Hugo Bettauer
Das blaue Mal
Hugo Bettauer

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Der November war gekommen und Carlo saß, trotzdem ein feiner Sprühregen fiel, auf einer Bank im Battery-Park. Äußerlich vernachlässigt, unrasiert, den Rock hochgeschlagen, weil er keinen Kragen trug. Seit seinem tragischen Abgang von der »International Book Company« hatte er Arbeit nicht mehr gefunden, auch kaum noch gesucht, da er ja doch wußte, daß nirgends unter Weißen lange seines Bleibens sein würde. Als die paar Dollars aufgebraucht waren, verkaufte er nach und nach alles an Kleidungsstücken, was er noch am Leibe trug, sein toilette necessaire, zwei Paar Schuhe, einige deutsche und französische Bücher, die er aus Wien mitgebracht, weil er sie liebte, schließlich sogar seinen Rasierapparat. Nur die kleine Styria-Repetierpistole besaß er noch, und von ihr wollte er sich unter keiner Bedingung trennen, weil sie ihm als letzter Ausweg erschien. Heute morgen hatte er die letzten fünf Cent für eine Tasse Kaffee ausgegeben und nun stand er fröstelnd und hungrig auf, um sich irgendwie zu sättigen.

Die Schliche der Arbeitslosen kannte er längst, wußte, wie sich der Vagant, ohne verhungern zu müssen, durchschlug. An mehreren Biersalons schlich er vorbei, spähte hinein, bis er einen fand, der so voll war, daß er sein Vorhaben ruhig ausführen konnte. Er betrat den großen, ausschließlich von Männern erfüllten Raum. An der Bar tranken die Leute ihr schäumendes Bier oder ihren Whisky mit Soda, dann gingen sie zu dem Büfett gegenüber der Bar, belegten Brotschnitte, die in Körben lagen, mit Wurstscheiben, Käse, Heringsstücken, aßen so viel, als sie wollten, um dann abermals an der Bar ein Bier zu trinken oder fortzugehen. Amerikanischer Freilunch, den die Brauereien den Kneipen liefern, damit die Gäste durch das scharfe, minderwertige Zeug Durst bekommen. Immerhin eine wahre Wohltat für den, der nur fünf Cent besitzt und sich mit seinem Glas Bier am Freilunch sättigen will.

Carlo mischte sich in das Gedränge um die Bar, machte dann kehrt und ging zum Büfett, wo er in aller Ruhe etwa zehn Brote mit Wurst und Käse herunterschlang.

Nun war er satt, wenn auch sicher nicht auf lange, den brennenden Durst konnte er an einem Brunnen am Batterypark löschen und dann stadtaufwärts bis zum »Cooper Union Institut« auf zerrissenen Stiefelsohlen wandern und dort im großen Bibliotheksaal sich hinter Büchern und Zeitschriften vergraben, bis es sechs Uhr wurde.

Nochmals einen Saloon aufgesucht, dort nach spärlichen Käseresten gefahndet und dann hinunter den langen Weg nach dem Hotel St. Helena.

Als Carlo sich an der Office des Hotels vorbeischleichen wollte, um todmüde seine Kammer aufzusuchen, wurde er angehalten. Breitspurig stand der Clerk vor ihm.

»Mister Zeller, tut mir leid, Sie haben kein Zimmer mehr bei uns. Seit acht Tagen haben Sie nicht gezahlt, Sachen haben Sie nicht, Ihren leeren Koffer halte ich zurück als Deckung für die acht Dollar, die Sie uns schulden!«

Carlo wollte um Aufschub bitten, Vorstellungen erheben, darauf hinweisen, daß er zwei Monate hindurch regelmäßig gezahlt habe, aber er brachte kein Wort hervor, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, achselzuckend machte er kehrt und ging in den grauen Abend hinaus.

Während er müde und planlos durch die jetzt menschenleeren Straßen der unteren City ging, fühlte er von Zeit zu Zeit nach der rückwärtigen Hosentasche, in der seine Pistole verborgen war. Er kam an einem hellerleuchteten Trödlerladen vorbei und blieb stehen.

