Roland Betsch
Die sieben Glückseligkeiten
Roland Betsch

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Aus manchen Brunnen fließt in der Christnacht Wein. Die Schäfer kennen solche Brunnen, verraten sie aber nicht. Einmal war ein Mann in Deidesheim, der glaubte nicht an die weinspendenden Brunnen. Der Schäfer verriet ihm einen solchen und schickte ihn Schlag zwölf in der Christnacht hin, er dürfe aber kein Wort sprechen. Der Mann trank und rief erstaunt: Es ist wirklich Wein! Da fauchte eine Stimme: Und du bist mein! Es war der Teufel, der nahm den Mann mit, und man sah ihn nicht wieder. Er muß einen unterirdischen Schatz hüten. Kann sein, daß er etwas Böses auf dem Gewissen hatte.

Es geht hoch her bei Ursulas Polterabend. Der Innenhof des Gutes ist zum Rummelplatz geworden. Viele Menschen sind zum Volksfest geladen, es ist ein Allotria wie auf der Kirchweihe. Fünf Mackenbacher Musikanten spielen auf. Verrückte Menschen wohnen in diesem Haus, man kann nicht anders sagen. Da ist Frau Karola mit ihrem sogenannten Geheimnis, da ist Herr Berghaus mit seinen Plänen, da ist 205 Ursula, eine herzlose Komödiantin, da ist dieser Wolf Hagen mit seiner verwegenen Vergangenheit, da sind endlich die Galgenvögel, Gott helfe mir, in welche Gesellschaft bin ich geraten.

Es ist Nacht, die Hölle tobt.

Ein großes, laubbekränztes Weinfaß ist aufgestellt, wer will, kann zapfen. In einem Kessel sieden Würste, auf Tischen stehen Körbe mit Brot und Hochzeitsbretzeln, mit Zigarren und Zigaretten, mit Kuchen und Hefegebäck. Greift zu, hier ist das Schlaraffenland. Ursula will Hochzeit feiern. Über dem Fest glänzen die Sterne, aber sie sind matt, denn eine gaukelnde und schaukelnde Flut von Lampions übertönt die fernen Welten. Tschintara bum bum! Die Musikanten mit Flöte und Klarinette, mit Trompete, Tenorhorn und großer Trommel dreschen ihre Märsche und Tänze herunter.

Ursulas Polterabend. Hans Hiedewohls Totenfest.

Ja, ein Buchhändler mit Namen Hiedewohl ist auch dabei, er ist unter den Galgenvögeln, er ist verkappt, ein Seelendieb mit einem zerbrochenen Glück. Rheinwald. Geräucherte Aale. Hohoo, ich trinke, viel Glück über Ursula.

Was will denn der O-Beinige?

»Hast du was gesagt, man versteht kein Wort in dem Getöse?«

»Einen weißen Kohlkopf habe ich im Garten gesehen.«

»Was soll ich mit dem weißen Kohlkopf?«

»Hör doch zu: weißt du nicht, daß ein weißer Kohlkopf einen Toten bedeutet?«

»Hör auf mit deiner Gespensterpredigt. Den Segen der Welt über die glückliche Braut. Trinke und halt das Maul.«

»Aber ein weißer Kohlkopf – –«

»Laß doch die Toten aus dem Spiel!«

206 Über den Hof ist von Dach zu Dach ein Seil gespannt. Der verdrehte Salto, Mann mit neun Fingern, der auf Kastanienbäumen schläft, will eine Seiltänzerei vorführen. Nicht mal ein Schutznetz hat er gespannt, er soll sich in acht nehmen, gewiß ist er aus der Übung, es könnte ihm übel bekommen. Ein Tanz im Hof, ein Bauern- und Hochzeitstanz, im Getümmel, im fröhlichen Aufruhr. Der Hof kocht wie ein mächtiger Kessel, eine großartige Ausgelassenheit überall.

Gebt den Leuten heiße Würste, Kuchen bei und Bretzeln.

Waldeslust, Waldeslust,
O wie einsam ist die Brust.

Selbst die Galgenvögel tanzen, der Dürre, der Salto, der Elwetritsch. Herr meines Lebens, seht den Elwetritsch mit der Stallmagd tanzen, der Schweiß rinnt in Strömen an ihm herunter. Gebt ihm Wein, viel Wein.

