Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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XXXI.

Der Idealismus des Künstlers. Sinn und Zweck der Kunst ist immer der Mensch, speziell der Künstler. Dieser Satz wird nicht umgestossen durch die Thatsache, dass bisher so viel Künstler der Kunst (die Schöpfer ihren eigenen Geschöpfen) geopfert wurden. Sind doch Tausende und Aber-Tausende der modernen Cultur geopfert worden; und was hätte diese Cultur noch für einen Sinn, wenn sie des Menschen wegen nicht da ist? Der Mensch, der unter Folterqualen seinen Geist aufgab – für irgend einen Gott, opferte sich 209 zwar diesem Gott, aber der Triumph war doch sein, er hatte mit diesem Gott irgend einen älteren Gott besiegt, er hatte diesen Gott schliesslich selbst gewonnen (sich zum Freunde, Wohlgesinnten gemacht), er hatte auch diesen Gott besiegt, indem er alles Furchtbare, Furchteinflössende ihm benommen, indem er ihn sich näher gebracht hatte. –

Lenau hatte einmal nach der Lektüre des Chamisso'schen Gedichtes, in welchem ein Maler seinen Liebling an's Kreuz nagelte, um an ihm für sein Gemälde den Kreuzestod zu studieren, ausgerufen: Und ich würde mich selbst an's Kreuz geschlagen haben, wenn's nur ein gutes Gedicht gäbe. Dies Wort steht freilich dem Dichter eines idealistischen Zeitalters gut an! Völlige Hingabe des Menschen an seinen Beruf, seine Kunst. Vielleicht aber ist selbst dieser Ausruf – vorausgesetzt, dass er ehrlich gemeint ist – gar nicht so idealistisch! Was opfert der Dichter? Opfert er denn sich, den ganzen Menschen? Nicht vielmehr nur einen Teil seines Ich einem andern höheren, wenigstens ihm höheren, in ihm mächtigeren Teil? Triumphiert da nicht irgend ein Wille, ein höherer mächtigerer Wille in ihm? Zu welchem Zweck soll die Kreuzigung vorgehen? Damit ein schönes Gedicht zu Stande käme. Zu wessen Genuss und Freude aber soll dieses zu Stande kommen? Nicht zu der des Dichters, des Schöpfers selbst? Zu seinem eigenen höheren Selbstgenuss opfert er sogar einen Teil seines Selbst (oder möchte er wenigstens opfern!) Aber weil der nächste Effekt das Kunstwerk ist, deshalb täuscht man sich und sagt: der Künstler, Gelehrte, Staatsmann hat sich seiner Kunst, Wissenschaft, Politik geopfert. Der Soldat, der sich freudig in den Kugelregen begiebt, opfert sich gleichfalls nur scheinbar dem Staate. Nur weil sein Staatsbewusstsein, weil sein politischer Wille so viel mächtiger in ihm ist, deshalb opfert er ihm sein übriges Selbst. Wenn er nicht so fest überzeugt wäre, dass er als staatliches Individuum gar nicht untergehen könne, dass er als solches bis in alle Ewigkeit fortlebe und fortwirke (ein richtiges perpetuum mobile) dann würde er sich eben nicht freudig in den Kugelregen 210 begeben. Vorausgesetzt, dass der Mensch seinen Tod auch nur sich vorstellig zu machen vermöchte (d. h. seinen speziellen Tod, das Aufhören seines grössten Macht-Bewusstseins, die völlige Gebrochenheit seines stärksten Willens), – dann würde er sich auch nicht mehr opfern, sein eigen Selbst niemals an irgend Einen oder irgend Eines, sei's Staat, Kunst oder was immer, dahingeben.

Das geht soweit, dass man sich auch nicht einmal die Welt ohne sich denken kann, im Nirwana existiert man auch noch; man sieht selbst noch das Nirwana. Man kann die Welt wegdenken, aber man kann nicht von sich absehen. In Nirwana ist man allein. Es ist das Reich der absoluten Individualität.

XXXII.

Der Wille zur Kunst. Der Satz, dass die Kunst das Leben verschönt, ist sogar im buchstäblichen, im realen Sinne des Wortes richtig. Soll sie es freilich thun, dann thut sie es gewiss, nach Weiber-Art niemals, aber sie thut es, thut es freiwillig, sobald sie merkt, dass sie es thun muss. Ein Volk oder ein Individuum, das die Schönheit ernstlich und energisch will, will sich am Ende, und gerade sich selbst auch schön. Indem es an sich künstlerisch arbeitet und das Hässliche ignoriert oder bekämpft, verschönt es thatsächlich auch sein Leben. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die beiden Völker, die in den plastischen Künsten bisher das Höchste geleistet haben (Griechen und Italiener) unter allen Völkern Europa's auch die schönsten Leiber, sogar die schönste Natur besassen. Die Schönheit ist unter Künstlern und Künstler-Familien wenigstens nicht die Ausnahme; einige, wie Goethe und Byron, gehörten einfach zu den schönsten Männern ihres Zeitalters. Mit der Kunst eines Volkes wächst jedenfalls auch seine Schönheit. Oder sollen wir sagen: mit seiner Schönheit wächst auch seine Kunst? Ist vielleicht die Schönheit die 211 Ursache und die Kunst die Wirkung? Vielleicht beide beides? Doch da nicht die Kunst das letzte Ziel der Natur sein kann und nach unserer Auffassung auch die Kunst nur ein Mittel ist für den Künstler, den Menschen, so kann man dies vielleicht also am präzisesten ausdrücken: Ein Volk verschönt sich mittels der Kunst. Es vergeistigt sich mit ihr. Hat eine Kunst ein Volk so weit verschönt und vergeistigt, d. h. befreit, als sie dies überhaupt vermag, dann hat sie ihre Schuldigkeit gethan. Sie kann dann nicht nur gehen, sie geht wirklich! Es giebt ganze Kunst-; es giebt ganze Wissenschafts-Gebiete, die mit der Zeit völlig aus dem Kreis der Wissenschaft und Künste, dem Chor der Musen ausgetreten sind. Die Astrologie z. B., die Alchimie, die Theurgie u. s. w. waren Jahrtausende hindurch wichtige und angesehene Wissenschaften. Und heute? War die Astrologie deshalb nichts als Aberglauben, Irrtum, dummer, dicker Irrtum? Weniger Wissenschaft als Mathematik oder Physik? Sie hat ihrer Zeit wissenschaftlich geleistet, was man von einer Wissenschaft gefordert hat, bis eines Tages der Mensch im Stande war, ihre Voraussetzungen aufzuheben, den Zwang, der zu dieser Wissenschaft führte, und mit ihm das wissenschaftliche Dogma selbst zu brechen. Wer sagt mir, dass so nicht auch einmal die Mathematik als Wissenschaft entwertet werden kann?! Das hohe Alter und die Dauer und Unverbrüchlichkeit zeugt noch nicht für eine Wissenschaft. Es gab keine heiligere und kaum eine ältere Wissenschaft als die Astrologie. Vielleicht wird auch einmal die älteste und ursprünglichste Kunst, die zur Verschönerung und physischen Befreiung des Menschen in den frühesten Zeiten wahrscheinlich am meisten beigetragen hat (die Tanzkunst) zuerst aus dem Kranz der Musen ausscheiden. Es ist noch nicht ausgemacht, dass deren immer neun sein müssen, dass nicht jüngere Töchter geboren und die älteren sanft ersterben können. Oder wer würde heute noch den Mut haben, selbst den schönsten Tanz einer Statue des Praxiteles, einer Symphonie Beethovens, einem Gedicht Goethe's an Kunstwert an die Seite zu setzen? Die 212 Kunstwirkung des Ballets, d. h. seine Rückwirkung auf das Leben (um den Kunst-Realismus einmal von dieser Seite zu nehmen!) fällt nur noch sehr wenig ins Gewicht, wenn man es an der realistischen Wirkung anderer Künste misst; wiewohl das Sinnfällige und Momentane von vorn herein einen weit grösseren Kreis lockt und bestrickt und somit ein weit grösseres Wirkungsfeld hat. Aber wie heute alle diejenigen, die noch dem Sternencult huldigen, für die Wissenschaft gar nicht mehr in Betracht kommen, so zählt auch für die Kunst die grosse Mehrzahl all derjenigen nicht mit, auf die nur erst die unterste, die sinnlichste Art von Kunst zu wirken vermag. Die höchste Wissenschaft kann eines Tags zum Aberglauben werden; aber ist sie dies erst geworden, dann kompromittiert sich der Gelehrte schon von vorn herein, wenn er sie noch ernst nimmt und als Wissenschaft behandelt. Und so darf man auch Jeden als künstlerisch unheilbar kompromittiert ansehen, auf den nur noch die verschollensten Künste als Künste zu wirken vermögen. Er ist als künstlerische Totalität ein Atavismus.

XXXIII.

Der Wille zur Schönheit. Eine Frage an Moralisten und andere Pastoren: Wie kommt es, dass Schönheit und Tugend bei Frauen so selten sich vereinigt finden? Geschieht es nur deshalb, weil die schönen Weiber leichter der Verführung ausgesetzt sind, weil sie mehr umschwärmt und verhätschelt werden? Oder verhält es sich vielleicht gerade umgekehrt? Ist des Weibes Schönheit nicht vielmehr erst eine Folge ihrer Unsittlichkeit? Ist nicht eben die Schönheit die Verführerin?

