Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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Im Zeitalter der Naturwissenschaften.

I.

Der Begriff der Natur, sobald er im Leben, in der Wissenschaft oder Kunst auftritt, hat nun einmal keine andere Bedeutung als ein Gestern oder ein Morgen, meist ein Vorgestern oder ein Uebermorgen. Und so lange er nicht auftritt, hat er gar keine Bedeutung. Man will zur Jugend seines Volkes, des ganzen Menschengeschlechtes oder seiner eigenen Jugend zurück; oder man will – eine neue Jugend. Man sehnt sich nach seiner alten Heimat, oder man wandert aus mit Weib und Gut, mit Kind und Kegel und siedelt sich irgend in einem Teile der neuen Welt an: das Land unserer Väter oder das Land unserer Enkel steht uns vor Augen. Von ihm träumen wir und nach ihm streben wir, und von ihm erzählen wir uns am liebsten, wenn wir unserem Herzen eine Genugthuung verschaffen wollen. Es giebt daher nur eine romantische und eine prophetische Kunst. Ihr Inhalt ist immer, was wir waren, und was wir werden müssen, und wohl niemals, was wir sind. Der Realismus als Thatsächlichkeits-Glorifizierung findet nirgends seine Rechnung.

II.

In unserem Zeitalter aber hat die Natur noch eine dritte spezifische Bedeutung erhalten: als Wissenschafts-Objekt. Doch hier haben wir es mit keinem allgemeinen Begriff des Naturalismus zu thun, sondern nur mit einem relativ zeitlichen, vorübergehenden, wenn auch eine wichtige Stufe der Entwicklung bezeichnenden. Hier ist der Naturalismus fast gleichbedeutend mit Wissenschaftlichkeit (wenigstens in der 124 Theorie), das künstlerische Verfahren der wissenschaftlichen Methode abgelauscht. Man spricht von einem »wissenschaftlichen Roman« (»roman expérimental«). Man will Kunst und Wissenschaft wieder zusammenbringen, aber nicht in dem alten Sinne, als Kunst und Wissenschaft noch eins waren, was ja auch schon wieder Romantik wäre: nein, die Kunst soll Wissenschaft werden, ein neues Ausdrucks- und Hilfsmittel der Wissenschaft. Ihre Technik soll zur wissenschaftlichen Methode ausgebildet werden. Was man freilich bietet, ist zum guten Teil auf den Kopf gestellte Wissenschaft. Aber wo es dies nicht ist, wie fährt die Kunst dabei? Ist die Wissenschaft notwendig ihr Ruin? Verdanken nicht gerade viele Kunstwerke dem wissenschaftlichen Verfahren, z. B. der analytischen Methode der Charakteristik, ihre grosse und gerade ihre künstlerische Wirkung? Haben die Theoretiker also Recht? Kann die Kunst also eine Wissenschaft werden und trotzdem eine erhöhte künstlerische Wirkung ausüben? Oder, was hat dies für einen Grund?

III.

Schaffen und Analysieren! Kann es grössere Gegensätze geben? Aber man hat sich zu vergegenwärtigen, dass es eine Gattung in jeder Kunst giebt, welche selbst antikünstlerische Wirkungen erzielt und in künstlerischer Absicht erzielen will. Und abermals sei es gesagt, dass die grössten modernen Dichter nicht allein Lebens- und Cultur-Schöpfer, sondern ebensowohl und vielleicht mehr Lebens- und Cultur-Zerstörer sind. Die hervorragendsten Schöpfungen der zeitgenössischen Litteratur im Abendlande sind Satiren.

