Richard A. Bermann
Das Urwaldschiff
Richard A. Bermann

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Drittes Kapitel

Vor dem verschlossenen Eingang des Stadtparks hatte ganz plötzlich die Verzweiflung Bernhard Schwarz überwältigt. Den ganzen Vormittag war er stumpf und still mit den Cruisers mitgezottelt, in der unklaren Absicht, von seiner fieberhaft erträumten Reise zu retten, was noch zu retten war. Das zauberhaft bunte Abenteuer, nach dem er sich sein ganzes Leben lang gesehnt gehabt hatte, zerfloß ihm in der deprimierenden Hitze dieses tropischen Tages, bis nichts davon übrig war als dieser groteske Herdenspaziergang durch die fremde Stadt, oder eher an ihr vorbei, an ihrem wirklichen Wesen, an dem fieberhaften Erlebnis, das soeben an ihr rüttelte. Dieser Mensch, den ein unheilbarer Hang zur Romantik an den Amazonenstrom getrieben hatte, war jetzt völlig außerstande zu begreifen, wie romantisch das im Grunde alles war, die Revolution, die gebändigte Leidenschaft in dieser sonderbaren, vielfarbigen Stadt – er empfand diese ganze brasilianische Romantik, da er sie nun wirklich hatte, ausschließlich als eine unleidliche und widerwärtige Störung seiner Träumereien, den Leichenzug des heroischen Rebellenführers als ein Verkehrshindernis auf seinem Weg zum Urwald – –

Diesen Weg zum Urwald, dennoch, trotz allem, bedeutete ihm die lächerliche Tramwayfahrt mit den Cruisers. Daß der Urwald, den sie besichtigen sollten, ein Stadtpark war, mit einem Musikpavillon und einem zementierten Bassin (für eine städtische Seekuh), den Gedanken dachte Bernhard Schwarz nicht aus; der Lärm der Gesellschaft, der geschäftige Betrieb des Fremdenführers, der ganze Rummel, das Gehen 61 und Fahren in einer großen Gruppe hatten ihn, o Wohltat, an der rechten Besinnung gehindert; er ging herum wie ein Arbeiter, der mit der Hand in ein Maschinenrad gegriffen hat und die Maschine hat die Hand amputiert; der Arbeiter empfindet ein dumpfes Unbehagen, aber er weiß noch gar nicht, was geschehen ist, er hat seine verstümmelte Hand noch nicht erblickt; erst wenn er sie sehen wird, wird ihn plötzlich der große Schmerz anspringen und die Ohnmacht und die Verzweiflung des Krüppels.

Dieser jähe Augenblick des schmerzlichen Vollbewußtseins nun kam für Schwarz, als die Gesellschaft nicht in den Stadtpark gehen durfte; sein Unterbewußtsein mußte irgendwie noch gehofft haben, daß dieser Stadtpark von Parà mehr sein würde als das jämmerlichste Surrogat für die große Urwaldnatur, die er nicht sehen sollte; oder es brachte ihm diese an sich ganz kleine neue Enttäuschung die große und eigentliche auf einmal klar vor die Augen. Was immer der Grund war, erst vor dem verschlossenen Tor des Bosque Rodrigues Alves brach die seelische Starrheit, die seit gestern wohltätig genug diesen gescheiterten Träumer am Schreien, Toben, Tollwerden verhindert hatte. Die ältere Miß Macpherson, die letzte von den Cruisers, die Bernhard Schwarz vor dem Tor des Stadtparks sah, mußte schon eine schlechte Menschenkennerin sein, daß sie die fassungslose Verzweiflung des Mannes nicht erkannte. Wenn er nicht noch vor allen diesen Leuten etwas Verrücktes tat, sich auf den Boden warf, aufschrie oder weinte, dann bewahrte ihn davor nur der leidenschaftliche Wille, sich rasch, rasch diesen Fremden und Gleichgültigen zu entziehen; er hatte ihre Gegenwart nur so lange ertragen können, als sie ein Mittel zum alles beherrschenden Zweck gewesen war; jetzt war es ein übermächtiger Imperativ in seiner Seele, der ihn zwang, sofort zu verschwinden, keine Sekunde länger eine sinnlos gewordene Gemeinschaft zu ertragen. Ein scharfes Auge 62 hätte ihn, solange die beiden Tramwaywagen noch da waren, hinter der Bretterbude des am Parkeingang etablierten Obstverkäufers versteckt gesehen; von dort aus hörte er auch, was der Fremdenführer vom Urwald sagte: daß sein äußerster Rand ganz nahe wäre; hinter der nächsten Station der Trambahn, bei dem hohen Wasserturm, den man zwischen den ersten Wipfeln aufragen sah – –

Dorthin wandte sich Bernhard Schwarz, sobald seine Reisegefährten fortgefahren waren; die Soldaten am Tor des Stadtparks grinsten dem bebrillten Gringo nach, der wie irrsinnig durch die Mittagshitze lief, nicht am schattigen Rand der Straße, sondern keuchend und stolpernd längs der besonnten sandigen Rinne in der Mitte. Da rannte er, mit einem schlecht gerollten Regenschirm vor sich herfuchtelnd; und seine Rockschöße schlappten hinter ihm drein. Er war schon atemlos und erschöpft, als er beim Wasserturm ankam, einem hohen Eisengerüst, das dazu diente, das Wasser eines Waldbaches in die Höhe zu pumpen und in die Wasserleitung der Stadt zu überführen.