Hier bedarf es noch einer Vorder-Frage? Wann ist ein Weib schön? Ist des Menschen Schönheit nur ein Produkt 213 des Zufalls? Hat neben der Abstammung, neben der Erziehung vielleicht noch ein Anderes Teil an der Schönheit des Menschen, nämlich sein Wille? Ist das Weib je schöner, als wenn es verführen will! Sind nicht die Sinnlichkeit, die Lust zu reizen, die Absicht sich geltend zu machen Gründe der Schönheit? Ist nicht diese schon allein ein Protest gegen die Moral? So etwa, wie es beim Manne die Intelligenz ist! Jede verbrecherische Neigung, jede Unmoralität macht den Menschen gewitzter und schöner zugleich. Geist wird ja im letzten Grunde nur dazu aufgeboten, um die Unmoralität zu rechtfertigen, sowie die Schönheit, um die Sinnlichkeit zu reizen oder zu befriedigen. Nicht umsonst sind die Teufel immer so klug und die Engel so dumm, nicht umsonst die tugendhaften Weiber so selten schön! Vorausgesetzt, dass nicht eine gewitztere Sinnlichkeit, ein feineres Raffinement das schöne Weib sich tugendhaft erhalten lässt. Denn Tugend (Unberührtheit) ist ein Reiz mehr am schönen Weibe. – Und ferner vorausgesetzt, dass nicht das Bewusstsein von ihrer Schönheit, der Seltenheit und des Werts dieser Reize auch zugleich einem Stolzen Nahrung bietet, dass es zunächst vor jeder Schwäche und Verführbarkeit sichert; d. h. so lange, bis das Weib Gelegenheit findet, seiner Schönheit die höchsten Triumphe zu bereiten; sei's, dass es ein eben so seltenes und hervorragendes Exemplar des männlichen Geschlechts in seine Arme lockt; sei's dass es sich von einem Volke von Männern bewundern und anbeten lässt; sei's dass es vermöge der Macht seines Wesens einen Einfluss auf die Umgebung, die Gesellschaft, öffentliche Handlungen zu gewinnen vermag; sei's dadurch, dass es den Neid aller anderen Weiber erregt oder auf irgend eine andere Weise seine ganze Existenz auf einer Höhe zu erhalten weiss, die seiner Eitelkeit schmeichelt. Denn was ist am Ende die Schönheit dem Weibe, was anders als was dem Manne die Intelligenz ist: eine Waffe mehr im Kampfe um's Dasein, ein Ausdruck des Willens zur Macht! Das ist zuletzt auch die Kunst selber: sie erhöht die Existenz des Einzelnen wie der Völker, sie verfeinert, raffiniert sie; sie macht das Leben 214 genuss- und den Geniessenden besitzfähiger, sie führt tausend Dinge in seine Machtsphäre, die der Mensch vorher kaum geahnt, geschweige denn besessen hat.

Die Tugend eines schönen Weibes aber ist auf alle Fälle nur ein Schein oder Heuchelei, das Wesen der Schönheit ist Immoralität. Denn gerade das macht ja ein Weib schön und darin offenbart sich ihre Schönheit, dass sie mit ihrer ganzen Leiblichkeit so auf den Mann einwirkt, dass er irgend wie auf diese Reizung reagieren muss, d. h., wenn sie ihm so fasziniert, dass bereits sein Blick und sein Händedruck unsittlich, oder wie Heuchler sagen, »unrein« wird: nämlich sinnlich! Erst das Weib, das nicht mehr reizt, ist direkt unschön und unbedingt hässlich nur das Weib mit erkalteter, krankgewordener Sinnlichkeit. Niemals aber ist ein Weib schöner als im erotischen Zustande und für Niemand ist es schöner als den Liebhaber. Wieder ein Grund, dass die Schönheit Folge und Erfolg weiblicher Sinnlichkeit, oder um theologisch zu reden, ihrer Unmoralität ist. – Natürlich darf hier weniger als je die Relativität ausser Acht gelassen werden.

Hier haben wir auch den Grund für den ewigen Kampf zwischen Kirche und Kunst, dafür, dass in Ateliers, im Theater, in Dichter- und Musiker-Kreisen die Tugend sich selten genug installiert; oder aber die Kunst ist hier nicht zu Hause . . . Tugend und Kunst, das sind einfach zwei verschiedene Welten . . .

Schönheit ist Reiz, Schönheit muss reizen und verführen. Schönheit ist dem Weibe, was Fangarme dem Polypen: ein Mittel, den Mann (oder auch Männer!) zu angeln. Ein Weib ist schön, heisst: Ihr Leib tendiert auf das Sinnen- und Empfindungs-Leben des Mannes.

Wie? Und die Schönheit könnte nichts beweisen? Schönheit hätte nie etwas bewiesen?! Im Kampfe, der zwischen Mann und Weib besteht, in Hass und Liebe ist Schönheit stets das letzte und wichtigste Argument. Es giebt sogar Fälle, wo Schönheit selbst juristische Beweiskraft besitzt. Der Prozess der Phryne, deren nackter Busen rhetorische Kraft ganz besonderer Art besessen haben soll, ist ja bekannt. 215 Und man weiss, die Athener waren hinsichtlich der Rhetorik gar nicht so leicht zufrieden zu stellen! –

* * *

Und welches ist das Recht der Schönheit? – Genossen zu werden! Die Schönheit ist so wenig um der Schönheit willen da, als das Weib um seiner selbst willen da ist.

Sowie der Leib des Weibes erst dem Manne zur Lust und dann dem Kinde zur Hege und Pflege dient, so prangt auch die Kunstschönheit nur so lange in unnahbarer Hoheit, bis der erscheint, der würdig und dreist genug ist, ihr den Gürtel zu lösen. Dass da jedesmal so viel alte Kunst welkt und unschön wird, ist nur das allgemeine Schicksal. Die Kunst trägt es so gelassen, wie im Allgemeinen das Weib. Wer nur darüber nicht hinwegkommt, das sind all die alten abgewiesenen Freier! Kein Mann kann mit Gleichmut die Kinder betrachten, die seine Jugendgeliebte von einem fremden Manne hat.

Nur Eunuchen begnügen sich mit dem »reinen, interesselosen Anschauen.« Aber auch der Eunuch betrachtet das Weib nicht ganz interesselos. Noch die Erinnerung seiner geraubten Mannheit wird sein objektives Urteil trüben. Der Gedanke noch seines ehemaligen Interessiertseins an Frauenschönheiten wird seinem Urteil allein schon die Richtung geben.

XXXIV.

Tendenz des Weibes.Dieser und der folgende Abschnitt sind bereits in meiner Schrift über das »Sexuelle Problem« abgedrukt. Ursprünglich aber gehören sie dieser Arbeit an, wie denn überhaupt jene ganze Schrift als Teil dieses Werkes gedacht war. Dann aber wuchs sie aus dem Rahmen heraus und verlangte eine gesonderte Veröffentlichung. Nicht nur ein Kunstwerk hat Tendenz, selbst die Natur ist tendenziös. Vor allem ist es der Mensch selber. Nach dem Wesen eines Menschen, eines Dinges, eines Kunstwerkes fragen, heisst das Eine wie das Andere nach ihren geheimsten Absichten und Zwecken, 216 nach ihren Tendenzen erforschen. Wohin steuert sein Wille? Wo ruht seine Kraft? Das Woher? und das Wohin? – es giebt nichts, das uns wissenswerter wäre – eingerechnet natürlich der Weg, der von dem Einen zum Andern führt.

Es giebt Menschen von ehrgeizigen, theoretischen, erotischen, sympathetischen und tyrannischen Tendenzen . . . Die Tendenz des modernen Weibes äussert sich z. B, in zarter verlangender und doch abstumpfender, weil abgestumpfter Fleischlichkeit; Anderer geheimste Wünsche und Zwecke verrät ein Auge, der linke Nasenflügel, und fast immer die Garderobe. Hier begreift sich auch die Wichtigkeit, mit der seit Menschengedenken das Problem der Kostümierung von den Frauen behandelt wurde. Sie eben bietet das Mittel, die verborgensten und vornehmsten Absichten auch wirklich verborgen zu halten oder auch, wenn's sein muss, zur Vervollständigung des Triumphes sich verraten zu lassen. Gegenwärtig z. B., da die ganze verlangende Sinnlichkeit des Tieres »Weib« endlich am Hervorbrechen ist (sehr zum Unterschiede gegen frühere Zeiten, in denen die männliche Sinnlichkeit die verlangende und die abwartende weibliche die verlangte war) – und die Herrschsucht des Weibes mittels dieser aggressiv gewordenen Sinnlichkeit. Die modernen Damentrachten mit ihrer Accentuierung des Nackt-Geschlechtlichen, des bewusst Weiblichen, mit ihren übermütigen Anmerkungen über das Schwächegefühl des modernen Mannes – das sind die offen zu Tage tretenden und ohne Scham ausgesprochenen Tendenzen des Kunst- und Naturwerks »Weib« dem Manne gegenüber. Es hatte gemerkt, dass es Anfangs durch jede weitere Umhüllung und darauf in natürlichem Rückschlag durch jede weitere Enthüllung stärker, siegreicher und unwiderstehlicher wurde über den Mann.

Der Triumph des Weibes durch die Sinnlichkeit und der zwiefache Genuss in diesem Triumph – das war sein letzter Endzweck, seine eigentliche Tendenz. Dies zu erreichen, musste es klug sein wie eine Schlange, musste es glatt sein wie eine Schlange, musste es beweglich sein wie eine Schlange. 217 Und es ward klug, glatt und beweglich wie eine Schlange. (Die Bibel bedient sich einer Tautologie; sie lässt den Mann verführen durch das Weib und die Schlange. O, es genügt schon des Einen! Das Weib umfasst Beides, die Schlange ist nur ein Unterbegriff desselben). Das Weib entdeckte seinen Dämon und faszinierte. O, nicht durch seine Schönheit, wie man sich immer einbildet, mindestens nicht durch diese allein! Und der Mann, dieses starke und stolze Tier schmiegte sich, wie geblendet und vergewaltigt zu seinen Füssen, noch glücklich, seinen Rücken ihm zu höchst gefälliger Drauftrampelung darbieten zu können.