Was sollte wol auch in dieser unserer Cultur geschaffen werden? Was noch geschaffen werden können? Der moderne Künstler, der in diese Cultur hineintritt, findet alles fertig, alles vollkommen vor und sieht sich zunächst zur Träumerei und Unthätigkeit verurteilt. Er konnte lange Zeit das 125 Gefühl nicht loswerden, ein Ueberflüssiger, ein Parasit zu sein. Was Wunder also, dass er seine Berechtigung aus anderen Lebenssphären, z. B. der Wissenschaft abzuleiten suchte, was ein ursprünglicher Künstler nicht leicht thun wird, der, wie jeder ursprüngliche Mensch, gar nicht dazu kommt, über seine Berechtigung oder Nicht-Berechtigung nachzudenken. Er fühlt seine Berechtigung in sich selber. Ueberflüssige Menschen hat eben nur die Ueber-Cultur. In Jugendzeiten kennt ein Volk wol feindliche, gefährliche, aber keine unnützen Elemente!

IV.

Zweimal hat man in unserem Jahrhundert diesem Gefühl der Nutzlosigkeit Ausdruck gegeben. Man studierte die vollendete Cultur in ihrem Werden. Man schaute zurück auf ihren Ursprung und suchte alles Heil in der Geschichte. Die Geschichte war plötzlich das grosse Universal-Mittel für die moderne Cultur-Menschheit. Kann ich schon nichts mehr hinzuthun zu dieser Cultur und nicht mehr schaffen und Schöpfer sein, so kann ich doch zuschauen, wie diese Schöpfung vor sich ging und noch, indem ich mich zurückversetze in die Jugend dieser Cultur, im Traume, in der Einbildung mitschaffen. Zwar war dieses Schaffen nur noch ein Nachschaffen, der Reflex eines Schaffens. Aber man erfreute sich wenigstens noch an diesem Scheine eines Schaffenden. Man proklamierte die Kunst um der Kunst willen, die absolute Zwecklosigkeit alles Kunstschaffens. Natürlich! Man hatte ja selbst keinen Zweck, wie sollte ihn die Kunst haben?! Was sollte man auch anders bezwecken, als nachträglich die Dinge legitimieren? Man schloss weiter: der Schein ist die Schönheit und die Schönheit die Kunst. Und so konnte man es denn auch nur zu einer Schein-Kunst bringen. 126

V.

Diese Phase, nämlich die aesthetische Epoche, ist allemal der Anfang vom Ende. Man kennt sie in der deutschen Litteraturgeschichte vornehmlich als »Romantik«. Was diese aber bei uns abgelöst und bekämpft hat, war nicht etwas Besseres, sondern etwas weit Schlechteres. In dieser Erkenntnis einer fertigen Cultur götzendämmerte es doch bereits. Ihre Gegner aber – das waren lauter Thatsächliche, Gegenwärtige, Augenblicks-Menschen, Realisten, Philister, die in geschlossener Phalanx die Herrlichkeit unserer Zeit verkündigten und so sich und ihr Volk zu belügen versuchten. Das sogenannte erst Junge Deutschland hat nicht nur nichts geschaffen, was irgend einen bleibenden Wert hätte, ihre Vertreter haben auch nirgends, was viel schwerer wiegt, irgend welchen künstlerischen Instinkt verraten und haben fast nur kunstschädigend und kunstverwirrend gewirkt. Der alte Theaterpraktikus Laube zum Beispiel hat das deutsche Theater mit am tapfersten ruinieren helfen. Was Andere in ihrer Dummheit verschuldet haben, das that er in voller bewusster Absicht, aus innerster, überzeugtester Kunstfeindschaft. –

Ich leugne übrigens die litterarischen Verdienste des Jungen Deutschland keineswegs. Aber Alles in Allem genommen, war diese Litteratur-Epoche doch eine wahrhafte Orgie der Nüchternheit, wie sie eben jedes Zeitalter feiert, in dem die Spiessbürgerlichkeit mit Kunstprätensionen auftritt. Das kommt einmal sehr drastisch bei Gustav Freytag zum Ausdruck, der, ob er gleich seine Zugehörigkeit zum Jungen Deutschland stets geflissentlich geleugnet hat, doch eigentlicher sein bester Vertreter, gleichsam sein Klassiker ist, so wie Uhland der Klassiker der Romantik genannt werden kann und genannt worden ist. Dem Dogma der Spiessbürgerlichkeit in der Kunst hat Freytag in seiner »Technik des Dramas« folgenden klassischen Ausdruck gegeben: 127

». . . Der moderne Dichter hat dem Zuschauer die stolze Freude zu bereiten, dass die Welt, in welche er ihn einführt, durchaus den idealen Anforderungen entspricht, welche Gemüt und Urteil der Hörer gegenüber den Ereignissen der Wirklichkeit erheben«.

