Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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Der Wille in der Kunst.

IX.

Irgend ein Religionsphilosoph hat einmal über die Entwicklung des Gottesbegriffes gesagt: Das Christentum habe aus Gott ein Weib gemacht, und unserer Zeit sei es vorbehalten gewesen, ihn zum kleinen Kinde zu machen. Denn der Weg vom Weibe zum kleinen Kinde ist immer nur ein halber Schritt.

Gott wurde ein kleines Kind, und so wurde der Mensch mit ihm fertig.

Für meine Behauptung, dass unsere Aesthetik und die Kunst femininistisch werde, bedarf es eigentlich kaum noch eines Beweises. Aesthetik wie Theologie! Der leidende Gott, der passive Dichter!

»Schön ist, was ohne Interesse gefällt«, sagt Kant, und es haben es alle Philosophen gesagt.

Was ist das Ideal unserer Aesthetik? Der Indifferentismus des Künstlers!

»Der wahre Dichter ist indifferent wie die Natur, eben weil er Natur ist« . . . »Sittlich sei der Poet, kein Sittenprediger« . . . »Lehren soll er, wie die Geschichte auch lehrt!« u. s. w.

Und aus dieser Tonart singt man jetzt bei uns ein volles Jahrhundert. Carl du Prel z. B. in seiner Psychologie 151 der Lyrik, der den Dichter geradezu als den weiblichen Nährboden aufgefasst hat, welcher, befruchtet von den Erscheinungen des Lebens, das Kunstwerk gebiert; und das tritt nach jenem um so reiner und vollendeter zu Tage, je passiver sich der Dichter zur Zeit der Befruchtung und Schwangerschaft verhalten habe. Im Traume sind wir am Ende alle Dichter, ja grosse Dichter. Shakespeares im Traume! Wenn nur unser Wille ganz eingeschläfert ist! – Das Unglück ist, dass sich du Prel hier ausschliesslich mit der Lyrik beschäftigt; denn sonst hätte er, wenn er sich nur ein einziges grösseres Werk bei der Entwicklung seiner Theorie vor Augen führte, ganz von selbst ihre Haltlosigkeit einsehen müssen!

X.

Schiller hingegen und die Kant-Hegel'sche Aesthetik will vor Allem die Freiheit des Zuschauenden, Zuhörenden gewahrt wissen. Wie? Dem Schaffenden sollte die Freiheit des Willens wegdisputiert werden, damit sie dem Aufnehmenden gewahrt bleibt?! Durch jeden Affekt, durch jede Leidenschaft, durch jeden Willen und jedes Prinzip, kurz jedes energische Ja und energische Nein in der Kunst muss sich der Zuhörer oder Zuschauer einen Eingriff in die Freiheit seines Willens gefallen lassen. Es gibt Dichtungen – ich erinnere bloss an Grabbe – durch welche der Autor unsere Seele gleichsam wie mit Tigerkrallen anpackt. Und uns bleibt nichts übrig, als uns entweder ganz der Gewalt dieses Raubtier-Künstlers dahinzugeben und gleichsam durch die Wollust des Verschlungen-Werdens uns entschädigt zu halten; oder den Kampf mit diesem Raubtiere aufzunehmen. Das heisst: wir müssen entweder Geniessende (in Wirklichkeit sind wir die Genossenen) oder Kritiker sein; will sagen, dem Willen des Künstlers einen Gegenwillen entgegen stellen. Sofern wir es nicht vorziehen, uns vorsichtig schlau, wie das 152 wohl so gewöhnlich die klugen, klugen Menschen thun, sachte dem Eindruck des Kunstwerks zu entziehen. –

Wie kommt es, dass man aber so häufig gar keinen Eingriff in die individuellen Rechte und die persönliche Willensfreiheit empfindet? Einfach daher, weil unser Wille alsdann in derselben Richtung sich bewegt, als der fremde Künstler-Wille. Und dies macht oft den feinsten, oft den gefährlichsten Genuss aus. Doch man sage deshalb nicht, es ist kein Wille vorhanden, weil wir keinen Willen empfinden. Die Welle, die uns trägt, ist deshalb nicht aus der Welt geschafft, weil wir sie nicht mehr als Hindernis empfinden. Sie ist da, und nicht minder mächtig als jede andere, die vom jenseitigen Ufer kommt und unseren Nachen umzuschlagen droht.