Unter der Herrschaft und Führung des Weibes verweichlichte und verweiblichte sich die moderne Cultur und schliesslich auch der Mann. Ganze Culturgebiete der letzten Jahrhunderte sind Ausflüsse weiblicher Eitelkeiten. Es bot dem Manne alle Süssigkeiten, es liess ihn seine Blicke sich stumpf bohren an ihren Reizen, es koste ihn und schmeichelte ihm so lange, bis es ihn so in seiner Gewalt hatte, dass es ihm ganz getrost die allerliebsten Füsschen auf den Nacken setzen konnte! Die Tendenz des Weibes dem Manne gegenüber kommt in einer ganzen Reihe von modernen Culturerscheinungen zu Tage. (In der Kunst, in der Gesellschaft, in den Sitten, vor allem in der Ehe, in der Erziehung. Die Ehe in der modernen Form ist eigentlich um des Weibes willen allein geschaffen. Sie ist die erste und wichtigste Etappe weiblichen Imperiums. Die moderne Jugenderziehung, die fast ausschliesslich in der Hand von Frauen liegt, ist einfach ein Unglück. Die Frau kennt, versteht nichts und will nichts verstehen von dem Männlichen im Knaben. Sie erzieht ihn stets nach ihrem Ebenbilde und entmannt ihn, noch ehe er Hosen zu tragen bekommt. Dies zu verhindern, giebt es nur ein Mittel, ein hartes freilich und ein verzweifeltes, aber notwendiges; die Knaben möglichst früh vollständig dem Einflusse der Frauen zu entziehen, auf dass der Mann wieder mannbar werde und auch dem Weibe hinfort als Mann begegne! In der Erziehung von Knaben und im Umgang mit 218 der männlichen Jugend verrät das Weib einen Stumpfsinn und eine Brutalität und schliesslich auch eine Gewissenlosigkeit, die dem tiefer Blickenden denn doch Hochachtung vor dem »zarten Geschlechte« einflösst. Aber allerdings, man muss sehr tief blicken und einen Sinn haben für die feinsten Subtilitäten und einen anderen für die gemeinsten Bestialitäten im Weibe. Unsere modernen Naturalisten sind in der Hinsicht häufig ausserordentlich feinsinnig!)

Die modernen Männer wurden alle einmal Lotophagen an irgend einem weiblichen Busen, und bei dieser Gelegenheit vergassen sie ihre mannbare Kraft; sie vergassen das Ziel ihrer Fahrt, ihre Zwecke und ihre Absichten und versanken in nichtige Träumereien. Diese Gelegenheit benutzte das schlangenkluge Weib, und es ward Herrscherin.

XXXV.

Kunst und Liebe. Wenn man heute so häufig spricht: Der moderne Künstler (der Naturalist) will Natur, so hat das schon seine Richtigkeit. Man muss nur das Wort will betonen. Er will sie, er verlangt nach ihr, wie der Mann nach dem Weibe. Und gerade was er an ihr liebt, weshalb er sie will, das raubt er ihr, sobald er sie hat: die Jungfräulichkeit, das Unberührtsein. Die Natur ist, sobald sie der Künstler hat, schon nicht mehr Natur, sowie das Weib in des Mannes Armen nicht Jungfrau, auch nicht mehr reines Weib bleibt. Es wird männlicher, wissender. Es tritt gleichsam aus der Gemeinde der Weiber aus und schlägt sich zum Manne. – Auch die Natur verliert ihre Unschuld in den Händen des Künstlers. Er durchgeistigt sie, und sie hört auf, reine Natur zu sein. Der moderne Künstler identifiziert sie ja beide. In der Mehrzahl moderner Poesien vertritt das Weib geradezu die Natur . . . In der naiven Kunst ist die Natur 219 gleichsam noch ein Kind, das Neugeborene, eben entsprossene; in der sentimentalischen ist sie Weib, die Umworbene, Gepriesene, die Ersehnte und Gefreite, meist aber nicht Gewonnene und, wenn schon Gewonnene, doch sehr bald Verlorene; – schnippisch oder hochmütig giebt sie ihrem Freier einen Korb, und das Geflenne geht los – daher die Sentimentalität. Was geschah nun? Der Künstler sagte sich: der Jungfer musst Du auf andere Weise beikommen! Zeig ihr, dass Du ein Mann bist! Und er zeigte es ihr, er bezwang sie; und sie verheiratete sich mit ihm, d. h sie musste sich mit ihm verheiraten. Es geschah um des öffentlichen Anstandes wegen! Damit ist die naive und sentimentalische Kunst nicht aufgehoben. Aber diese Unterscheidungen sind jetzt Privatsache geworden. Jeder hat ja wohl noch einmal seine Kindheits- und Schmachtlappen-Periode. Die Kunst selbst ist aus beiden Epochen heraus. Sie ist eine ganz legitime und wohlanständige Ehe, in der zwar einstweilen das Weib sich alle Mühe gibt, den Mann unter'm Pantoffel zu kriegen, in der aber schliesslich doch stillschweigend, voll Zärtlichkeit freilich und mit aller Höflichkeit gegen sein ehrbar Gemahl, der Mann das Kommando übernehmen wird. Ist er's ja doch, der für Kinder und für die Kinder zu sorgen hat! Gegenwärtig aber befinden wir uns noch in dem Stadium, in welchem das Weib noch energischst um ihre Pantoffelherrschaft ringt.

XXXVI.

Die zweigeschlechtliche Schönheit. Der Geschmack des Weibes liegt vielleicht gar nicht so weit ab von dem des Mannes, als man oft annimmt. Doch sind selbst da, wo Beider Geschmack zusammenfällt, seine Ursachen stets verschiedene, meist sogar konträre. Ein Weib geniesst z. B. eine Liebesscene ebenso seinem Geschlechte gemäss als der 220 Mann: also anders. Dem Manne erhöht der Anblick eines schönen Weibes sein Mannes- und Kraftgefühl, er lässt mit Wollust oder selbstbefriedigter Genugthuung ihre Formen und Reize auf sich wirken, er sieht sie mit den Augen der Romeo's, Tristan's, Faust's – er geniesst sie mit denselben, bewältigt, durchdringt sie und nimmt sie völlig in sich auf. – Ein Weib aber erfreut sich der Schönheit eines andern Weibes, nicht, weil dieses, sondern weil es selbst ein Weib ist. Sein Geschlechtsgeist triumphiert mit dem Siege der Genossin. Am liebsten möchte es selbst Julia, Isolde, Gretchen, Klärchen, Kätchen sein, – sie möchte wirken, reizen und genossen sein – wie diese.

Also dasselbe Frauenbild kann Mann und Weib als gleich schön und vollendet erscheinen (natürlich vorausgesetzt, was sich von selbst versteht, unter sonst gleichen Cultur-, Zeit-, Volks- und Bildungs-Verhältnissen), dem Einen, weil es ihm die höchsten Liebesgefühle erregt, dem Andern, weil es ihm dieselben erregen hilft, weil es ihm die Mittel zu reizen bietet, es zu Genüssen raffiniert, auf die nicht sein Geist von selbst oder nicht so schnell gekommen wäre. –

Ich habe den hier einfachsten und leichst verständlichen Fall (Darstellung des geschlechtlich Schönen) gewählt. Aber derselbe Unterschied, derselbe Gegensatz findet sich beinahe überall. Das Weib findet im Allgemeinen schon deshalb Alles schön, was der Mann schön findet, – eben weil es der Mann schön findet. Aber dieses »eben weil« hat es lange vergessen, deshalb denkt es nicht daran und will nicht zugeben, dass hier ganz verschiedene Geschmäcker existieren.

Ein anderer Grund für die gleichen oder ähnlichen Kunstwirkungen ist folgender: Zweimal nämlich findet (das eine Mal im Objekt, das andere Mal im Zuschauer) eine Umkehrung der Zeichen statt, wodurch die Multiplikation wieder dasselbe positive Produkt, denselben positiven Schönheitseffekt ergiebt, oder doch ergeben kann. Das lässt sich geradezu in eine mathematische Formel bringen, nämlich:

(+a) × (+b) = +x
(-a) × (-b) = +x

221 Die Schwierigkeiten, die Geschlechtsunterschiede in der Kunst zu fixieren, sind schon deshalb so grosse, weil, wovon nicht Jeder etwas weiss noch wissen, und wenn er es weiss, etwas eingestehen mag, es leider Geschlechtsverschiebungen giebt, zumal in der unkontrollierbaren Sphäre des Geistigen, die alle hierauf bezüglichen Streitfragen so leicht verwirren. Es ist eben nicht Jeder ein Mann, der Hosen und Wamms trägt, und namentlich unter den Künstlern giebt es Hosen- und Wammstragende Weiber in Menge, während andrerseits das Weib, das gebildete besonders gerne mit allerlei männlichen Eigenheiten, Sitten (ganz besonders aber seinen Unsitten!), Arten und Unarten affektiert. Das Weib lügt sich schliesslich geradezu zum Manne herauf, so ganz unterjocht ist es doch eigentlich von des Mannes Kraft. –

Je weiter aber das Kunstobjekt vom Zentrum des Geschlechtlichen abliegt, um so mehr divergieren auch die Urteile über das, was schön ist; oder was wichtiger und entscheidender, steigt oder sinkt das Interesse des einen oder andern Geschlechts für das Kunstobjekt. Es giebt schliesslich auch eine Schönheit unter Männern und für Männer, eine Schönheit, über die sich allein die Männer untereinander verständigen können, wie es andrerseits auch eine Schönheit unter Weibern und für Weiber giebt, für das allein ein Weib einiges Verständnis findet. Hierher gehört alles Kleine und Niedliche, Alles, was sich auf das Kind und die Kinder bezieht. Das Weib ist wahrscheinlich immer der erste Entdecker von Kinderschönheiten; es erblickt Reize, wo der Mann einstweilen nur noch ein unschönes, ekles, widerliches Geschöpf sieht. Es ist der Mutterinstinkt, welcher hier der Pfadfinder der Schönheit ist. 222

———

XXXVII.

Das hedonistische Prinzip in der Kunst.