Mit anderen Worten: Die poetische Welt muss das Ideal der spiessbürgerlichen Welt darstellen! – – Kaum waren die Stimmführer einer litterarischen Epoche je so poesieverlassen, als die Gutzkow, die Laube, die Boerne, die geradezu Alles hassten, was Kunst und Poesie war, am heftigsten Goethe, später Hebbel. Es war nicht klug von Conrad Alberti, gerade auf sie, als auf seine Meister zu verweisen, wenn es vielleicht auch ehrlich war! –

VI.

Auch diese Periode liegt jetzt hinter uns. Das Ende vom Ende ist nunmehr hereingebrochen. Der Künstler erkannte, dass er noch auf andere Weise als durch reflectorisches Nachschaffen seine Kräfte entfalten könne. Wie, wenn du diese Cultur, die dich ausschliesst – jede Cultur ist das Resultat der künstlerischen Thätigkeit eines Volkes – nun deinerseits auszuschliessen begönnest als Hindernis, als Hemmnis einer neuen Cultur; denn diese regt sich in dir? Was soll dir noch diese Cultur? Sie bindet dir die Arme, sie hindert dich am Ausschreiten! Also zerstören wir diese Cultur? Suchen wir uns mit ihr zu befreunden und sie zu unserer Vertrauten zu machen! Lauschen wir ihr alle Geheimnisse ab und gehen wir auf Alles ein! Scheinen wir unschuldig, erscheinen wir ihr als Philister, nehmen wir uns ein Schafsfell an! Wenn wir nur erst drin sind in der Heerde, dann verlassen wir uns ganz auf unsere Zähne, man wird schon noch sein Wunder an uns erleben! (Solch ein Wolf im Schafspelz ist z. B. Zola in vielen seiner theoretischen Schriften, besonders in der erwähnten Einleitungsschrift zum dramatisierten »L'assommoir«). 128

Gesagt, gethan! Alle Philister schrieen Hallelujah. Ihr Reich schien gekommen. Also auch er, den die Kunst immer so stiefmütterlich behandelte, der Philister sollte nun zu seinem Rechte kommen. Die Kunst muss real werden. Damit war er ganz einverstanden, denn er selbst war real! Sein Bild fiel vielleicht nicht ganz so schmeichelhaft aus, als er es gehofft hatte. Aber es war doch immerhin sein Bild, sein liebes, altes, bekanntes Bild. Das bin ich, das ist meine liebe Frau, das unsere lieben Kinderchen, das unser Nachbar, das der Herr Pfarrer u. s. w. – Und das war's, was vor allen Dingen der älteren französischen Dramatik Eingang bei uns verschaffte!

Aber gerade die scheinbar so philisterhafte und so ganz auf alle Philisterneigungen eingehende, jedenfalls doch so ideal- und glaubenslose Kunst erwies sich plötzlich als die revolutionärste, die bisher dagewesen. Man hatte die Gegenwart, oder wie der Philister so gerne sagte, »das Leben« nicht auf die Bühne, nicht in die Litteratur gebracht, um es zu verherrlichen, sondern um es ad oculos zu vernichten, um es auf ewig zu compromittieren! Und nun war der Jammer gross, über diese Pessimisten, die man am liebsten noch einmal in die Schule geschickt hätte, z. B. zu Goethe oder zu Albert Träger, um »Weltversöhnung«, um Raison zu lernen.

VII.

