Hugo Bettauer
Faustrecht
Hugo Bettauer

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Zweites Kapitel

Im Wettrenntempo rasten Fels und Miß Kerens über Deck, sehr zum Ärger älterer Damen und Herren, die behäbig ihre Verdauungspromenade absolvierten und jedesmal zur Seite flüchten mußten, wollten sie nicht umgerannt werden. Fels befragte das Mädchen, das nur um ein geringes kleiner war als er, nach dem Eindruck, den es von Wien erhalten hatte. Grace erklärte, von Wien entzückt zu sein, erzählte von einigen Faschingsunterhaltungen, den ersten nach dem Kriege, die sie in Wien mitgemacht hatte, und wußte von verschiedenen Persönlichkeiten in grotesker, karikaturenhafter Weise zu erzählen. Plötzlich, fast mit einem Ruck blieb Fels stehen und stellte ganz unvermittelt die Frage:

»Sie waren also im Februar in Wien, da haben Sie ja sicher auch von dem Mord gelesen, dem zwei Frauen zum Opfer gefallen sind?«

Grace bejahte und gestand, daß dieses eigenartige, düstere Verbrechen ihr ganz besonderes Interesse erregt hatte. Sie zeigte sich auch über alle Phasen der Sensationsaffäre genau unterrichtet. »Nur der Schluß,« meinte sie, »hat mich eigentlich enttäuscht. Immer dachte ich, daß sich das Rätsel der ›Villa Mabel‹ in ganz seltsamer, unerhörter Weise lösen würde, und nun hat sich herausgestellt, daß ein ganz gewöhnlicher Zuchthäusler die Tat begangen hat.«

»Da sind Sie aber nicht genau unterrichtet und Sie haben wohl vor Ihrer Abreise Wiener Zeitungen nicht mehr gelesen, sonst wüßten Sie, daß die ganze Angelegenheit furchtbar verwickelt und mysteriöser ist, als jemals zuvor. Holzinger ist unschuldig, das ist erwiesen, dieser alte Zuchthäusler Schmiedeisen aber hat die Frauen ebenfalls nicht ermordet und steht mit dem Morde auch kaum in irgend einem Zusammenhang. Übrigens habe ich den Kriminalkommissär Doktor Bär, der die ganze polizeiliche Untersuchung leitet und mit dem ich befreundet bin, in Berlin, an dem Tage, bevor ich nach Hamburg fuhr, getroffen, und von ihm weiß ich mehr, als in den Zeitungen veröffentlicht worden ist.«

Mit großen, neugierigen Augen sah Grace den ehemaligen Journalisten an, der von Stunde zu Stunde mehr die Rolle ihres entschiedenen »Flirts« zugewiesen erhielt, und rief beschwörend:

»Lieber Mister Fels, Sie müssen mir das ganz genau erzählen, ich komme schon vor Neugierde um.«

Fels führte sie bis an die Spitze des Riesenschiffes, und während sie in den weißen Gischt, den der Bug in die Wogen schlug, sahen, erzählte er von der neuesten Phase des Mordes in der »Villa Mabel«:

»Also, Sie wissen ja, daß Holzinger durch zwei voneinander ganz getrennte Momente vollständig und lückenlos entlastet worden ist, während man bei der Verhaftung des Verbrechers Schmiedeisen, der erwiesenermaßen und nach seinem eigenen Geständnis den Trödler Goldblatt in der Schönbrunnerstraße ermordet hat, den köstlichen Smaragd aus dem Besitze der Frau Mabel Langer fand. Damit schien erwiesen, daß Schmiedeisen auch diesen Mord begangen habe oder wenigstens als Helfershelfer und Hehler mitschuldig sei. Während aber Schmiedeisen, der sein Leben ohnedies verwirkt sah, die Ermordung des Trödlers und einige Dutzend Einbrüche gestand, leugnete er auf das heftigste, von der Ermordung der zwei englischen Damen etwas zu wissen, geschweige denn mit dieser Tat irgendwie in Verbindung zu stehen. Doktor Bär setzte ihm furchtbar zu, unterzog ihn fünfstündigen Verhören, versprach ihm die enormsten Quantitäten Schnaps, wenn er gestehen würde, – alles war vergebens, Schmiedeisen erklärte immer wieder, an dieser Sache unschuldig zu sein wie ein neugeborenes Kind.