Das Wort »Vergnügen« spielt in der Kunst und hat von je in ihr eine grosse Rolle gespielt. Was soll die Kunst? Diese Frage hat allen Aesthetikern noch immer viel Kopfschmerzen gemacht. Jedenfalls hat sie noch keiner befriedigend gelöst. Wenigstens hat noch keine Antwort befriedigt.

Wollen wir es nicht auch hier vorziehen, anstatt metaphysisch und philosophisch die Frage psychologisch und historisch in die andere umzusetzen: Was will die Kunst? und: Was will man von der Kunst? Was hat man je von ihr gefordert? Und wie ist das in Uebereinstimmung zu bringen? Und vor allen Dingen: wie verhielten sich die beiden Forderungen, die an die Kunst gestellt werden, die man, d. i. das Publikum, und die sie selber an sich stellte? Hat die Kunst immer dasselbe von sich gefordert, was man von ihr gefordert hat? Und wie stand sich die Kunst dabei, wenn sie sklavisch vollführte, was man von ihr vollführt sehen wollte? Wer ist da souverän und hat ein Recht, zu fordern?

Offenbar die Kunst, denn sie ist frei. Offenbar das Publikum (man), denn es bezahlt die Kunst, erhält die Künstler; denn es ist derjenige Faktor, der den Erfolg bestimmt.

Man will sein Vergnügen; denn dazu giebt man sein Geld. Man will nach des Tages Mühen, an Sonn- und Feiertagen sich auf angenehme Weise zerstreuen. So geht man in die Gallerien, in Theater und Konzerte, liest Romane und Journale.

Nun aber, ich schweige davon, dass das, was den Einzelnen ein Vergnügen, ein Fest bereitet, sehr weit auseinander liegt. Gut! Wenn aber das gesammte Publikum sich darüber einig ist, dass das Gebotene kein Vergnügen bereitet, keine 223 Freude macht (um das edlere Wort nicht zu verschmähen) kurz, wenn alle Welt darüber einig ist: Dieses Werk ist abscheulich, es bereitet uns Pein, – ich frage: ist damit das Urteil über ein Werk gesprochen, besiegelt und unwiderruflich gemacht?

Die Kunst soll Vergnügen machen. – Wem? Den Gebildeten oder dem Volke? Den Mit- oder Nachlebenden? Nur der eigenen Nation oder aller Welt? Und auch allen Zeiten? Allen Zeiten und Zonen! Aber noch nie hat das ein Werk gethan. Und vollends die gegenwärtige Kunst macht noch ziemlich wenigen eigentliches Vergnügen, auch denen nicht, die sonst vorgeschritten genug sind, die Bedeutung und Notwendigkeit derselben einzusehen.

Das landläufige Urteil lautet also: Ich sehe nicht ein, weshalb ich auch noch des Abends im Theater all die Pein des Lebens ausstehen muss? Wir sind glücklich, wenn wir im Leben Trunkenbolden und Schwindsüchtigen ausweichen können und im Theater und in Romanen sollen wir uns solche Creaturen gefallen lassen müssen? Seit wann soll die Kunst Grauen hervorrufen, Ekel und Furcht? Die Kunst soll mich erheitern, veredeln und mit dem Leben aussöhnen.

Schon wieder soll die Kunst etwas, und gleich dreierlei auf einmal, und noch dazu nichts Kleines von Kunststück: unsern Philister veredeln!

Doch lassen wir diese schoflen Leute mit ihrer schoflen Gesinnung. Vielleicht können auch wir noch ein Vergnügen hinausretten, das aber dabei für uns, die Dichter und Künstler herausspringt. Man denkt überhaupt, wenn man von Kunst schwatzt, viel zu wenig an den Künstler. Man nimmt immer, und daran krankt ja unsere ganze Aesthetik und alle unsere Kritik, den Zuschauer und das Publikum als Norm der Kunst; und man bedenkt nicht, dass es dies sowenig sein kann, als der Ambos dem Hammer Regeln vorzuschreiben hat. Man vergisst auch bei Vergleichen mit der griechischen Kunst, dass der griechische Zuschauer diese Passivität und 224 Uninteressiertheit nicht besass, die der moderne Zuschauer, dessen künstlerisches Interessiertsein durch zu mannigfaltige Eindrücke längst paralysiert ist, dem Künstler entgegenbringt.

Gehen wir der Sache tiefer nach: Was ist Vergnügen und wie entsteht Vergnügen? Natürlich rede ich hier nicht von dem sinnlichen Kitzel abgewirtschafteter Roués!

Für den höher gearteten Menschen entsteht nur dort ein Vergnügen, wo Kräfte streiten und wo er die Freiheit über eben die Kräfte besitzt. Jedes Ueberwunden-Haben oder auch die Erkenntnis überwundener Triebe bereitet Einem ganz höllische Freude. Und so kommt es, dass gerade alle Art von humoristischer Poesie so ganz hervorragend zur Basis aller Kunstbetrachtungen gemacht worden ist. Und so kommt es auch, dass die geistige Freiheit, das interesselose Anschauen zum Panier aller hohen Künste gemacht worden ist.

Freiheit! Wessen Freiheit? Man hat dreierlei Arten von Freiheiten zu unterscheiden, die man ständig mit der grössten Virtuosität durcheinander gebracht hat.

Es giebt eine Freiheit des Künstlers, eine Freiheit des Publikums und eine Freiheit des – Objekts, des Stoffes. Es ist auf den ersten Blick klar, dass diese drei Interessen-Sphären nicht parallel laufen. Wir, die wir alle Interessen wahren, nur die des schöpferischen Subjekts nicht (das thun übrigens auch die Realisten nicht), haben vor allem als höchste und erste Kunstforderung die Freiheit, das Für-Sich-Sein, um seiner-selbst willen Erscheinende des Kunst-Objekts, die naturwahre und schöne Individualität hingestellt. Ihre Selbständigkeit ging uns über alles, das Zurücktreten des künstlerischen Subjekts galt als Hauptsache. Von diesem verlangte man nichts weiter, als was man vom weiblichen Mutterboden verlangt: die Passivität des Empfangens, das in sich Tragen und in sich Ausarbeiten, der Künstler sollte nur sein Blut und Fleisch als Nahrung hergeben, im Uebrigen aber das junge Leben sich möglichst selbständig und frei entwickeln lassen. 225

Und auch der Zuschauer sollte seine Freiheit und Selbständigkeit behalten. Nichts darf auf seinen Willen einwirken, alles soll nur Vorstellung bleiben.

So kam es denn, dass der Künstler in die Knechtschaft zweier inferioren Mächte geriet, aus der er sich noch nicht wieder befreit hat.

Aber man sehe doch, wie grosse Künstler noch immer gearbeitet haben! Wie sie den Stoff meistern! Wie cäsarisch schaltet und waltet z. B. E. Zola, dessen gebieterischer und machtvoller Wille seine Figuren, Vorgänge und Landschaften wie ein in Reih und Glied marschierendes und immer schlagfertiges Regiment kommandiert! (Ein eben so grosses cäsarisches Künstler-Genie war auch unser H. v. Kleist). Und wie oft, mit welcher Rücksichtslosigkeit und wie geflissentlich stossen die Künstler ihr Publikum vor den Kopf! Aber man muss sich freilich hüten, die grosse Masse des Publikums, das ja oft gar nicht anders als durch solche Kopfstösse aus seiner lethargischen Verschlafenheit aufgerüttelt werden kann, mit dem engeren Publikum der Gebildetsten und Vorgeschrittensten, zu verwechseln den Mitstreitenden, die eigentlich einen Chorus von Künstlern bilden. Solch einen Chorus von Künstlern bildete das antike Publikum.

Dieser Chorus von Künstlern – das eigentliche Publikum – empfindet freilich die Siege des Künstlers über die Materie, als persönliche Triumphe mit. Der Streit und das Spiel der Kräfte ist zugleich ein Streit und ein Spiel seiner Kräfte, die besessene oder errungene Freiheit zugleich seine Freiheit.

Aber wie jede Freiheit entspringt aus einer Unfreiheit, wie sie nur ihren hohen Wert erhält in Hinsicht auf die vorausgegangene Unfreiheit, so kommt auch jedes Vergnügen erst zu seinem Recht durch die vorangegangene Not.

Nicht die Freiheit ist die Bedingung zur Kunst, sondern die Befreiung, der Wille zur Freiheit. Nur wo eine Not besonders stark empfunden wird, z. B. die moderne Cultur-Lüge von den Naturalisten, erst da regen sich die Kräfte zu 226 ihrer Ueberwindung, erst da entstehen Werke und mit diesen und durch diese Werke eine Freiheit oder ein Vergnügen.

Wie kann man also von diesen ausgehen wollen? Freiheit und Vergnügen sind der Preis und nicht das Wesen der Kunst! So haben z. B. den höchsten Genuss an Faust alle Diejenigen empfunden, die mit Goethe und seiner Zeit die grosse religiöse Not empfanden. Es hat Tausende gegeben und giebt es noch, die sich niemals einen Genuss aus dem Faust herausgelesen haben oder heut noch herauslesen können, oder für die die Poesie im Faust mit Gretchen geht und kommt. Goethe aber und mit ihm indirekt seine Zeit hat sich religiös freigemacht am Faust, so wie er sich am Werther gesund geschrieben hat.

Alle Art von Unfreiheit und Unlust ist vielmehr gerade das Motiv des Kunstschaffens; und der Zuschauer will gleich auf seine Rechnung kommen, den Preis der Lust vorwegnehmen, noch ehe er etwas eingesetzt hat!

Und dann: soll er denn in jedem Falle Lust empfinden? Wenn der Maler ein Jagdstück malt, hat auch der Hirsch, den er in seinen letzten Zügen, verendend unter den Klauen des Jagdhundes darstellt, das Recht, sein Vergnügen bei dieser Art von Kunst zu fordern? Oder hat er es in der Realität? Die Jagd malt ihr als ein Schönes? spricht der Hirsch. Das preist ihr? Ich finde nichts Schönes daran, ich empfinde nur Pein bei solchen Vorgängen!