Manchmal erscheinen die hohen Herrschaften oben auf dem Balkon, dann setzt ein gesteigertes Lärmen ein, dann schauen alle hinauf und rufen und winken.

Die Braut Ursula ist noch gar nicht da, nein, sie muß heute abend in Baden-Baden in »Figaros Hochzeit« singen. Gegen Mitternacht wird sie eintreffen, im taubenblauen Wagen, mit dem Schildkrötenring am Finger.

Schschsch! sssüü flack! Raketen steigen hoch, Schwärmer prasseln, Sonnen drehen sich, Pulverfrösche zacken in die kreischende Menge. Auf dem Dach geht ein Kanonenschlag los. Ursula, bumm!

»Salto, bist du verrückt, willst du über das Seil? Bei Nacht, und ohne Netz?«

»Bengalisch beleuchtet, Mensch. Keine Bange, die Arbeit 207 mache ich mit verbundenen Augen. Toll siehst du aus in dem Leinenanzug.«

»Vom Radieschen. Niemand soll mich kennen, verstehst du. Salto, geh nicht übers Seil.«

»Was faselst du, Hasenpfote?«

Schsscht bumm! Rote, grüne Feuerkugeln.

»Salto, will ich sagen, ein weißer Kohlkopf im Garten – –«

»Eine Attraktion wird das, begreifst du? Ich werde mitten auf dem Seil ein Feuerwerk abbrennen.«

»Du hast nur neun Finger, Salto.«

»Ich laufe nicht auf den Händen.«

Die Mackenbacher legen mit einem Schmachtfetzen los.

Wo ist übrigens der Angler, nun fällt er mir ein, wo ist der sonderbare Heilige, wo ist Dietrich Hagen?

Weinduft liegt betörend über dieser Polternacht.

Der Angler wird am Strom sitzen, er ist ein Wächter, ein Polterabend ist kein Schauplatz für ihn.

Weinfrohe Kehlen singen den Schmachtfetzen, der Gesang schwillt an, Menschen stehen in der bunt durchleuchteten Nacht und singen, man ist wahrhaftig mitten in den Sieben Glückseligkeiten.

Selbst im Vieh ist Aufruhr, es brüllt in den Ställen.

Weib, ach Weib, was suchest du
Hier in Tales Gründen?
Such' die Blume Männertreu,
Kann sie niemals finden.

»Salto, geh nicht übers Seil.«

»Laß mich – – dort steht Frau Karola auf dem Balkon. Tod und Hölle, eine schöne Frau.«

208 Ja, dort steht Frau Karola, eine auffallende Erscheinung, im stahlblauen Kleid. Sie ist gegen die Brüstung gelehnt, sie schaut in den Himmel, ach, vielleicht sucht sie ihren Stern, ihren fernen Wunderstern.

»Du weißt etwas, was andere nicht wissen, Salto. Du weißt, was hinter Frau Karolas Maske verborgen ist?«

»Ich weiß es, aber ich sage es nicht. Weil ich noch einen Funken Artistenehre im Leib habe, mein Lieber. Fluch allen Waschweibern!«

»Mir allein könntest du es sagen, ich kann stumm sein wie ein Friedhof. Frau Karola ist mir wohlgesinnt, einmal faßte sie meinen Kopf mit beiden Händen.«

Er läßt mich stehen, er gräbt sich in die Menge hinein, der elende Todeskandidat. Meinetwegen, ich kann weiterleben, auch ohne hinter Frau Karolas Maske zu schauen.

Gebt mir Wein, es ist über alle Maßen herrlich, Wein zu trinken, nichts auf der Welt läßt uns kühnere Schwingen wachsen, gebt mir Wein. Wer Wein trinkt, wirft alle Krücken ab.

Ich sagte schon, der Angler sei nicht beim Polterabend seines Sohnes. Er sitzt im Rheinwald, ich sehe seine Schattengestalt unter einer uralten Kopfweide. Vielleicht sitzt das Mädchen Marlena an seiner Seite. Marlena ist dort zu Hause. Wenn man sich niederbeugt und in das braune Wasser schaut, sieht man die Fischbrut, die Larven und Würmer, die Raublibellen und Wasserasseln, die Skorpione – – Marlena mitten im Wasser wie in grünem Glas.

