Roland Betsch
Die sieben Glückseligkeiten
Roland Betsch

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Bei Maxau führt eine der letzten Schiffbrücken über den Rhein. Wenn man auf der Landstraße weiterfährt, kommt man durch den Bienwald, der an Frankreich grenzt. Dieser tragische Landstrich hatte im Jahre 1924 unter den ungeheuren Waldverwüstungen, die von den Franzosen betrieben wurden und den pfälzischen Waldbestand auf Jahrhunderte hinaus tödlich schädigten, besonders hart zu leiden. Die mörderischen Großeinschläge haben auch vor berühmten Baumriesen nicht haltgemacht. Im Bienwald wurde die Kaiserin-Eiche, ein ehrwürdiger Baum von achtzehn Festmeter reinem Schaftholz und dreißig Festmeter Gesamtmasse zu Fall gebracht


In dieser Nacht noch habe ich Karlsruhe den Rücken gekehrt. Wenn man nach dem Süden will, vielleicht bis zu wilden Völkerstämmen, darf man sich nicht zu lange in einer fächerförmigen Stadt aufhalten. Ich war lange genug in Karlsruhe, Gott stehe mir bei.

Nein, ich fahre nach Sizilien, noch in dieser Nacht will ich bis Basel knattern.

Ich bin schon auf dem Wege, da habe ich eine nächtliche Begegnung. Durch die Kaiserstraße fahrend, will ich bei der Hauptpost in Richtung Sizilien einbiegen, da überholt mich in scharfer Fahrt ein Kraftwagen.

Ein taubenblauer Wagen.

Ehe ich recht zur Besinnung komme, ist der Wagen schon eine ganze Häuserreihe voraus.

Ich hinterher. Das Auto kenne ich, diesen taubenblauen Wagen gibt es nur einmal.

99 Mit viel Kattun rase ich hinter dem Auto her. Sizilien kann warten, die Insel ist nicht auf mich angewiesen. So ein verrücktes Tempo mitten in der Stadt. Mit Mühe bleibe ich auf seiner Fährte, wenn wir erst im Freien sind, will ich ihm schon auf den Pelz rücken. Durch ein Dorf; bei des Teufels Spucke, ich gewinne keinen Boden. Scharfe Kurven. Lichterglanz, Dröhnen und Hämmern, ein wildes nächtliches Schauspiel. Die Schiffbrücke bei Maxau. Der taubenblaue Wagen ist schon in der Mitte der Brücke. Glanz des Stromes, Rauschen der Wasser, Glitzern der Strudel und Wellen. Wanderer, ewiger Wanderer.

Was für Lichter, was für ein Lärm und Getöse. Welches Feuerwerk. Stromauf wird eine große, neue, prächtige Brücke gebaut. Schon ragen Pfeiler auf, Eisenträger, gewaltige Gitterwerke. Dröhnen von Stahl, Hammerschlag, Poltern und Surren, Bellen von Niethämmern.

Lichterfluten bestrahlen das technische Wunder.

Ich muß hinter dem Wagen her, eine dunkle Kraft zwingt mich, diesem rasenden Teufel zu folgen. Immer sehe ich das rote Schlußlicht, glühendes Auge des Satans.

Wir rasen durch einen Wald. Abblenden. Aufblenden. Ochsengespann in der Nacht. Zigeunerwagen am Weg.

Abblenden. Aufblenden.

Ein Dunstschwaden quer über der Straße. Rauch des Waldes, magisch durchleuchtet.

Ein Hase, panikartig durch den Lichtkegel irrend.

Aha, ich hole auf, ich komme näher, ich habe zähere Nerven, meine Besessenheit siegt.

Nein, mein Pech siegt.

100 Eine Bahnschranke wird mir zum Verhängnis, mit hager drohenden Armen gebietet sie Halt. Der taubenblaue Wagen ist noch hinüber, die Arme bewegen sich, senken sich –

»Eine Sekunde noch!« brülle ich in die Nacht, »einen Herzschlag lang, Herr Schrankenwärter.«

Fort. Nacht, Entfernung zwischen mir und dem Wagen.

Herr Bahnwärter, der Teufel soll Euch mitternächtig begegnen. Herr Schrankenwärter, besser, ich wäre nach Sizilien gefahren. Güterzug, Kohlenzug. Rumpelt dahin. Rumpelt langsam dahin, eine plumpe, eiserne Schlange, langweilig, der Lokomotivführer kann mir leid tun.