Hier hörte die Fahrstraße plötzlich auf, die bis zu diesem Punkt immer noch städtisch und zivilisiert gewesen war; es begann unvermittelt ein schmaler Sandweg zwischen primitiven Hütten aus Palmgeflecht, ein paar kleinen Gärten mit Brotfruchtbäumen, Bananenstauden, Maniokpflanzungen. Hier schon drängte sich in das fleischig fette Grün der Nutzpflanzen das härtere und dunklere des wilden Gestrüpps; die Gärten, von dem kleinen Weg durch Zäune getrennt, verloren sich hinten ins Unbestimmte und Unendliche.

Eine große und offensive Hitze lag über dem Weg, es war eben Mittag, Mittag auf dem Äquator, die Sonne stand genau im Zenit, und die Bäume gaben keinen Schatten. Ein paar schwärzliche Kinder, vor den Palmhütten hockend, glotzten dem vorbeirennenden Fremden 63 nach; endlich zwang ihn physische Erschöpfung, seine Schritte zu verlangsamen. Er hatte jetzt den Weg zwischen den Gärten zurückgelegt und war zu einem großen Hause gelangt, das auf einem von hohem Gras bedeckten freien Platz stand: dahinter ragte schon die dunkelgrüne Mauer auf, der Wall des ungeheuren Waldes. Das Haus war das Haus der Wasserwerke von Parà, dazu bestimmt, einen der hunderttausend Urwaldbäche in Filter einzusaugen, durch Maschinenwerk zu leiten, durch Röhren in die große hybride Stadt am Urwald. Hinter diesem technischen Haus, in dem elektrische Lampen glühten, Räder sich drehten, Chemiker den Filter prüften – dahinter, von der ersten Assaipalme hinter dem Haus, quer durch den ganzen südamerikanischen Kontinent, war die grandiose Öde des grünen Waldes, die Welt des Jaguars und des Alligators; die menschliche Zivilisation repräsentiert durch ein paar halbwilde Kautschukzapfer, und hinter ihnen, neben ihnen in den Büschen nur noch die Stämme nackter Jäger, Menschen, die das Metall nicht kennen, die mit den vergifteten Pfeilen des Blasrohrs die Beute töten oder den Feind – –

In dem Gestrüpp hinter dem Wasserwerk von Parà begann, plötzlich, ohne Übergang, diese ungeheure und rätselhafte Urwelt; in diesem kaum recht erforschten Dschungel staken alle Geheimnisse, alle Abenteuer, alle Schätze, alle Gefahren: man konnte in den Wagen der Parà Electric Railways bis zu diesem Rand fahren, es kostete vierhundert Reis vom Grande Hotel, von dem Modesalon der Madame Hélène, von den Geschäften, wo man die letzten Pariser Parfüms zu kaufen bekam; ein weißgekleideter Schaffner knipste den Fahrschein; dann stieg man aus, und es begann ganz plötzlich der große Dschungel; man hätte sich kaum wundern dürfen, hätte man gleich im nächsten Tümpel einen Ichthyosaurus schwimmen gesehen – –

Hier nun, an diesem äußersten Rand der bürgerlichen und bewohnten 64 Welt, stand auf einmal Bernhard Schwarz aus Leitmeritz, er, der soeben noch verzweifelt gewesen war, weil man ihn nicht in einen tropischen Stadtpark mit einem Musikpavillon und gekiesten Wegen gelassen hatte – so verblüffend einfach war das ganze Problem: diesen Urwald seiner Träume, da hatte er ihn, da war er, unverkennbar, körperlich, eine reale und mit Händen greifbare Sache –

Dieser Mann hatte sein ganzes Leben lang von eben diesem Urwald geträumt. Vor einer halben Stunde war er verzweifelt gewesen, weil man ihn nicht in einen Park gelassen hatte. Jetzt stand er am Rand des Urwaldes und – –

Bernhard Schwarz war an Bord des »Hildebrand« in einem Khakianzug herumgegangen, mit Ledergamaschen an den Beinen, wegen der Giftschlangen, und mit einem Kompaß in der Tasche. Er hatte diese Dinge gebraucht, für seinen Traum – – Wenn man einmal im Urwald ist, nicht, wenn auch nur als Vergnügungsreisender hinter einem Fremdenführer drein – vielleicht bleibt man dann irgendwie im Urwald, nicht? Man unternimmt auf eigene Faust eine Expedition, es gibt weiße Flecke auf der Landkarte – –