XI.

Man achte auf folgenden Widerspruch: Jedes Auflehnen gegen ein Gesetz (Formel, Sitte, Regel, Konvention) geschieht mit der Begründung, es sei willkürlich, gewollt, exklusiv. Was man dagegen setzt, wird Freiheit genannt. Freiheit, d. h. aber jedesmal und kann gar nichts anderes heissen, als unsere Freiheit, Freiheit für mich, für meine Individualität, meinen Willen und meine Willkür. Man kämpft also jedesmal für und gegen eine Willkür, nämlich für die eigene und gegen die fremde. Eben weil man selbst Wille ist und so den Willen, der in jedem Gesetz, jeder Regel, Konvention, Sitte lebt, am tiefsten empfindet.

Daher kommt es, dass vor Allem zuerst und am stärksten die grössten Menschen, das sind die stärksten Willensdyname, jeden feindlichen Willen, jede äussere Macht und Unfreiheit empfinden und abzuwälzen trachten. Ehe noch die Deutschen gegen Napoleon aufzustehen wagten, hatte sich bereits einer ihrer besten und grössten Söhne an diesem harten und festen Willen zermalmt. Kleist und Napoleon! 153 Es gab damals keine schärferen Gegensätze; es hatte noch Niemand mit dieser Wucht gegen jenen Felsen (»den Unverletzlichen«, den Unbesieglichen, den Unbezwingbaren) angerannt als Kleist. Jeder Vers des Sisyphus Arbeit, ein unter Aechzen heraufgewälzter Stein, der dann wieder herunter rollte und auf den Wälzer selbst zurückprallte, seine Kraft beschädigte und ihn auf lange Zeit lähmte. – Also nicht die künstlerische Interessenlosigkeit, nicht Selbstlosigkeit oder Liebe zur Freiheit kämpfte in Kleist gegen den napoleonischen Geist, sondern ein starker Wille gegen einen stärkeren, eine Kraft gegen die grössere Kraft. Die Kleinen, die Schwachen, die Gebrechlichen geniert keine Gewalt, keine Regel; sie werden mit jedem Gesetz, mit jeder Regel fertig, weil sie niemals, weil nichts in ihrem Geiste durch diese Regel, diese Gewalt vergewaltigt wird. Sie verstehen sich auch trefflich darauf, alle Gesetze und Regeln zu umgehen. Wie die grössten Gauner mit dem Gesetz, so kollidieren Dilettanten nicht leicht mit der Regel. Anders das Genie, anders der Charakter. Diesem geht der Wille, der in diesem Gesetz oder in dieser Regel herrscht, wenn nicht mit ihm, so gegen ihn, ein widriger Wind, der sein Fahrzeug umzuschlagen droht. Sie rufen dann nach Freiheit, d. h. nach sturmfreiem Wetter. – Sie wollen für sich die Bahn frei; ihren Willen andern aufdrücken; und sie thun es; zerbrechen die alten Gesetze und Regeln, schaffen neue, sobald sie nur stark genug sind. –

XII.

Die meisten Einwände gegen die Tendenz in der Kunst sind nur deshalb so thöricht, weil sie sich immer an Nebendinge, Kleinigkeiten und Zufälligkeiten halten, die zum Teil dem Autor selbst gar nicht von Wichtigkeit waren. Aber selbst, wo auch der Autor bereits auf diese Nebensächlichkeiten Wert legt, sie mit Prätensionen vortrug, haben wir noch nicht das Recht, hier die Tendenz des Werkes zu suchen. Was uns allein angeht, ist immer nur die künstlerische 154 Tendenz (die psychologische, formale Tendenz – die soziale, politische nur in grossem Stil, nur insofern als sie zugleich auch formale, psychologische Tendenzen enthält). Wie es lächerlich wäre zu behaupten, die Tendenz von Lenzen's »Hofmeister« läge in der Warnung vor den Hofmeistern oder die anderer Sturm- und Drang-Komödien in dem Rat zur Gründung von Pflanz-Schulen für Soldaten-Weiber; eben so thöricht wäre es, sich aus irgend einem modernen Werke eine äusserliche Tendenz herauszulesen, z. B. den schönen Moral-Spruch:

Die Liebe und der Suff
Die reiben den Menschen uff!

