Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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Erster Teil.

Der Naturalismus.

MOTTO:
Ich sage Euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
                      Also sprach Zarathustra I. 5.

I.

»Naturalismus«, »Realismus«, »Impressionismus«, »Symbolismus«, »Verismus«, »Décadence«, »Fin de siècle«! – O diese Fremdwörter! Was lässt sich nicht alles mit denselben ausdrücken und – umgehen! Wie unbestimmt, wie weit, wie umfassend, wie wenig präzis, so ohne Anschaulichkeit! Wie allgemein, wie verallgemeinernd! – Wenn das nun aber die Bestimmung aller technischen Ausdrücke wäre! Eine Begriffsbestimmung muss eben so allgemein, so umfassend als möglich sein! Es soll nicht concret, es muss abstract sein. Es erfüllt eben mit Hoffnung für die Zukunft der germanischen Völker, dass ihre Sprachen noch verhältnismässig so anschaulich, so gegenständlich, noch so wenig tauglich sind für allgemeine Begriffsbestimmungen. Ein Beweis von der Jugend des germanischen Geistes; – wenigstens verglichen mit dem romanischen. Und es ist auch kein Zufall, dass weitaus die grösste Mehrzahl von technischen Ausdrücken den romanischen Sprachen entnommen sind. Kein Beweis von der Armut, sondern von der Fülle der germanischen Sprachen. So muss der Verarmte dem Reichen die Werte seines Reichthums geben!

II.

Naturalismus. Was heisst das Wort alles auf deutsch? So viel Werte, so viel Begriffe das Wort enthält, eben so viel Verdeutschungen sind möglich, von denen aber, wohl 4 gemerkt! keine einzige den ganzen Begriff »Naturalismus« wiedergiebt, deckt oder ausfüllt. Hier stehen einige davon: Natürlichkeit, Naturwahrheit, Naturgemässheit, Naturempfindung, Naturerkenntnis, Naturkraft, Natursinn, Naturgefühl, Rückkehr zur Natur, Annäherung an die Natur, Liebe zur Natur, Naturfreiheit, Natureinfachheit, Naturreinheit, Naturschönheit, Naturwirklichkeit, Naturwissenschaft, Naturfreude, Kampf gegen Unnatur u. s. f. u. s. f. Man kann den Begriff aber noch anders erläutern, ohne das Wort »Natur« selbst zur Hülfe zu nehmen. Man denke nur an die vielen möglichen Gegensätze, die man zum Naturalismus anwenden kann; z. B. Kunst, Convention, Kultur, Gesellschaft, Sitte, Gesetz, Gebundenheit, Formalismus, Schule, Akademismus, Raffinement, Phrase, System, Verhüllung, Romantik, Phantastik, Metaphysik; – Wissenschaft, Philosophie, Idealismus, Personalismus; – das Ueberirdische, Gemachte, Ersonnene, Erfundene, Erlogene, Kranke, Verderbte u. s. w.

III.

Allen diesen vielen Bestimmungen und Gegensätzlichkeiten liesse sich indess noch leicht eine dreifache Anzahl hinzufügen, sofern es auf Vollständigkeit hier irgendwie abgesehen wäre. Ich glaube aber, dass sich aus Allem eine dreifache Erklärung des Naturalismus herleiten wird. Wer im Naturalismus eine Reaction erkennt, ist eben so im Recht, als wer ihn als einen Fortschritt ansieht. Und zugleich ist er etwas an die Gegenwart Gebundenes. Also etwas Vergangenheit, etwas Vergängliches, etwas Zukünftiges. Ich bestimme ihn als: Rückkehr zur Natur, als Annäherung an die Natur und als Zeichen der »Zeit der Naturwissenschaften«, d. h. als den speziellen Ausdruck der modernen Weltanschauung, insbesondere der sozialen Bewegung. 5

Rückkehr zur Natur.

IV.