Jetzt, im Begriff, führerlos in den großen Wald einzudringen, hatte Bernhard Schwarz einen Rock mit langen Schößen an und nicht einmal ein Messer in seiner Tasche. Er kam nicht aus seinem lebenslangen Traum, nicht aus der Illusion von vorgestern, sondern aus der grenzenlosen Enttäuschung von gestern, aus der niederträchtigen Realität – und im Kostüm dieser seiner Realität; so nun stürzte er sich auf einmal mit beiden Füßen leichtfertig in das große Abenteuer, er begann in den grenzenlosen amazonischen Wald einzudringen, allein, führerlos, in der Kleidung eines nordischen Realschullehrers, ohne Proviant, ohne Chinin und ohne Waffen. Denn der alternde Mann, der da hinter dem Wasserwerk von Parà stand, mit glühenden Augen und gesträubten 65 Bartstoppeln, an der großen grünen Grenzlinie des Waldkontinents stand, unter dem erbarmungslosen amazonischen Mittag, mit diesen beiden zuckenden bloßen Händen griff er heroisch nach dem Unfaßbaren, dem Unendlichen! Ein armseliger Realschullehrer, der sein Leben lang für eine Reise gespart hatte, möglich! Ein Narr, der einer Schimäre nachrannte, wahrscheinlich! Ein Kind, das sein Spielzeug haben mußte, allenfalls! Aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß dieser pensionierte Realschullehrer aus Leitmeritz in diesem Augenblick gewillt, bereit und im Begriffe war, die Hyläa des amazonischen Beckens zu Fuß zu durchqueren, immer geradeaus, durch die Gebiete, die auf den Landkarten durch weiße Flecke angedeutet sind, an Jaguaren, Anakondas und indianischen Kopfjägern vorbei, durch die Alligatorentümpel und die Fiebersümpfe.

Wie er da stand, seinen etwas ermüdeten Rücken der ganzen Zivilisation zugewendet, nicht nur dem städtischen Wasserwerk von Parà und dem Grande Hotel, wo in eben diesem Augenblick die Mit-Cruisers, aller Sehenswürdigkeiten müde, sich zu dem interessantesten aller exotischen Lunche setzten, Schildkrötensteaks mit Maniok, den Rücken zugewendet nicht nur der Haltestelle der Parà Electric Railways und der ganzen Stadt Parà, sondern zugewendet auch der fernen Stadt Leitmeritz und einem ganzen langen bürgerlichen Leben – wie er da stand, den ersten Urwaldbaum anblickend, eine zart gefiederte Assaipalme mit weißlichem Stamm, wie er da stand, mit Schoßrock, Regenschirm und einem komischen brettsteifen Strohhut aus der hintersten Provinz, war er, wenn ein wenig lächerlich, so doch vor allem sehr heldenhaft – ein Mensch, der wahrhaftig den Mut zu seinem Traum hatte, der, durch irgendeinen miserablen Stadtpark enttäuscht, die große Urwaldcourage in seiner Seele gefunden hatte; ein heroischer Deserteur aus der Bürgerlichkeit, einer, der sich da vor den ersten Urwaldbaum stellte, 66 nötigenfalls bereit, auf ihn zu klettern und oben zu bleiben, ein sehnsüchtiger Heimkehrer, ein romantischer Konquistador.

So stand er da und hatte vor sich vielleicht das märchenhafte Goldland El Dorado, und vielleicht den seltsamen Staat der Amazonen, und vielleicht eine irgendwo im Sumpf verborgene geheime Welt, von Dinosauriern bevölkert, und vielleicht ungeheure Diamantklumpen, Höhlen voll von Smaragden – alles war möglich in dieser geheimnisvollen grünen Unendlichkeit – eines aber war sicher, er stieg in dieses Märchen wie ein Märchenheld, ohne Arg noch Angst, getrieben von Impulsen aus seiner fernen Jugend, von jenem Jules-Verne-Buch, das er als Knabe gelesen hatte: wie Lina der großen Liane nachgeht, immer weiter, immer weiter – –

Ein alter Mann, der sich benimmt wie ein Knabe, lebt das einzig richtige Leben!

 

Bernhard Schwarz war offenbar bereit, gleich hinter der ersten Assaipalme einen Jaguar mit seinen nackten Fäusten zu würgen, aber das Abenteuer, das auf ihn wartete, sah ganz anders aus. Hinter der ersten Assaipalme kam vorläufig einmal noch ein freier und bequemer Weg. Es floß an dieser Stelle ein seichter Bach aus dem Wald, auf dem Wege zu dem nicht fernen großen Strom; es war eben der Bach, den sie in diesem letzten Haus filtrierten und in die großen Röhren leiteten. Das Ufer dieses Baches nun hatte man ein hübsches Stück waldeinwärts mit Steinplatten eingefaßt: sie dienten zwei indianischen Arbeitern der Wasserwerke als Pfad, auf dem sie mehrmals täglich das Bachufer abpatrouillieren konnten, jeder mit einem Netz an einer langen Bambusstange. Mit diesen Netzen fischten sie aus dem Bachwasser, das die Stadt Parà in ihre Wasserleitung bekommen sollte, die schwimmenden Pflanzenreste und kleinen Tierkadaver, alles, 67 was aus dem Urwalddickicht geschwommen kam. Wo die Steinplatten aufhörten, war das Bachufer gleich so verwachsen, daß es einem Menschen ohne ein Machetemesser nicht möglich gewesen wäre, einzudringen, bis dahin aber konnte auch ein Realschullehrer in einem Schoßrock bequem genug gelangen, und doch schon durch den wirklichen und unverfälschten Wald.

