Roland Betsch
Die sieben Glückseligkeiten
Roland Betsch

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Gefüllte Blumen und Knoblauch soll man bei Vollmond säen. Bohnen steckt man beim Zwölfuhrläuten, die Erbsen am Markustag gegen den weichen Wind. Wer lange Gelbrüben will, muß sie im Zeichen der Fische säen. Mähen und ernten soll man im abnehmenden Schein, im wachsenden Schein schlägt man sein Bauholz.


Ich lüge, wenn ich sage, daß Karolas Vogelhaus mich in Deidesheim hält, ich bleibe um Ursulas willen, ich denke bei der Flut der Geschehnisse immer nur an sie, ich kann nicht mehr atmen, ohne an sie zu denken, im Wachen und im Schlaf ist sie mein unsichtbarer und unseliger Weggenosse. Ich werde verbrennen, das Feuer in mir selbst wird mich verzehren. Wer mich sucht, kann mich finden. Überrest eines Menschen, der wie ein Krater brannte und dann erlosch. In alle Winde meine Asche.

Ich wandere durch die Weinberge, es wird gearbeitet zwischen den grünen Zeilen, der Werktag ist geschäftig rege, viele fleißige Hände regen sich. In Kellern fließt Wein durch Pumpen und Schläuche, Flaschen werden gefüllt, Kisten vernagelt, es riecht allerorten nach des Herrgotts Wundertrank. Überall wird gearbeitet, nur ich allein taumle durch diesen Sommertag und bin unnütz wie ein vom Winde getriebenes Blatt.

Ich gehe in die Sieben Glückseligkeiten, zu Gulli, dem Riesen, gehe ich. Beim Scherben will ich ihm helfen, ich will meine Hände rühren, erbärmlich ist das Leben eines Tagediebes.

160 »Guten Tag, Gulli.«

»Du bist es, Pappenheimer? Du läufst herum mit einem Mühlenstein.«

»Warum meinst du das, Gulli?«

»Weil du ein Gesicht machst, als ob dir eine ganze Essigfabrik durch den Schlund gerutscht wäre. Paß auf, der Herr ist da.«

»Welcher Herr?«

»Bastian Berghaus.«

Ich will mich umwenden und den Wingert verlassen, da kommt mir ein Herr entgegen, ich weiß, das ist Bastian Berghaus. Er steht schon vor mir, ein großer Mann mit lebhaft funkelnden Augen, mit Güte im Antlitz, man hat keine Furcht vor diesem Weingutsbesitzer. Ich weiß, er hat sein Holz im wachsenden Schein geschlagen, das Leben meint es gut mit ihm.

»Guten Tag, wer sind Sie denn?« fragt der Herr mit dem kurzen grauen Bart. »Ich meine, haben Sie irgendein Anliegen?«

Was soll ich ihm antworten, wie soll ich erklären, warum ich mich hier in fremdem Eigentum herumtreibe.

»Genau genommen, wegen der Schnecken«, sage ich mit bodenloser Frechheit.

»Wegen der Schnecken?«

Herr Berghaus lacht lautlos. Er macht etwas Merkwürdiges mit seinem Mund. Das Gesicht bläst er auf und rollt die Zunge hinter den Backen, als ob er eine heiße Kartoffel im Mund habe und diese weder ausspucken, noch hinunterschlucken wolle. So macht Herr Berghaus, sicher eine kleine, nervöse Angewohnheit.

»Ja, wegen der Schnecken«, flunkere ich tapfer drauflos, 161 »das Schneckenparadies beschäftigt mich Tag und Nacht. Entschuldigen Sie, wenn ich hier eingedrungen bin.«

Der Riese Gulli bückt sich über die Rebstöcke, er hat, wie ich sehe, gegen eine kleine Heiterkeit anzukämpfen.

