Hugo Bettauer
Faustrecht
Hugo Bettauer

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Zehntes Kapitel

Am selben Abend verkündigte die offizielle Polizeikorrespondenz den Entschluß des Polizeipräsidiums, Holzinger weiterhin in Haft zu belassen, da auch die Aussage des Grazer Herrn kein einwandfreies Alibi bilde. »Im Gegenteil,« hieß es in dem Bericht, »die Polizei weiß jetzt genau, daß sich Holzinger um dreiviertel zwei Uhr nachts, also genau fünfunddreißig Minuten, bevor der Mord begangen wurde, von der Inneren Stadt aus irgendwohin begeben hat, denn er rief ›Zahlen!‹, als Herr Pichler das Kaffeehaus verließ, und es ist anzunehmen, daß auch er innerhalb der nächsten fünf Minuten fortging. Auf dem Graben wimmelt es von Automobilen und Holzinger kann eines benützt haben, um in die nächste Nähe der Kastanienallee zu gelangen. Angenommen, er habe sich um ein Uhr fünfzig Minuten in ein Auto gesetzt, so ist er längstens um zwei Uhr fünf Minuten in nächster Nähe der ›Villa Mabel‹, um zwei Uhr zehn Minuten vor ihrem Tor gewesen. Ein mit der Örtlichkeit vertrauter Verbrecher, dem sich keinerlei Hindernisse entgegenstellten, brauchte aber nicht einmal die noch vorhandenen zehn Minuten, um seine Tat zu begehen. Es ist daher nicht einzusehen, warum Holzinger jetzt entlastet erscheinen sollte. Es wäre dies erst dann der Fall, wenn es bewiesen ist, daß Holzinger sich vom ›Grabencafé‹ direkt nach seiner Wohnung begeben habe.«

Ein Kampf von äußerster Schärfe begann zwischen der »Weltpresse« und der Polizei, bei dem ganz Wien Auditorium war und der Zeitung Beifall klatschte. Fels schrieb täglich für das Abendblatt und das Morgenblatt polemische Artikel, in denen er mit dem äußersten Aufwand an Logik und Verstandesschärfe das Vorgehen der Polizei als unerhörten Mißgriff, die Haft Holzingers als schweren Rechtsbruch darstellte. Da die Polizei ein- für allemal das Alibi Holzingers nicht gelten lassen wollte, so begann Fels, um die Leser nicht zu ermüden und das Interesse des Publikums nicht abflauen zu lassen, sich mehr mit den Konsequenzen des zweifachen Mordes zu beschäftigen. »Wohin hat der Mörder seinen Raub getan?«, schrieb Fels in einem großen Artikel. »Nehmen wir an, der unglückliche Holzinger wäre der Mörder. Wohin sind dann die kostbaren Perlen, wohin die Broschen und Ohrringe, wohin die zwanzig Ringe und wohin der beispiellos schöne und große Smaragd gekommen? Bei Holzinger wurden sie nicht gefunden, verkauft konnte er sie nicht haben, also wo sind die Juwelen? Will die Polizei vielleicht gar leichtgläubigen Menschen einreden, daß dieser stille, bescheidene Jurist mit einem ganzen Verbrecherapparat, mit Komplicen arbeitete, die den Raub in Sicherheit gebracht haben? Nein, die Polizei wagt selbst eine solche Annahme nicht, denn in dem Akt Holzinger, den jetzt der scharfsinnige und kluge Kriminalkommissär Dr. Heinrich Bär dem Landesgericht vorgelegt hat, wird betont, daß er das grauenhafte Verbrechen als das Resultat einer plötzlichen Eingebung, entstanden durch das Verzweifeln Holzingers an seiner Zukunft, betrachte. Eine plötzliche Eingebung, der Verzweiflungsakt eines unglücklichen Menschen schließt aber Komplicen, Spießgesellen, eine Vorbereitung von langer Hand aus. Ich frage also nochmals, wo hat der angebliche Mörder Holzinger die geraubten Juwelen hingetan? Erst wenn diese Frage beantwortet ist, hat die Polizei ein gutes Recht, den unbescholtenen, gebildeten Mann, nach dem eine alte Mutter und ein zartes, junges Mädchen weinen, als Mörder zu betrachten.«

Ein anderer Artikel beschäftigte sich wieder mit dem Verbrechen an sich.

»Die Polizei muß wissen, daß das Verbrechen in der ›Villa Mabel‹ durchaus nicht die Tat eines Zufallsmörders sein kann, sondern nur die Tat eines raffinierten Verbrechers, der nach festen Plänen und bewährten kriminalistischen Prinzipien vorgegangen ist. Auf welche Weise hätte ein ›Amateur‹, wenn man dieses spielerische Wort in diesem Falle überhaupt anwenden darf, den Mord begangen? Er hätte sich in aller Eile einen Dolch, ein langes, scharf geschliffenes Messer besorgt und damit seine Opfer getötet, indem er ihnen die Gurgel abgeschnitten oder den Stich ins Herz versetzt hätte. Oder er würde sich einen schweren Hammer gekauft und die Schädeldecke der Frauen zertrümmert haben. Um sich dadurch unfehlbar zu verraten. Denn vergossenes Blut enthält eine getreue Photographie des Mörders. Nichts auf der Welt ist so beredt wie Blut, nichts schreit so laut wie Blut. Blut bespritzt den Täter und verrät ihn noch nach Monaten und Jahren, Blut hinterläßt Fingerabdrücke und vor dem fließenden und schwimmenden Blut verliert der kaltblütigste Mörder die ruhige Besinnung. Und je sorgsamer man die Blutspuren vertilgen will, um so vielfältiger und heimtückischer werden sie.

Das alles muß der Mörder aus der ›Villa Mabel‹ nur zu gut gewußt haben und er hat nicht gestochen und nicht geschlagen, sondern gewürgt. Gerade diese Art des Tötens, die keine Spuren hinterläßt, wird, wie die Kriminalchronik beweist, nur von erprobten, erfahrenen Mördern in Anwendung gebracht. Der ›Amateur‹ würgt sein Opfer nicht, weil ihm vor der unmittelbaren Berührung graut und er sich nicht die physische und moralische Kraft zutraut, die, wie er meint, erforderlich ist, um einen Menschenhals zu umspannen und zu erdrücken.

An zwei Dingen ist nicht zu zweifeln:

1. An der Richtigkeit der polizeilichen Behauptung, daß, falls Holzinger der Mörder ist, er die Tat nur unüberlegt, einer plötzlichen Eingebung der Verzweiflung folgend, begangen hat.

2. Der Mord in der ›Villa Mabel‹ wurde von einem raffinierten, mit allen Finessen des Verbrechertums wohlvertrauten Übeltäter vorbereitet und begangen, und jeder zehnjährige Volksschüler wird sagen, daß Punkt 1 und Punkt 2 einander ausschließen.«

 


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