Dieses Stück Weges nun legte Bernhard Schwarz ganz langsam und mit leisen Schritten zurück, mit der andächtigen Behutsamkeit eines Kindes, das ins Weihnachtszimmer eintritt; er ging wie in einem feierlichen Rausch. Es war um ihn alles schöner und erhabener als selbst sein alter Traum vom Urwald; er ging wie in einem beschatteten und doch hell erleuchteten großen Laubengang, den klaren Bach entlang, in dem seltsame Fische spielten; rechts und links war die unwahrscheinlich tiefgrüne Waldkulisse, eine grandiose, geschlossene, einige Masse und doch von einer kaleidoskopischen Vielfältigkeit sondergleichen: Wände aus Speeren geformt, Fächern, Platten, Seilen, groteskem Gitterwerk, in tausend grünen und grauen und silbernen Nuancen. Das europäische Auge brauchte Zeit, bis es etwas von diesem Wald begriff: er war kein Wald, sondern eine Schlacht, nicht lyrisch zu genießen, wie die blonden Wälder der Heimat, sondern als ein krauses und grausames Epos, ein ungeheueres vegetabilisches Drama: Diese hohe Mauritiuspalme, die sich da mächtig aus dem Unterholz ans Sonnenlicht rang, hatte blutig gesiegt, war der schwächer Mitstrebenden Herr geworden, hatte sich durch das Schlachtgewühl des Dickichts mit harter Gewalt den Platz erkämpft – und nun stand sie da, eine Siegerin, prunkhaft umwunden von einer gewaltigen Girlande, der Schlingpflanze, die den nackten Palmstamm kleidete wie ein Festgewand – und die doch nichts war als ein heimtückischer Feind dieser Palme, der letzte und entscheidende, die Pflanzenschlange, die die Palme 68 langsam und gewiß erwürgen würde. Es war, verstand man es richtig, ein Bild von Leben, Kampf und Tod; dies aber war in hunderttausendfacher Wiederholung ringsum zu ahnen: Tumult der Schöpfung, Gedeihen und Verderben in einem grünen Wirrwarr, der ganze Sinn der lebenden und sterbenden Schöpfung in einem unfaßbar ungeheuren grünen Ornament symbolisiert. Außer dieser verwirrend barocken Architektur der Laubwände und des Daches über dem kleinen Bache, und dem Gekringel der scharfen Lichtflecke, der schwarzen Schatten, sah das mit dieser mystischen Welt nicht vertraute Auge nichts.

Bernhard Schwarz, der Eindringling in diesem Vorraum des Urwalds, zeigte durch sein Benehmen, daß seine große Sehnsucht nach diesen Dingen doch nicht pure Narretei gewesen sein konnte: er, der hier hereingestürmt war wie ein Tobsüchtiger, wurde nach den ersten Schritten immer ruhiger, stiller, behutsamer, bis er, leise, leise ans äußerste Ende des steinernen Pfades kam; hier gab es einen breiten Baumstumpf, auf den man sich setzen konnte – und Curupira, der unberechenbare Neckgeist der amazonischen Wildnis, hatte gerade diesen einen Baumstumpf ausgenommen, daß er von menschenmarternden Insekten frei sein sollte. Diese eine Stunde restlosen Glücks wollte der Urwaldgeist dem Sehnsüchtigen geben, so konnte er sich mit seinen langen Rockschößen auf diesen Baumstumpf setzen wie auf eine Bank, und sodann gänzlich erstarren, eins werden mit dem Baumstumpf; seine Seele sandte Luftwurzeln aus, und sie krallten sich fest in diesem langersehnten Boden.

Da er nun so ruhig saß, und allmählich auch sein Atem ganz, ganz still wurde, der Schlag seines armen alten Herzens friedlich und sein Blick sanft und gut, fing er an, ringsum mehr zu sehen als bloß eine in Licht und Schatten gebadete Baumkulisse zu beiden Seiten eines glitzernden Baches. Erst kamen Libellen über das Wasser gehuscht; sie 69 sahen aus wie kleine Flugzeuge, aber glitzernd, smaragdgrün und scharlachrot. Dann, auf einmal, begann das Treiben der Schmetterlinge, ein phantastisches Luftballett: es war, als materialisierten sich Sonnenstrahlen, ballten sich die Farben des Prismas zu fliegenden Flächen – bis dann ein wahres und wirkliches Wunder geschah: irgendwoher war plötzlich ein beschwingter Saphir geflogen gekommen, ein leuchtender blauer Morphus-Schmetterling mit brillantenen Reflexen auf seinen beiden Flügeln, die groß wie eine Handfläche waren und von einem ganz unwirklichen Schmelz der Farbe. Dieser Schmetterling nun, über den besonnten Urwaldbach kommend, flatterte, hier auf einem Palmblatt rastend, dort auf einer Liane, langsam und stetig näher, bis zu dem Baumstumpf, auf dem der Dr. Bernhard Schwarz aus Leitmeritz saß, und ließ sich mit der sanftesten Selbstverständlichkeit auf der Hand des Menschen nieder, so glückselig war der und befriedet, so ganz ohne jede Unruhe, reif geworden für jedes Wunder, für jedes Märchen.