Ich bin ein wenig abseits, in den Schatten geraten. Hier ist ja der Vogelkäfig. Wenn man durch die Drahtmaschen starrt, 209 sieht man die gefangenen Vögel. Zu kleinen Klumpen geballt sitzen sie auf Stangen und Zweigen. Sie schlafen im Getöse, die Köpfe stecken in den Federn. Manchmal hebt ein Vogel den Kopf, schlaftrunken und maßlos verwundert. Er schaut sich um, er rückt auf dem Zweig und schüttelt sich. Er zwilcht und schirpt wie im Traum vor sich hin. Wohl ihm, er ist geborgen.

Die Erde dreht sich, die Wunderkugel. Immer weiter dreht sie sich und rast durch das ewige Rätsel. Zwischen Millionen Sonnen rast sie dahin, Gott sei ihr gnädig.

Dachte ich mir doch, daß die Ohreneule nicht weit sei, der Unheimliche, der Galgenvogel mit dem bösen Blick.

»Was willst du auf Ursulas Hochzeitsfest mit deinem Gespenstergesicht?«

Er kommt auf mich zu, er bedrängt mich, mit den Schultern schiebt er sich mir entgegen, eine widerlich aufdringliche Art.

»Hast du nicht von Marlena gesprochen?« sagt er mit heiserer Stimme. »War sie auf einem Schiff? Hat sie eine Narbe an der Stirn?«

»Von einer Kohlenschaufel. Und wenn du es wissen willst: weil sie jemand verraten hat, weil sie schuld ist, daß einer getötet wurde. Und jetzt mach dich davon, ich will hier meines Lebens froh werden. Geh in den Höllensud!«

»Weil sie einen verraten hat, sagst du? Ich weiß Bescheid, mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne Marlena, ihr Vater ist Aalfischer am Rhein. Die Ratte – – du weißt nicht, wie es ist, wenn eine Ratte – – immer da drinnen – – frißt – – kennst du Ratten, du Linkmichel?«

Er drängt sich immer enger an mich heran, seine Mundwinkel sind nach unten gezogen, er zieht den Kopf ins Genick.

»Ich will dir was sagen, ich selbst – du kannst mich genau 210 anschauen – ich selbst war derjenige, der mit dem Karabiner auf ihn geschossen hat – –«

»Auf wen hast du – –?«

»Auf jenen Gewissen, den Marlena verraten hat. Ich war Separatist, weißt du – – ich war ein – Volksverräter, ich hätte den eigenen Bruder verraten und verkauft, so ein Lump war ich.«

»Und – – du – lebst – immer noch? Ich glaube, du lügst, du hast eine gewisse Art von Großmannssucht. Geh fort, du bist betrunken!«

Er weicht zwei Schritte zurück, seine trüben Fischaugen gleißen mich an, er ist bis aufs Letzte verkommen, es ist kein Platz für ihn in diesem ehrlichen Vogelhaus. Er lallt mir die Worte mit wüster Stimme entgegen.

»Ich muß mich heute – noch – furchtbar – besaufen.«

Das Scheusal wankt zum Käfig, lehnt sich gegen das Gitter und starrt zu den schlafenden Vögeln hinein. Man sollte ihn vom Hof jagen, er ist nur da, um die Luft zu verpesten.

»Der dort!« höre ich ihn rufen, mit dem Finger deutet er in den Vogelkäfig. »Der dort – – das bin ich.«

Laßt ihn faseln, so lange er will, ich quetsche mich zum siedenden Wurstkessel durch, ich hole mir eine heiße Wurst. Und Wein hole ich mir, ich bin auf einem Volksfest, es geht hoch her, alle Welt ist zu Gast geladen. Her mit der Wurst, her mit dem Wein!

Ich schiebe mich in eine Holzbank, Kinder, nur ein kleines Endchen Platz, denkt an die geduldigen Schafe.

Riesenhoch steigt eine Rakete. Zummm, sie platzt.

Auf der Bank, zwischen zwei Bauernweiber gepfercht, sitzt Alex, der Teufelsalex, das lustige Fähnlein im Wind.