Ohne Zweifel: der Hirsch hat Recht. Aber ist der Hirsch das oberste Tribunal für den Maler von Jagdstücken? Sollte das von vielen Menschen nicht auch gelten? Sind nicht auch viele, was der Hirsch bei der Jagd? Die Gejagten, Verfolgten, Getroffenen? Oder glaubt man, dass die Tartüffe auch ihr Vergnügen dabei fanden, als sie Molières Komödie lasen? Und welche Bedeutung hat ihre Klage über Schönheit, Unschönheit, Lust oder Unlust, die ihnen dieselbe erregt? Man muss nie zu viel von sich verlangen: Opfer und Zuschauer seiner Opferung sein zu wollen.

Einen Gewinn wird die moderne Kunst jedenfalls haben. 227 Sie peitscht das Publikum mit Skorpionen aus seiner Interesselosigkeit heraus. Hier, wo überall die geheimsten Wunden der Cultur-Menschheit aufgedeckt werden und die grössten Interessen des Lebens auf dem Spiele stehen, hat die alte Interesselosigkeit des Kunst-Schauens ein Ende. Und das ist ein Segen. Denn diese Interesselosigkeit ist an allem Unglück schuld. Man muss dem grossen Faultier, Publikum genannt, man muss speziell dem deutschen Bierphilister nur noch interesseloses Anschauen predigen!

Mit dem Vergnügen in der Kunst gehet es diesem ohngefähr so wie Goethes Bürger mit der Politik:

»Nichts Bessres weiss ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten weit in der Türkei
Die Völker aufeinander schlagen.«

Ja, darauf kommt's an: Da hinten, weit in der Türkei in idealen Zeiten und Völkern! Daher die ideale Form! Irgendwo, irgendwann, irgendwas, das uns nichts angeht, das uns nicht gefährlich werden kann. So liebt es sich unser Spiessbürger an Sonn- und Feiertagen. Wenn ihm die Kunst nur immer drei Schritt vom Leibe bleibt! Irgend eine allgemeine Rührung, die zu nichts verpflichtet, Vorstellungen, die Einem nicht ins Schlafzimmer oder ins Komptoir folgen! Nicht die Furcht vor dem Real im Theater, sondern umgekehrt die Furcht vor der Kunst ist es, vor der Geistigkeit im Leben, die ihn ängstigt. –

Wenn man heute so oft Männlichkeit und Kraft von der Kunst fordert (freilich fordert man diese Männlichkeit oft nur wie ein Weib), so sollte man vor allem daran mitarbeiten helfen, die Kunst aus der Passivität herauszuheben, sie von der Knechtschaft des Stoffs und des Zuschauers zu befreien, ihre Aktivität und Aggressivität erhöhen. Publikum und Stoff sind immer nur das Wild, welches der wilde Jäger-Künstler zu Tode hetzt, der auch der einzige ist, der bei dem Geschäft sein Vergnügen finden kann; er und sein Jagd-Gefolge: der Chorus der Künstler. 228

Mögen sich das ganz besonders auch die Realisten gesagt sein lassen, die im Gegenteil gerade recht beflissen sind, die Kunst noch femininer zu machen, wie die consequent realistischen Erzeugnisse von Hauptmann und Holmssen bei allen ihren sonstigen Vorzügen so drastisch gezeigt haben. Der Dichter – ein Sklave seines Objekts, ohne Willen, ohne Zwecke, ohne Tendenzen, –

* * *

In der Kunst, sagt Heine einmal, giebt es keinen Mittelstand; und das ist der Grund, weshalb es in Zeiten, in denen der Mittelstand der Bourgeois herrscht, mit der Kunst so schlecht bestellt ist. Für den Künstler giebt es allemal nur zwei Gattungen von Menschen: Die Grenzen der Menschheit: Die Vorgeschrittensten und die Zurückgebliebensten, eine Gemeinde der freiesten Geister und – das Volk. Dies ist ihm Stoff, wie ihm jene Norm ist. Sie sind auch sein einziges Publikum: er wendet sich entweder an die Instinkte und Leidenschaften des Einen oder den Kunstverstand (Formensinn) des Andern! Der Mittelstand hat keine Kunst, der Mittelstand bedarf keiner Kunst. Womit er sich befasst, wird, schon dass er sich damit befasst, künstlerisch entwertet. Ihn kann man auch nicht einmal in seiner Passivität als Künstlerobjekt gebrauchen. Er ist im Besten Sinne künstlerisch uninteressiert.

Das hat man sich gegenwärtig zu halten, wenn man von der Popularität eines Künstlers redet. Nicht schlechtweg und in jedem Falle ist die Popularität eine Tugend. Der Dichter, der von dem Volke begriffen wird, ist jedesmal nur ein schlechter oder ein zurückgebliebener Dichter – ein Trottel; und der gute Dichter wird populär, wenn er anfängt zu veralten und zu vergilben.

Wem also das Volk etwas anderes ist als Roh-Stoff für seine Kunst und Ambos für seine Gedanken oder seinen Willen – \ der mag alles, er wird sogar gewöhnlich ein guter, sehr guter Mensch sein – aber ein Künstler ist er nicht!

Also Publikum ist das Volk dem Künstler nur in einem ganz bestimmten Sinne, in Folge seiner Passivität, sowie die Gemeinde der Vorgeschrittensten und Vornehmsten, die 229 selbst wieder einen Kunst-Willen haben, auf den ein anderer Wille wie ein Stein auf einen anderen Stein stossen und wirken kann, in ihrer Aktivität das eigentliche Kunst-Publikum bildet. Es sind die Mitarbeiter des Künstlers. Es ist Geist von seinem Geiste – das Volk ist Natur.

Wie soll also in jedem Falle ein Vergnügen, eine Freude, ein Lustgefühl für den Zuschauer herauskommen? Wie kann, wer selbst Kunst-Objekt (Natur) ist, selbst immer Zuschauer sein wollen? Wo der Künstler oft hart und grausam mit der Natur, seinem Stoff umgehen muss? Ich wüsste nicht leicht einen Dichter, der grausamer mit seinem Stoff, der Natur, umginge, als der Naturalist Zola. Gut: Verlangt man Meisterschaft in der Kunst (und man verlangt sie, man ist gegen jede Art Anfängerschaft in der Kunst), dann muss auch Etwas da sein, das gemeistert wird. Ist der Dichter Naturalist, wie Meister Zola, dann wird die Natur gemeistert, ist er Idealist, dann wird die Geschichte gemeistert oder die Idee, oder was sonst als Stoffquelle benutzt wird.

Ein Vergnügen springt da freilich auch heraus, aber man sieht schon für wen.

Hat sich der Künstler erst einmal befreit, ist der Artist in ihm frei geworden und überall, wo ein starker Wille in ihm auf Raub und Jagd ausgeht, da beginnt das eigentliche Lustgefühl. Die Jägerlust, – freilich zugleich oft mit der Angst des verfolgten Wildes. Der Feind, auf den er Jagd macht, ist nicht selten er selbst. Die Lust an der Selbst-Zerstörung und Selbst-Beobachtung ist nirgends so häufig und so unheimlich als bei modernen Dichtern. Hier hat man die Ursache für eine ganze Reihe von Wirkungen und Eigentümlichkeiten bei Ibsen; z. B. das Unheimliche, Geheimnisvolle und Geheimthuerische, das Versteckte und Zurückhaltende, kurz die ganze geheime Lust des Selbst-Peinigens und Selbst-Geniessens.

Indes man thut gescheidter, seine Feinde anderswo zu suchen als in sich selber. Aber da muss man kein Arbeitstier sein. Man muss überhaupt nicht die Arbeit so hoch 230 schätzen, als sie heute überall geschätzt wird. Kein Satz ist so falsch und so gefährlich als das oft citierte Motto zu Freytags »Soll und Haben«, dass man das deutsche Volk dort suchen soll, wo es zu Hause ist, bei der Arbeit. Denn thatsächlich ist der Mensch niemals bei der Arbeit zu Hause, oder wenn er es ist, so ist er hier doch auch genug discipliniert und uniformiert, um sich nicht zu verraten. Der kluge Verräter des Lebens ist und bleibt der Müssiggang. In müssigen Augenblicken hat sich Niemand genug in Disciplin, um nicht gelegentlich sein Tiefstes zu verraten. Es sind auch die interessantesten Augenblicke. Man erlebt nirgends mehr, nirgends Wertvolleres als in den Abendstunden, an Sonn- und Feiertagen, des Sommers auf Ausflügen und in aller Art von Ferien. Alle unsere Liebschaften und besten Freundschaften datieren aus jenen Zeiten, und auch unsere schönsten Funde. Es giebt Menschen, welche von Berufswegen Müssiggänger, fleissige Nichtsthuer, müssige Beobachter sein sollten, und es gereicht der Kunst nicht zum Gewinn, dass die Künstler heute nicht mehr in diese Klasse von Menschen gehören. Nur ein Volk, das noch einen Ueberschuss hat an Kräften, besitzt eine Kunst. Am Ende ist diese doch ein Luxus (Ausfluss von Verschwendung und Reichthum, – natürlich nicht solches in baarem Gelde – es giebt noch einen anderen Reichthum!), aber ein notwendiger, ein sich mit Gesetzmässigkeit einstellender Luxus. Auch waren alle Helden von Dichtungen bisher im guten Sinne Müssiggänger, d. h. sie fingen erst an, die Poesie etwas anzugehen, wenn sie aufhörten, Arbeiter zu sein. Denn der Mensch fängt erst an, ein seelisches Wesen zu sein, d. h. seine Seele zu fühlen (und ähnlich verhält es sich auch mit seinen Nerven), wenn er müssig geht. Als das beste Mittel gegen Zahn- und Seelenschmerzen, als das zuverlässigste, wurde noch immer die Arbeit ordiniert, und stets mit dem besten Erfolg.