»Da war doch gestern erst ein Mann bei mir und sprach von Schnecken!«

»Ganz recht, das war Alex, der Dichter Alex. ich weiß nicht, ob Ihnen die Alex-Verse bekannt sind.«

»Was er über Schnecken sagte, war gar nicht so übel. Der Gedanke faszinierte mich.«

»Sehen Sie wohl; ja, er ist ein Schneckenfachmann, er ist eingearbeitet auf Schnecken, ein Schneckenspezialist. Auch ich habe mich mit diesen Tieren beschäftigt. Man könnte 162 zehn Millionen – nehmen Sie an, eine Schnecke legt nur, wieviel gleich – – nur viertausend Eier – –«

»Viertausend Eier, eine einzige Schnecke?«

»Gewiß, man staunt. Ich will keine feste Zahl nennen, auf jeden Fall aber schlummern Millionen in den Schnecken.«

»So, so, das ist also der tiefere Grund, warum Sie hier sind?«

»Ja, das ist der tiefere Grund, bei meinem Wort.«

Herr Bastian Berghaus betrachtet mich ein wenig mißtrauisch und rollt die Kartoffel im Mund.

»Sie machen einen unternehmungslustigen Eindruck, solche Leute kann man heute gut gebrauchen. Sind Sie denn irgendwie bewandert auf landwirtschaftlichem Gebiet? Stammen die Schnecken von Ihnen oder von diesem sonderbaren Herrn Alex?«

»Um nicht zu lügen – von uns beiden.«

»Potzteufel, Schnecken. Ganz gut, wirklich ein Gedanke. Ich muß sagen, daß ich mich schon damit sehr befreundet habe. Keine Übertreibung.«

»Schnecken mit Kräuterbutter, Herr Berghaus, auf einem Salzberg serviert – –«

»Ich weiß, ganz famos. Sie sind ein junger Mensch und haben schon gemeinnützige Pläne im Kopf, das ist erstaunlich, ich freue mich, daß ich Sie hier kennenlerne. Das ganze Land ruht ja auf den Schultern der Jugend; die Jugend muß nun wieder aufrichten, sie muß arbeiten und immer wieder arbeiten. Kommen Sie, setzen Sie sich mal mit mir unter diesen Mandelbaum.«

Das ist also ein Mandelbaum, ich habe es nicht gewußt. Nun gut, aber sagt selbst, ist Herr Bastian Berghaus nicht 163 ein prächtiger alter Herr? Das heißt, von seinem Alter merkt man rein gar nichts, er besitzt einen lebhaften Geist, eine innere Beweglichkeit, vor der man den Hut ziehen muß.

»Gulli«, ruft Berghaus dem Riesen zu, »es ist vier Uhr, warum machst du keine Brotzeit?«

Gulli schwillt dämonisch aus einer Rebzeile hervor, ein Fels steht zwischen Rieslingtrauben, seine Arme bewegen sich wie Propellerflügel.

»Ja«, sagt der Riese und peitscht mit Heftweiden durch die Luft.

Herr Berghaus und ich, wir setzen uns unter den Mandelbaum.

Wie ein Gemälde sitzen wir da. Gulli bewegt sich aus dem Wingert hinaus und pflanzt sich auf eine kleine Stützmauer. Es ist ein Sommertag ohnegleichen, das Herz wird einem warm, es ist wirklich viel Glückseligkeit in der Welt, man muß nur die Augen öffnen.