211 »Gott zum Gruß!« ruft er und beißt in eine Fleischwurst.

»Kommen Sie an meine Seite. Wie schauen Sie denn aus?«

»Still, niemand soll wissen, daß ich hier bin.«

Wir rücken zusammen, wie die Böhämmer. Es riecht nach Schweiß und Mottenpulver.

»Eigentlich war ich ein wenig ungehalten«, beginnt Alex und schmiert Senf um die Wurst, »ärgerlich muß ich fast sagen.«

Er drückt das Kinn nach unten und hüstelt. Im Gummimantel sitzt er da.

»Warum denn?«

»Sie haben mir in die Schnecken gepfuscht.«

»Ich? In die Schnecken gepfuscht?«

»Selbstredend. Beim Herrn Berghaus haben Sie dicke getan und die Schnecken auf Ihrem eigenen Mist wachsen lassen.«

»Ich – – ich – – habe das nicht so aufgefaßt.«

»Papperlapapp, gestehen Sie es ein, Sie hätten diese Federn gerne an Ihren eigenen Hut gesteckt.«

»Federn? Seit wann haben Schnecken Federn? Zugestanden, ich – – –«

»Kein Aufhebens, Schwamm darüber. Was sagen Sie zu dieser Nacht?«

»Ich kann nur großartig sagen. Holla, Radieschen!«

Der Kellermeister im braunen Lederschurz kommt mit halbem Wind, wie ein Eisbrecher spaltet er die lustige Menge.

»Buchhändler – – –«

»Ssst, nicht Buchhändler, heute bin ich Vogel.«

212 »Hohoho, Dompfaff, mein bestes Faß Wein für dein Gehöröl. Guck dir den Brunnen dort an, Dompfaff.«

Er deutet auf den Steinbrunnen in der Mitte des Hofes. Er ist bekränzt mit Laub und mit Papierbändern bunt geschmückt.

»Du wirst Auge mache, wie die Katz, wenn's dunnert.«

Er taucht in den Menschenbrei, wuchtig stößt sein Bauch vor. Wo ist Alex? Fort.

Das Pfälzer Lied. Erst zaghaft, dann immer lauter, wächst es zuletzt wie ein Orkan aus der Menge.

Was will der O-Beinige mit seinem weißen Krautkopf? Ich starre in den Himmel. Das Seil schwankt im Nachtwind, eine schwingende Saite, bald fängt sie zu tönen an.

Es ist nahe an Mitternacht, da kommt Ursula an. Ich höre deutlich das taubenblaue Auto. Brooo ruft das Auto, brooo. Bewegung in der Menge. Rufen und Jubeln.

Ursula ist da. Laßt mich stark sein, ich blute aus tausend Wunden mitten in einem Volksfest, in Ursulas Polternacht. An irgend etwas anderes denken. Das madenfreie Obst, die Seidenraupenzucht, eine Lebensaufgabe.

Sie erscheinen auf dem Balkon, Herr Bastian Berghaus, Frau Karola, Ursula und Wolf Hagen und noch andere hohe Gäste. Unbeschreiblicher Jubel setzt ein.

Das Radieschen gebietet mit dröhnender Stimme Ruhe, er steht am Brunnen, auf einen Steinsockel ist er gestiegen. Der Lärm verebbt, die Brandung legt sich.

Aha, sie haben wohl einen kleinen Mummenschanz vor. Ein freier Platz bildet sich vor dem geschmückten Brunnen. Das Radieschen hebt wie ein Kapuziner beide Arme und verkündet: 213

»Es wird bekannt gemacht,
Daß jetzt um Mitternacht
Bis dieses Fest hier endet
Der Brunnen Wein euch spendet.
Doch sag ich's einem jeden:
Wer trinkt, der darf nicht reden!«

Vom Turme schlägt es Mitternacht.

O Wunder, goldgelb strömt es aus der Röhre. Das ist ein Staunen und Rufen und Murmeln und Zischeln, ein Drängen und Schieben und Stoßen. Niemand will als Erster an den Brunnen.

Mit einem Male torkelt doch wirklich die Ohreneule herbei. Der Mensch ist schon betrunken, er schafft sich eine Gasse, stößt zum Brunnen vor und hält sein Glas unter den fließenden Brunnen. Er setzt an und trinkt.