Der zauberhafte Schmetterling saß auf der stillen Hand, und es war, als ob durch diese entzückende Berührung auf einmal alles anders geworden wäre, der Mann im Urwald sah, wo bisher nur die Starre der Pflanzen gewesen war und der Tanz der Lichtkringel zwischen den scharfen Schatten, auf einmal lauter bewußtes Leben: er hatte unversehens den Baum mit den Webervögeln entdeckt. Es war ein unsympathischer, weißlicher Baum und wie kahlgezupft, lauter Geäst; und in den Ästen hingen die langen Nester, gurkenförmig, aber jedes viel größer als die größte Gurke. Diese Riesengurke (aber es war ein Geflecht aus Pflanzenstoff, braun verwelkt, das Zeug sah aus wie das Material eines groben Strohhuts) hatte mehrere Löcher, die ins Innere führten. Von diesen Nestern trug der große, kahle Baum viele Dutzende, es war eine ganze Vogelstadt, und wie Bernhard Schwarz inniger 70 hinblickte, sah er die märchenhaft bunten Vögel um die Nester fliegen oder auf den Zweigen hüpfen, phantastisch gefärbte Vögel von der Art der Finken, aber manchmal fast taubengroß, ein rotes, grünes, gelbes Sperlingsvolk, unruhig, rastlos mit dem Nest beschäftigt und untereinander in Liebe oder Zank.

Hatte der Blick hier nun einmal huschende Vögel sehen gelernt, so fand er überall in den Wipfeln ein reizvolles Huschen, Schweben, fand ein Aufblitzen phantastischer Farben. Es gab große Vögel, und es gab ganz kleine, die von den großen Schmetterlingen kaum zu unterscheiden waren; sie blitzten in der Sonne wie geflügelte Edelsteine. Auf einer großen Urucury-Palme, die von Nüssen schwer war, hatte sich ein ganzes Volk von Papageien angesiedelt, von hier kam ein mißtönender Lärm. Überhaupt war, erst jetzt, da der hier eingedrungene Mensch stille saß, die Luft voll von Tönen; ein hinter einem Stamm verborgener Specht klopfte rhythmisch, und irgendwoher schwebte ein unbekannter und ein wenig unheimlicher Klang, dem scharfen Dengeln einer geheimnisvollen Sense ähnlich.

Dies hörte man aus der allgemeinen Symphonie der Geräusche heraus, und noch vereinzelte Noten eines schrillen Gesanges in einem nahen Wipfel; sonst aber verflochten sich vage und undefinierbare Töne aus Gras und Gebüsch mit seltsamen und fernen Lauten zu einem Tongefüge, das immer stärker anzuschwellen schien; dieser Wald, der erst so einsam und erstarrt geschienen hatte, war voll von Lauten und voll von Bewegung; es war in den Büschen, im Unterholz ein immerwährendes Rascheln, ein fauliger Wassertümpel, den man durch das dichte Astwerk schimmern sah, kam nicht zur Ruhe vor Plätschern und Plumpsen, fortwährend zogen sich bedeutungsvolle Kreise über das schillernde Wasser.

Neben seiner rechten Fußspitze sah Bernhard Schwarz plötzlich etwas 71 Seltsames und Aufregendes: zwei große graugrüne Eidechsen, wie verkleinerte Urweltdrachen anzusehen, hatten sich ineinander verbissen und kämpften fast geräuschlos und mit tödlicher Erbitterung. So groß war die mörderische Wut der Tiere, daß sie die Nähe des Menschenungetüms nicht beachteten; der Mensch aber erschrak vor diesem tragischen Konflikt zu seinen Füßen und tat die verhängnisvolle Bewegung, die ihn das beglückende Vertrauen des schönen großen Falters kostete: der flog von der Hand auf, die so plötzlich zu zucken begonnen hatte; wie zwei große Sternsaphire leuchteten die großen Schwingen des Schmetterlings noch einmal zwischen den Fächerstäben eines Palmblattes, dann war dieses liebe Wunder verschwunden und mit ihm die kostbare Stunde der Ruhe: von diesem Augenblick war der Urwald wie verhext, unfreundlich und drohend, sei es, weil sich eine kohlschwarze Wolkenschicht über die Sonne zu schieben begann, sei es aus viel geheimerem Grunde.

Genug, wenn bisher alles in dem Wald nach fröhlichen Idyllen ausgesehen, der wüste Kampf dieser dämonischen kleinen Drachenwesen schien den trügerischen Frieden zerstört zu haben: aus dem großen unbestimmten Geräusch des Dickichts kamen drohende Töne, oder schien es dem Lauscher so; und er empfand, in seinem Innersten erschreckend, was er gewußt hatte, aber nicht wahrgehabt, daß er hier nicht in einem reizenden Gartenparadies war, sondern in der größten und fürchterlichsten Mörderhöhle der Natur, einer gigantischen Organisation des allgemeinen Fressens von Pflanze und Tier: jeder dieser Bäume war groß geworden durch Mord, und so wie er rücksichtslos anderes Pflanzenleben erstickt hatte, würgten ihn die Schlingpflanzen, fraßen Schmarotzer an ihm und die Pilze der feuchten Fäulnis. Noch reckte er seine Krone ins rettende Licht empor; er trug, das Geschäft seiner Fortpflanzung betreibend, Blüten, hatte Früchte und Samen. All dies aber 72 war Nahrung für mächtigere Lebewesen, von der Blattwanze und der Laus angefangen bis zur Ameise, die ihretwegen den Stamm emporlief, der Biene, die den Pollen suchte, dem Käfer, der an der Rinde fraß. Die Ameise oder den Käfer zu holen, kam der kleine Vogel, ja, dieser entzückend bunte, beschwingte Edelstein, und der große Vogel stellte dem kleinen Vogel nach, und der Fisch im Bach wartete auf das Insekt, das aus den Zweigen ins Wasser fiel, und der größere Fisch wartete auf den kleinen Fisch, und wenn der größere Fisch in den größeren Wasserlauf kam, dort wartete der Kaiman auf ihn – so wie im Geäst und auf dem Boden letzten Endes der Jaguar auf alles wartete, was nicht unter Wasser schwamm, auf die Schildkröte sowohl wie auf den Affen mit den fast menschlichen Zügen; der Bauch des Jaguars und der Bauch des Krokodils zogen die schließliche Bilanz alles Lebens im Urwald. Der Mensch nur, geheimnisvoll diesen Starken des Waldes entronnen, wußte gegen sie zu kämpfen und sie zu besiegen: ein nackter Indianer mit einem Blasrohr und ein paar vergifteten Pfeilen war der Herr des Urwaldes und konnte alles fressen, was freßbar war; so war denn in ihm der glorreiche Gipfel der Entwicklung erreicht, der schließliche große Triumph errungen – –