Das ist selbst da lächerlich, wo sogar solch' ein Spruch geradezu an die Spitze des Werkes gestellt ist, wie in Hauptmann's »Vor Sonnenaufgang«, oder in Lenzens »Soldaten«. Natürlich, diese Tendenz ist, weil im gemeinen Sinne, ärgerlich, vor allem aber deshalb, weil schon in dieser Vorstellung sich irgend eine Schwächlichkeit, etwas Schülerhaftes verrät. Es ist, als fürchtete man den Gesichtspunkt zu verlieren und zu vergessen. Man vergewissert sich seine Wirkung durch Vorwegnahme, durch Fixierung des zu Demonstrierenden, man motiviert von vorn weg, statt von hinten nach, was ungleich freier ist, auch ungleich künstlerischer. Wenn schon ein Moral-Satz, ein wissenschaftliches, gesellschaftliches Axiom, dann wenigstens ans Ende damit! Soweit sich überhaupt solche Regeln aufstellen lassen bei der Mannigfaltigkeit der Darstellungsarten! Nur muss man verlangen, dass, wer die erste Art gewählt hat, auch Logiker genug sei, die Consequenzen seines Satzes zu ziehen, das zu Beweisende auch wirklich beweisen zu können. Wollt Ihr die Mathematiker in der Kunst spielen, so dürft Ihr Euch auch nicht mehr auf Eure Sinnlichkeit verlassen! – Anders, wenn eine Tendenz in den vorgeführten Situationen, Handlungen, Menschen besteht, in der Form, in der Sprache, im Stil! In der Bejahung oder Verneinung des Lebens oder eines Stückes Leben besteht eben die Tendenz jeder Kunst. 155

* * *

XIII.

Die Kunst kommt nicht vom Können. Jene falscheste und doch geglaubteste Ethymologie kann man täglich von dilettantischen Kritikern hören. Die grossen Kunstwerke sind nicht von den grossen Könnenden, sondern von den grossen Wollenden geschaffen, wenn auch in glücklichen Ausnahmefällen beide in Eins zusammenfallen. Käm's aufs Können allein an, wie namentlich auch von den Künstlern selbst immer behauptet wird, dann müssten – ganz zu geschweigen davon, dass auch schliesslich das Können erst die Folge eines grossen Wollens ist – dann müssten nicht allein die am Besten Könnenden das Grösste leisten, sondern auch der einzelne Künstler dann am meisten schaffen, wenn er am Besten kann, also mit zunehmendem Alter; denn das Können wächst mit der Uebung. Ist das aber der Fall? Oder sind es nicht oft gerade die schlechtest Beanlagten, Menschen mit schwerer Zunge und schwerfälliger Denkart, die das Grösste schaffen; eben gerade, weil ihre Schwerfälligkeit, ihr Mangel an leichter Begabung ihre Willenskraft um so höher anspornt, je mehr Widerstand sie zu überwinden haben, z. B. Demosthenes, Milton, H. v. Kleist! Die leicht Begabten und gut Könnenden sind selten die Schaffenden unter den Künstlern.

Die hervorragendsten Werke stammen meist aus der Jugend des Künstlers, selten aus dem späteren Alter. Schiller z. B. hat mit seinem genialsten und kraftvollsten Werke gleich eingesetzt. Die schwersten Thaten liegen jedenfalls fast immer in der ersten Periode, wenn auch nicht die reifsten. Aber je besser ein Künstler kann, um so weniger gelingt ihm das Grosse. Denn alles Grosse will gewollt und nicht gekonnt sein!

Man sehe sich doch überall die ersten Werke (speziell der dramatischen, vor allem der tragischen Kunst im weiteren Sinne) an: Wie Schiller seine »Räuber«, so warf Klinger die »Zwillinge«, Kleist seine »Familie Schroffenstein«, Hebbel seine »Judith«, Büchner seinen »Dantons Tod«, Grabbe den 156 »Herzog von Gothland«, Ludwig das »Fräulein von Scuderi«, u. s. w., alles freilich ihr Ziel gründlich verfehlende Würfe, aber doch von so gewaltiger Wucht, so weit hin geschleudert, dass sie gleichwohl zu den schwersten Thaten unserer Litteratur zählen. Und dann folgen, in der Mitte der ersten Periode die rundesten, schwerwiegendsten und gelungensten Titanen-Arbeiten, eine »Genoveva«, eine »Penthesilea«, eine »Kabale und Liebe«, ein, »Don Juan und Faust«, ein »Erbförster« u. s. f.