»Beim Teufel, es ist Wein!« ruft er.

Da geschieht etwas ganz Lustiges. Der Riese Gulli nämlich taucht quaderhaft hinter dem Brunnen auf, packt die Ohreneule im Genick und brüllt: »Und du bist mein!« Er hält den Unheimlichen steil in die Luft hinaus und trägt ihn, ein zappelndes Bündel, mitten durch die Menge.

Dieses Gelächter, dieser Höllenlärm, dieser weintosende Aufruhr.

Jetzt drängen sie aber in robuster Geschäftigkeit zum weinspendenden Brunnen und füllen ihre Gläser, es ist eine großartige Überraschung, man hat es an nichts fehlen lassen bei diesem Polterabend.

Geht nicht die Seiltänzerei los? Beginnt nicht der große Luftakt, die Solonummer auf dem Turmseil? Doch, schon 214 wird es da oben lebendig. Die Dachluke öffnet sich, das Seil wird straff gezogen, es schwankt und zurrt in gefährlicher Höhe. Schaut alle hinauf, der Salto erscheint in der Dachluke. Köpfe recken sich nach oben, es liegt wie Beklemmung über der Menge. Ein Scheinwerfer flammt auf, die Mackenbacher spielen eine schmachtende Zirkusweise. Du meine Güte, das ist wie beim Buffalo Bill.

Ich werde unruhig, mein Herz klopft wild in der Brust, ich habe eine furchtbare Ahnung. Was schwätzte einer vom weißen Kohlkopf?

Salto, will ich noch rufen, laß ab, dein Leben steht auf dem Spiel, aber er ist schon draußen.

Schon steht er auf dem Seil, komisch gekleidet, mit Bändern und farbigem Flitter geschmückt.

Verwegener, er tanzt über das Seil, mit gravitätischem Schwung, mit jenen Bewegungen, die man nur bei Seiltänzern beobachtet, gummiartig, die Füße nach außen gekehrt, in den Knien und Hüften federnd. Ein ausgekochter Artist, ein Zirkuskind. Gewaltig biegt sich das Seil durch, der Salto tanzt auf der schwingenden Saite zwischen Leben und Tod.

»Platz unten, macht Platz unterm Seil!«

Dicht gedrängt stehen die Hochzeitteilnehmer auf dem Balkon. Warum suche ich plötzlich Frau Karola? Wo ist Frau Karola? Viele Menschen auf dem Balkon, aber Frau Karola im stahlblauen Kleid ist nicht zu sehen. Mir wäre lieb, wenn Frau Karola käme.

In der Mitte des Seiles bleibt der Salto stehen, dreht sich um seine eigene Achse, und mit einem Male sieht man an seinem Körper einen Funken aufglimmen.

215 Ein Knattern und Prasseln setzt ein, der Salto leuchtet auf und ist in ein Feuermeer gehüllt. Raketen und Schwärmer, Feuerkugeln und Sonnen hat er am Körper befestigt, und dieses tolle Brillantfeuerwerk entfaltet sich nun in seiner puffenden und zischenden Großartigkeit.

Dieser tolle Salto, dieses Manegenblut, da hat er nun seinen großen Tag, da feiert er seine Auferstehung, da ist er gefährlicher Mittelpunkt, dem sich alle zuwenden.

Als er in der gegenüberliegenden Dachluke verschwindet, setzt rauschender Beifall ein, Katarakte von johlenden Stimmen spalten die Nacht.

»Raus!« rufen sie, »noch einmal! Salto, raus!«

Der Salto kommt nicht mehr, schon atme ich erleichtert auf, da geschieht etwas vollkommen Unerwartetes. Die Musik bricht plötzlich ab.

»Dort!« höre ich Stimmen, »schaut hinauf! Ein Mädchen!«

In der ersten Dachluke steht eine schlanke Gestalt im schillernden Seiltänzertrikot, eine schwarze Maske vorm Gesicht. Was bedeutet das, sollen die Überraschungen noch gesteigert werden? Durch das staunende Schweigen der Menge dringt gellend eine rufende, warnende Stimme. Was ist denn los, es ist schon zu spät, die Tänzerin ist schon auf dem Seil. Wer rief denn überhaupt?

