Richard A. Bermann
Das Urwaldschiff
Richard A. Bermann

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Viertes Kapitel

Am nächsten Tag verließ der »Hildebrand« seinen Ankerplatz am Kai und fuhr ein großes Stück stromabwärts, bis zu einer kleinen runden, waldverwachsenen Insel. Dort warf er von neuem seine Anker aus, und ein großer flacher Flußdampfer ankerte neben ihm; den ganzen Tag knarrten die Krane, die die Ladung des großen Schiffs auf das Deck des kleineren hinabließen. Der liebenswürdige Schiffsdoktor erzählte den Passagieren, dies seien eben die für Parà bestimmten Güter, aber der Obersteward hatte verraten, daß auch die Ballen ausgeladen wurden, die der »Hildebrand« stromaufwärts nach Manaos hätte bringen sollen: daß die Reise mißglückt war und hier ihr Ende finden würde, konnte man vernünftigerweise kaum mehr bezweifeln. Es gab noch Optimisten an Bord, die dennoch weiterzukommen hofften; konnte diese unleidliche Revolution im Staate Amazonas nicht ganz plötzlich zusammenbrechen?

Unterdessen schien es, als dehnte sie sich aus, ja, als stünde ein Angriff der Rebellen auf Staat und Stadt Parà unmittelbar bevor. Eben wegen dieser Möglichkeit hatte man den »Hildebrand« in diesen stillen Winkel gebracht, näher an die Flußmündung und das offene Meer. Einmal oder zweimal täglich fuhr ein kleiner Tender mit dem schrägen roten Kreuz der Booth Line auf seiner Flagge zwischen der Stadt und dem »Hildebrand« hin und her, und es stand den Passagieren frei, einige Stunden an Land zu verbringen.

Die wenigsten machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, man konnte keineswegs wissen, ob man, fuhr man in die Stadt, den 81 »Hildebrand« nachher noch hier vorfinden würde. Die wenigen Wagemutigen, die dennoch einen Nachmittag in Parà verlebten, kamen, als halbe Helden bestaunt, mit Reiseandenken zurück, die sie in Eile zusammengekauft hatten, große polierte Schildkrötenschalen, die Haut einer Boa, Jaguarfelle, Schächtelchen und Zigarettenkassetten aus edlem brasilianischen Buntholz, weiße Reiherbüsche, indianischen Kopfschmuck aus farbigen Tukanfedern und bemalte Indianerpfeile, mit denen kein Indianer hätte schießen können. Außerdem brachten diese ausgeschwärmten Sendboten Zeitungsblätter zur Arche zurück, aus denen keinerlei wirkliche Nachricht zu entnehmen war, und Gerüchte, die man ihnen im Grande Hotel und in den Geschäften zugeflüstert hatte: die Flotte der Revoltosos, eine mysteriöse und sehr gewaltige Flotte, hatte längst das Sperrfort von Obidos passiert, nein, sie lag schon in der Flußenge, zwischen den vielen Inseln, nein, sie hatte auf irgendeine geheimnisvolle Art sich schon unmittelbar vor die Stadt geschlichen und sich versteckt, eine ungeheure Armee würde landen, nein, war gelandet, heute nacht begann das große Massaker – Nein, die Panzerschiffe der Bundesregierung waren unterwegs, bei Salinas hatten Fischer sie in den Strom einfahren gesehen – –

Daß die Behörden in Parà fieberhaft rüsteten, Reservisten einberiefen, im Hafen Geschütze aufstellten, aus den lahmsten Flußdampfern Kanonenboote machten, durfte als eine Tatsache gelten.

Die Mehrzahl der Passagiere des »Hildebrand« brachte den heißen Tag lethargisch zu, in den Deckstühlen. Einige besonders Energische britischer Nation hatten trotz der Hitze eine neue Deckgolf-Konkurrenz gestartet, mit schönen Preisen; eine groteske Idee des Schiffsdoktors: nämlich, da man schon vom Amazonenstrom so gut wie nichts zu sehen bekommen sollte, zum Trost wenigstens einen Vortrag über ihn zu halten, im Speisesaal, mit Lichtbildern – fand merkwürdigerweise 82 viel Anklang; es tröstete sich überhaupt jeder auf seine Weise, die ältere Miß Macpherson, indem sie den ganzen lieben Tag Schmetterlinge spießte, und Mister Smith, dem das Pilsener im Grande Hotel ohnehin nicht geschmeckt hatte, mit einer Bottle of Baß, öfter appliziert – –

