für mehr als zehn Minuten, denn er nahm noch einen Bogen Papier und beschrieb ihn hastig mit großen, steilen Worten und überreichte ihn dann dem Freund. Es war eine schriftliche Schenkung, die nun Winzer zum Alleinbesitzer des Lokales machte. Fels verhinderte, als sie wieder auf der Straße waren, jede Dankeskundgebung, indem er hastig seine Idee auseinandersetzte.

»Siehst du, mein lieber Junge, ich hätte dir ja einfach Geld schenken können, mit dem du sicher bald fertig geworden wärest. Oder ich hätte dir durch meine Beziehungen irgend eine Stelle als Clerk mit fünfzehn Dollar verschaffen können, knapp genug, um nicht zu verhungern. Da ich dir aber für eine solche Stellung keinerlei Talent zumute, so würdest du sie früher oder später wieder verloren haben, keinesfalls hätte eine gute Zukunft dabei herausgeschaut. Cafetier sein, ist aber für einen intelligenten, gebildeten Menschen, der so wie du durch widerwärtige Umstände das Geschäft gründlich erlernt hat, etwas sehr Leichtes, nebenbei etwas Honoriges und sehr Aussichtsreiches. Wenn du fleißig bist und deine Phantasie spielen läßt, so kannst du sogar Millionär werden, um was ich dich dringend bitten möchte. Ich würde die Sache so anpacken: Langsam, aber sicher, immer feinere Speisen servieren, den Bierausschank einstellen und nur mehr Wein halten, ein paar kräftige Inserate aufgeben, ein gutes Wiener Quartett engagieren und auf ja und nein kommen die vornehmen Leute zu dir und dann bist du ein gemachter Mann. Bereite jetzt im Sommer alles vor, im Herbst werde ich dich dann unterstützen können. Und nun leb' wohl, alter Junge, ich will schlafen gehen.« Bevor Winzer, der noch immer wie im Traume einherging, etwas erwidern konnte, hatte sich Fels auf eine Trambahn geschwungen.

Winzer befolgte die Ratschläge des Freundes buchstäblich und fuhr gut dabei. Als Fels im Herbst wieder nach New York kam, lotste er nicht nur Grace und ihren Papa, sondern auch sonst die feudalste Gesellschaft, die er zusammentrommeln konnte, in das »Café Austria« und auf seine Veranlassung erschienen in der »World«, im »Herald« und in der »Sun« mehrfache Notizen, die das bescheidene Lokal in der Zweiten Avenue als Rendezvousort der oberen Vierhundert schilderten und die Anwesenheit dieses und jenes Plutokraten, einmal sogar des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, feststellten. Damit war das Glück Winzers gemacht. Bis in die Morgenstunden floß im »Café Austria« der Sekt in Strömen, und die Tageslosungen gingen oft in die Tausende. Ein paar Jahre noch und Winzer hatte wirklich alle Aussicht, Millionär zu werden.

Fels fuhr nicht mit Grace in die Berge, sondern begab sich nach dem Westen, um das wirkliche Amerika kennen zu lernen. Er bummelte durch Chicago und stellte fest, daß dies die abscheulichste und wüsteste Großstadt der Welt sei, er konnte dem Niagarafall durchaus keine Begeisterung abgewinnen, da er ihn zu sehr an die Budenwunder des Praters erinnerte, er sauste im Expreßzug mit hundertzwanzig Kilometer Geschwindigkeit in der Stunde nach der pazifischen Küste, wo er in San Francisco und in Los Angeles Ansätze zu einer eigenen amerikanischen westlichen Kultur entdeckte, und durch den hohen Norden Kanadas kehrte er im September nach New York zurück, wo inzwischen Grace schon eingetroffen war. Während der ganzen Reise aber war er von zwei Gedanken beherrscht gewesen: Der Sehnsucht nach Grace und dem unklaren Empfinden, daß er bald nach Wien zurückkehren müsse. Eine geheimnisvolle Macht, ein seltsamer, ihm unerklärlicher Magnetismus zog ihn dorthin zurück. Er sehnte sich durchaus nicht nach Wien, aber es war ihm, als ob er gegen seine Bestimmung verstoße, wenn er nicht so rasch als möglich in die Stadt zurückkehren würde, in der alles, was sein Schicksal ausmachte, entstanden und geworden war.

Den ganzen Herbst verbrachte Fels in fast ununterbrochener Gemeinschaft mit Grace, mit der er sich von Tag zu Tag inniger verwachsen, unlösbar verbunden fühlte. Und Grace konnte in seinen Armen ganz zum hingebenden Weibe werden, das an Selbstbestimmungsrecht und Stolz vergaß. In den nüchternen, ruhigen Stunden aber wich und wankte sie von ihren Überzeugungen nicht, daß diese Art des ungebundenen Zusammenlebens die einzige sei, die ihrem Wesen entspräche. Fels versuchte sie in dieser Beziehung nicht mehr zu beeinflussen, um so mehr aber Herr Kerens. Er verlangte eines Tages fast kategorisch, daß Grace entweder den Verkehr mit Fels abbrechen oder aber sich mit ihm verheiraten möge. Grace hörte ihn ruhig an und erwiderte dann mit jener eisernen Ruhe, die ihr Vater als Zeichen ihres absoluten Willens kannte:

»Schau, Papa, wir sind bisher gut miteinander ausgekommen, nicht wahr? Ich kenne dich als den zärtlichsten aller Väter, und du weißt, daß ich deine Gesellschaft abends der aller anderen Leute vorziehe. Bringe also keinen Mißton zwischen uns. Ich werde nicht heiraten und den Verkehr mit Fels auch nicht aufgeben. Zwingen lasse ich mich weder zu dem einen noch zu dem anderen. Ich kann nicht dein Leben und nicht das der Frau X. und des Herrn Y., die sich über mich chokieren mögen, führen, sondern nur mein eigenes. Und mein Leben ist mir so, wie es jetzt ist, am liebsten und angenehmsten.«

Herr Kerens schwieg und kam auf seine Bitte nicht mehr zurück.

Fels und Grace hatten nunmehr folgendes für die Zukunft beschlossen: Fels sollte in den ersten Dezembertagen Amerika verlassen und nach Wien fahren, während Grace Weihnachten und Neujahr bei ihrem Vater in New-Orleans bleiben und dann den Karneval mit ihrem Freunde in Wien verbringen würde.

 


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