Jetzt wird ein Unheil geschehen, zuckt es durch mein Hirn, die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten.

Haltet die Tänzerin zurück! Ein weißer Kohlkopf – – –!

Haltet um Gottes willen die Seiltänzerin zurück.

Unwillkürlich starre ich nach dem Balkon, die Menschen dort weichen im Entsetzen rückwärts, sie fluten ins Zimmer, 216 zuletzt steht nur noch Herr Bastian Berghaus oben, nach hinten gebeugt, die Hände gegen die Mauer gestützt. Ich sehe deutlich, wie er die Kartoffel im Munde rollt.

Die Tänzerin ist auf dem Seil.

Mich packt jemand an beiden Schultern.

Der Salto. Noch hängen Bänder und Feuerwerkfetzen an seinem Leib.

»Kommen Sie schnell«, stößt er hervor, »vielleicht können wir sie auffangen, wenn sie stürzt – – – Gulli, wo ist denn Gulli?«

»Wer, beim Himmel, ist denn die – –«

Er zischt es mir leise ins Ohr:

»Frau Karola! Ssst, kein Wort. Frau Karola! Sie war doch ein bekannter Varietéstern und hat am Lufttrapez gearbeitet. Kommen Sie schnell, sie ist ohne Training, wenn sie stürzt – –«

Ich fühle, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht, ich zittere und bebe, ich bin ganz von Sinnen.

»Nicht hinaufschauen jetzt!« stößt Salto hervor, »nicht daran denken, daß sie strauchelt.«

»Was für eine Vermessenheit! Frau Karola war – –?«

»Ich habe mit ihr vor Jahren am Kuppeltrapez gearbeitet, damals war sie noch ein Mädchen. Sie hat mich nicht erkannt. Niemand weiß es hier, nur ich und Herr Berghaus selbst. Sie war eine große Nummer und hat die halbe Welt bereist.«

Frau Karola auf dem Seil. Mädchen mit der schwarzen Maske. Totenstille.

Viele Gesichter, starr nach oben gekehrt.

Ich kann mich nicht bezwingen, ich muß hinaufschauen, ich ersticke, wenn ich nicht hinaufschaue.

217 Der Salto verfolgt jede ihrer Bewegungen, wir stehen lotrecht unter dem Seil, wo das andre Volk den Platz frei gemacht hat.

»Weißt du«, stottere ich ihm zu, »ich bin keineswegs abergläubisch, du darfst es glauben. Es bedeutet einen Toten, was für ein Unsinn, was hat ein Kohlkopf – –«

»Still!« flüstert der Salto. Wir starren beide hinauf. Über uns Frau Karola in der Mitte des Seiles. Sie steht plötzlich still, die Kurve des Seiles schwingt wie ein drohendes Pendel, es ist unheimlich, was Frau Karola beginnt.

Sie legt ein weißes Taschentuch auf das Seil, sie versucht, sich niederzubeugen, um das Tuch mit den Lippen zu packen. Haltet den Atem an, ich bin nie abergläubisch gewesen, es ist nicht wahr, was törichte Überlieferungen behaupten.

218 »Salto, ich – – –«

Frau Karola hat das Tuch gepackt, aber sie wankt, beide Arme stößt sie nach oben – –, jemand schreit auf, wie ein Pfeil schwirrt diese Stimme durch die Stille.

Salto hat mir die flache Hand auf den Mund gepreßt, wie denn, war ich es, der schrie?

Frau Karola tanzt über das Seil.

Frau Karola mit der schwarzen Maske ist in der Dachluke verschwunden.

Was ist denn gewesen, bitte, mein Verstand ist verwirrt, aus einem Brunnen fließt Wein. Eine Lebensaufgabe. Tollheit mit dem Aberglauben, was ist denn gewesen?

Beifall, Lärm. Getöse, Klatschen und Rufen. Wer war die Seiltänzerin? Niemand im Volke weiß es.

Die Musikanten legen los. Wirbeltanz.