Den weniger Geduldigen oder weniger Stumpfen blieb (außer in Anwesenheit von Damen) das Fluchen unbenommen, das wütende Auf- und Ablaufen auf dem Promenadendeck, und Lady Athill rannte, durch nichts aus ihrer lächelnden Ruhe gebracht, ihre vorschriftsmäßigen Meilen ab, während der Lord still und müde in seinem großen Sessel aus weißem Madeirageflecht saß, neben dem weißhaarigen Dr. Carson, der unerschütterlich weiter seinen Urlaub verbrachte; es gesellte sich zu diesen beiden jetzt öfter Hilary und ließ sich rechts vom Lord auf den Sessel der Lady nieder; die drei sprachen leise und angelegentlich von Bernhard Schwarz. Der saß fast den ganzen Tag stumm und stumpf im Rauchsalon, meist neben dem Mister Smith und seiner Bottle of Baß, und ließ das Geschwätz des Alten an sich herabrieseln; nochmals an Land zu gehen hatte er nicht unternommen. Manchmal konnte man ihn auf der von allen Passagieren gemiedenen Sonnenseite des Schiffs stehen sehen und zu der kleinen Urwaldinsel hinüberstarren, der man nahe gegenüberlag, oder weiter hinaus zu dem schillernden Wasserstreifen, der sich zwischen den anderen Inseln verlor – der Einfahrt in die berühmte Flußenge, die im illustrierten Prospekt so poetisch geschildert worden war, der schmalen Straße, in der das behutsam gesteuerte Schiff fast an die Urwaldbäume hätte anstreifen sollen. Zu der Tageszeit, da diese Seite im Schatten lag, sahen auch die anderen Reisegefährten viel in diese Richtung, der geheimnisvollen Flotte der Revoltosos wegen: mehr als einer hatte plötzlich ihre Rauchfahnen zum Himmel steigen gesehen, ja, die Waffen 83 ihrer Bemannung blitzen, abgesehen davon, daß der Kanonendonner fortwährend zu hören war – wenn man allein war und niemand dabei. Am Abend sah man in den Wäldern geheimnisvolle Feuer auflohen. Vielleicht lagerten Insurgenten auf einer Lichtung, vielleicht räucherte ein Mestize den Saft des Gummibaums.

Während dieser Zeit saß Bernhard Schwarz tagsüber in dem Rauchsalon aus mechanischer Gewohnheit der großen Landkarte gegenüber, die ihn nichts mehr anging. Oder er lag in seiner Kabine auf dem schmalen Lager. Er hätte immer dort liegen mögen, allein und im Halbdunkel, aber durch die mit einem Moskitonetz verschlossene Luke kam zuwenig Luft in die Kabine. Bernhard Schwarz war müde, schwach, man sah ihn älter werden. Er führte sich gar nicht mehr närrisch auf, ging wie ein normaler älterer Herr gekleidet, war respektabel wie ein Engländer. Dem Mister Smith gefiel er so viel besser. Sie tranken öfters zusammen eine Flasche Ale.

Nach einem dieser leeren Tage ging die Sonne endlich unter, das goldbraune Wasser des Stromes wurde kupferrot, blutrot, violett; im Westen, in der Glorie des sinkenden Sonnenballs, sah man phantastische Umrisse ferner Dinge, goldene Inseln, die man nicht geahnt hatte. Eine Gruppe von Passagieren, am Bug vereinigt, entdeckte mit einem herrlichen Gruseln wieder den Rauch der Rebellenflotte, diesmal war sie es aber ganz gewiß. An diesem Abend würde der Angriff erfolgen. Auch hatte man für diesen Abend eine kleine Tanzerei auf Deck verabredet. Was konnte man denn sonst tun?

Lord Athill lag in seinem Sessel aus weißem Geflecht; über seinem feinen Kopf war in die Lehne des Sessels eine geschmacklose Inschrift eingeflochten: Madeira 1924. Athill lag da, matt wie immer, in einem dunkelgrauen Lüsteranzug und einem seidenen Hemd, sein schmales, runzliges Gesicht war bleich. Neben ihm lag der Dr. Carson, mit viel 84 weißerem Haar, aber ganz voll Kraft und Blut, mit abgeklärter Weisheit und guten Beefsteaks in seinem Innern. Er trug eine dunkle Brille und sah in die sinkende Sonne. Lord Athill sah auch in die Sonne, mit trüben, alten Augen, die keine dunkle Brille brauchten.

»Gut,« sagte Dr. Carson, »ich gehe und spreche mit ihm!« Er stand auf, mit einem leisen Seufzer der überwundenen Faulheit, aber mit gut funktionierenden Gelenken, elastischen Muskeln. Er machte dem Lord das Viertel einer Verbeugung, weil er eben doch ein Lord war, und nickte ihm zu als einem geschätzten Freund, der sich eben jetzt Anspruch auf menschlichen Respekt verschafft hatte: es war eine ziemlich bemerkenswerte Mission, die Dr. Carson da für Lord Athill anzutreten im Begriffe war.

»All right, ich gehe«, sagte der Doktor.

»All right«, sagte der Lord, müde. Er sah nur noch die traumhaft schönen Farben des Sonnenuntergangs. Welch ein herrliches Erlöschen! Welches Licht bis an den äußersten Rand der Dunkelheit! Nicht jeder Sonnenuntergang war so schön, so farbig. –

Eric Lord Athill hatte im Krieg seinen einzigen Sohn verloren. Es war seither von ihm nicht mehr viel übrig als ein gequältes Hirn, matte Nerven und ein bißchen matte und tolerante Menschengüte. Er nahm mehr als der Arzt Carson Anteil am Schicksal dieses Deutschen, des Mister Schwarz. Lord Athill wußte, wie das ist, wenn einer plötzlich finden muß, daß sein Leben keinen Sinn mehr hat.

 

Dr. Carson fand Schwarz nicht auf Deck: er hatte den Sonnenuntergang nicht ertragen können, die fernen Urwaldinseln umstrahlt von Gold und Purpur, das war zuviel, er verkroch sich vor dieser Glorie in seine Kabine.