Dem auf seinem Baumstamm sitzenden Realschullehrer aus Leitmeritz mochten diese Gedankengänge eine Tatsache ins Bewußtsein bringen, die er bisher etwas geflissentlich vernachlässigt hatte: daß er zwar einen Regenschirm in den Urwald mitgebracht hatte, aber weder ein Blasrohr noch vergiftete Pfeile, daß er, in die Rockschöße der Zivilisation gekleidet, einem nackten Indianer hier nicht ganz gleichwertig sein mochte. Weit entfernt, den ganzen Urwald fressen zu können, war er eher dem Gefressenwerden ausgesetzt, wenn auch nicht gerade hier, ein paar Schritte hinter dem städtischen Wasserwerk. Jetzt schon war, in einem von der edelsten Sehnsucht erfüllten Innern, die bittere 73 Tatsache nicht zu verkennen, daß in ihm, eben in diesem romantischen Innern des Realschullehrers Bernhard Schwarz, immerhin ein Mittagessen fehlte, das die übrigen Cruisers um diese Zeit im Grande Hotel schon genossen hatten und als vortrefflich beurteilt; dem europäischen Menschen, der da am äußersten Rand der großen Wildnis saß, hingen weder saftige Früchte appetitlich vor der Nase, noch kam ein Reh zu ihm und bot sich als Braten an. Es mochte sein, daß dieser Urwald voll von Schätzen war, von der köstlichsten Nahrung. Der Baum, neben dem Bernhard Schwarz saß, war vielleicht der berühmte Kuhbaum; hätte er sein Taschenmesser nicht mit dem übrigen Gerät in der Tasche seines martialischen Khakianzuges im Hotel gelassen, und wäre der Baum wirklich der Kuhbaum gewesen, und er hätte es verstanden, den richtigen Einschnitt in die Rinde zu machen, oh, es wäre zweifellos ein herrlicher, fetter Milchsaft aus diesem Baum geflossen, so süß und nahrhaft wie die beste Sahne – wenn es nämlich nicht irgendein Giftsaft gewesen wäre, der ähnlich aussieht, oder der milchige Kautschuksaft, der im Magen zu Gummi gerinnt –

So wie es war, bedeutete ein ganzer Urwald voll von Kuhbäumen für den Dr. Bernhard Schwarz, der sie nicht melken konnte, genau so wenig wie ein Forst der Eisenbäume, deren Holz hart ist, und der Piquibäume, deren Holz gelb ist, und der Massarandubabäume, deren Holz rot ist, und der Satinholzbäume, und der Rosenholzbäume, und der Palme, deren Saft zu Elfenbein erstarrt, und des Carnaubabaums, der Wachs liefert, und des Otterbaums, und selbst des Brasilnußbaums, denn Palmnüsse waren, solange sie noch hoch oben auf einer Palme im Winde schwankten, für ihn ohne Wichtigkeit; er war, mit einem Wort, in diesem ganzen gefräßigen Urwald so ziemlich das einzige Wesen, das gar nichts fressen konnte, so hoch hatte ihn eine ausgezeichnete städtische Zivilisation über diese bloßen Instinktwesen, den 74 Kletteraffen und den nackten Indianer, erhoben. Die ungeheure Sehnsucht, die gerade ihn in die verlorene Waldheimat zurückgetrieben hatte, stattete ihn weder mit einem Greifschwanz aus, noch mit der Gabe, Pfeile aus einem großen Blasrohr zu pusten und, nota bene, etwas zu treffen –

Seht ihn von seinem Baumstumpf sich erheben, aus der großen und trügerischen Stunde des Glücks heraus, die ihm Curupira geschenkt hat, der Neckgeist dieses gewaltigen Gestrüpps – noch ist der tolle Heroisums von vorhin nicht ganz abgeebbt, nicht der Wille zur Konquista: da ist also der Urwald, der viel erträumte, nun muß man ihn an sich nehmen, es hat etwas zu geschehen, aber was? In einem Menschenherzen, das, ach, allzu nahe neben einem Magen liegt, kämpft noch immer die herrlichste Unvernunft mit der wachsenden Ahnung, daß ein Traum ein Traum ist und ein gesicherter Lunch ein Lunch; da sucht das arme Herz nach Kompromissen, nicht? Diesen ganzen übermäßigen Urwald erobern, mag mühsam sein, aber vielleicht ein bequemes Stückchen, irgendein Symbol?