Menschenflut wächst mir entgegen, die Nacht ist koboldhaft belebt, eine Nacht des Weines, es rumort in Fässern, es kriecht aus Spundlöchern, das Weinkellergelichter ist erwacht, die Elefanten im Keller werden lebendig, es quillt aus feuchten Spinnwebwinkeln, alle Geister des Weines sind boshaft am Werk.

Ursula mitten im Gedränge, was will sie hier unter der tobenden Schar. Hat sie mich erkannt, kommt sie am Ende auf mich zu?

Flucht, denke ich, nur Flucht kann mich retten.

Ich bahne mir freien Weg, wie eine Mauer stehen mir Menschen entgegen.

»Du bist hier?« höre ich ihre Stimme. Ich wende mich um und schaue ihr in die Augen.

219 »Ursula, viel Glück über dich.«

Ich mache mich schleunigst davon.

»So warte doch, du unseliger Mensch. Ich muß dir erklären –«

»Nichts erklären, nichts!«

»Alles war Lüge, so hör mich doch an. Ich trieb ein wenig Spiel – –«

»Lüge, nichts als Lüge! Spiel, nur ein wenig Spiel. O ihr Geister, Spiel mit meinem Herzen.«

Ich tauche unter in der Menge, nichts mehr von Ursula, morgen schon wird sie des andern Weib. Nichts mehr von Ursula! Überhaupt ist es Zeit, daß ich den Schauplatz der Freude verlasse, genug der Polternacht, viel zu viel Glück für mich Galgenvogel. Fort von hier, ich weiß eine geheime Gitterpforte, Frau Karola zeigte sie mir in jener Nacht, als ich in ihrem Vogelhaus war.

Der Vogelkäfig. Einen Augenblick, ich will noch einmal hineinschauen.

Schlaf über der gefiederten Welt. Vogelträume. Schöpfungslächeln.

Was sehe ich, ein Vogel liegt am Boden, er rührt sich nicht. Er ist tot.

Ich komme zum Garten und zu den Stallungen der Pferde, der Lärm wird schwächer, das Rauschen des Festes dringt nur noch gedämpft an meine Ohren.

Unter der Stalltür steht ein Mensch.

Elwetritsch.

»Bist du nicht beim Fest?« frage ich ihn,

Er antwortet nicht, er winkt mit der Hand, wir gehen zusammen in den Pferdestall.

220 »Er hat sich erhängt.«

»Wer denn?«

»Die Ohreneule. Dort hängt er.«

Wir nehmen ihn ab und legen ihn ins Stroh. Nichts zu machen, er ist tot. Wir schaffen ihn hinaus und bringen ihn in einen kleinen Schuppen. Niemand soll es erfahren in dieser fröhlichen Nacht, in dieser Polternacht, in Ursulas großer Nacht. Wir gehen in den Stall zurück. Die Pferde sind wach geworden, sie wenden die Köpfe nach uns. Zwei Hunde tauchen aus dem Dunkel auf und drängen sich an Elwetritsch. Ein Setter und ein Spaniel.

»Hast du ihn gefunden?« frage ich.

»Ja, ich schlief im Stall, die Hunde schlugen an. Als ich nachschaute, war es zu spät.«

»Kein Wunder. Der O-Beinige sah im Garten einen weißen Krautkopf. Das bedeutet einen Toten.«

Elwetritsch schaut mich an, Schweiß steht auf seiner Stirn.

»Du schläfst hier?« frage ich ihn.

»Ja, manchmal schlafe ich im Stall. Bei den Tieren, es riecht hier so gut, es ist eine großartige Witterung.«

Da hängt ja noch der unselige Strick. Ich ziehe mein Taschenmesser und schneide mir ein Stück ab.

»Was machst du?«

»Man soll ein Ende vom Strick eines Erhängten in der Tasche tragen. Das bringt Glück.«

Ich schiebe den Strick in die Tasche.

»Gute Nacht«, sage ich.

Draußen bleibe ich noch einmal stehen und schaue durch das Stallfenster hinein. Eine kleine Lampe brennt.

221 Ein Pferd liegt schlafend im Stroh. Ich sehe, wie der Elwetritsch zu dem schlafenden Pferd geht und sich an seiner Seite niederlegt.

Auch die Hunde kommen.

Ich gehe durch das Gittertor ins Freie. 222

 


 


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