Er bewohnte so ziemlich die kleinste und schlechteste Kabine auf dem 85 Dampfer, mit einer Luke, die auf das Vorderschiff hinaussah und hinaushörte: in der Nacht drangen alle Geräusche des seemännischen Dienstes zu ihm herein, das Pfeifen des Bootsmanns, das Trampeln der Matrosen. Seitdem hier im Hafen auch bei Nacht Kohlen geladen wurden, war diese Kabine ein kleines Inferno. Der winzige Raum, dumpf und heiß jetzt, so wie er unterwegs in kälteren Meeren zugig gewesen war, schien noch kleiner, so voll war er mit den romantischen Zeltblättern und Ledergamaschen des Urwaldträumers, der natürlich keine großen Hängekoffer im Gepäckraum stehen hatte. Gerade daß auf dem schmalen Bett Platz für ihn war; da lag er, in Hemdsärmeln, und starrte zu der weißen Kabinendecke empor, die eine Eisenleiste in zwei Teile zerschnitt; auf der Kante dieses eisernen Balkens saß eine Unmenge von Schmetterlingen, großen grauen Nachtfaltern und kleinen Motten; es war rätselhaft, wie sie in die Kabine gekommen waren, deren Fensterluke der Moskitos wegen ein enges Drahtgitter verschloß, so wie an Stelle der in diesem Klima entfernten Türfüllung ein zweites solches Drahtnetz angebracht war. Es gab auch wirklich keine Mücken in der Kabine, aber die Schmetterlinge fanden auf eine ganz mysteriöse Art ihren Weg in jeden Raum des Schiffes.

Dr. Carson kam durch den schmalen Gang zu der Kabinentür und sah durch das Drahtnetz ins Innere. Irgend etwas in den Zügen des auf dem Bett liegenden Mannes bewog ihn dazu, weder anzuklopfen noch sonstwie seine Anwesenheit mitzuteilen, sondern einfach die Tür aufzuklinken, die nicht verriegelt war. Er trat ein, ohne ein Wort zu sagen, und machte sich zunächst mit ein paar energischen Bewegungen auf dem einzigen vorhandenen Sitz Platz, dem Polsterbänkchen unter der runden Fensterluke; den Kram, mit dem die Bank vollgeräumt war, legte Carson ruhig und sachlich auf einen Koffer, und zuoberst legte er seinen weißen Leinenrock, den er gleich ausgezogen hatte: die Hitze 86 in der Kabine war kaum erträglich. Dann setzte er sich nieder und sah den Mann auf dem Bett aufmerksam einige Zeit an. Carsons schmaler angelsächsischer Kopf, von der Form einer vorn scharf werdenden Axt, sah in diesem Augenblick gut und vertrauenerweckend aus; die Stirn unter den ganz weißen Haaren strahlte rosig vor Jugendlichkeit und Seife, die Augen unter dem von zuviel Golddraht eingefaßten Kneifer waren vielleicht etwas kühl, aber sie blickten nicht unfreundlich, der Mund sah, von keinerlei Bart gehemmt, ganz fein und zart aus, die derbe Energie residierte im Kinn. Er kam da herein, nicht wie ein Besucher in ein fremdes Zimmer, sondern wie ein Arzt in eine Krankenstube, und der Patient verstand das sofort, er benahm sich wie ein im Fieber schlecht gelaunter Kranker, wälzte sich ein wenig im Bett herum und sah den Doktor an, sagte aber kein Wort, machte auch keinerlei Versuch, aufzustehen oder die Honneurs seiner Wohnung zu machen, nichts dergleichen. Nur einen Freund oder einen Arzt konnte man so empfangen. In seinem Blick war auch etwas von der kindischen Klage, mit der wir einen Arzt anblicken: Hilf mir, du kannst mir ja doch nicht helfen!

Dr. Carson sagte: »Well, Mister Schwarz – –«

Er saß auf der unbequemen schmalen Bank mit auseinandergespreizten Knien, wie eine Statue der Selbstsicherheit anzusehen; im Grunde war er schüchtern und eben ein wenig verlegen. Er hielt, nachdem er »well« gesagt hatte, inne, räusperte sich, es klang unwahrscheinlich, und sagte noch einmal: »Well, Mister Schwarz – –«

Dann, mit einem kraftvollen Ruck: »Sehen Sie her, es hat keinen Sinn, daß Sie die Sache so schwer nehmen. Es gibt auch andere Leute auf dem Schiff, die den Amazonenstrom gern etwas besser kennengelernt hätten – Lord Athill zum Beispiel – –«

(Jetzt kam, was Athill vorhin mit Carson besprochen hatte, er 87 brachte es rasch und in etwas steifen Worten vor, die leicht und plausibel klingen sollten.)

»Sehen Sie, Athill ist nicht gesund, das Klima tut ihm nicht gut, es war nicht sehr klug von ihm, die Reise zu unternehmen, er wird es kein zweites Mal tun. Aber es ist sehr leicht möglich, daß ich selbst im nächsten Jahr meinen Urlaub wieder hier verbringe. Wollen Sie die Reise nicht auch im nächsten Sommer wiederholen? Oder schon im Frühjahr?« –

Schwarz verzog sein Gesicht zu einer abscheulichen Grimasse, es floß ihm Speichel in den Bart, er murmelte etwas Abwehrendes.