Bernhard Schwarz verläßt jetzt den gepflasterten Pfad, ja, das tut er, und drückt seinen langen alternden Körper entschlossen gegen die Büsche, dringt machtvoll in sie ein, vielleicht, um doch noch den weißen Fleck der Weltkarte zu erreichen, das herrliche Land Unexplored, und vielleicht doch nur, um zu der wunderbaren goldroten Blume zu gelangen, die er im Dickicht leuchten sah, nur wenige Meter weiter, hoch oben in dem federfeinen Laub des unbekannten Baums, der sich über das Wasser beugt. Diese eine rote und goldene Orchidee, Vanda oder Cattleya, die da oben auf dem Ast schmarotzt, glorreich hervorgewachsen aus dem wirren und häßlichen Geklump ihres Wurzelwerks, dieser einzige triumphierende Farbenfleck in all dem tausendfältigen Grün, das hat den Blick eines Unentschlossenen angezogen, so wie die blitzende 75 Metallkugel des Hypnotiseurs müde Blicke einfängt: diese Orchidee zu pflücken, sie in Händen zu halten, ach, wozu? scheint in dieser Sekunde der wichtigste, der einzige Sinn eines ablaufenden Lebens.

Glaube keiner leichtfertig, das Geheimste im Menschen zu kennen; es ist in diesem Augenblick noch alles möglich, alles; wenn Bernhard Schwarz diese brennende Blume berührt, dieses märchenhafte kristallisierte Stück Urwald, wer weiß, wie der böse Zauber einer Orchidee wirkt, es sind die Blumen der großen Verführung! Vielleicht geht er, wenn er diese Blume hat, wirklich weiter in den Wald hinein, immer weiter, und eine Kabine auf dem »Hildebrand« wird leer, eine von den billigen. Schon der bloße Anblick, dieses orangerote und feuerrote und goldene Aufleuchten zwischen den grün lackierten Blättern, das seltsame Gezack dieser Blütenform und der wächserne Schimmer aus ihrem Innern wecken wieder alle närrischen Instinkte in diesem Menschen auf; er schmeißt sich gegen das Dickicht, das nicht nachgeben will, bleibt mit einem Rockschoß hängen, reißt sich grimmig los, bekommt von einem Zweig einen Peitschenschlag auf die Brillengläser, schert sich um nichts, drängelt sich wuchtig durch, energisch und in seinem kräftigen Wollen sogar geschickt, und hält jetzt, doch ein wenig schweißtriefend und atemlos, unter dem überhängenden Ast, aus dessen Gabel die Wunderblume wächst.

Dieser letzte glückliche Moment des Innehaltens und Aufatmens wird noch lange nachempfunden werden als etwas tröstlich Süßes: in der feuchtheißen Luft sind schwere Düfte, es riecht nach Vanille, oder vielleicht ist es schon der Duft dieser großen Orchidee, welche Magie könnte nicht in ihm stecken, welche Lockung, welche Tollheit – –

Jetzt, gerade jetzt steht Bernhard Schwarz vielleicht in der Sekunde der großen Wahl, es ist immer noch denkbar und möglich, daß er alles beiseitewirft, seinen unmöglichen Strohhut aus der hintersten Provinz, 76 und seinen dummen Schoßrock und seine Realschullehrerbrille, und vor allem diesen grotesken baumwollenen Regenschirm mit dem krummen Griff, und daß er ganz einfach auf diesen Urwaldbaum klettert, hinauf zu dieser Orchidee – und dann oben bleibt, definitiv verrückt geworden und definitiv glücklich, heimgekehrt in dieses Geäst, nach dem wir uns im Grunde alle sehnen, obwohl wir es nicht immer ganz klar wissen mögen. Irgendwo im Gestrüpp des amazonischen Waldes reckt in diesem Augenblick der Waldgeist Curupira seine spitzen Faunsohren hoch, sie zittern vor Erwartung. Wer weiß, welche Glückseligkeit der Launische einem Menschen zu geben wüßte, der sich jetzt rückhaltlos seinen alten Instinkten auslieferte; die große leuchtende Urwaldblume würde Curupira dem aufatmenden Überläufer schenken, den großen Rausch ihres Duftes, und dann – –

Ach du mein bürgerlicher Gott! Läuft er denn über, der Dr. Bernhard Schwarz? Er klettert nicht auf diesen Baum, auf dem vielleicht das große Glück auf ihn lauern könnte und vielleicht eine große Anakondaschlange; er liefert sich nicht aus, sein bißchen Vernunft verhindert ihn an diesem Überschnappen, das so vernünftig sein könnte, mit Curupira will er Kompromisse schließen! Mit seinem Regenschirm will er die symbolische Blume der Verlockung aus dem Geäst holen! Da steht er, mit dem krummen Griff wild in der Luft herumangelnd, auf den Spitzen seiner abgenützten Schuhe – so will er die goldene Feuerorchidee erringen? Da grinst, hinter einem Stamm verborgen, der hämische Curupira und gewährt diesem braven Manne, was er will; es geschieht das ganz Unwahrscheinliche, der Griff des Regenschirms hakt sich an der richtigen Stelle in die Gabelung des richtigen Astes, der Realschullehrer hängt frohlockend sein ganzes Gewicht an den Schirm und zieht und zieht, bis der Ast auf einmal wieder in die Höhe schnellt, den Regenschirm mitnehmend, wer weiß, wohin – –