Allerdings ein Stück litterarhistorischer Tautologie! Aber eine Tautologie, die noch so oft sich wiederholt hat, als eine Kunst, als ein Volk im Begriff stand, sich zu verjüngen. Der Naturalismus in diesem Sinne genommen, bedeutet nicht allein für Deutschland, sondern fast für kein einziges europäisches Land etwas Neues. Diese Reaction tritt ein, so oft sich irgendwo Formen, Einrichtungen überlebt haben, dem Volke aber noch gesunde Kraft genug innewohnt, das Unnatürliche, Unsinnige, Unnütze solcher Formen und Einrichtungen zu empfinden. Denn da dergleichen Formen oder Einrichtungen für gewöhnlich ein altes geheiligtes Ansehen haben, da sie dem Volke oft schlechtweg ein Stück Geschichte, ein Stück Vergangenheit bedeuten und an dieselben gerade die reichsten, angesehensten und vornehmsten Geschlechter oder Individuen mit starrer Kraft halten: so ist diese Befreiung nur möglich, wenn sich auf der andern Seite eine ebenso grosse Gegenkraft anstaut, d. h. jedesmal nur durch eine Revolution. Revolutionen in Geschichte und Kunst bedeuten also meistenteils eigentlich gewaltsame Reactionen (wofür sie auch alle der Schwarmgeisterei abholden Geister wie Goethe richtig erkannt haben) – eine Rückkehr zu irgend einer Vergangenheit, zu ursprünglichen, natürlichen Zuständen.

V.

Daher neben der Ursprünglichkeit des Naturgefühls die Rohheit in allen derartigen Fällen, die leicht bis zur Schamlosigkeit und Vertiertheit geht. Aus ihnen spricht ein empörtes Naturgefühl, nicht selten das politische oder künstlerische Gewissen eines Volkes. Der Hass gegen Formelwesen artet 6 bald aus in einen Hass gegen alle Form (man denke an die Stürmer und Dränger aller Zeiten), der Widerwillen gegen lästige Gesetze zur Anarchie. Schon soll die Natur nicht mehr zu ihrem Recht, sie soll jetzt zur ausschliesslichen Geltung kommen (Rousseau). In dieser Epoche der Litteratur finden wir als ewige Gegensätze: Natur und Convention, Volk und .Gesellschaft, Freiheit und Gesetz. Und in dieser Epoche bleiben auch allemal die Revolutionäre stecken. In ihr waren wir im Wesentlichen bis vor kurzem auch jetzt wieder völlig befangen, ja sind es zum grösseren Teil eigentlich noch. Man vergesse nicht, wer diese Revolutionen anzustiften pflegt: gerade die entarteten, von der Cultur verdorbenen Geister, deren ganzer Hass gegen die Cultur oft eben darin begründet liegt, dass sie ein Stiefkind der Cultur sind. Oder auch ein Stiefkind der Natur, die sie dann aber mit um so grösserer Leidenschaftlichkeit lieben. Alle Naturprediger empfinden die Natur gar nicht als Natur, sondern nur als Stimulans zur Natur, zur Natürlichkeit, als Reagens gegen die Unnatur der Gesellschaft. Es sind gerade die Unnatürlichen, die Entheiligten, die die Natur als Evangelium predigen, die irgend einmal, aus irgend einem Grunde – vielleicht ohne eigenes Verschulden – gegen die Natur frevelten und den Stachel dieses Frevels nicht mehr los werden können! Im tiefsten Herzen wie viel Raffinement, wie viel Unnatur, wie viel Verlogenheit! Und was ist solchen Geistern der Naturalismus anders als ein neues Raffinement, eine Quelle neuer Lügen! Und welcher Kreise pflegt sich auch jedesmal der Naturalismus oder die naturalistische Revolution zuerst und zumeist zu bemächtigen?! Gerade der höchsten, von den Culturkrankheiten am schlimmsten infizierten! Denn gerade sie, für die es kein Vorwärts mehr giebt, müssen irgend wohin zurück. Mit anderen Worten: es revoltiert die Gesellschaft gegen sich selber, die Unnatur wider sich selbst. 7

VI.