»Unsere Pfalz«, beginnt Berghaus, »hat ein gesegnetes Klima, ein geradezu südländisches Klima. Wieviel Möglichkeiten bietet ein solches Klima, wieviel Pläne könnte man verwirklichen. Das Klima fordert dazu heraus, man kommt von selbst auf Gedanken, die sich in die Tat umsetzen ließen. Ein solcher Gedanke ist Ihre Schneckenzucht, alle Hochachtung. Mein junger Freund, ich habe die ganze Welt bereist, ich kenne ihre Licht- und Schattenseiten, ich kann Vergleiche ziehen, verstehen Sie mich recht. Und weil man, halten Sie mich nicht für sentimental, sein Stückchen Heimatland liebt, denkt man unaufhörlich darüber nach, wie man diesem Lande dienlich sein, wie man es fördern und seine Bewohner glücklicher und zufriedener machen könnte. Ohne es zu wollen, wird man immer 164 älter, man droht, ins Gras zu beißen, ohne etwas Wertvolles und Beständiges hinterlassen zu haben. Ich habe leider keine Kinder, denen ich irgendeine Sendung übertragen könnte. Kein Mensch aber sollte das Zeitliche segnen, ohne daß irgend etwas von ihm bleibt, daß ein Akkord seines Lebens nachklingt, daß er weiterlebt in der Verwirklichung einer Idee, die das Ganze betrifft, das Wohl der Menschheit, und die auf viele Jahre hinaus deutlich bekundet, daß er nicht umsonst gelebt habe. Ich glaube, Sie verstehen mich, wenn ich sage, man lebt fort im Dienst am Ganzen. So ist es gewesen, seit Menschengemeinschaften vorhanden sind. So muß auch ich Umschau halten, um nicht ein Mensch gewesen zu sein, den man hätte missen können, dies um so mehr, da mir materielle Güter zur Verfügung stehen, die sich nutzbringend verwerten lassen. Ich habe daher allerhand Pläne im Kopf. Da ist zum Beispiel die Seidenraupenzucht – –«

»Stammt sie nicht auch vom Dichter Alex, Herr Berghaus?«

»Keineswegs stammt sie von diesem Alex, ich habe sie aus Frankreich, Italien und China mitgebracht. Unser pfälzisches Klima muß doch dem Maulbeerbaum gut gesinnt sein. Schauen Sie mal in die Ebene hinaus. Wieviel Land vom Donnersberg bis zur französischen Grenze könnte mit Maulbeerbäumen bepflanzt werden, das ganze herrliche Gebirge entlang ließen sich solche Kulturen anlegen. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn hier volkswirtschaftlich kein Vorteil herauszuholen wäre. Glauben Sie nicht auch?«

Er schaut mich fragend an und rollt die Kartoffel im Mund. Gott strafe mich, ich verstehe nichts von Seidenraupen, was soll ich ihm antworten, ich sah nie einen Maulbeerbaum.

165 »Ja, ganz gewiß, Herr Berghaus, die Seidenraupen leuchten mir ganz und gar ein. Wenn eine einzige Raupe nur, sagen wir mal, vierzig Eier legt – –«

Herr Berghaus lacht, er freut sich, daß ich, was die Raupen angeht, eins mit ihm gehe.

»Ich kann mir denken«, fahre ich fort, um mein Interesse noch stärker zu bekunden, »wenn man die Raupen mal im Kopfe hat, dann – –«

Jetzt muß er noch herzlicher lachen, eine Lust, zu sehen, wie Herr Berghaus sich freut.

»Spaß beiseite, junger Herr, hören Sie nur zu: ich habe die Erdkugel bereist, ich weiß, wo uns der Schuh drückt. Hier wächst der beste Wein der Welt. Gut, großartig. Aaaber: hier wächst auch Obst in Hülle und Fülle. Nicht so viel wie in Kalifornien natürlich. Ich kenne Kalifornien, ich habe Verwandte dort, ich besitze sogar eine Plantage drüben. Passen Sie mal auf, das kalifornische Obst wächst, wie es der Züchter will und wünscht, er diktiert dem Obst seinen Willen. Vor allen Dingen wünscht er madenfreies Obst. Die Obstschädlinge rottet er systematisch aus, mit Erfolg. Was der Kalifornier kann, das müssen wir auch können. Meine Bestrebungen gehen dahin, unter allen Umständen madenfreies Obst auf den Markt zu bringen. Madenfreies Obst, junger Freund, eine Lebensaufgabe!«

»Ich gestehe, daß mir die Maden im Obst nie gefallen haben, sie könnten gut und gerne ausgerottet werden.«

»Sehen Sie, so ist es. Ich sage Ihnen, wenn es mir gelänge, madenfreies Obst auf die Beine zu bringen, mein Leben bekäme erst den rechten Inhalt, ganz abgesehen von den Seidenraupen –«

166 »– –– und den Weinbergschnecken«, falle ich ein.