Das Alles sind Jugendwerke, weniger gemacht, als hinausgestürmt, schwerfällig und dumpf und sich selber widersprechend; unbedeutend und nichtig in alle Dem, was andere Künstler, was selbst der Dilettant mit spielender Hand geschickt und wohlgefällig zu machen im stande ist; und die Dichter selbst, fast schon nicht mehr redend, sondern stotternd und lallend, und tölpelhaft und blind zutappend, und mit einem tiefen Misstrauen gegen sich selber, die Faust gegen die eigene Brust schlagend und mit frevelhafter Hand in die eigene Seele fahrend, als könnte nur so, durch die verbrecherischste Unthat, durch die grausamste Selbstvernichtung aus ihrer Tiefe herausgeholt werden, was vielleicht nicht einmal darin ist, wenigstens nicht nachweisbar, aller Welt zu zeigen, darin ist.

Sie alle sind nur schlechte Könnende und deshalb im gewöhnlichen Sinne keine Künstler.

Wenn in anderen Fällen wieder der Schwerpunkt des Schaffens in die zweite Periode, oft sogar an das Ende des Lebens fällt (ich erinnere nur an die Entwicklung, welche Lessing, Wagner und Ibsen durchgemacht haben), dann hat dies ganz besondere psychologische Gründe, dessen hauptsächlichster meist in ein allzugrosses Misstrauen gegen sich selbst und seine Zeit zu setzen sein wird. Denn auch in der Kunst ist am Anfang der Wille. Jede erste That ist daher auch immer die wichtigste, der Schwung, der das Rad in's Rollen bringt, die grösste Kraftleistung. Später, wenn Alles ringsum seine Bahnen abzulenken, seine Schwingungen zu hemmen sich abmüht, und dies um so sicherer erreicht, je 157 heimlicher, zärtlicher, demütiger es seinem Lauf entgegenkriecht, und die Hand langsam erlahmt, die es in Bewegung erhält – dann werden die Thaten des Künstlers langsamer, gleichgiltiger, mechanischer und immer ohnmächtiger. – –

* * *

Blickt man hinein in die Werkstatt der Kunst, dann staunt man und erschrickt über die absurde Verschwendung von Talenten und Kräften. Die Talente sind gar nicht so selten, auch die bedeutenden Anlagen nicht, als meist behauptet wird. Wenn aber dennoch im Verhältniss so Weniges geleistet wird, woran liegt dies? Woran anders, als weil dieses Talent nicht unter einen Willen gestellt ist, der ihm die Richtung giebt, der ihm befiehlt, was zu thun ist. Das Thun wird das Talent schon besorgen, aber es weiss nur nicht, was es zu thun hat.

Wenn sich die Künstler in allen Künsten und Stilarten versuchen und trotz reicher Fähigkeiten doch nichts erreichen, wenn auf allen Werken das stumme »Wozu? Wozu nur noch?« steht, wenn hundert unbefriedigte Künstlergemüter sich in Zweifel und Verzweiflung zerrütten, der Grund hiervon ist nicht Kleinmütigkeit, Hypochondrie, Krankhaftigkeit, allzugrosse Gewissenhaftigkeit; das Alles sind erst die Folgen eines grösseren Uebels, des Mangels eines grossen und absoluten Künstlerwillens.

Oft sehen wir, wie ein Künstler, der sich bis in sein dreissigstes Lebensjahr vergeblich abgemüht hat, ohne etwas zu erreichen, ganz plötzlich mit wunderbarer Leichtigkeit und ungeahnten Erfolgen schafft. Man staunt und sagt: Erst jetzt kommt an's Tageslicht, was in ihm gelegen hat! Und ein ander mal sehen wir gerade das Umgekehrte: Ein Künstler hat bis in sein dreissigstes Jahr Tüchtiges geschaffen, man hat die grössten Erwartungen gerade an ihn geknüpft, und plötzlich werden seine Leistungen immer geringwertiger, sein Arm erlahmt, seine Sprache geht in Lallen über, er sinkt 158 und sinkt immer tiefer, bis er eines Tages versinkt. Die klugen Leute reden mit Bedauern und Achselzucken von der Versumpfung eines reichen Talentes, ihm fehlte die moralische Kraft u. s. f. Aber was sehen die klugen Leute von dem, was in eines Künstlers Seele vorgeht! Vielleicht ist er auch versumpft; nur dass die Versumpfung selbst erst die Folge anderer Ereignisse war!