Aber was halfs? Die Kunst hat sich Bahn gebrochen über Schutt und Trümmerhaufen. Sie hat auf's Neue bewiesen, was sie kann, und vor allen Dingen, dass sie etwas kann! Konnte sie nur vor ein vollendetes Gebäude treten und fand sie nirgends mehr in der Welt weder Material, mit dem, noch ein Plätzchen, auf dem sie bauen konnte, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als dieses Gebäude zu zerstören, und wenn es das herrlichste der Welt gewesen wäre, so wie sie schon einmal die griechische Cultur über den Haufen gerannt hat. Dies ist nicht zu beklagen und nicht gut zu heissen. 129 Es ist eine Thatsache, hart und bitter vielleicht, aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen, noch auch in ihrem Verlaufe mehr aufzuhalten. –

VIII.

Was der Romantik die Geschichte, ist der modernen Litteratur die Naturwissenschaft. Sie bietet ihr die Messer und Dynamite, mit der sie schneiden und zerstören kann. Dem genetischen Roman folgt der analytische, dem historischen Schauspiele das soziale, der philosophischen Dichtung die naturwissenschaftliche; hinsichtlich der Behandlung der ideellen die materialistische. Ist jene individuell, die moderne ist generell in ihrer Auffassung und Tendenz, dem humanistischen Ideal jener, entspricht das altruistische der andern; wo jene der Freiheit singt, verkündigt diese die ehernen Gesetze der Notwendigkeit; und wenn jene in ungebändigtem Drange oft ziel- und sinnlos von dannen stürmt, geht diese langsam einher, fest und kompakt, in riesigen Formen und wie mit eisernen Klammern ineinander gekettet. Sie ist architektonisch, jene rhythmisch und melodisch. Hinsichtlich der Kreise, denen sie sich weiht, ist jene bürgerlich, die moderne ist die Muse des vierten Standes, fast kann man sagen: des Arbeiterstandes, sie ist tendenziös und hochpolitisch –trotz allem Leugnen – während die ältere auf ihre Objektivität und Zwecklosigkeit sich etwas zu Gute that. Pantheistisch war sie in ihrem religiösen Kern, hedonistisch, Natur- und Weltvergötternd, überhaupt bejahend, die moderne hingegen ist atheistisch, »kritisch«, entheroisierend, negativ. Schönheit war die Devise der älteren, Wahrheit ist der Schlachtruf der neueren Poesie. Dem L'art pour l'art gegenüber steht die hochmoralische Absicht zu bessern u. s. f. 130

Die Skala der Antithesen liesse sich noch leicht ein gut Stück weiter verfolgen. Aber es mag an den hauptsächlichsten genügen. Und aus ihnen folgen wieder eine grosse Reihe anderer Eigentümlichkeiten der alten und neuen Dichtung. Als auflösende Kunst hat diese auch keine Handlung. Fehlt ihr doch der Held. Sie zeigt ihn in seiner Blösse und seiner Nichtigkeit, denn sie ist gegen den modernen Menschen als das Produkt der modernen Cultur feindlich gesinnt. Ihre höchste Kunst zeigt sie, wenn sie dies Gebild rückbilden kann, zurück bis zum Embryo, und zwar zum krankhaft infizierten Embryo. Was Wunder, dass sie bei der Darstellung des Mutterleibes (der modernen Gesellschaft) länger verweilt als bei diesem Embryo selber? Dass sie mit so zäher Consequenz das Vererbungsthema behandelt? Kann sie den modernen Menschen schlimmer kompromittieren, als indem sie zeigt, dass er schon im Keime nichts getaugt hat? Dass das Alles schon von Vater'n und Mutter'n herkommt? er sogar (und hier schwingt sie sich plötzlich über diesen modernen Menschen kühn hinweg), dass er sogar im Grunde ein bejammernswertes Geschöpf ist und eigentlich vielmehr Mitleid als Hass verdientMan vergleiche das letzte Kapitel im »Sexuellen Problem in der modernen Litteratur« über das »Vererbungsthema«. – Auch den Aufsatz im Juni-Heft der »Modernen Dichtung« (1890) »Weshalb die moderne Poesie so deprimierend wirkt?«?! . . .