Dr. Carson achtete nicht darauf, redete weiter: »Ich denke, da Ihnen gar so viel an dieser Reise liegt, könnte man es möglich machen – Lord Athill hat ein Interesse daran, ich meine, er möchte, daß Sie ihm nachher berichten, wie Sie die weitere Strecke gefunden haben; nämlich ich als Arzt – –« Er verhaspelte sich kläglich, lächelte kurz, brach sich dann entschlossen einen Weg durch das Gestrüpp seiner frommen Lügen. »Mit einem Wort, Schwarz, Lord Athill mag Sie leiden, das haben Sie wohl bemerkt, er ist ein reicher Mann – well, gerade heraus, wenn Sie im nächsten Jahr Geld brauchen, um die Reise zu wiederholen, Lord Athill macht sich ein Vergnügen daraus, es Ihnen vorzustrecken – Er hätte es Ihnen selber gesagt, aber ich dachte, es ist besser, wenn ich –«

Er hielt inne, wartete auf eine Antwort. Bernhard Schwarz hatte, seitdem Dr. Carson in die Kabine getreten war, noch kein verständliches Wort gesprochen; jetzt setzte er sich langsam in seinem Bett auf, unter dem offenen Hemd sah man die schmale und haarige Brust schwer atmen, über sein Gesicht hatte er jede Kontrolle verloren, es verzerrte sich seltsam, zuckte, schien Tränen zu lächeln und Gelächter zu weinen.

88 »Lassen Sie das,« sagte er mit einer Stimme, die dennoch vollkommen ruhig klang, nur unnatürlich tief, »lassen Sie das! Ich weiß, daß der Lord es gut meint, und Sie auch, und Herr Hilary – – aber Sie verstehen das nicht – – es ist keine Geldfrage, jetzt nicht mehr!«

Er saß am Rande des Betts. Man sah immer deutlicher, daß Carsons Worte, daß Athills gütiges Angebot ihn tief erfreuten, trösteten, er verlor diesen kindisch kläglichen Ausdruck von vorhin, es geschah in seinem Gesicht ein förmliches Schmelzen, ein Eisgang der Gefühle. Er würgte und schluckte ein bißchen, bevor er sprechen konnte, dann kam es, ein noch von Schollen gehemmter Strom, aber immer rascher, immer freier. Das Sonderlingtum, das an ihm gehaftet hatte, war wie weggeschwemmt, hier saß nur ein trauriger Mensch, ein sehr männlicher alter Mann, der herzlich zu einem Freunde sprach.

»Doktor Carson, die Sache ist – – Wissen Sie eigentlich, daß ich verheiratet bin? Haben Sie mich für einen alten Junggesellen gehalten, wie? Also nein, ich habe eine Frau, erwachsene Kinder – – Ob Sie das Ganze begreifen können, weiß ich nicht, aber ich glaube, Sie werden verstehen – – Also ein Mensch wird in einer bürgerlichen Existenz alt, in einer langweiligen kleinen Stadt, in einem Beruf, der . . . Nicht ganz die richtige Frau geheiratet, auch noch, aber nein, es hat keinen Sinn, sich über sie zu beklagen, sie kann nicht das mindeste dafür, leidet selbst genug darunter – – Das Beste, was der Mensch unter solchen Umständen tun kann, ist vielleicht: sich ergeben, alt werden und schließlich sterben, es liegt nicht soviel daran. Man hätte vielleicht noch nebenbei Briefmarken sammeln sollen, an etwas muß der Mensch sein privatestes Herz hängen, an ein Spiel, wenn nicht an einen Menschen oder eine Idee – – Also nein, in mir ist das so sonderbar gewachsen, der Gedanke dieser bestimmten Reise, 89 ich weiß gar nicht, heute kommt es mir selbst sonderbar vor, daß es gerade der Amazonenstrom war, ich habe als Knabe ein Buch darüber gelesen und mich seither immer danach gesehnt, nach dieser Ferne, Weite, Freiheit – Dann später, verstehen Sie, Dr. Carson, wenn Sie das Gefühl haben, Sie möchten entrinnen, sich verstecken, nicht mehr zurücksehen können, verstehen Sie, daß man gerade von dem dichtesten Urwald zu träumen beginnt? In den geheimen Stunden, in denen man sich mit sich selbst befassen kann? Ich hätte Briefmarken sammeln sollen, es wäre gescheiter gewesen, aber ich habe illustrierte Prospekte von Reisebureaus gesammelt, jahrzehntelang – Sie müssen sich das richtig vorstellen: ein ganz normaler Realschullehrer, Ehemann, Familienvater, vielleicht ein bißchen scheu und im Grunde einsam. Nicht einmal Sorgen haben wir gehabt, es wäre vielleicht ganz gut gewesen . . . Nein, ich habe immer ein bißchen privates Geld gehabt, nicht viel; wenn ich es Ihnen in englische Pfunde übersetzte, würden Sie nur lächeln. Aber es hat mir sogar ermöglicht, vorzeitig in Pension zu gehen, nach dem Umsturz, als die Tschechen unsere deutsche Realschule auflösten. Ich habe mich nicht anderswohin versetzen lassen, es war mir wie ein Wink des Schicksals. Wissen Sie, daß ich Leitmeritz fast zwanzig Jahre nicht verlassen habe, höchstens um einmal nach Prag zu fahren, zum Landesschulrat? Meine Frau hat mir immer vorgeworfen, daß ich so gar keine Reiselust habe, sie ist ideal veranlagt und schwärmt für schöne Gegenden, besonders das Riesengebirge! Mein ältester Junge hat nach der Maturitätsprüfung eine Reise nach Venedig gemacht und ist zurückgekommen und hat was von verknöcherten Philistern gesagt, die immer hinter dem Ofen hocken. Und die ganze Zeit plante ich eine Reise nach dem Amazonenstrom! Wenn ich in meinem Zimmer saß und meine Frau glaubte, daß ich Hefte korrigierte, berechnete ich Fahrpreise und Reiserouten – –«