»Guten Abend, Herr Schrankenwärter, Sie haben in mein Schicksal eingegriffen. Ihr Kohlenzug wurde mir zum Verhängnis. Wie heißt dieser Ort, wenn die Frage erlaubt ist?«

»Sie werden doch Kandel kennen! Hier wurden früher die Pfannkuchen nur auf einer Seite gebacken.«

»Kurios, warum denn das?«

»Weil nur auf einer Seite der Straße Häuser standen, hoho!«

»Hahahaha!«

Wir lachen beide, wir freuen uns über den Scherz, der Bahnwärter freut sich, weil ich hereingefallen bin, weil er mir eins versetzt hat mit seinem Pfannkuchenulk. Er ist ein guter Mensch, man sieht ihm das an, einen struppigen Bart hat er und riecht nach Petroleum und Wagenschmiere.

Wagenschmiere? Da hatte ich doch früher einmal ein Erlebnis mit Wagenschmiere, wie lange mag das her sein, viele Jahre wohl, viele, viele Jahre.

»Einmal Herr Bahnbeamter blieb der Rheingold stehen, mitten auf der Strecke, in der Nähe einer Zuckerfabrik; ein 101 berühmtes Fräulein, eine Theaterschlange stieg aus dem Zug und beschmutzte sich das Kleid mit Wagenschmiere. Ich habe den Fleck entfernt, mit Benzin, verstehen Sie? Wie toll habe ich gerieben, plötzlich war kein Fleck mehr da. Ja, man hat Erlebnisse, auch Sie werden mancherlei hinter sich gebracht haben, Püffe werden Sie bekommen haben und Stöße – nehmen Sie eine Zigarette?«

Es ist gemütlich beim Bahnwärter, ich könnte die ganze Nacht hierbleiben und mit dem Mann plaudern. Wir könnten Stein, Schere und Papier spielen.

»Wenn ich noch etwas fragen darf, haben Sie vorhin den eleganten blauen Wagen gesehen, der kurz vor Schrankenschluß über die Gleise fuhr?«

»Wohl, ich habe sogar die Herrschaften gekannt.«

»Wie, Sie haben jemand gekannt?«

»Jawohl, und zwar den Herrn Bastian Berghaus aus Deidesheim. Und seine junge Frau Karola war auch dabei.«

»Woher kennen Sie die Leute?«

Ich bin nicht erregt, ich zittere nur ein wenig mit den Händen, zugestanden, aber das kommt vom Motorradfahren.

»Woher ich sie kenne? Weil ich fünfzehn Jahre in Deidesheim Bahnwärter war. Ich bin versetzt worden und erst seit vierzehn Tagen in Kandel.«

»Ich begreife gut, Sie kennen also diese Leute? Waren denn noch mehr Personen in dem Auto?«

»Mindestens fünf. Eine Dame saß am Steuer, das war aber nicht Frau Karola.«

»Frau Karola? Sie sagen immer Frau Karola, merkwürdig!«

»Ist auch eine merkwürdige Frau.«

102 »Wie meinen Sie das, was verstehen Sie unter einer merkwürdigen Frau?«

»Sie hat Schrullen, verhexte Launen, der Mann hat es nicht gerade leicht mit ihr.«

»Ich habe davon gehört, sie hält sich ein Vogelhaus.«

»Ein Galgenvogelhaus.«

»Sie will menschliche Zugvögel seßhaft machen, eine sonderbare Idee.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ein Dichter namens Alex Grauvogel hat mir das flüchtig erzählt. Was mag sie für schrullenhafte Klinkenputzer beherbergen.«

»Nicht zu glauben, solche Pflanzen gibt es da.«

»Was machen denn nun diese Sonderlinge Gottes?«

»Sie sollen arbeiten, in den Weinbergen, in Ställen und Scheunen. Frau Karola will ihnen das Vagabundieren abgewöhnen. Das mag aber einen besonderen Grund haben.«

»Und welchen denn?«

»Man sagt, daß sie selbst ein heimlicher Zugvogel sei. Eine Frau, Sie verstehen, die immer auf und davon fliegen möchte. Ein bunter Vogel, der in einem Käfig sitzt.«

»Was Sie nicht sagen! Ich begreife halbwegs. Sie fühlt eine innere Verwandtschaft mit den Menschen der Landstraße. Ich weiß, es gibt Menschen, deren Heimat immer die Ferne ist, sie müssen bis an ihr Ende wandern. Ein gefangener Vogel, ich begreife.«