IX.

Es giebt Menschen, welche schon von Berufswegen Realisten, zuweilen selbst Cyniker sein müssen. Es gibt Situationen, in denen der Idealismus geradezu zum Frevel werden kann. Es gibt Personen, denen gegenüber man niemals realistisch, niemals cynisch, niemals beissend genug ist. Kann wohl ein Arzt ein Idealist sein? Gehört vor das Krankenbett 131 etwas Anderes als Realismus? Wenigstens vor das Krankenbett Derer, die noch geheilt werden können? Ist der Realismus nicht ein köstliches Heilmittel? Jeder Arzt weiss dies aus Erfahrung, was die physische Natur des Menschen, seine physiologische Verlogenheit, seinen pathologischen Idealismus angeht. Und wie viel mehr gilt dies noch vom geistigen Menschen! Die Wildenten, die im Sumpfe sich festgesessen haben, sind immer Idealisten, im besten Falle Real-Idealisten. Man kennt sie, diese süsse Schwärmerei für den Sumpf, für diesen verschönten, vergeistigten, idealisierten Sumpf, kurz dieses Paradies von Sumpf! Man kennt ihn auch, diesen heimlichen Zauber der Krankenstube! Das Alles bedarf des Arztes noch weit mehr, als der erkrankte Körper selber, aber eines Arztes, der ein unerbittlicher Realist ist.

Hier, aber auch nur hier allein kommt die Tendenz zur Gesundheit, die man dem Realismus untergelegt hat, zu ihrem Rechte, aber man bilde sich nicht ein, wir hätten es in solchen Thesen mit ewigen Kunstoffenbarungen zu thun! Der Beruf der Kunst ist es nicht, den Arzt oder Krankenwärter zu spielen. Hat sie sich einmal ganz und fest überzeugt von der Jämmerlichkeit des modernen Menschen, ist sie sich ihrer Kraft erst ganz bewusst, dann ist ihr Werk vollbracht. Sie lässt ihn wieder fallen und ruft: lasst faulen, was fault! Ihr winkt eine andere Arbeit. Eine höhere? Vielleicht!

X.

Zugegeben also und tausendmal zugegeben, der Naturalismus ist in vielen Stücken das absolute Gegenteil naiver Natur-Auffassung und Wiedergabe der Natur. Ja, er ist auch gewissermassen ein Anti-Naturalismus! Ihm ist es ja gar nicht immer um die Natur, das moderne Leben oder den modernen Menschen zu thun. Es ist vielmehr sein Schicksal, der Rächer des modernen Lebens zu sein. 132

Man hat auch der modernen Dichtung vorgeworfen, sie beschwöre das alte Schicksals-Drama wieder herauf. Im letzten Grunde ist ja auch alles Zufall, d. h. dunkel, gesetzlos, unsinnig; dass ich bin, dass die Welt existiert, dass 1 nicht gleich 2 ist. Was kann ein Narr dafür, dass er ein Narr ist, was ein Mörder dafür, dass er ein Mörder geworden ist? Es hat ja nur von einem Zufall abgehangen, er hätte den Mord nicht begangen u. s. w. Aber gerade diese Zufalls-Existenzen und Zufalls-Handlungen liegen jenseits der Macht des Schicksals. Das Schicksal eben schliesst den Zufall aus. Was ich als Schicksal noch über mir fühle, fühle ich auch als Notwendigkeit. Aber man muss sich den Begriff vom Schicksal nicht von einem fremden Volke, von einer fremden Zeit borgen, wenn man sich nicht lächerlich machen will! Man muss eben an sein Schicksal, an das Schicksal seiner Zeit und seines Volkes glauben, – und das heisst ja eigentlich national und modern sein – wenn man tragischer Wirkungen fähig sein will. Jedes Volk hat nur so lange eine Tragödie, als es eine Religion hat; und jede Tragödie wirkt nur so lange tragisch, so lange als die religiöse Grundstimmung Macht hat. Religion als irgend eine Art Ueber-Macht gedacht. Jede Tragödie beginnt daher auch als religiöser Cult und tritt sofort in ihre Décadence, wenn sie sich von der Religion loslöst. –