90 Bernhard Schwarz hielt inne, suchte umständlich ein Taschentuch, wischte sich den Schweiß, sah zu dem Engländer hinüber, der mit auseinandergespreizten Knien unbequem auf der kleinen Polsterbank saß und ernst und aufmerksam war.

»Ich bitte Sie,« sagte Bernhard Schwarz, »soviel haben meine Leute die ganze Zeit lang von mir gewußt – Nicht ein einziges Mal habe ich meiner Frau von dem großen Plan erzählt. Einmal wollte ich, in einer Nacht, als meine Tochter krank war – Man kam sich irgendwie näher – Nein, ich habe auch damals nichts gesagt, ich war aber nahe daran. Verstehen Sie? Ich konnte ihr nicht sagen, wie sehr ich mich wegträumte. Dann auch wegen des Geldes. Die Summe, die ich für die Reise brauchte, mußte ich ersparen, ohne daß meine Frau es wußte, oder ich mußte sie sonstwie aufbringen, es hatte keinen Sinn, vorher von der Sache zu reden, es wäre die reine Hölle gewesen. Zuerst natürlich für das Normale sorgen, die Familie, ich war weder leichtsinnig noch verrückt. Wer weiß übrigens. Ich habe während der ganzen Jahre spekuliert. Nicht sehr waghalsig, aber fortwährend. Als der Krieg ausbrach, hatte ich schon das nötige Geld beisammen, reichlich, viel mehr als ich brauchte, ich dachte nicht mehr an eine kurze Reise in den Sommerferien, sondern an eine ganze Expedition, unter einem wissenschaftlichen Vorwand, ein Jahr Urlaub zur Erforschung der dialektischen Eigentümlichkeiten des Portugiesischen in Brasilien; Sie wissen, daß ich von Fach ein romanischer Philolog bin. In den ersten Kriegsjahren schien das Geld noch zu wachsen, ins Phantastische. Ich glaube nicht, daß ein einziger Mensch in Mitteleuropa das Aufhören des Krieges sosehr herbeigesehnt hat wie ich. Ich mußte nicht einrücken, ich war nicht mehr sehr jung und nicht sehr stark. Die Jahre waren schrecklich: ich hätte das nötige Geld gehabt, um zu reisen, aber wir waren doch im blockierten Mitteleuropa eingesperrt, nicht einmal 91 die geliebten Prospekte der Reisebureaus habe ich mir mehr verschaffen können, ich glaube, gerade dadurch ist die Traumspielerei zur wirklichen Leidenschaft geworden. – Dann auf einmal entdeckte ich, daß meine österreichisch-ungarischen Kronen mehr wurden, mein Vermögen aber kleiner. Ich erspare Ihnen die finanziellen Einzelheiten. Ich glaube nicht, daß ein Mitteleuropäer einem Engländer das jemals ganz klarmachen kann, wie das wirklich war, die Jahre des Hungers und der Not, dies Auf und Ab des Geldes. Es hat auch mit – mit meinem Fall nicht ganz so viel zu tun, wie Sie glauben, wie Lord Athill glaubt. Ich weiß nicht, ob in mir eine Begabung für Geldgeschäfte steckt, es wäre sonderbar genug, oder ob es nur der Gleichgewichtssinn eines Schlafwandlers gewesen ist, die Tatsache besteht, daß ich in diesen wilden Jahren der Geldkrise eigentlich auf die Dauer nicht zu Schaden gekommen bin, obwohl ich ein Mittelschullehrer in einem kleinen deutschböhmischen Provinznest war und mit einem so winzigen Kapital. Trotzdem glaubte ich mehr als einmal, definitiv alles verloren zu haben. Wissen Sie, daß es wie eine Erleichterung gewesen ist? Im Grunde hatte ich vor dem Augenblick Angst, in dem ich meiner Frau von meiner Reise sprechen mußte – –«

Dr. Carson nickte ernsthaft mit dem Kopf: »Man hat Angst davor, von seinen Träumen beim Wort genommen zu werden!«