Freilich der ewige Müssiggänger, z. B. unsere heutige gnädige Frau geht auch den Dichter nichts mehr an. Er ist schon wegen der Langeweile, die von ihm ausgeht, für 231 die Poesie nicht zu gebrauchen. Gemeint ist natürlich der Müssiggänger nach vollbrachtem Tages- und Wochenwerke, dessen Seele Spannkraft genug erhalten hat und gestimmt und gewillt ist, allerlei Interessantes zu erleben, dessen müssige Stunden nicht auch leere und öde Stunden sind, dessen Seele Inhalt und Substanz hat, aber all dieser Inhalt und diese Substanz, niedergehalten an der Hobelbank oder am Schreibtisch; und der nun in freien Stunden und Hoch-Zeiten sich hervorwagt, und jetzt mehr verrät, als er verbirgt. Das ist jedesmal eine Glückstunde für den Künstler, eine wahrhafte Hedone. Denn sie giebt Stoff, Form und Inhalt für die Kunst, sie bietet ihm Natur, sublimste, durchgeistigte Natur und macht sein Werk im wahrsten und schönsten Sinne zu einem naturalistischen Kunst-Werke.

Und noch in einem andern Sinne wirkt die Kunst hedonistisch. Jede vererbte Kunst, jede überkommene Form, alles, was wir überwunden haben, was leicht von statten geht, leicht im Geniessen und leicht im Schaffen, wirkt hedonistisch und schliesslich nur noch hedonistisch. In jedem Kunstwerke, ja in jedem kleinsten Teilchen desselben, geniessen wir zugleich unsere ganze Vergangenheit mit. Deshalb erscheint uns die alte Kunst immer so viel schöner, als die neue. Alles Neue, dessen wir noch nicht Herr geworden sind, in den Phänomenen und Realismen, ist schwer, schwerfällig, langsam und Furcht einflössend. Vor ihm haben sich noch alle guten Seelen stets bekreuzt. Doch da diese Hedone am Vergangenen, Bezwungenen, Erkannten eine historische Hedone ist, also immer wiederkehrt, so oft etwas alt geworden ist, aber nichts ewig neu bleibt, auch die neue Kunst nicht ewig »die neue« bleiben wird, die alte hingegen auch einmal als neu, als nicht schön empfunden worden ist (man muss das in dieser Hinsicht sehr lehrreiche Werk von Braun: Lessing, Goethe und Schiller im Urteile ihrer Zeitgenossen kennen), – so will ich mich bei dieser Hedone an unserer Vergangenheit auch nicht länger aufhalten.

Aber was haben wir aus unseren Betrachtungen gewonnen? 232 Erstens: »Was die Kunst soll, ist Sache der Künstler und von diesen untereinander und durch Thaten auszumachen, nicht aber von der banausischen Menge und vollends ihren eigenen Objekten zu bestimmen.

Zweitens: Nicht jede Kunst kann schön und sie darf nicht einmal für alle und in jedem Fall schön und hedonistisch sein. Der Mangel an Schönheit oder Hedone ist jedenfalls niemals ein Einwand gegen die Kunst und schliesslich im Augenblicke ihrer Entstehung gar nicht einmal festzustellen.

Drittens: Der Künstler hat den Willen zur Freiheit (Befreiung) und somit zur Lust an der Freiheit in sich. Der Befehl zur Arbeit und das Volk bei der Arbeit aufzusuchen ist nur ein temporärer und hat andere als artistische Ursachen, Gründe, die mit der Kunst in gar keinem Zusammenhange stehen. Das künstlerische Arbeiten ist mehr eine Art befehlen, ein Herrschen und Versuchen (Experimentieren) als ein Arbeiten im gewöhnlichen Sinne. –

XXXVIII.

Der Aristokratismus des Künstlers.

Auch in der Kunst ist das aristokratische Verhältnis von Schaffenden und Empfangenden das Beste und Natürlichste. Die Demokratisierung der Kunst, zumal der Litteratur, hat in neuerer Zeit ganz besonders zur Vergemeinerung derselben beigetragen. Im Allgemeinen darf man sagen: Je näher die Kunst der Gegenwart kam, um so mehr sank sie; sie sank in des Wortes eigentlichster Bedeutung, denn sie stieg immer tiefer, zu immer niedrigeren Mächten, und sie machte sich abhängig von immer roheren Mächten, ward dienstbar, dort wo sie herrschen sollte. Je mehr Mittelspersonen zwischen Kunst und Publikum traten, um so tiefer gerät sie in dessen Sklaverei. Jedes neue Institut (Redaktion, Bureau, Theater) 233 bedeutet einen Abstieg der Litteratur. Denn alle diese Institute schwanzwedeln vor dem Publikum, dem Volke, das sie erhalten muss, und verlangen also folgerecht wieder, dass die Kunst es ihnen nachthue, weil diese ja von ihnen, und mithin auch von jenen erhalten wird. Die Meinung, dass sich der Künstler nach dem Geschmacke des Publikums oder Volkes zu lichten habe, ist die allgemeinste Kunstansicht, die es überhaupt heute giebt, während doch thatsächlich der Künstler es ist, der den Geschmack des Volkes bildet und ihm die Richtung giebt. Desgleichen wird der Erfolg auch nicht durch das Publikum, sondern vielmehr durch den Künstler selbst entschieden; wohingegen der durch jenes gemachte, der Massen-Absatz und die gut besetzten Häuser, Beifall oder Missfall, all Das, was heut so masslos aufgebauscht wird und so furchtbar viel beweisen soll, nichts, auch gar nichts bedeutet. Es fragt sich doch sehr, ob z. B. noch irgend ein Drama von litterarischer Bedeutung der alten oder modernen Welt je so viel Volk herbeigelockt und so viel Jubel entfesselt hat, als die römischen Gladiatorenkämpfe der Kaiserzeit oder die Stiergefechte in Spanien.

Aber es ist nicht gesagt, dass, was als Kunst-Schädigung im Ganzen und Allgemeinen hin dargestellt wurde, nicht dem einzelnen grossen Künstler, den sein Genius oder die goldene Stunde des Glücks von all' diesen Faktoren frei gemacht hat, dieses wieder zu Gute kommt. Ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass dies geschieht. Denn all' jene Faktoren übermitteln ihm eine intime Kenntnis seines Publikums, wie er sie ohne dieselben niemals, oder wenigstens nicht so leicht und vollständig gewonnen hätte. Den modernen Künstlern stehen Mittel, Mächte und Wirkungen zu Gebote, wie sie Künstler von ehedem kaum geahnt, geschweige denn gekannt oder geübt haben. Aber es sind die seltenen Ausnahmen, die ein glücklicher Zufall zu Herrschern über all die Gewalt gesetzt hat. Der Weg von der Aristokratie durch die Demokratie zur Monarchie, den wir so viele Staaten nehmen sehen, scheint demnach auch der Litteratur vorgezeichnet zu sein. 234

XXXIX.

Zur Tendenz der Kritik.

1.

Regel für Kritiker. Schreibe nie gegen Etwas oder Jemanden, den oder das du nicht einmal höchlichst bewundert oder geliebt hast; und nie für Jemanden, zu dessen Gegnern du nicht gehörtest, d. h. führe Krieg mit dir selber. Und warst du seither weder Jenes Freund noch sein Feind, so achte, willst du mit ihm streiten, auf alles, was für ihn spricht; aber musst du für ihn Partei ergreifen, dann lausche auf Alles, was gegen ihn zeugt. Man misstraue jeder Kritik, die nicht ihre Waffen aus dem Arsenal des Feindes holt! Kurz: lerne dich selbst kritisieren! Erstes Gebot. –

Nicht umsonst rühmt man einigen Anti-Schriften gegen Künstler nach, sie enthielten das Beste, was seither über dieselben gesagt sei. Indess alle blinden Anhänger ihren Göttern oder Götzen immer so bedenklich geschadet haben, und selbst so sehr in Verruf gekommen sind. Die Heineschwärmer, Wagnerianer, Zolaisten, die Goethe- und Shakespearepfaffen. Ueberhaupt alles Pfaffentum. Dass die Gotterwecktesten Geister und religionsbedürftigsten Seelen unter den Atheisten und Religionsläugnern zu suchen seien, ist eine alte Wahrheit, die aufgehört hat, paradox zu sein. 235

———

2.

Gelegenheit macht Kritiker. Ein Kritiker, der seinen Beruf versteht, wird sich nie damit begnügen, ein Kunstwerk nur zu geniessen. Die Fähigkeit des Mitgeniessens, und dass er es genossen hat, ist eine Vorbedingung jeder Kritik und gilt hier als vorausgesetzt.

Die besten, weil naivsten und unmittelbarsten Urteile hört man heute oft gerade im Publikum. Und der Kritiker hat auch die Kritik des Publikums zu studieren. Die Experimental-Methode stände ihm weit besser an, als dem Künstler. Er hat dreifach zu experimentieren: mit dem Stoff (gleich dem Künstler), mit dem Publikum, und nicht zuletzt mit dem Kunstwerk selbst. –

Legen wir uns also auf's Ausforschen von allen dreien!

Hier kommt Jemand und bringt mir einen modernen Roman zurück. Der hat ihm ausnehmend gut gefallen, der Autor ist ohne Zweifel ein hochbegabter Mann, und der Roman ist, vielleicht sogar, ein »bedeutender« Roman. Das Alles muss er einräumen, räumt er sogar mit Vergnügen ein, – wiewohl (ich lausche) – wiewohl er persönlich – (persönlich? Was ist persönlich? Ich spitze die Ohren) – wiewohl er persönlich die Tendenz des Romans nicht billigen könne. – (Tendenz? Aber ich besinne mich auf gar keine Tendenz! Das ist doch ein objektiver Roman, der Dichter ist ein Realist! Und man hat gleichwohl eine Tendenz darin entdeckt?)