»So ähnlich mag es sein. Na ja, das sind alles noble Passionen. Frau Karola hält sich auch noch allerlei Getier. Vögel und Hunde. Und Schildkröten. Verrückt.«

103 »Schildkröten sagen Sie? Schildkrötenring. Vielleicht trägt sie auch einen Hexenstrumpf.«

»Ich bin ein einfacher Mann, ich danke Gott, daß mich nicht solche Schrullen plagen. Es ist Mitternacht, ich muß nach Hause. Ich habe mit der Hebamme geschnupft.«

»Mit der Hebamme geschnupft?«

»Ja, wer mit der Hebamme schnupft, bei dem schlägt's ein. Meine Frau liegt im Wochenbett. Ein Beil liegt unterm Bett.«

»Da kann man ja gratulieren. Nun sagen Sie mir doch noch, was für ein Mann ist denn dieser Herr Berghaus? Er muß eine recht bekannte Persönlichkeit sein.«

»Der ist ein großer Weingutsbesitzer, ein reicher Mann; er hat sein Bauholz im wachsenden Schein geschlagen, das dürfen Sie mir glauben. Und eine große, vornehme Verwandtschaft, immer Leute im Haus, immer Besuch, da geht's hoch her, der Mann bringt Geld unter die Leute, ein großartiger Herr, sage ich Ihnen. Und keinen Hochmut, keinen Dünkel. Im Bahnwärterhaus haben wir schon zusammen Tarock gespielt. Sie dürfen mir's glauben oder nicht.«

»Ich will es gerne glauben; ein bedeutender Mann also?«

»Nicht wenig. Es soll jetzt wieder hoher Besuch ins Haus kommen, da wird es noch eine Hochzeit geben. Aus Amerika sind Verwandte zurückgekommen.«

»Am Ende gar aus Kalifornien?«

»Schon recht, Sie wissen mehr als ich. Ich vermute, die Amerikaner haben im Auto gesessen. Mit denen hat es auch eine ganz besondere Bewandtnis. Der Vater ist hier in der Nähe, zwischen Winden und Landau bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen, da ist die Mutter mit den 104 Kindern nach Amerika zu Verwandten. Der Herr Bastian Berghaus ist ja später auch nach Amerika, er hat dort den Obstbau studiert. Seine Frau Karola hat er von drüben mitgebracht.«

»Was für ein abenteuerliches Gespinst. Und welche Bewandtnis hat es denn mit den Kindern und mit dem Vater, der ums Leben gekommen ist?«

»Ein andermal, Herr. Ich stehe hier und schwätze, meine Frau – – Sie wissen – –«

»Ich weiß, Sie haben mit der Hebamme geschnupft. Hazi und alle Hochachtung.«

»Da gibt es noch viel zu erzählen, die Tochter ist doch Sängerin geworden und ein junger Mann, der einmal aus Deutschland flüchten mußte, soll sie heiraten.«

»Wer soll wen heiraten? Welchen Sohn, welche Sängerin, . . . Gott, mein Kopf ist wirr und elend.«

»Sie zittern, vielleicht haben Sie zu starken Wein getrunken?«

»Ja, der Wein macht, daß ich zittere. Ich zittere sonst nicht, der Himmel ist mein Zeuge. Hören Sie zu, es verhält sich so: es sind hier einige Menschen durch gemeinsame Schicksale verknüpft, die Gunst und Ungunst des Lebens hat aus ihnen eine unsichtbare Gemeinschaft gemacht. Sie bilden gewissermaßen unter sich ein Netz. Und in dieses Netz bin ich hineingeraten. Wohin ich mich auch wende, immer wieder stoße ich gegen die Maschen dieses Netzes. Daran ist vielleicht ein Apotheker schuld, ein Mann namens David Häutle. Ich bin der Mann im Netz.«

Mein Herz klopft zum Zerspringen. Was für Ungeheuerlichkeiten hat der Mann geredet? Ein Bahnbediensteter, ein 105 Schrankenwärter kommt daher und redet Tollheit, Wahnsinn; unfaßbare Dinge erzählt er gleichmütig, als ob er Rüben rupfe.

Hatte ich nicht dieses kleine Pech mit der Schranke? Ließ dieser einfache Mann, der mit der Hebamme geschnupft hat, ließ er nicht zwischen mir und dem blauen Wagen die Schranke herunter? Welch ein Glück hinterher. Meine Augen sind offen, ich sehe klar, keine Zweifel trüben meinen Blick.

Welch ein Narrenpech, in Segen sich wandelnd.