Schwarz sah ihn sehr neugierig an: »Woher wissen Sie das? – Das ist die Geschichte meiner letzten Jahre! Als ob irgendein grinsender Dämon sich heimlich mit mir verbündet hätte, um mir diese ersehnte Reise möglich zu machen – ich sah immer schon durch das Gelingen hindurch die schadenfroh grinsende Teufelsfratze, wissen Sie! Das Geld, das ich beim Sturz der alten Krone schon verloren glaubte, wieder gerettet und mehr als das. Nach dem Umsturz löst die neue tschechoslowakische Behörde die deutsche Realschule auf, an der ich tätig 92 bin, und pensioniert mich vorzeitig; ich habe nichts mehr zu tun. Meine Frau ist eine Leitmeritzerin und in dem Verkehr und Klatsch der kleinen Stadt unlösbar verwurzelt, sie drängt also nicht darauf, daß ich eine Lehrstelle an der Realschule irgendeines entlegenen Ortes anstrebe, vielleicht in der Slowakei oder wo. Es bleiben die Kinder zu bedenken. Aber der Bub gerät nach der Matura mitten in den Strudel der aufgeregten Spekulationsjahre, weigert sich, weiterzustudieren, geht nach Prag zu einer Bank. Dann besorgt meine Frau einen Mann für unsere Tochter. Diese Tochter habe ich – sie ist – war – also man hat doch mindestens eines seiner Kinder immer gern, man kann machen, was man will. Für meine Tochter nun, wozu Einzelheiten?, findet meine Frau eine Partie, nicht weit von Leitmeritz, in Böhmisch-Leipa, irgendein Kaufmann, ein Typus, den ich hasse und den meine Tochter nicht lieben kann: ein besserer Ladenschwengel mit Shimmymanieren und Geld und Jahren. Pomadescheitel, wissen Sie, und Ringe unter den Augen. Wozu erzähle ich das? Ja. Wenn meine Tochter sich zur Wehr gesetzt hätte, wäre alles gut gewesen. Ein schwerer Kampf mit meiner Frau, wahrscheinlich, man hätte sich endlich einmal ausgesprochen, und vielleicht – – Dann meine Tochter: es war nie eine Probe, die sie zu bestehen hatte. Jetzt kann man doch sehen, ob sie zu mir gehört oder ob ich ganz allein bin – –«

Schwarz machte eine Pause, griff sich nervös in seinen trockenen Bart. »Mit einem Wort,« sagte er, »ich war allein. Keine Kraft in dem Mädel, im Grunde irgendein Provinzfräulein, gerade gut genug für den Herrn in Leipa. – Gleich hat sie ihn genommen. Um gerecht zu sein, ich glaube, sie hat nicht das angenehmste Elternhaus gehabt. Aber ich meinte immer – – Genug!«

»Es hat keinen Streit mit meiner Frau gegeben«, sagte Dr. Schwarz, der auf einmal einen ganz roten Kopf bekommen hatte und aussah, als 93 wollte er jetzt zu streiten anfangen – »Einvernehmen, Friede, Hochzeit. – In der Nacht nach der Hochzeit meiner Tochter habe ich meiner Frau zum erstenmal gesagt, daß ich an den Amazonenstrom reisen wolle. Sie hat sofort begriffen, warum. Aber sie hat so getan, als hielte sie mich für wahnsinnig. Ihr Engländer, die ihr alle Brüder oder Vettern in Afrika oder Neuseeland habt, könnt euch das überhaupt nicht vorstellen, was das für eine tolle Sache ist, daß auf einmal ein pensionierter Realschullehrer zu Leitmeritz den Amazonenstrom hinauffahren will. Man kann einen Menschen wegen einer geringeren Exzentrizität ins Irrenhaus bringen! Am meisten hat es meine Frau geärgert, daß ich das Geld hatte. Nicht mehr als gerade die nötige Summe, aber die hatte ich, trotz der Aussteuer, die wir der Tochter gegeben hatten. Lord Athills Vermutung ist natürlich richtig, ich könnte die Reise aus eigenen Mitteln nicht noch einmal machen. Aber darum handelt es sich gar nicht, begreifen Sie das? Sollte es denn eine Reise sein? Es sollte eine Flucht sein! Nein, nicht vor meiner armen, belanglosen, alternden Frau! Vor – vor allem; ich weiß nicht, wie ich Ihnen das klarmachen soll. Die Wahrheit ist, ich hatte eine geheime Plantage in diesem amazonischen Urwald und wollte sie endlich suchen gehen. Ich habe immer nur so den Realschullehrer, Ehegatten, Familienvater, Leitmeritzer gespielt, mein wirkliches Leben hatte ich in den großen Wald gepflanzt, heimlich, in die nächste Nähe der großen, verborgenen, romantischen Stadt El Dorado. Ich glaube, es kommt so ziemlich bei jedem Menschen, bevor er definitiv alt wird, der Augenblick, wo er noch einmal ausziehen muß, das Dorado zu suchen, die Jugend, die er in das wirre Gestrüpp seiner Träume gepflanzt hat, oh, wir alle dürsten nach den Früchten dieses unseres geheimen Baums! Man findet ihn oder findet ihn nicht, man wird ihn wohl eher nicht finden, aber verstehen Sie doch, Doktor Carson, daß man ihn nur ein einziges Mal 94 suchen gehen kann, auch wenn ein großer Lord liebenswürdig ist und einem armen Teufel eine zweite Reise zahlen will. – Ich kann Seiner Lordschaft auch nicht behilflich sein, wenn er seinen Jungbrunnen suchen geht, die Reise muß jeder allein machen und ohne Hilfe.« –

Dr. Carson sah den Leitmeritzer sonderbar an, über dem Bügel seines Zwickers saß eine tiefe Stirnfalte. »Mister Schwarz,« sagte er, »Sie haben vollkommen recht, auf die eine oder andere Weise unternimmt jeder Mensch diese letzte Reise hinter dem Irrlicht drein, und wahrscheinlich jeder nur einmal, ein paar ganz glückliche unheilbare Narren ausgenommen, die es immer wieder versuchen – aber Sie sind, entschuldigen Sie, daß ich es überhaupt sage, kein Narr, Sie sind mir sogar zu klug, Sie wissen zuviel von sich. Weswegen dann Ihr ganzes Benehmen in diesen letzten Tagen? Wissen Sie, daß wir Angst um Sie gehabt haben, Athill, Hilary, ich?«

»Lassen Sie dem armen Tier das bißchen Toben,« sagte Schwarz, »wenn es die Käfigstäbe spürt!«

»Und jetzt?« fragte Carson.