Jetzt gebe ich den Roman weiter (lieber mache ich noch des Experiment mit einem Drama; das Drama ist durchgeistigter, luftiger, hier weht eine noch schärfere, schneidendere Luft. Es giebt einige Dramen der Weltlitteratur, die wie ein einziger Sturmwind sind!) Der Zweite hat nun etwas wesentlich anderes einzuwenden. Er beklagt sich über das Hässliche. Ich verweise auf Analogieen bei den Klassikern. Das klassisch Hässliche ist aber gar kein Hässliches. Selbst 236 Richard III. ist ein Adonis und Dantes »Hölle« ein Himmel voller Poesie. Das giebt zu denken. Hier ist noch etwas Anderes im Spiel.

Ein Dritter, ein Vierter hat den Roman auch gelesen. Dem ist der Charakter des Helden widerlich, dem Andern die Handlung lächerlich, einem Fünften die Sprache unleidlich u. s. f. Immer interessanter! Den Grund werden mir zwar die Wenigsten mit klaren Worten angeben können. – Am Interessantesten noch, wie sie sich mit dem Hauptcharakter abfinden! Dieser Charakter geht wider ihren Instinkt, es ist ein Etwas, das in ihm Leben gewinnt, nach Leben ringt, die Absicht hinter diesem Charakter, der Wille in diesem Charakter, der Zweck dieses Charakters ist es, welcher – das fühlen sie instinktiv – dem ihren feindlich ist!

Wie sollte dieser Charakter selbst die Tendenz sein? Sollte seine Existenz, ja sein Gedanke schon eine Tendenz sein? Sollte hier der letzte Grund des Missbehagens liegen? Sollte es dem Einen bloss deshalb keine Tendenz mehr sein, weil in ihm derselbe Wille, derselbe Instinkt mächtig ist? Weil er in derselben Luft schon lebt oder für dieselbe praedestiniert ist? Während der Andere, der einen milderen Himmelsstrich gewöhnt war, sie noch sehr empfindlich spürt? Ist nicht ebenso das Klima Süd-Amerika's auch dem Europäer gefährlich, tötlich, das dem Eingeborenen völlig unempfindlich, noch gar kein Klima ist?

Oder ist der Roman noch immer tendenzlos? Aeussert sich die Tendenz nicht gerade in den naivsten Aeusserungen des Publikums? Oder soll bloss der Philister düpiert werden? O ihr Thoren! Leiteten doch Euch immer so sicher eure Instinkte, als den Philister die seinigen! Er wird in dieses gefährliche und noch dazu undurchforschte Land doch nie hineinsteigen! Oder doch sicher gleich wieder umkehren! Eine Philisternase! Kein Jagdhund hat eine feinere! Ihn bringt es nicht um und euch nur in Verruf! Betrogene Betrüger! 237

———

XL.

Realismus und Kritik.

1.

Wenn der Realismus nicht selber ein Ideal wäre, dann müsste es auch möglich sein, von der Realität aus den Wert realistischer Kunstwerke zu beurteilen. Wer thut dies aber, ausser einigen ganz seichten Gesellen, die Kirchbach eben so schön als zutreffend »Hosenlätzer« genannt hat! – Wie verhält sich überhaupt die Kritik zum Realismus, und gibt es denn noch eine Kritik in der modernen Kunst, d. h. eine Kritik, die von irgend einer Kunst-Idee, irgend einem Höchsten, Absoluten ausgeht und prüft, ob diese Idee realisiert, dieses Höchste, Absolute seine Bestätigung an diesem Kunstwerke gefunden hat? Und kann die realistische Kritik überhaupt noch von einer Idee, irgend einem Höchsten, einem Absoluten ausgehen? – (Sie kann es wohl von einem Höheren, momentan Feststehenden, Wünschbaren.) – Oder wird nicht alle Kritik der modernen Kunst mählich sich umsetzen in Psychologie? Wird sie nicht also vom Künstler ausgehen? Was sollte sie auch? Sein Objekt mit der Darstellung vergleichen? Aber sein Objekt ist eben schon sein Objekt; seine Welt eben schon seine Welt. Gut! Blicken wir hinein in seine Welt und sehen wir zu, wie sie entstanden ist und was sie werden kann, auch was sie werden sollte und müsste! Aber womit sollen wir sie vergleichen? Sie ist schlechterdings unvergleichlich! Und wenn immerhin das Land-Leben oder das Bergarbeiter-Leben nicht so beschaffen ist, wie es in Zolas Romanen sich darstellt? Was thuts! Dann kritisiert man eben nur die realistischen Prätentionen des Dichters, hat damit aber seinem Werke noch nichts gethan! Das ist eine eigene Welt, die ihre eigene Geschichte hat und ihre eigene Beurteilung beansprucht. – 238

2.

Die Entwicklung, welche die moderne Litteratur von Schiller bis Zola und Ibsen durchgemacht hat, ist die Geschichte der Décadence des Glaubens an Ideen und Ideale. Auch Zola ist sie noch nicht losgeworden, und wie tiefsinnige Beurteiler schon herausgefunden haben, ist auch er ein eben so idealer, sentimentalischer Dichter wie unser Schiller. Aber Schiller schwärmte noch für Ideale; in Schiller hat der ideale Stil seinen Höhepunkt gefunden, und das macht für alle Ewigkeit die Grösse und Bedeutung Schillers aus, Schiller empfand die Ideale noch als keinen Notstand, Schiller hasste noch nicht die Ideale, wie doch offenbar Zola thut, – für den nichtsdestoweniger die Natur oder die Materie die Bedeutung eines Ideals hat, Schiller zweifelte auch noch nicht an der Existenz der Ideale, wie doch offenbar Ibsen thut, dieser alte Skeptiker, der in allen Idealen ein unheimlich Gespenstisches, ein Verlogenes, ein Palladium aller Schwachen und Feigen sieht. O der Philister hat nicht so Unrecht, der da über diese Ketzer stöhnt, die uns alle Ideale rauben! Allein ganz so ängstlich ist es immerhin noch nicht. Denn wie für Zola die Natur ein Ideal geworden ist, eine Geliebte, die er hoffnungslos umwirbt, d. h. das Ideal einer Geliebten; so ist auch Ibsen die Ideale noch nicht losgeworden. Denn was ist die von ihm gepriesene Wahrheit anders, als ein Ideal, für das schon unser Kant eben so ritterlich focht, wie heute Ibsen. Man weiss, wie ideal, wie unrealistisch Kant über den Wert der Lüge dachte! Den Satz Ibsen's, dass die Wahrheit die erste Stütze der Gesellschaft sei, hätte er ohne Weiteres unterschrieben. Ibsen's und Zola's Feindseligkeit gegen die Gesellschaft ist der Kampf von Idealisten, welche den Massstab von Ideen an diese Gesellschaft legen; aber ein realistisch geführter Kampf, der Kampf von Kreuzrittern, die Heiden geworden sind, die aber nun als Heiden-Christen oder Christen-Heiden, als Sensual-Spiritualisten oder Spiritual-Sensualisten, oder künstlerisch gesprochen: als Real-Idealisten oder Ideal-Realisten über alle 239 diese Gegensätze hinweggekommen sind oder doch wenigstens ahnen, dass es ein Hinaus über alle diese Dinge, »ein drittes Reich« irgendwo geben muss.

Und man ist über sie hinaus, wenn man den nächsten Vorsprung moderner Litteratur, wenn man die Eisberge russischer Poeten erklimmt. Bei Dostojewski bildet der Idealist eigentlich nur noch die komische Figur (den Hanswurst), allein real-naive Geschöpfe sind hier völlig verschollene Naturphänomene, von denen man eigentlich nur noch etwas aus alten Fabelbüchern weiss, die Geschöpfe einer prähistorischen Zeit. Der Realismus und die realistische Weltauffassung ist für die russischen »Realisten« vorgeschichtliche Entwicklung und nicht mehr Erlebnis. –

3.

Wie aber, wenn es eine realistische Kritik gar nicht gibt, wie steht es dann mit der ewigen Forderung der Realisten, nach einer Kritik, um die noch nicht verstummte Klage über den Mangel einer Kritik? Wozu brauchen auch sie noch eine Kritik?

Gesetzt auch, dass die Kritik, die wir gebrauchen und fordern, nicht in allen Stücken dem ähnlich sehen wird, was man früher unter Kritik verstanden hat; wir gebrauchen gleichwohl Etwas, das, solange uns der neue Namen für die Sache fehlt, immerhin noch Kritik genannt werden mag. Es ist vielleicht gemäss der modernen Poesie der That eine thatkräftige Kritik.

4.

Man glaubt, modernen Kritiken im Allgemeinen nichts Böseres nachsagen zu können, als dass sie Manches und vielleicht Wichtiges verschweigen. In anbetracht unserer kindischen Psychologie sind wir sofort dabei mit Motiven, wie »Neid«, »Ohnmacht« u. dgl. m. Wir legen besonders gern ihrem Thun Bewusstsein und Absicht unter und sehen so gleichsam die Herren unter einem Vergrösserungsglase . . . 240

Aber gleichwohl schweigen diese alles Wichtigste tot, auch dann noch, wenn sie es nicht verschweigen. Man wird sofort versöhnt, sobald man ein hervorragendes, viel gelobhudeltes Werk im Lichte der Kritik beschaut. Ein Schelm, der mehr giebt, als er hat. Die Kritik kann nicht mehr erzählen, als sie gesehen und erfahren hat. Man hat von den prächtigen, aber weit gelegenen Kuppeln nichts berichtet, die höchsten Sonnen unerwähnt gelassen. Schon wahr! Aber ist Kurzsichtigkeit ein Verbrechen?

5.