»Das sind große Gedanken, die auf der flachen Hand liegen, dafür Gönner und Mitarbeiter zu erhalten leider bei uns unglaublich schwierig ist. Wissen Sie, woran es noch fehlt? Es müßte mehr darüber geschrieben werden, ganze Bücher sollte man auf den Markt werfen und die Allgemeinheit dafür gewinnen. Grotesk, zu denken, daß man Fernsehen kann, daß man in drei Tagen nach Pernambuco fliegt, daß man geheime Absichten auf die Mondoberfläche hat und nicht mal madenfreies Obst bei uns zuwege bringt.«

»Bei dieser Gelegenheit, Herr Berghaus, wäre auch des Knoblauchsanatoriums Erwähnung zu tun.«

»Schweifen Sie nicht ab, mit Knoblauch habe ich nichts zu tun, der geht mehr die Kurpfuscher an, ich weiß nur, daß man ihn bei Vollmond sät. Was ich sagen wollte, es müßten Bücher geschrieben werden über brennende volkswirtschaftliche Probleme, die Nationalökonomie ist heute die wichtigste Wissenschaft. Es wird Sie nicht interessieren, aber mir kommt jetzt da ein Mensch in die Verwandtschaft, der dem Teufel vor die Schmiede geht. Schon sein Vater hat sich überall da eingesetzt, wo es um das Wohl des Ganzen ging. Dieser Mensch ist Schriftsteller geworden, ohne es eigentlich zu wollen. Ein typisches Nachkriegsschicksal. Er setzte sich im Ruhrkampf für seine Heimat ein, er war einer jener Freibeuter der Nation, die damals den Glauben an Deutschland aufrechthielten. Er mußte flüchten, sonst hätten ihn die eigenen Landsleute noch an die Franzosen verraten. Ich half ihm zur Überfahrt nach Kalifornien. Zu gleicher Zeit wanderte auch eine Schwester von mir mit ihren Kindern nach Kalifornien aus. Der Mann dieser Frau kam ums Leben, durch die unbewußte Schuld des jungen 167 Menschen. Ich habe dafür gesorgt, daß sie in Kalifornien drüben ein gutes Unterkommen fanden, ich sagte Ihnen, daß ich eine Plantage drüben besitze. Jetzt sind sie unerwartet zurückgekommen, der junge Mann ist inzwischen der Bräutigam meiner Nichte geworden, die als Sängerin einen gewissen Ruf erlangte. Beide haben die Absicht – aber, Sie zittern ja, warum zittern Sie denn?«

»Ich zittere nicht, Herr Berghaus, nur ein kleines Frieren, das kommt manchmal so über mich. Sie sprachen von den Büchern, von den madenfreien Büchern – – –«

»Richtig, ich bin ganz aus dem Geleise gekommen. Was wollte ich sagen, natürlich, der junge Mann ist Schriftsteller geworden. Und was, so frage ich Sie, schrieb er als Erstes? Was meinen Sie denn?«

»Er schrieb, Herr Berghaus, am Ende den Roman seiner Liebe? Den Roman seiner sieben Glückseligkeiten?«

Jetzt muß man sehen, wie Herr Berghaus die Kartoffel rollt, weil er nämlich so erstaunt ist und nicht begreifen kann, woher ich um diesen Roman weiß.

»Sie wissen mehr, als sich auf den ersten Blick ahnen läßt. Richtig, er schrieb einen Roman, nicht über madenfreies Obst. Woher wissen Sie – –?«

»Nichts als ein abenteuerlicher Zufall.«

»Dann ist Ihnen also der Roman bekannt?«

»Er ist mir sehr bekannt.«

»Wissen Sie auch, daß Sie hier in den Sieben Glückseligkeiten sitzen?«

»Das hat mir der Riese Gulli gesagt.«

»Die Bezeichnung stammt aus Peking. Ich war lange in China und wohnte in einer Straße, die hieß die Straße der 168 Sieben Glückseligkeiten. Ich habe meine beste Weinlage so genannt, weil sie aus sieben übereinanderliegenden Parzellen besteht. Am Ende kennen Sie auch den Verfasser des Romanes?«