»Und jetzt,« sagte Schwarz ganz ruhig, »heimkehren, alt werden, sterben, vielleicht legt man sich doch vorher noch eine Briefmarkensammlung an, irgendeine private Leidenschaft muß der Mensch haben. Glauben Sie, daß man noch einmal ans Land kann? Ich möchte meiner Frau ein Jaguarfell mitbringen – als Bettvorleger.«

Er sagte es fast heiter. Der Arzt, der ihn die ganze Zeit studiert hatte, dachte: allzuviel Zeit hat der nicht mehr für eine Briefmarkensammlung.

 

An diesem Abend wurde auf dem »Hildebrand« getanzt, trotz der Hitze, man hatte das Promenadendeck mit Flaggen dekoriert, das kleine 95 Piano aus dem Damensalon ins Freie gestellt, die Pulte der drei Schiffsmusikanten daneben, sie spielten Shimmies und Blues. Draußen lag die amazonische Nacht, dickschwarz und stickig, bis eines von den lautlosen Gewittern herunterging, donnerlose lange Blitze und ein Regen jenseits aller europäischen Vorstellungskraft: man mußte das Promenadendeck, trotzdem es überdacht war, hastig räumen, und die zur Dekoration ausgehängten Flaggen wurden sehr naß und sahen unansehnlich aus, als nachher die Tänzer wiederkamen, denn das Unwetter dauerte nicht lange, und dann wurde die Nacht sternenklar und verhältnismäßig frisch.

Als die Musik wieder anfing, saßen über ihr und dem festlichen Promenadendeck ein paar ältere Herren, die vor dem Rummel desertiert waren, auf dem hohen Bootsdeck unter den tropischen Sternen. Das Bootsdeck war für die Matrosen zum Arbeiten da, aber man hatte durch Eisenstangen für die Passagiere der ersten Klasse ein großes Viereck abgesteckt, eine Art höchster Warte, mit ein paar Bänken versehen. Hier saßen gegen zehn Uhr an diesem Abend Athill, Carson, Hilary und Schwarz, vier dunkle Silhouetten mit ausgesparten weißen Hemdbrüsten; sie rauchten, und vor ihnen stand ein Kübel Eis mit Sodawasser und einer Whiskyflasche.

Sie hatten sich ohne Verabredung hier zusammengefunden oder es hatte sie ein gemeinsames unausgesprochenes Gefühl zusammengeführt, aber jetzt redeten sie kaum miteinander. Sie waren nicht die Leute, die Bemerkungen über die Schönheit der Nacht ausgetauscht hätten. Die Nacht war wunderbar. Nicht heiß, keine Moskitos. Wenn man aufstand und an den Rand des Verdecks trat, sah man auf der einen Seite ganz in der Ferne einige wenige von den Hafenlichtern von Parà. und darüber jenen unbestimmten Glanz, der nachts über großen Städten schwebt. Zur linken Hand, wo das waldige Ufer sein mußte, brannten 96 große und phantastische Flammen. Einige von den Passagieren, die diesen Brand schon während des Abendessens bemerkt hatten, hatten ihn angstvoll für Lagerfeuer der heranrückenden Revolutionäre gehalten, aber es war ganz einfach ein Waldbrand, absichtlich angelegt, um an einer Stelle das Dickicht zu lichten, und so stark, daß er sogar den furchtbaren Regen von vorhin überdauert hatte und jetzt wieder heller zu lohen anfing, schön und geheimnisvoll.

Auf der anderen Bordseite sah man den düsteren Schattenriß eines Inselchens, und dahinter ahnte man die zahllosen anderen Flußinseln. Auf dieser Seite war die erste Ahnung des Mondes zu empfinden, der noch nicht aufgegangen war. Hier lag die enge Wasserstraße, die durch das Inselgewirr zu dem Hauptarm des Stroms führte und weiter ins Innere des ungeheuren Waldlandes; irgendwo in dieser Richtung lagen jetzt wohl die Kanonenboote der Revoltosos mit abgeblendeten Lichtern in irgendeiner Uferbucht und warteten.

Lord Athill, der jetzt ein wenig aufgestanden war, mit einer seiner dünnen Zigaretten im Mund, und hier an der Reling stand, glaubte einen Augenblick lang, ganz in der äußersten Ferne einen dumpfen Schlag zu hören, noch einen, dann das Ticken eines Maschinengewehrs, aber es drangen aus dieser Richtung unklare Geräusche genug herüber, dort war der nächtliche Urwald, der nicht still ist, sondern schreit und heult. Ob es nun eine Sinnestäuschung gewesen war oder nicht, was er gehört hatte, gab Lord Athill einen Anlaß oder vielleicht auch Vorwand, mit einem kurzen halblauten Anruf Hilary zu sich herüberzubitten.