Was soll ich beginnen mit meinem Leben?

Ich brause in die Nacht, in den wachsenden Morgen. Jetzt bin ich einsam auf dem Wurm der Straßen, die Welt schläft, es herrscht eine Stille, eine tiefe Geborgenheit.

Manchmal glühen zwei Lichter auf, das ist eine Katze, die mordend in die Stille einbricht, Vögel würgt und Mäusen auflauert, eine grauenvolle Sendung.

Berge kommen näher, bewaldete Kuppen, die sich schwarz in den bestirnten Himmel schieben.

Manchmal geht ein Flügelschlag durch diese schwermütige Nacht, das mag Wind sein, der aufkommt und wieder verlöscht. Eine tiefe Ergriffenheit liegt über den heranschleichenden Bergen.

Jetzt kommen Weinberge, unendlich viele Weinberge, sie säumen meine Straße, in langen Reihen gliedern sie sich über das hügelige Gelände, ein seltsam betörender Duft strömt von ihnen aus. In der hellen Nacht kann ich sehen, wie sie bis zu den Bergen hinüberreichen; auch in die Ebene haben sich ihre Kolonnen vorgeschoben, es ist eine Landschaft, die mir ans Herz greift.

Es muß schön sein, hier zu Hause zu sein, man muß die 106 Weingutsbesitzer beneiden, sie wohnen in des Herrgotts Sonntagsstube.

In meiner Brust ist ein Gewicht, ganz deutlich fühle ich dieses Gewicht, es drückt mich nach unten, ich werde müde und gekrümmt unter diesem Gewicht, ich möchte nicht mein ganzes Leben lang eine solche Last mit herumschleppen, es müßte schrecklich sein.

Während ich so durch die Nacht geschleudert werde, ist mir mit einem Male, als ob die Wälder rauschten, und das klingt wie die Orgel der Welt. Ein rhythmisches Gewoge, eine tänzerische Traumsucht bewegt die Heerschar der Weinstöcke. Einzelne Lichter oben am Gebirge. Drohender Schattenriß einer Burg, eines zerfallenen Schlosses. Dort mögen Eulen hausen und boshaftes Getier der Nacht. Alles ist wider mich, die Sterne sind mir zu klar, sie quälen mich mit ihrem Glanz.

Ein Mann hatte Watte in den Ohren, auf der Bühne sang Ursula. »Ursula!« schreie ich, mein Schrei rennt durch die Weinberge, es wird niemand in der Nähe sein, der mich hört. Ich darf es hier in die Höhle der Nacht hineinrufen, niemand vernimmt den Ruf, er verhallt im Grenzenlosen.

»Ursula!«

Es ist durchaus möglich: ein Mensch kommt und frißt ein fremdes Leben. Grüne Kugeln, Katze; schrie nicht ein Vogel im Sterben, mitten im Entsetzen des Verlöschens?

Gnade, Gnade für alle Kreatur.

Mitten in meiner polternden Fahrt muß ich an den Rheinwald denken, seine Pappeln tauchen phantomhaft vor mir auf, ich höre die Silberweiden rauschen, abgeschiedene Altwässer glänzen unterm Sternenzelt. Zwei Reiher streichen lautlos über das Baumgewoge, irgendwo aus Schilf und 107 Erlengestrüpp ruft das Wildgeflügel. Der Angler am Strom, der Wächter. Ich weiß es, die Erde hier ist getränkt mit Erlebnissen aus verrauschten Epochen, die Verwegenheit des Grenzlandes liegt über der trächtigen Erde. Der Angler hat etwas zu mir gesagt, in dieser Sekunde hat er etwas zu mir gesagt, aber ich habe es schon wieder vergessen, die Worte flügeln davon wie ein schattenhafter Vogelschwarm. Ein Mensch schwamm im Strom, irgendwann, lange her. Alle Weinstöcke leben, sie sind plötzlich geschäftig wach, sie haben es wichtig mit Blattgeflüster und Zweiggewedel.

Vielleicht habe ich eine Sekunde lang geschlafen, mitten im Fahren bin ich hinübergesunken in das Rätsel jenseits der Vernunft.

108 Deidesheim.

Meine Borduhr zeigt zwei Uhr. Da stehe ich in der pfälzischen Frühlingsnacht. Häuser zeichnen sich ab, ein Kirchturm mit schiefer Spitze. Gewirr von Dächern kriecht in den Schattenmantel der Nacht. Einzelne Lichter strahlen ruhig und mit geborgenem Glanz. Manche Lichter singen, ein Ton, eine verschlafene Melodie geht von ihnen aus.