»Wenn er Wolf Hagen heißt und eine graue Strähne im Haar hat, dann kenne ich ihn. Wenn er ein taubenblaues Auto besitzt, dann kenne ich ihn erst recht. Und wenn er gar der Sohn eines merkwürdigen Anglers ist, der am Rhein sitzt und mit seinem seltenen Schicksal nicht zuwege kommt, dann kenne ich ihn zum dritten Mal. Und wenn Fräulein Ursula Ulrichs seine Braut ist, dann – – –«

»Bitte nicht weiter! Sagen Sie mal, bester Fremdling, wer sind Sie denn? Sie kennen die Verhältnisse, als ob Sie Waschfrau in der Familie wären?«

»Das ist auf die Knodener Kunst zurückzuführen. Denken Sie sich, Herr Berghaus, es leben da auf dieser Erdkruste einige Familien, die durch Lebensfügungen und Schicksale eng zusammenhängen. Die Zusammenhänge sind unsichtbar, aber sie bilden ein Netz. In dieses Netz gerät ein wildfremder Mensch, es ist um diesen Armen gespannt wie eine gewaltige Kugel. Wohin nun auch der gefangene Tropf schwimmen mag, immer wird er gegen das Netz stoßen. Betrachten Sie mich genau, Herr Berghaus, ich bin jener junge Buchhändler, der Zuschauer war, als der Rheingold mit dem Onkel, aber ohne Fräulein Ursula davonfuhr.«

Bastian Berghaus muß fortgesetzt Kartoffeln rollen, da sitzt er unterm Mandelbaum, hat die flachen Hände auf die Knie gestützt und zieht eine Unmenge Falten in die Stirn.

»Der Buchhändler, richtig, der Buchhändler. Und Ursula, sagten Sie nicht Ursula? Haha, das ist ein ganz köstlicher 169 Spaß. Sie hat mir das natürlich alles erzählt. Urkomisch, wie der Sohn am Rhein seinen Vater suchte und – – und – –«

»– – und die Braut fand, die den Schwiegervater gar nicht kannte. Hahaha.«

»Hoho, so wird es wohl gewesen sein, nun ja, meinetwegen. Komödie muß sein. Sie werden schon dahinter kommen, junger Freund, ich will hier keine Enthüllungen machen. Aber sagen Sie selbst, konnte ich es günstiger treffen? Sprachen wir nicht von Büchern? Gottesknabe, ich bin bei Ihnen an der rechten Adresse. Wir müssen noch darüber reden, der Zufall führt mir einen Fachmann in den Weg. Sie sollten meine Pläne aufgreifen, wenn Sie leistungsfähig sind – –«

»Wir haben vier Schaufenster, Herr Berghaus.«

»Sie sollten sich mit mir und Wolf Hagen zusammentun, wir könnten etwas Großartiges zuwege bringen. Das madenfreie Obst, die Seidenraupen, die Schneckenzucht, merken Sie nicht, wie unser Horizont sich vergrößert. Nebenbei gefragt, hat Ihnen diese – – diese Ursula vielleicht den Kopf verdreht? Tollheiten, Jugenddummheiten, machen Sie sich nichts daraus. Wenn der Wirrkopf erst mal verheiratet ist, dann wird alles anders. Haha, eine lustige Komödie. Doch zur Sache.«

Ein scharfer Stahl dringt durch meine Brust, aber ich bleibe fest, ich lache Herrn Berghaus an.

»Ja, zur Sache. Die Seidenschnecken – die Raupenschnecken, ich bin ein wenig wirr, Herr Berghaus, halten Sie mich nicht für zerstreut – – mir fällt plötzlich ein Schleier von den Augen, es gilt in der Tat, Großes zu erreichen.«

»Als Buchhändler werden Sie wissen, daß in Deidesheim ein Mann wohnt, der bereits ein Standardwerk über den 170 gesamten Weinbau schrieb. Er hat mir das vorweggenommen, alle Hochachtung. Ich würde, wenn es nicht schon getan wäre, mich auch diesem Werk zugewandt haben. Auch die Geschichte des Vogelhauses ist, menschlich gesehen, von sozialer Bedeutung. Die Idee meiner Frau ist gar nicht von schlechten Eltern. Gelingt es, durch allmähliche Veränderung der Gewohnheiten und der Umgebung einen wandernden Menschen an die Scholle zu binden? Könnte man das Millionenheer der Ruhelosen, der Heimatlosen, der ewigen Wanderer, könnte man dieses Menschenaufgebot seßhaft machen? Welche Perspektiven für einen Menschen mit außergewöhnlichem Unternehmungsgeist!«