Der Weltbummler, mit einem breitkrempigen dunklen Filzhut auf dem Kopf und einer kräftig gebauten Holzpfeife im Munde, kam langsam von der Bank zu der Stelle, an der der Lord stand, wurde ersucht, auf den Kanonendonner aufzupassen und hörte 97 absolut nichts. Die beiden schwiegen einen Augenblick, dann sagte Athill leise:

»Ich möchte Sie bitten, diese Sache zu erzählen – Carson sagt, dem Mann fehlt nichts mehr, als Beruhigung und weiteres Nachdenken. Es wäre, denke ich, so etwas wie eine psychoanalytische Nachkur für unseren deutschen Freund – Carson sagt, man darf ihn nicht viel allein nachgrübeln lassen, lieber selbst mit ihm über die Dinge reden, wenn wir nicht wollen, daß er plötzlich krank wird. – Das, was Sie mir früher gesagt haben, scheint doch ganz das Richtige. Sie sind doch der berühmte Weltbummler, sprechen Sie mit ihm über das Reisen, so im allgemeinen, erzählen Sie Ihre große Geschichte, die Nacht ist lang, und morgen kommt wieder ein Tag, an dem wir an Bord gefangen sind und voll Trägheit. Sie haben mir vorhin gesagt: ich weiß für diesen Schwärmer eine Geschichte wie ein Brompulver, die Geschichte, die den Reisewahn ad absurdum führt – Erzählen Sie also ihm, erzählen Sie uns diese Geschichte gegen das Reisen!«

»Es ist keine Geschichte gegen das Reisen«, sagte der Weltbummler. »Es ist eine Geschichte gegen das Ankommen. Solange eine Reise nicht ans Ziel führt, ist alles gut. Reisen muß man Navigare necesse. Nur ankommen sollte man niemals.«

»Bitte, Herr Hilary,« sagte der Lord mit ein ganz klein wenig aristokratischer Überlegenheit in seiner müden Stimme, »bitte, sagen Sie das nicht leise zu mir, der ich das nur allzugut weiß, sondern laut zu dem Mann, dem wir über seine Krise hinweghelfen möchten. Trinken Sie rasch noch einen Whisky-Soda und fangen Sie an, Scheherezade!«

 

Dies ist die Geschichte vom ungeheuren Amazonenstrom und gegen das Erreichen ersehnter Ziele, die dieser Weltbummler, Hilary, in jener 98 Nacht zu erzählen anfing, auf dem Bootsdeck des Königlichen Postdampfers »Hildebrand«, unter den lodernden Sternen, unter dem großen Kreuz des Südens und dann unter dem ungeheuren tropischen Mond, der alsbald alle Sterne auslöschte, in der Nacht, als irgendwo auf dem Strom zwischen Obidos und Parà die bewaffneten Raddampfer der revolutionären Truppen aus dem Staat Amazonas mit den Kanonenbooten der legalen Regierung zu Parà in ein langwieriges und unblutiges Gefecht gerieten, ja, es war in dieser Nacht, aber man konnte die Geschütze kaum hören, weil der Seewind den Fluß hinaufstrich: in dieser Nacht voll Geheimnis und Bangigkeit, in der die Bürger von Parà in ihren Hängematten zitterten, in dieser Nacht, die doch nur eine von all den Urwaldnächten war, sie sind alle voll von Lärm und Kampf und Schlachten, in der Nacht, in der die Affen im Walde brüllten und der Jaguar lautlos über die hohen Zweige glitt und der Kaiman ein kleines Reh bei der Tränke erjagte.

In dieser Nacht erzählte der Weltbummler, in die Ecke seiner Bank gedrückt, mit dem Whiskyglas vor sich und seiner Pfeife im Munde, die lange Geschichte von dem Urwaldschiff des Ritters Francisco de Orellana, die Geschichte vom Zimtland, vom Lande des großen Dorado und vom Reiche der Amazonen, und es hörte der müde Lord Athill zu, vorgebeugt, mit um die Knie geklammerten Händen, man wußte nicht, ob er schlief oder betete und woran er im Grunde dachte und ob er die Menschen mehr gern hatte oder verachtete, und es hörte der englische Dr. Carson zu, ein eifriger Arzt und braver männlicher Mann, der seinen Urlaub schließlich irgendwie verbringen mußte, warum also nicht auf dieser Bank und bei dieser langen Geschichte, und es hörte der Dr. Bernhard Schwarz zu, ein Realschullehrer aus Leitmeritz in der Tschechoslowakei, für den diese Geschichte eigentlich erzählt wurde. Er hörte auch ruhig und ernsthaft zu, wie ein Kind ein schönes 99 und ein wenig trauriges Märchen anhört. Ihm klang es wie ein Epilog auf sein Leben, das zu Ende ging, aber er war in seinem Innern ganz friedlich und getröstet, und eines von den Worten, die er sagte, gab ihm einen neuen Halt, der alte trotzige Spruch: Reisen muß man. Man muß nicht leben.

»NAVIGARE NECESSE EST, VIVERE NON NECESSE.«


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