Das ist Deidesheim, warum diese Unruhe, Herz? Warum dieses Hämmern und Toben, warum dieser Frost auf meiner Haut? Warum diese Bangnis, diese Furcht, diese erbärmliche Verlassenheit? Was will ich in Deidesheim, ich wollte doch in Palermo Wassermelonen essen. Man kann eine glutäugige Sizilianerin kennenlernen, warum nicht. Wenn man Glück hat, erlebt man ein Erdbeben, einen kleinen Weltuntergang.

Jetzt bin ich mitten im Städtchen. Irgendwo stelle ich mein Motorrad an eine Häuserwand und lösche das Licht.

Ich gehe durch Straßen und Gassen, man hört jeden meiner Schritte, ein Hund bellt. Merkwürdig, wie laut meine Schritte sind, man sollte in Filzpantoffeln schleichen, Pfoten sollte man haben wie eine Katze.

Ich bin ein suchendes Geschöpf, ein Mensch lange nach Mitternacht, ich durchschnuppere die Straßen. Ich folge einem unsichtbaren Befehl, einem Gesetz in mir, einer Kraft, die keinen Widerstand und keinen Zweifel kennt.

Ich muß hier sein, so ist es, ich muß schnuppern und stöbern und schnobern, ein Schöpfungstrieb plagt mich und jagt mich umher, ich werde wohl überhaupt nicht mehr schlafen können. Horch, jemand singt.

109 Horch hin! Ich gehe der Spur der Töne nach, ich verfolge die dunkle Witterung. Jemand singt, die Nacht ist durchbebt von Tönen, die Nacht schwingt und zittert, eine Brandung bewegter Luft kommt auf, es ist wie auf dem Meere.

Ein schönes altes Haus, eine Mauer, ein tiefer Graben, bepflanzt mit Bäumen, Strauchwerk und Blumen.

Duft strömt aus der Versenkung, die Erde ist aufgebrochen und schleudert Zauberdünste aus.

Große Fenster sind hell erleuchtet. Ein Fenster steht offen. Zwischen mir und dem Fenster liegt der breite, duftverströmende Stadtgraben, ein romantischer Rest aus mittelalterlicher Zeit.

Hier stehe ich im Schatten, kein Mensch kann mich sehen, unter einer Platane laure ich und stehle fremder Menschen heitere Geselligkeit.

Im Hause wird wohl ein Fest gefeiert, es geht hoch her, man ist in ausgelassener Stimmung, die Freude füllt alle Räume. Eine Frau singt, eine fremde Frau singt ein Lied. Ich kenne diese Stimme genau, jede Schwingung ist mir vertraut; das Gewicht, das auf meiner Brust liegt, rührt von dieser Stimme her, das Frieren und Frösteln von dieser Frau.

Beifallklatschen, fröhliches Stimmenchaos, Menschen stoßen mit Weingläsern an und trinken gegenseitig auf ihre Gesundheit und auf ihr Wohlergehen.

Ich wünsche euch gewiß nichts Schlechtes, in des Teufels tiefstem Sud will ich kochen, wenn ich das Verderben über euch wünsche. Glaubt mir, ich wäre selbst gerne vergnügt und würde Späße machen, es war bisher gar nicht meine Art, schwermütig zu sein.

110 Nur jetzt bin ich traurig, ich könnte nicht lachen, um keinen Preis der Welt könnte ich lachen.

Ich will es einmal versuchen, hahaha – furchtbar, wie ich lache, ich erschrecke vor meinem eigenen Lachen.

Menschen fluten am offenen Fenster vorüber, ich sehe auf vorgezogenen Gardinen ihre koboldhaften Schatten. Ein schwarzes Hexenspiel geistert auf den Vorhängen.

Eine Frau tritt ans offene Fenster.

Das ist nicht Ursula, nein, das mag Frau Karola sein. So etwa stelle ich mir Frau Karola vor, man hat mir von ihr erzählt, Schrullen hat sie und absonderliche Launen.

Eine wunderliche Frau muß es sein, dort steht sie am Fenster und scheint abwesend, vielleicht wünscht sie sich Flügel in diesem Augenblick, um in die Nacht, in den überglänzten Raum hinaussegeln zu können.

Ich kann nicht weiterdenken, denn jetzt ist Ursula zu ihr ans Fenster getreten.

Jenseits des Burggrabens, an einem offenen Fenster, im Schwingenschlag des kommenden Morgens steht Ursula. Ursula Ulrichs. Rheingold, Wagenschmiere.