Meine Erlebnisse im Vogelhaus kommen mir plötzlich ins Gedächtnis, ich sehe das alles wie einen großartigen Spuk an mir vorübergleiten. Keine Briefmarke ist seltener, als zum Beispiel ein Elwetritsch.

Wo ist eigentlich Gulli, denke ich und schaue mich nach dem Riesen um. Dort steht er in einer Wingertzeile, und bei ihm steht Ursula. Ich erkenne sie deutlich, mein Herzschlag stockt, aber ich bleibe ruhig. Wie sollte mich Ursula bewegen, ich habe andere Pläne im Kopf. Seidenraupen und Obstmaden und eßbare Schnecken, was soll mir Ursula, die ihr unseliges Spiel mit mir trieb.

Sie kommt die Zeile heran zum Mandelbaum. Jetzt erst erkennt sie mich. Siehst du, Schlange, nun weicht die Farbe aus deinem Antlitz, nun wirst du bleich wie eine Mondnacht, du ewige Theaterschlange.

Du legst den Zeigefinger heimlich auf den Mund, ich verstehe gut, ich soll schweigen, das Abenteuer im Rheinwald soll 171 ich mit mir allein ausfechten. Keine Angst, ich treibe kein Schindluder mit meinem tiefsten Erlebnis.

»Guten Tag, Fräulein Ursula«, sage ich. Ja, so sage ich.

»Herr Buchhändler? Nein, wirklich?«

Sie tut, als ob ich vom Mandelbaum gefallen wäre, sie ist verwirrt, ihren Onkel schaut sie beschwörend an. Der Onkel lächelt, verdammt, wie lächelt der Onkel. Die heiße Kartoffel – – –

»Ursula!« sagt er jetzt, »du siehst, dein Buchhändler ist auch hier eingelaufen. Komm, setze dich unter den Mandelbaum, setze dich an des Buchhändlers Seite.«

Wer sagt, daß dies keine Theaterszene ist, dem will ich zwischen Tag und Dunkel den Garaus machen. Richtig, ich sah einmal eine Katze; sie hatte eine Maus gefangen, sie spielte mit der Maus. Die Maus, im törichten Wahn nach Flucht, wurde immer elender und erbärmlicher, bis sie zuletzt – – was denn?

»Ich möchte nun gehen, Herr Berghaus, ich habe Ihnen lange genug die Zeit gestohlen, Herr Alex erwartet mich.«

»Aber nein, ich habe Zeit für Sie«, sagt Berghaus, »ich habe noch viel mit Ihnen zu besprechen. Bleiben Sie hier sitzen, ich will nur dem Gulli sagen, daß er – – na ja, die Anwesenheit meiner Nichte wird Sie nicht beängstigen.«

Er geht die Wingertzeile entlang, und ich sehe, daß er im Gehen das Bein ein wenig nachzieht.

»Ich habe es eilig, Herr Berghaus!« rufe ich ihm nach, »genau genommen, wollte ich ja nach Sizilien, nach Afrika und zu den Goldwäschern. Nein, ich möchte wirklich gehen.«

Ich treffe Anstalten, mich zu verabschieden, hier ist kein Platz für mich.

172 »Du sollst jetzt nicht fortgehen«, flüstert mir Ursula erregt zu.

»Ich habe kein Anliegen mehr«, sage ich bitter und gequält.

Sie schaut mich an, ihre Augen sind traurig, sie hat den Kopf geneigt und blickt mich von unten herauf an. Dank, Ursula, nur für diesen einzigen Blick.