Deshalb hat das sceptische, rationalistische achtzehnte Jahrhundert keine Tragödie. Und das neunzehnte? Das hat allerdings eine Tragödie! Aber eine furchtbare, eine verhängnisvolle: die medizinische und sexuelle Tragödie. Kein Wunder! In einer Zeit, in welcher die Medizin die geglaubteste Wissenschaft und der Arzt die geweihteste Person ist. In einem Zeitalter endlich, dessen natürlichste Zuchthäuser in seinen Lazarethen bestehen! Und hieraus, aus diesem modernen Glauben, dem Glauben an die Medizin, leitet sich abermals – und diesmal eine negative – Berechtigung des Hässlichen her!

Das nächste Jahrhundert wird uns vermutlich die politische und soziale Tragödie bringen. 133

XI

Aber die Hässlichkeit um der Hässlichkeit hat natürlich ebensowenig Sinn und Berechtigung als die Schönheit um der Schönheit willen; d. h. gar keinen und nicht den geringsten! Alles Neue, Werdende in Kunst und Natur ist hässlich, und ebenso alle alte Natur und Kunst, alles Veraltete. Die Schönheit ist das Einzige, das nicht gewollt, wenigstens nicht erstrebt werden kann. Sie ist, wie das Glück, der Lohn für die Arbeit vieler vergangener Geschlechter und fällt meist dem Enkel, der kein Verdienst mehr hat, zu; d. h. Glück und Schönheit sind beinahe ein Zufall. Denn Alles Höchste in der Kunst ist eine Zufalls-Erscheinung; d. h. es kann auch ausbleiben. Wer will ermessen, wie viel Zufälle irgend ein Höchstes vereiteln können und wie oft es vereitelt worden ist! Wie viel ganze Kunstrichtungen Torso geblieben sind! Und nun sagen wir: es hat nicht in ihnen gelegen, sich »zur reinen Schönheit hindurchzuringen«! Wie aber sollte die Schönheit das Erste sein, durch das sich eine Kunst legitimieren müsste? Wer wird denn auch vom Baumeister verlangen, dass er das Gebäude bei der Kuppel zu bauen beginne? Wie also sollte ein Zufall das Kriterium abgeben? denn das eben ist der Zufall, dass die Kuppel gebaut wird, dass ein Werk nicht Torso bleibt! Und Torso bleiben die meisten! – Das Schöne muss irgend einmal, wenn auch in noch so fernen Zeiten ein Hässliches gewesen sein oder in einer späteren Zukunft wieder werden können; so wie das Wahre irgend wann einmal unwahr gewesen sein und irgend wann einmal wieder werden muss!

In unserer Zeit aber fliessen zwei Quellen der Hässlichkeit in der Kunst. Ihre zweite Quelle ist eben das Alter und die Entartung der modernen Cultur. Es gibt freilich Naturalisten unter den Dichtern und Malern, die den Kot verehren, bloss, weil er Kot ist und als solcher auch Natur. Das aber sind 134 falsche Propheten, Affen entweder von unverstandenen Meistern oder selbst Kranke, Entartete der Cultur, die in der Krankheit die wahre Natur und die eigentliche Cultur erblicken. Sie haben bisher z. B. das Weib vielleicht nur in Gestalt einer Kellnerin gesehen und interpretieren nun: die Kellnerin ist das wahre Weib! – Aber wer sagt Euch, dass der Naturalist vor jedem Stück Natur oder Thatsächlichkeit Respekt haben müsse, mit der Ehrfurcht des Philologen vor bedrucktem Papier? Unsere Ehrfurcht vor der Natur ist Philologen-Ehrfurcht, unser Studium der Natur kommt der Philologen-Büffelei schon sehr nahe!