Ein weitaus schönerer Typus der Naturreaction als Rousseau ist Byron. Ihm und den ihm verwandten Geistern bedeutet die Natur so etwas als das Paradies ihrer Unschuld: Natur – Kindheit – Goldenes Zeitalter. Sie schwelgen in Erinnerungen, vergessen gern die Gegenwart; sie wollen, sie müssen etwas haben, das ihre Instincte einschläfert. Sie suchen Selbstvergessenheit in der Natur, und sie schwelgen im Naturgenuss, so lange sie sich selbst vergessen können. So Werther, so Klopstock, so mehr oder minder alle Romantiker. Den Gipfel dieses Naturgenusses bedeutet der dritte Gesang von Byrons »Childe Harold«, – die schönste Elegie, die vielleicht das moderne Europa aufzuweisen hat; und gleichzeitig der Culminationspunkt derjenigen litterarischen Strömung, die man zusammenfassend die europäische Romantik nennen kann.

Diese Geister sehen in der Natur, was sie gewesen, jene, was sie geworden, wozu sie entartet, was sie unwiederbringlich verloren haben. Ihnen ist die Natur eine Quelle des Genusses, jenen eine Stätte der Qual.

Dem Einen ist die Natur eine Geliebte, dem Andern ward sie zur Maîtresse, womit freilich nicht gesagt sein soll, dass die Geliebte nicht schliesslich zur Maîtresse werden, und die Maîtresse am Ende ihre Unschuld wieder finden konnte, oder vollends Maîtresse und Geliebte in einer Person sich wieder vereinigen können.

Jedenfalls aber, und darauf kommt es an, lieben sie sie beide als etwas ihrem Wesen Contraires. Sie selbst sind also nicht mehr Natur.

VII.

Dem Cultus des Weibes folgt regelmässig der Ruf nach Emanzipation des Weibes. Dem Cultus der Natur Emanzipation der Natur. 8

Ihn stimmten das Junge Deutschland mit Heine an der Spitze und die französischen Romantiker an. Verherrlichung der Natur, Freiheit der Sinne, Rechtfertigung der Instincte hiess ihr Kunstevangelium. »Emanzipation des Fleisches«, »Freie Liebe«, »freie Wahlumarmung«, so scholl es und schallt es zum Teil wieder von diesseits und jenseits des Rheines. Gleichberechtigung, wie zwischen Mann und Weib, so zwischen Geist und Sinnlichkeit, Spiritualismus und Sensualismus wurde gefordert; und da Gleichberechtigung im ganzen Bereich der Natur nirgends möglich ist, so schwankte man ewig zwischen den beiden Polen. Hier pries man Mondschein, Unschuld, sang das Zarteste, Geistigste, – dort feierte man wahrhafte Orgien. Ein Gegensatz, der in den beiden hervorragendsten Dichtern, in Heine und Musset, seinen schärfsten und rätselhaftesten Ausdruck gefunden, und der vor allem mit dazu beigetragen hat, dass, zumal der erstere, so vielen Missverständnissen konnte ausgesetzt sein.

Bald will man die Natur als seine Geliebte, bald als seine Maîtresse, bald als sein rechtmässig anerkanntes Weib, aber am liebsten als alles drei. Die Natur in ihrem weitestem Umfang gedacht.

Und welch' Gegensatz gegen den früheren Naturcultus! Rousseau und Byron – ich nenne beide immer als Typen – um sich selbst und die Gesellschaft zu vergessen. Heine und Musset hingegen – beide wiederum nur als Typen genommen – wollen, dass die Natur bei ihnen einkehre. Haben jene die Natur vergöttert, so wollen diese den Menschen, sich selber naturalisieren, wieder selbst Natur sein.

VIII.

Man spielt nie ungestraft eine fremde Rolle. Die Natur rächt sich an uns. Sie war krank und machte uns mit krank. Und der moderne Naturalismus geht wieder den contrairen Weg. Seine Tendenz ist, soweit er Reaction 9 bedeutet, wider die Natur. Er zahlte ihr die Demütigungen Rousseau's, die er dem Menschen vor der Natur zugedacht, zehnfach heim. Er zeigt sie am liebsten in ihrer Nacktheit und krankhaften Entartung. Der moderne Naturalismus reizt die Sinne nicht und ruft keine Leidenschaften wach.