Für die Pistole würde ich zwei Dollar bekommen. Könnte in einer Herberge ein Bett mieten, mich morgen satt essen und würde abends genau so dastehen wie heute! Nein, in dieser bösen, feindseligen Welt ist die Pistole mein letzter Freund. Von ihm trenne ich mich erst dann, wenn sie ihre Pflicht getan und mir aus der kalt gewordenen Hand fällt.

Er ging westwärts zu dem Handelskai am Hudson. Eben wurde ein Frachtschiff beladen. Männer rollten schreiend und fluchend Ballen und Kisten zum Kran, der zehn, zwölf davon auf einmal, zu einem mächtigen Bündel verschnürt, hob, kreischend in die Luft schwenkte und dann mit einer Wendung in den Bauch des Schiffes gleiten ließ.

Am mächtigen Tor des Güterschuppens hing ein Zettel: »Morgen früh Abfahrt des ›S. S. Missouri‹ nach Rotterdam. Heizer werden noch angenommen. Freie Fahrt und zwanzig Dollar.«

Atemlos stierte Carlo die Inschrift an.

Er mit seinen jungen, gestählten Kräften würde die Höllenarbeit bei den Kesseln vielleicht überstehen. Und zwanzig Dollar – damit konnte er in Rotterdam einen Anzug kaufen und bequem nach Wien fahren.

Was aber dann? Was würden seine Freunde sagen, wenn er verkommen, schäbig, zugrunde gerichtet mit rissen Händen und mageren Gliedern vor ihnen stehen und sie um Hilfe bitten würde?

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nein, lieber hier verrecken wie ein Hund, als in dem üppigen, schwelgerischen Wien als Bettler von der Gnade anderer leben zu müssen.

Carlo stieg eine Steintreppe hinunter, die zum Wasser führte, und sah in die schlammigen, schwarzgrauen Fluten, die dem Meere zubrausten.

Wenn ich mich vornüber beuge und mir eine Kugel in die Schläfe jage, so ist alles vorbei. Ein Nigger weniger auf der Welt, das ist alles!

War es seine erregte Phantasie, war es Wirklichkeit? Die Wellen rissen eine Leiche mit sich, die Leiche eines Mannes mit ausgebreiteten Armen. Von Grauen erfüllt, beugte sich Carlo weiter vor, sah ein grünlich aufgedunsenes Gesicht mit aufgerissenen Augen, sah die schlammigen, weißen Haare, den offenen Mund.

»Nein, das doch nicht,« murmelte Carlo vor sich hin, »dazu habe ich noch Zeit, morgen, übermorgen, wenn ich nicht mehr weiter kann!«

Dunkle Nacht, frisch einsetzender Regen mit Flocken vermischt. Dumpfes Kältegefühl ließ Carlo rascher gehen, fast laufen. Er rannte stadtaufwärts, kam zur Welt Houston Street, richtete instinktiv, von seltsamer Neugierde getrieben, die Schritte den Straßen zu, die, wie er wußte, fast ausschließlich Neger beherbergten.

Mein Volk, dachte er hämisch grinsend, die Menschen, zu denen ich gehöre, unter denen ich, wenn ich nur wollte, sicher ganz gut mein Leben fristen könnte.

Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Wohin gehört der Mensch? Dorthin, wo er von den anderen gestellt wird. Nun, hier stellt man mich zu den Farbigen. Also gehöre ich von Rechts wegen zu ihnen, ist es vielleicht nur kindischer Hochmut, wenn ich trotze und zu denen will, zu denen ich nicht gehöre. Wie wäre es, wenn ich morgen zu einer der Zeitungen der Farbigen gehen und ihr meine Dienste anbieten würde? Neger, die so gebildet sind wie ich, wird es nicht viele geben, wahrscheinlich würde ich mit offenen Armen aufgenommen werden!

Aber diese Gedanken waren spielerisch angeflogen und Carlo lächelte über sie hinweg. Ein schmerzliches Lächeln, denn er empfand heftigen Hunger, war unsagbar müde, begann beim Gehen zu straucheln und fühlte, wie seine Augenlider schwerer und schwerer wurden.

*


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