Jeder entarteten oder hässlichen oder widerwärtigen Natur aber wird sich der Künstler, der Geist und Geschmack und selbst neue, frische Natur in sich hat, feindlich gegenüberstellen. Und dann heisst es nicht mehr, die Natur nachahmen, die Natur enthüllen und anbeten! Hier geht die Losung: naturam expellere, die Natur austreiben, die Natur vernichten. Und das ist auch ein Naturalismus der Kunst, doch ein durchgeistigter, cultivierter, oder wollte man in Schillers Sprache reden, ein sentimentalischer! Ist es denn Schuld des Künstlers, dass so viele Natur um ihn herum verderbt ist? Soll er ein Idealist werden und die Natur fliehen, weil sie seinen Sinnen nicht mehr gefällt? Oder ist es nicht ein höherer Idealismus und ein stärkerer Mut, ihr gegenüberzutreten und sie herauszufordern auf Leben und Tod, um die Welt von dem Anblick eines Hässlichen zu befreien?! Und hat man sich nicht schon von ihm befreit, wenn man es schon als ein Hässliches, Widerwärtiges ansieht?

Aber das Hässliche hat nicht das Recht, sich zu enthüllen. Hier wird Alles gleich zur Schamlosigkeit und nichts ist mehr Wahrheit! Nur Götter haben, und nur in Paradiesen haben sie die Freiheit nackt einherzugehen. Des Hässlichen schönes Recht ist es, sich zu schämen und zu verhüllen. Nicht um über seine Hässlichkeit hinwegzutäuschen, aber – um unser Auge zu schonen! 135

XII.

Und dann ist auch zu bedenken, dass bei jedem Fortschritt des Menschen gleichsam ein Stück Natur, wie ein Zaubergewand von ihm abfällt; in jeder neuen Epoche entfernt er sich um einen Schritt weiter von der Natur. Vielleicht lernt er es noch einmal – wer weiss es! – sie ganz zu überwinden, – am Ende schwingt er sich eines Tages ganz über sie hinweg, ganz Geist, ganz frei geworden, fähig, in völliger Ungebundenheit zu leben, hoch oben in der reinsten, hellsten, kältesten Luftschicht des Gedankens. Aber jedem Fortschritt muss, wie oben gezeigt, ein um so grösserer Rückschritt vorausgehen, ein Atavismus, ein um so heftigerer Rückfall in die Natur, ein Naturalismus der Kunst und des Lebens. Das Auftreten jugendlicher Völker in der Geschichte (z. B. der Germanen in alter und der Slaven in neuerer Zeit), oder neuer Stände (z. B. mit der Reformationszeit des dritten und gegenwärtig des vierten Standes) ist ein politischer Naturalismus von welthistorischer Bedeutung. Wie viel Zivilisation muss da jedesmal verschüttet werden, wie viel Barbarei walten! Auf dass immer tiefere Quellen des Geistes springen können, müssen sie immer auf's Neue und immer höher verschüttet werden durch den Schutt ganzer Völker und ganzer Culturen. Ein neues grösseres Chaos muss erst hereinbrechen, auf dass neue und schönere Welten geboren werden können!

Die gegenwärtige Litteratur hat noch einstweilen mehr vom Chaos als von diesen neuen Welten selbst. Noch ist man viel zu sehr mit der alten, der bestehenden Gesellschaft beschäftigt, der man nach dem berühmten Beispiel Hebbel's »den Totenkopf auf die Tafel wirft«. Man will beleidigen, man will peinigen, man will schrecken und verwirren. Man ist Richter und Rächer in einer Person und muss zerstören, um erst irgend einen chaotischen 136 Zustand wieder herbeizuführen, den man vielleicht selbst nicht wünscht, aber der notwendig ist.

Die neue Welt aber? Sie ahnt man nur, von ihr träumt man vielleicht. Noch weiss man nichts von ihr, doch hofft man auf sie, als auf das Wunderbare. Unsere Zeit ist eine grosse Zeit des Wartens. Die schlaflose Nacht eines Schwer-Kranken, der den Morgen nicht erwarten kann! –

 


 


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