Heines Naturalismus war im Grunde ein Personalismus. Derjenige Zolas natürlich ein Anti-Personalismus. Also eine zwiefache Reaction. Zola's ganze Kunstrichtung – und Alles was ihr verwandt ist – Personenfeindlich, entheroisierend Auch bei ihm ist Mensch und Natur ewig entzweit. Aber die Natur ist bei ihm ohne Naivetät, der Mensch ohne Freiheit und Selbstbestimmung. Die Natur sucht den Menschen, der Mensch die Natur, beide können sich nicht finden, und wenn sie sich finden, nicht verstehen. Seine Natur ist entgöttert, seine Menschheit entsinnlicht.

In einem seiner schönsten Romane hat Zola dieser Entfremdung von Mensch und Natur einen wunderbaren Ausdruck gegeben. »La Faute de l'Abbé Mouret« behandelt die Vertreibung der Menschen aus dem Paradiese der Natur (Le paradou). Der entsinnlichte Mensch kann in der Natur keine Heilung mehr finden, die Natur muss am Menschen zu Grunde gehen.

Wie anders schilderten doch dereinst die Romantiker das Verhältniss von Mensch und Natur! Wie nahe hätte es hier für die Laube, Gutzkow gelegen, ihre Tendenz von der »freien Liebe« siegreich durchzuführen! Nichts von alle dem hier! Oder wie anders diese Albine, diese Angélique, etwa verglichen mit Haydie »der Natur Braut«!

IX.

Die modernen Argonauten sind also gründlich festgesessen auf ihrer Fahrt nach dem goldenen Vliess ihrer natürlichen Unschuld. Und welche wunderliche Umwege haben sie nicht gemacht! Wer beschreibt all den Jubel, die stille 10 Wehmut, die unbändige Ausgelassenheit und den Schmerz, die sie erfahren, die Wunder und Schrecken, die sie geschaut! Wer würde es glauben , dass all' diese wilden und zahmen Gesellen sich zu einer gemeinsamen Reise hätten entschliessen können! Wer hätte es sie selbst glauben gemacht, die noch alle, von Rousseau bis Wagner und Zola, sich beredet hatten, dass sie die ersten auf dem Wege seien; von denen jeder die Vergangenheit geleugnet, die Vergangenheit hat leugnen müssen, von denen jeder geglaubt, die Geschichte auf den Kopf stellen zu können, und die sich untereinander meist gründlich gehasst! Alle sind sie gescheitert. Frühzeitiger Tod, Krankheit, Wahnsinn, Verbannung, innere Zerrüttung und Selbstmord war ihr Loos. Und Jeder mass sich selbst erst allein die Schuld bei, und keiner dachte daran, dass die romantische Fahrt einen Irrweg eingeschlagen haben könnte, dass das Land, das sie zu entdecken ausfuhren, nirgends existierte, als in ihrer Phantasie. Niemand, ausser Zola, dessen Grösse sich kaum irgendwo deutlicher zeigt, als in der Conception des Abbé Mouret.

X.

Sofern der Naturalismus eine Reaction bedeutet, ist er ganz Romantik. Und so ist auch Zola, den ich als Vertreter des modernen Naturalismus eben so typisch nehme als für frühere Epochen Rousseau, Byron und Heine, ein halber Romantiker.Vergl. Georg Brandes: Emile Zola. (Litterarische Volkshefte Nr. 10. Berlin 1889). Wie der moderne Mensch (Abbé Mouret) nicht mehr mit der Natur zusammenkommen oder richtiger zusammenbleiben kann, so kann der moderne Künstler nicht mehr mit dem Naturobjekt zusammenkommen oder zusammenbleiben. Das ist der Inhalt von »L'Oeuvre«. So sehnt sich der Skandinavier zurück zu seinem Meer, seiner Natur, ohne doch wieder ein Stück Natur sein zu können. Er muss die Sehnsucht nach 11 der ihm ewig verlorenen Natur überwinden oder zu Grunde gehen. Jenes thut anscheinend Ibsens vorjüngste Heldin, dieses Jonas Lie's »Hellseher«.