Nach der neuen Strafprozeßordnung Deutschösterreichs kann man niemanden mehr, wie früher, monatelang in Untersuchungshaft belassen, sondern muß ihn in kürzester Zeit den Geschworenen überweisen. Doktor Bär war der Verzweiflung nahe. Der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt drängten unaufhörlich und die Polizei hatte gegen Schmiedeisen wohl genug Anklagematerial, um das Todesurteil, das man infolge der Zunahme schwerer Verbrechen wieder hatte einführen müssen, gegen ihn zu erwirken, aber nicht in dem zweiten Mordfall an den beiden Frauen. Darüber lag gegen Schmiedeisen nichts vor als der Besitz des Smaragdes, und daraufhin konnte er unmöglich verurteilt werden. Er wäre von den Geschworenen in diesem Punkte freigesprochen worden und damit das Rätsel der ›Villa Mabel‹ ungelöst geblieben.

In dieser prekären Situation hatte Bär einen an sich sehr guten Einfall. Nach einer kurzen Unterredung mit dem Staatssekretär des Justizwesens ließ er sich Schmiedeisen abermals vorführen und sicherte ihm für den Fall eines vollen Geständnisses die Rettung vor dem Galgen zu, das heißt, er erklärte sich bereit, ihm zu garantieren, daß er wenige Tage nach dem Schuldspruch der Geschworenen zu zwanzigjährigem Kerker begnadigt werden würde. Schmiedeisen blieb auf diese Eröffnung hin einige Minuten stumm wie ein Grab, während seine Augen freudig aufleuchteten, und dann erklärte er sich bereit, unter solchen Umständen einzugestehen, daß er auch den Doppelmord an den beiden Frauen in der ›Villa Mabel‹ begangen habe. Doktor Bär atmete erleichtert auf, ließ den Protokollführer kommen und das Verhör begann. Die einleitenden Worte des Johann Schmiedeisen lauteten:

›Ich, Johann Schmiedeisen, geboren am ersten August 1870 zu Ottakring bei Wien als Sohn der ledigen Fanni Schmiedeisen, gebe hiermit freiwillig und ohne Zwang, lediglich um mein Gewissen zu erleichtern, zu, daß ich in der Nacht vom fünften zum sechsten Februar dieses Jahres in der ›Villa Mabel‹ im Cottage die Frauen Mabel Langer und Kathleen Mac Lean ermordet habe.‹

So wie ich Ihnen das erzähle, Miß Grace, klingt das ja ganz einfach, aber Doktor Bär versicherte mir, daß die Niederschrift dieses einen Satzes eine halbe Stunde gedauert habe. Es stellte sich nämlich heraus, daß Schmiedeisen keine Ahnung hatte, in welcher Nacht, in welchem Hause, in welcher Straße und an welchen Frauen er den Mord begangen. Auch weiterhin mußte jedes Wort aus ihm herausgezogen werden, und nach einer Stunde endigte die Geschichte damit, daß Doktor Bär, der sonst die Geduld und Ruhe selbst ist, plötzlich wie ein Rasender aufsprang, dem Kerl eine furchtbare Ohrfeige gab und dabei die klassischen Worte ausrief:

›Sie infamer Lügner, Sie wissen ja überhaupt von dem Mord gar nichts!‹

Und so war es auch. Schmiedeisen hatte sich in einen Widerspruch nach dem anderen verwickelt und ein sogenanntes ›Geständnis‹ abgelegt, das klipp und klar bewies, daß er tatsächlich Näheres von dem Morde in der ›Villa Mabel‹ nicht ahnte. Die Ohrfeige tat aber ihre Wirkung; heulend gab Schmiedeisen zu, gelogen und ein Geständnis erfunden zu haben, um begnadigt zu werden.

Nun allerdings gab mein Freund die Geschichte als aussichtslos auf. Schmiedeisen wurde nur wegen des Mordes in der Schönbrunnerstraße unter Anklage gestellt; wenige Tage, bevor wir Europa verließen, fand die Verhandlung statt, die natürlich mit seiner Verurteilung zum Tode endete. Unmittelbar nach Fällung des Urteiles suchte Bär den Mann in seiner Zelle auf und zerknirscht und gebrochen schwur Schmiedeisen wieder, daß er keine Ahnung habe, auf welche Weise die Smaragdnadel in seine Tasche gekommen sei. Es war der Schwur eines mehr Toten als Lebendigen; denn eine halbe Stunde, nachdem Doktor Bär den Mann verlassen hatte, gelang es diesem, sich an einem aus seinem Hemd gedrehten Strick zu erhängen. Sie sehen also, das Rätsel der ›Villa Mabel‹ hat seine Lösung noch immer nicht, weder in banaler noch in anderer Weise, gefunden.«

»Was mich eigentlich sehr freut,« erwiderte Grace nachdenklich, indem sie Fels ansah; »Rätsel, deren Lösung die ganze Welt kennt, mag ich nicht, wohl aber würde ich viel dafür geben, wenn ich allein den Schlüssel hätte und allein den Mörder kennen würde.«

 


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