Man hat verlernt zu sehen. Weit über sich hinaus blickt man überhaupt nicht mehr. Es bedeutet heute beinahe schon die Nichtigkeitserklärung eines Werkes, wenn es von der Kritik gepriesen wird. Vor allem, man erlebt die Kunst nicht mehr. Man ist nicht Naturalist genug, die ganze Schwere und Härte der Phänomene, wie im Leben selbst, so auch in der Kunst zu empfinden, in sich aufzunehmen, mit ihnen fertig zu werden. Man weicht aus, man verstopft sich die Ohren, man bleibt blind und taub gegen alle wichtigsten Eindrücke. Man erzählt immer blos vom Hörensagen, und man erzählt überhaupt zu viel. Wie oft liest man nicht ein Referat über ein Drama oder einen Roman, aus dem sich nichts Anderes entnehmen lässt, als dass ein fades, gleichgültiges Produkt auf der Welt mehr sei. Da wird der Inhalt erzählt, eine banale Liebesgeschichte, die man allerdings äusserst interessant finden soll u. s. w. Hinterher greift man denn auch nach dem Buche. Es ist vielleicht noch viel zu gut bei dem Rezensenten weggekommen. Und gleichwohl! Nichts von alledem, was eben dieses Buch, diesen Autor auszeichnet, vielleicht auch im Schlechten auszeichnet, auch nur andeutungsweise berührt! Man sieht, der Referent hat die Luft dieses Erdstrichs noch nie geatmet. 241

6.

Kurz, was unseren Kritiken, auch den besten und wohlmeinendsten fehlt, das ist die Kühnheit und Verwegenheit, die unsere modernen Naturalisten auszeichnet: die Unerschrockenheit gegenüber den Thatsachen des Lebens, die Entschlossenheit, mit jedem Real fertig zu werden, die Frische und Schneidigkeit des in der scharfen Luft der Realität gestärkten Geistes.

Und bei uns in Deutschland hat die Kritik wichtigere Arbeit, schwerere Aufgaben, als irgendwo, bei uns, dem in jedem Betrachte in gemässigter Zone gelegenen Deutschland, bei uns, wo weder die helle und frische Luft des litterarischen Nordens (Skandinavien), noch die helle Geistigkeit des südlichen und geselligen Frankreich weht; kurz bei uns, wo es noch so viele heimliche dunkle Kammern, so viel Familien-Verborgenheit, so viel Zuflüchte der Feigheit giebt!

Wie man vom Dichter heut verlangt, dass er vor allem ein Selbsterlebtes und Selbstgeschautes darstelle, so verlange ich. auch vom Kritiker, dass er seine und just seine Erfahrungen an dem gegebenen Kunstwerke uns mitteile. Mögen diese Erfahrungen noch so unbedeutend sein, sie sind uns jedenfalls interessanter und wertvoller als die gelehrtesten objektiven Besprechungen.

Von unseren Kritikern verlange ich ferner, dass sie wie der Pathologe die Gefahren und Krankheiten des Leibes, so alle Art von Leiden und Gefährlichkeiten der Seele nicht allein nicht verschweigen, sondern so recht zum Trotz und rücksichtslos vor das erlauchte Publikum hinstellen, um es so zum Lebens- und Kunst-Realismus zu zwingen.

Alle Gitter niederreissen! Jede Realität in Freiheit setzen, sei es auch nur um des Experimentes willen! Jede Kanal-Verstopfung verhüten! Ein freies, frisch cursierendes Leben herstellen!

7.

Unsere Kritik, auch die wohlmeinendste, glaubt nichts Schlimmeres gegen ein modernes Werk ausgesagt zu haben, 242 als, es sei ein krankhaftes Produkt, das Produkt eines Kranken. Auch wo dies wahr ist, ist das ein Grund, ein Werk zu schmähen? Kuriert man Krankheiten, indem man sie verschweigt oder schmäht? Wie weit kam die Menschheit, so lange dies noch die Regel war, so lange man in jedem Kranken ein Curiosum, einen Besessenen oder einen Schuldigen sah und als den Auswurf der Menschheit betrachtete? Man ist freilich auch heute noch nicht ganz über diese Periode hinaus, man weiss auch heute noch nicht, welchen Lebens- und Erkenntnis-Wert dem Menschen gerade das Phänomen der Krankheit bietet. In der Kunst völlig weiss man noch nicht, dass die krankhaften Erscheinungen weitaus die wichtigsten, weitaus die interessantesten sind. Krankheit und Unbehagen sind stets die Voraussetzungen neuer Culturen, Glück und Gesundheit höchstens das Resultat derselben. Von einem modernen Werke von vornherein Ausstrahlungen von Glück und Gesundheit verlangen, ist das sacrosanct gewordene Verlangen nach episodischen, schwächlichen Produkten, nach Spätgeburten. Heiterkeit ist nicht die Tugend einer jungen Generation.

8.

Eine wertvolle Kritik ist überhaupt nur möglich, wenn sie sich von vornherein in den Gegensatz zu ihrer Zeit setzt, das Gewissen ihrer Zeit ist und sich als solches zu behaupten weiss. Eine nicht mehr gefürchtete Kritik, eine nicht mehr stechende und quälende Kritik ist gar keine Kritik mehr. Lessing's Kritik war eine gefürchtete Kritik, deshalb war sie eine wertvolle Kritik. Eine gutmütige Kritik, eine liebevolle, schonende Kritik versprechen, gilt gleich der Annonce des Zahnarztes, der schmerzlos Zähne auszuziehen vorgiebt. Denn wenn er selbst ohne Schmerzen für den Patienten Zähne ausziehen, d. h. denselben während des Zahn-Ausziehens gegen den Schmerz abstumpfen, diesen durch Süssigkeiten und Lieblichkeiten vergessen machen kann; es folgt doch (was man gewöhnlich vergisst) auch nach der Operation eine Zeit, die um so peinlicher, die um so verzweifelter ist, je 243 schmerzloser jene selbst war, das Gefühl der Lücke: das man um so eher überwinden kann, je mehr Schmerzen man mit dem Zahn losgeworden ist, je mehr man mit dem ausgerissenen Zahn hinter sich hat. – Das weiss Jedermann aus Erfahrung, dem je ein Zahn ausgezogen wurde.

9.

Wie die Kunst selber, wird auch die Kritik nach ihrer Dauer und Dauerhaftigkeit bemessen, nach der Länge des Lebens, d. h. nach der Länge der Zeit, in der sie noch lebendig empfunden wird, (die Kunst im Allgemeinen wohlthätig, die Kritik gefährlich, beängstigend, als das böse, wie die Kunst als das gute Gewissen der Zeit). So wird Lessing als Kritiker so lange leben, als es noch Gottschede, Klotze, Götze's gibt, so lange deren Gesinnungsgenossen und Gefolgschaften gegen sie schreiben werden, – also noch eine gute Weile.

10.

Gar nicht so selten ist der Fall, dass Kritiker und Dichter in Eins zusammenfallen. Das ist die Regel bei unseren Naturalisten, vornehmlich bei Zola und Ibsen, die uns deshalb hier auch zwiefach interessant sind. Die Helden in Ibsen's Gesellschaftsdramen, vor allem der Volksfeind und Brand und Falk sind Kritiker. Auch Nora ist eine Kritikerin, auch Frau Alving ist es, Lona ist es desgleichen. Im Grunde ist selbst in Hjördis, der Heldin in der »Nordischen Heerfahrt« viel versteckte Kritik. Das Weib, das Kritik legt an den Mann. Ibsen hat das Weib zur Kritikerin emanzipiert. – Vor allem ist Gregor Werle ein Kritiker, der Wahrheitsfanatiker, aber der letzte Kritiker, der offiziell in Ibsens Dichtungen das Wort führt. Der boshafte Schluss der »Wildente« bedeutet die Vertreibung der Kritik, des Kritikers, aus dem Tempel der Musen. Kritiker und Priester vertragen sich nicht, es sind die entschiedensten Gegensätze, die gedacht werden können. Der Kritiker stört die Andacht, verletzt die Heiligkeit religiöser Ceremonien. Der Priester 244 hingegen hat wieder nichts in den Gelehrten-Schulen, in den anatomischen Museen zu suchen. Ein Gegenstück zum Propheten ist der Kritiker oft nur ein Epiphet, wie der Romantiker, wie der Historiker Epipheten sind. Geschichte ist ja zuweilen nichts als Kritik (Kritik des Gewordenen, Analyse des Geschehenen). Man betreibt dann Historie aus Kritik. – Kritik und Kunst sind unversöhnliche Gegensätze. Nur dass es der Fälle giebt, wo der Spötter und Cyniker, der Kritiker und Theoretiker in den Tempel der Götter eindringen muss, wo Gott und die Götter, Andacht und Heiligkeit unrettbar der Wissenschaft, der Kritik, dem Spott (nur meist in umgekehrter Reihenfolge) verfallen. Man weiss schon wann: wenn sie verwesen, wenn das Leben, der Glaube, der Ernst, die Wahrheit aus ihnen gewichen ist, wenn sie Gespenster geworden sind oder Sitze von Gespenstern!

Ibsen und Zola sind den Kritiker nicht wieder losgeworden (die ganze Rougon-Macquart-Serie ist eine einzige in einen Roman umgesetzte Kritik, in der sich nur zuweilen der Kritiker kleine Erholungen, einen Traum oder dergl. gestattet). Aber man ist des Kritikers müde geworden, wie kürzlich auch Zola in seiner ehrlichen Weise eingestanden hat. Das ist aber auch Alles. Dass man seiner noch bedarf, steht hingegen fest. Die deutschen Realisten glauben ohne ihn auskommen zu können. Wir werden sehen, wie weit sie damit kommen. Was sind Figuren wie Hauptmanns Loth anders als die deutlich gekennzeichneten Stellen, wo eigentlich ein Kritiker stehen sollte, bewusst gewordene Lücken. Loth ist ein verdorbener Stockmann oder Werle, ein kopfscheuer Stockmann, ein Kritiker, der kein Kritiker ist – ein unerfüllbares Ideal, mithin Objekt der Kritik, ein Kritisierbares, Verfallenes . . .

Noch ist der kritische Naturalismus eben nicht ganz überwunden. – –

 


 


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