XI.

Muss ich noch sagen, dass auch der Begriff »Natur« hier die verschiedenartigsten Bedeutungen haben kann, so verschiedenartig, als das Wesen derer verschiedenartig ist, die diese Natur zu suchen auszogen! Wer da glaubt, das Wort »Naturalismus« so leichthin in sein geliebtes Deutsch übertragen zu können, dem sei vorerst einmal die Aufgabe gestellt, das Wort »Natur« selbst zu .übersetzen.

Was kann Natur nicht Alles bedeuten, und was hat sie nicht Alles bedeutet! Dem Einen ist sie die verlorene Unschuld , dem Anderen die Leidenschaft und Urkraft, jenem die Freiheit, diesem die Sinnlichkeit; dem Meeranwohner das Meer, dem Tyroler das Gebirge, dem Deutschen der Wald; Vielen das Nakte, Manchen das Freie, Einigen das Alltägliche, Anderen das Exotische, Wenigen das Vernünftige, den Meisten das Verlorene, fast Allen das Vergangene«Uebrigens verhält es sieh ganz ähnlich so mit den Begriffen Volk, Freiheit, Deutsch. Wenn die Parteien in erbitterter Fehde liegen und »Volkshass«, »Reichsfeindschaft«, »Attentat auf die Freiheit« und dgl. mehr sich gegenseitig vorwerfen, dann sind die Ehrlicheren auch thatsächlich im Recht. Denn sie sehen das, was sie als deutsch, frei, volksthümlich empfinden, gefährdet. – Und was versteht man nicht Alles unter Volk! Die Einen den Bürger, die Andern den Arbeiter, ein Dritter den Soldaten. ein Vierter den Beamten, ein Fünfter den Adel und ein Sechster den Gouvermentalen. Der Eine die Alten, der Andere die Jungen, wieder ein Anderer die Besitzenden, Ansässigen, am Herkömmlichen Festhaltenden, und ein Anderer wieder gerade die Armen, Arbeitenden, Unzufriedenen, Umherschweifenden, die Neuerer. – Freiheit ist dem Einen Freiheit der Wahl, dem Zweiten Freiheit der Rede, dem Dritten Freiheit des Handels, dem Vierten Freiheit des öffentlichen Verkehrs, wieder Anderen: Freiheit der Beamten, Freiheit der Regierung, Freiheit des Verbrechens, Freiheit der Sitte, Freiheit des Geldes, Freiheit des Arbeitgebers; – oder, da Freiheit in den meisten Fällen etwas Negatives bedeutet: Freiheit von der Polizei, vom Gelde, von der Regierung, vom Gesetz, von der Sitte, vom Herkommen, von der Pflicht, und nicht zum mindesten Freiheit vom Volke. An Freiheit des Geistes denken noch die Allerwenigsten, eher schon an Freiheit vom Geiste. – Nun, und was endlich heute Alles unter Deutsch verstanden, wird, das ist gar nicht mehr festzustellen. Schade nur, dass man gerade das Beste und Edelste als undeutsch zu verdächtigen sich befleissigt, und dass sich alle Art von politischer, geistiger und moralischer Feigheit (o gewiss eine deutsche Eigenschaft, eine urdeutsche germanische, eine teutonische Eigenschaft!) unter dem Deckmantel nationaler Gesinnung birgt! –
Zur Bedeutung des Wortes »Volk« sagte Bismarck einmal im Reichstage: Auch ich gehöre zum Volke, auch der Kaiser gehört zum Volk. Vielleicht hat sich hier der grosse Kanzler doch nicht ganz correct ausgedrückt. Louis XIV. sprach präziser: L'État c'est Moi.
Angesichts einer so auseinander gehenden Vorstellung bei denselben Worten, ist die Aufgabe, nicht eine Spracheinheit, sondern neue Sprachmehrheiten zu bilden. Unter den Gebildeten einer Nation werden sich in Zukunft kaum noch hundert Menschen auf dasselbe Idiom hin verständigen. Es kommt vielleicht einmal – in Jahrtausenden – die Zeit, in welcher die Monolingua so natürlich erscheint wie heut die Monogamie! –
.