»Du sollst nicht fortgehen, hörst du. Ich bin froh, daß ich dich hier getroffen habe.«

»Das ist viel zu spät, Ursula. Ich habe große Pläne, ich will mich mit Dingen beschäftigen, die uns alle angehen. Ich zerschneide das Netz.«

»Welches Netz denn?«

»Ich bin keine Maus. Schau mich genau an, findest du, daß ich eine Maus bin?«

Ursula lächelt mich an, bezaubernd, Ströme von Betörung gehen von ihrem Lächeln aus.

Ach, um das Lächeln eines Menschenmundes, eines Menschenantlitzes! Was alles kann sich spiegeln in einem kleinen Lächeln! Liebe und Haß, Verschlagenheit, Bosheit, Glück und Grausamkeit, Wunsch und Zufriedenheit, Rachsucht, Begierde, Verrat und Lüge und Dankbarkeit, Lust und Schmerz, Geburt und Tod. Alle Regungen der versteckten Menschenbrust enthüllen sich im Lächeln. Das Lächeln ist ein Verräter am Geheimnis der Seele, das Lächeln plaudert alle verschwiegenen Gefühle aus.

Bastian Berghaus kommt zurück.

»Da will ich also gehen«, sage ich zu ihm und strecke ihm die Hand hin. »Was Sie mir auseinandersetzten, hat mich innerlich bewegt. Ich sehe irgendwo ein Ziel, das erstrebenswert ist. Ich darf gewiß noch einmal mit Ihnen darüber plaudern.«

173 »Aber natürlich, ich stehe Ihnen immer zur Verfügung. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mich auf die Weinbergschnecke gebracht haben.«

Welche Lüge von mir, keine Ahnung habe ich von Schnecken, die Idee stammt von Alex, ich zehre von seinen Einfällen, es ist schändlich und lasterhaft.

»Wenn erst mal die Hochzeit vorbei ist, dann haben wir recht Muße, uns mit der Sache zu beschäftigen.«

Und mit einem ironischen Augenzwinkern fügt er hinzu: »Haben Sie denn nicht Lust, auf die Hochzeit zu kommen, Sie sind herzlichst eingeladen? Habe ich recht, Ursula?«

»Ja«, sagt Ursula und hat den Blick gesenkt.

Ich mache mich davon, es ist nicht zu ertragen, hier noch länger zu verweilen.

»Aber so bleiben Sie doch!« ruft mir Ursula nach, ihre Stimme klingt gereizt und schmerzlich. Im Gehen wende ich mich um und schaue sie an. Ihre Augen sind tränenfeucht, sie ist eine Komödiantin. »So bleiben Sie doch! Ich habe Ihnen etwas zu sagen. Ich habe Sie angelogen, alles war Lüge, nichts als Lüge. Hören Sie, was ich – – –«

Bei Gott über den Wolken, ich lasse mich nicht aufhalten, ich gehe weiter, ich verlasse die Sieben Glückseligkeiten.

Ich schreite dahin, hinter den Weinbergen schimmert die Ebene herauf, das Land scheint zu schwingen und zu beben. Überall Maulbeerbäume, denke ich, und Seidenraupen, ein herrlicher Gedanke. Die Schnecke als Volksnahrungsmittel. Verdienst für viele Tausende. Und madenfreies Obst, wahrhaftig eine Lebensaufgabe.

Ich bin keine Maus, Ursula, ho hoo. Ein Mensch hat Pech, wird überfahren und liegt im Spital. Fährt auf einem 174 geschenkten Motorrad davon und wird unterwegs zum Spielzeug, zum lebendigen Gerümpel, zum Kulissenschwindel, besten Dank, zu viel Aufmerksamkeit.

Meine Schritte werden immer rascher. Ich komme nach Deidesheim und renne nur so durch die Gassen.

»Langsam, Freund«, ruft mir jemand zu. Das Radieschen. »Alles mit Maß, hot der Schneider gsagt un sei Frau mit der Elle totgschlage. Also Ihr Gehöröl, ich sag bloß prima. Mei Ohreweh is wie weggebloose, ich hör uff Engelsohre. Un mei Verspreche, das halt ich. Heut abend steige wir zwei in de Weinkeller, verstande?«

»Ja«, sage ich, »das freut mich, Radieschen.« 175

 


 


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