77 Aber der Schirmgriff hat vorher den Wurzelklumpen der Schmarotzerblume losgerissen, herunter kommt sie, durch das Blattwerk, mit einem prasselnden Geräusch, direkt herunter, in die beiden erschrockenen Hände, denen der Regenschirm entfahren ist – lautlos lacht im Dickicht Curupira auf, da hat dieser Mensch die leuchtende Wunderblume des Urwaldes, die lang begehrte, da hat er sie, hält sie in seinen hohlen Händen – –

– – und läßt mit einem jähen Schrei die Blume fallen, daß unten der Bach aufplätschert – die große Orchidee schwimmt im Wasser davon, herrlich anzusehen, und Bernhard Schwarz, der große Sehnsüchtige, schreit wie ein geprügeltes Kind und hockt am Ufer dieses Bachs und steckt frenetisch seine beiden Hände ins Wasser, nicht um die für immer entschwimmende Wunderblume seines Traums nochmals zu haschen, o nein, nicht dies, weit, weit davon entfernt – steckt seine armen Hände ins kühle Wasser, weil sie grauenhaft schmerzen, weil sie wie von heißen Stichflammen gepeinigt sind, weil auf jede dieser Hände mit der großen goldenen Orchidee ein paar kleine Ameisen gefallen sind, von der schrecklichen tiefroten Sorte, die man die Feuerameisen nennt, eben weil ihr Biß nicht wie ein Biß ist, sondern wie eine höllische Flamme.

Da liegt er auf dem Boden, der Konquistador, genau elf Schritte vom gebahnten und gepflasterten Weg der städtischen Wasserwerke – liegt da und hält die Pein seiner Hände in dieses Bachwasser, das gleich gefiltert werden wird und nach Parà geleitet, ins Grande Hotel, wo die Cruisers jetzt ihren Mittagsschlaf halten – – aber das Wasser, wird es nicht heiß von diesem flammenden Schmerz? Ein paar Tränen fallen in den Bach; dieser alte Mensch heult, heult; und vielleicht nicht nur wegen der Ameisenbisse. Wie er da so liegt, am Ufer des Urwaldbaches, und einer großen goldenen Orchidee nachblickt, die langsam 78 davonschwimmt, dem Rechen der Filteranlage entgegen, und auch ein paar winzigen roten Ameisen, nach denen soeben die Fische schnappen, wohl bekomm' es den Fischen – wie er da liegt und weint und die Hände ins Wasser hält, schwimmt ihm der rotgoldene Sinn seines ganzen Lebens davon, und aller Duft, der ihn ins Phantastische gelockt hat, und alles Glück der Narretei; es bleibt ein pensionierter Pädagoge zurück, der sich eine Vergnügungsreise weit über seine Verhältnisse geleistet hat, und so sieht das Vergnügen aus, und im Staate Amazonas ist irgendeine blödsinnige Revolution siegreich, und es ist schon fast sicher, daß der »Hildebrand« seine Fahrt nicht fortsetzen kann, und die Schiffahrtslinie ist nicht verpflichtet, das Geld zurückzuerstatten.

Und der Regenschirm hängt unerreichbar oben auf dem Baum, und der Tropenregen beginnt, unwiderstehlich, furchtbar, alles andere hinwegschwemmend.

 

Ein sonderbarer schlottriger, naßgewordener Gringo macht an diesem Nachmittag den gelben, olivengrünen und schokoladebraunen Kindern der äußersten Hüttenstraßen vielen Spaß, obwohl sie nur leise hinter seinem Rücken kichern, wenn er vorbeigestapft ist, durch den zähen Schlamm und Schmutz des Weges. Der Regen ist wieder vorbei, auf dem blaugrünen Laub der Brotfruchtbäume in den kleinen Gärten hängen große Tropfen, die Maniokfelder sind herrlich naß, die Erde strahlt heiße Dämpfe aus, der Himmel ist wie abgebrüht, rein und erbarmungslos. Bernhard Schwarz aus Leitmeritz rennt vor sich hin, und hinter ihm beginnen die von all der Farinha aufgetriebenen nackten Bäuche der Kinder lustig zu wackeln; eine grauhaarige alte Hexe mit einem grauschwarzen Gesicht krabbelt aus der Hängematte und kommt zum Türloch der Palmblatthütte, mit einer Maiskolbenpfeife in ihrem 79 gräßlichen Mund, die schreit dem Vorbeistürmenden Worte nach, nicht auf portugiesisch, auf Tupi-Gnaranì.

Er sieht sie nicht, geht weiter, triefend und grotesk, in Schuhen, in denen das Wasser schlappt. Irgendwie kommt er dann doch zur Markthalle, zu der komischen kleinen Eisenbahnstation, zu den Villen der Rua de Nazareth, endlich, irgendwie, zum Hotel. 80


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