Und eben so verschiedenartig ist der Naturalismus, wenn er sich als Kunst äussert. 12

Rousseau, Klopstock, Goethe, Klinger, Lenz, Schiller, Bürger, Schubart, Byron, Burns, die Romantiker sammt und sonders bis herab auf Wagner und Zola sind Naturalisten dieser Art, nämlich Romantiker. Vielen wie Wagner und den modernen politischen Naturalisten hat sich z. B. die Natur vorerst als das Volks- und Racenmässige offenbart. Bei Wagner ist germanisch und naturalistisch fast gleichbedeutend. Auch der Hang zum Mittelalter ist eine Art von Naturalismus, nämlich die Rückkehr zur ursprünglichen Natur des deutschen Volkes. Alle Rückwärtsler sind in diesem Sinne Naturalisten; sie wollen alle zurück zu irgend einer Art Natur! 13

XII.

Natur ist jedem ein Stück seiner selbst, das frei werden möchte; – also Leidenschaft, Kraft, Sinnlichkeit. Aber auch ein Stück seines Gegenteils, das er ersehnt. So tritt dem Manne immer das Weib als Natur entgegen. Und deshalb finden wir auch – ja beinahe ausschliesslich – das Weib als Symbol der Natur und des Natürlichen, und die Liebe als höchste Feier der Natur gepriesen. Der Mann muss in dem Weibe, d. h. nicht in jedem Weibe, nicht in dem emanzipirten, sondern in seinem, dem weiblichen Weibe, immer einen Ausdruck der Natur finden,Während unter den modernen Dichtern, Künstlern zum Teil auch Philosophen und Gelehrten – streng genommen unter allen Männern – Uebereinstimmung darüber herrscht, dass in dem Weibe ein Stück ursprünglicherer, vollerer, runderer Natur zu erblicken sei, lässt sich ein Weib unter den Männern also vernehmen: Die Natur will immer den Mann. Das Weib ist nur ein Missgriff der Natur. So der Naturphilosoph Oken. Ich nenne ihn das Weib unter den Männern, denn dieser Gedanke verrät ihn. So haben niemals über das Weib die wahren, natürlichen, männlichen Männer gedacht.
Der Mann findet seine natürlichen Feinde nur unter den Männern, wie das Weib so recht von Herzen nur von ihrem eigenen Geschlechte gehasst wird. Weiberhass unter den Männern ist stets ein Zeichen männlicher Geschlechtsdegeneration. Und ob es damit im Zusammenhang steht, dass man den Männerhass gerade so oft unter emanzipierten Frauenzimmern findet?
so gewiss, als wie das Weib, wenn es Künstler wäre, die Natur in dem Manne darstellen würde und auch thatsächlich in ihm erblickt. Aber thatsächlich hat es noch keinen weiblichen Künstler gegeben – weiblich und productiv sind die sichersten Gegensätze, die es giebt in der Natur. Wo das Weib bisher künstlerisch thätig war, war sie es nie als Weib, sondern immer in einer Art von Emanzipation mit ihr fremden, mit männlichen Grundtrieben und Instincten. Wenigstens sieht es dann stets mit männlichen Augen. Und das hat sich gerade darin verraten, 14 was das Weib als Liebe und was es als Natur dargestellt hat. Und das war fast immer jenes, das auch dem Manne als Liebe und Natur entgegentritt. – Das Weib, so lang es Weib bleibt, – und von allen andern ist hier füglich gar nicht die Rede – wird sich über seine Art Liebe und Natur auch niemals verraten. Das lässt sein weibliches Schamgefühl schon gar nicht zu – und sein Mangel an Ehrlichkeit. Denn hierin, hinsichtlich seiner Geschlechtsinstincte, ist es immer unehrlich! 15


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