Wenn ich jetzt umsinke, dann nur nicht schreien, nicht um Hilfe rufen. Schrecklich wäre es, wenn man mich hier unter der Platane fände, wenn man einen Arzt rufen müßte; nächtlicher Auflauf von Menschen würde entstehen, Durcheinander von Stimmen, Polizei, Unfall, Zeitungsmeldung.

Und Ursula würde dabeisein, mich erkennen, trotzdem ich unschön entstellt wäre im Gesicht. Sie würde mich erkennen und sagen: Liebe Welt, den Menschen kenne ich doch, wo ist er mir schon begegnet?

Ursula, dort stehst du am Fenster.

111 Dank, heißen Dank für dein Lied.

Ursula, mein Leben für einen Blick aus deinen Augen. Deine Nähe macht mich ruhiger, ich könnte deinen Namen rufen, du würdest mich hören. Ursula, könnte ich rufen, über den Graben hinweg und durch das Meer unruhiger Düfte.

Ursula, einen Tag lang habe ich gelebt, es genügt. einen einzigen Tag zu leben. An diesem Tag fiel das Glück wie Regen auf mich nieder. Ein einziger Tag kann ein Leben aufwiegen, ich habe das früher nie gewußt.

Fort. Das Fenster geschlossen. Lichter verlöschen.

Vorhang herunter, die Menschen verlassen das Theater.

Mimi: Ursula Ulrichs. Plakatsäule in Karlsruhe. Damals. Gestern. Schritte im Garten, im alten Burggraben, wo die ersten Rosen blühen, wo die Jasminhecken duften.

Zwei Menschen, verdeckt vom Gesträuch, Schattenwesen auf klingenden Gartenwegen.

Zwei Menschen unter den Sternen, dahinwandelnd in einer fürchterlichen Gemeinsamkeit.

Der Teufel hat mich zum Zuschauer bestellt, aber ich ertrage es nicht. Langsam gleite ich an der alten Mauer nieder, ich sinke auf die Erde, mein Kopf schlägt gegen den Stein. Der Himmel gähnt mich an wie eine glitzernde Schlucht.

Ich müßte ein Schlafpulver haben, ein sicher wirkendes Mittel.

Es rauscht von den Wäldern her.

Schlaf zwischen Weinbergen, zwischen Blättersäuseln und Wälderstimmen. Schlaf ist Zuflucht. Tod ist letzte Zuflucht. Ich fahre einen engen Hohlweg hinauf, zwischen altem Mauerwerk und Steinblöcken.

Mitten im Meer der Weinstöcke schlage ich mein Zelt auf 112 und krieche in den Schlafsack. Da liege ich auf dem Rücken mit offenen Augen.

Die Erde dröhnt und orgelt, ein rasendes Gebilde im Raum. Es ist nicht die Erde, es ist mein Blut, das rauscht, mein Herz, das dröhnt, meine Sinne, die rasen. Aufruhr durchwühlt meine Brust.

Die Erde ist still und schöpferisch. Alles Schöpferische ist still und verschwiegen. In dieser Mainacht öffnen sich Millionen Blüten, Gräser sprießen, Ackerscholle bricht auseinander, es drängt und schiebt und wächst im Gezweig der Weinstöcke, Getier wird geboren, entfaltet Flügel, Beine, Fühler, dumpfen Trieb. Die Erde gebärt, ihre ungeheuerliche Trächtigkeit kennt keine Schranken. Kein Fleckchen, wo es sich nicht lautlos regt und bewegt, keine Krume, die nicht lebendig wird.

Lautlos, unheimlich lautlos. Das Schöpferische, das Entstehende ist ohne Stimme.

Was gäbe es, wenn das alles dröhnen und klingen und spektakeln wollte, was sich in diesen Mainächten grandios entfaltet! Welch ein Höllenkonzert, welch ein Wiesen- und Wäldertumult, wenn das Wunder des Wachstums sich laut und prahlerisch gebärden wollte!

Vielleicht ist es so still in mir, weil es so groß ist und schicksalhaft, was ich erleben und erleiden muß.

Ich kann mich nicht wehren gegen meine Erschütterungen, gegen das Gewicht in meiner Brust, gegen die Nacht in meinem Herzen. Hier darf ich weinen, niemand sieht meine Tränen, niemand weiß um meine Verlassenheit.

Ich weine wild und hemmungslos, ich sollte mich schämen. 113

 


 


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