Das Problem aber, das uns hier interessiert, ist folgendes: Warum konnte jener Künstler als Mann nicht wenigstens das leisten, was er als Jüngling gekonnt hat?

Vergegenwärtigen wir uns diese beiden Vorgänge: Im ersten Fall haben wir einen Künstler, der eines Tages sich selbst entdeckt! Hier ging eine jähe Umwandlung vor, der Künstler sieht sich plötzlich in seine Bahn geworfen und nun fliegt er von selber. Er musste nur einmal erst in Schwung gebracht werden. Irgend ein Ereignis, ein Erlebnis, eine Kenntnis, eine Person, vor allem auch ein anderer und grösserer Meister konnte das bewirkt haben. Er hat seine Richtung erhalten; irgend etwas übt einen Druck auf seine Seele, den er aber nur nicht als Druck empfinden darf, irgend ein Wille, stark genug, ihn mit sich fortzureissen, tritt in sein Leben. Jetzt kann er, weil er können muss, weil etwas ihn zwingt, können zu wollen! Mag er auch tausendmal nicht wissen, was dieses Wunder bewirkt, genug wenn wir es nur wissen! Und wir werden es erst wissen, wenn wir uns den Fall bis in seine kleinsten Einzelnheiten zerlegt haben, was Alles fördernd, beschwingend, abschleifend, zurechtlenkend, einschmeichelnd, ermutigend, leichtsinnig und selbstbewusst, eitel und zuversichtlich auf die Seele des Künstlers eingewirkt hat. –

Im andern Fall wird hingegen der Künstler aus seiner Bahn geworfen. Er hatte einen Künstlerwillen, der ihn vielleicht sicher leitete. Er glaubte an sich und bedurfte eines absoluten Glaubens, um schaffen zu können. Jetzt, und wieder wird es ein Erlebnis, wird es irgend eine neue Kenntnis sein, dass sein Wille nicht der unbedingte, sein Weg sogar 159 ein falscher sei: Er hat dies nur nicht wissen brauchen, und er wäre auf dem vielleicht falschen Wege rüstig fortgeschritten und hätte noch Grosses schaffen können. Der interessanteste Fall ist aber der, dass ein neuer stärkerer Wille gegen den seinen stösst, ihn bricht oder ablenkt; und mit gebrochenen Flügeln kann man nicht fliegen. Oder er tritt eines Tages in die Welt eines andern, eines grösseren Künstlers. Er kann nicht schaffen wie dieser, in seine Welt kann er nicht mehr zurück: sie ist ihm nun zu eng, zu klein, zu dumpf. Sich unter einen fremden Willen zu stellen ist er zu stolz und auch zu alt. Zu gehorchen hat er verlernt, das Grössere zu meistern vermag er nicht. Hier vor diesem Dilemma wird sein Geist stumpf. Hier an der Schwelle des neuen Kunstwerks bricht er zusammen. Was er jetzt noch thut, thut er nur noch als Gespenst seiner selbst, seiner ehemaligen Grösse. Und nun haben es die klugen Leute leicht, über die verkommenen Genies die Achseln zu zucken! –

Das Problem, das ich hier berühre, hat Ernst von Wildenbruch mehrfach zu behandeln versucht. Ueber der Tiefe der Konzeption seines »Marlow« und der Feinheit der Behandlung seiner ersten Novelle, des »Meisters von Tanagra«, kann man dem Dichter manche seiner späteren Sünden und litterarischen Ungeheuerlichkeiten vergeben! Vielleicht hat er selbst die volle Klarheit über Dasjenige, was er darstellte, gar nicht gehabt, jedenfalls hat er es zum Schluss jedesmal, gelinde gesagt, selbst verpfuscht. Dass er das Problem erfasst hat, das ist das Entscheidende. Freilich muss er es auch erlebt haben. Und Wildenbruch hat es erlebt: Er hat nur Eines darstellen können: die Instinkt-Brechung eines Künstler-Genies. Das muss aus einer tiefen, wenn auch vielleicht konträren Erfahrung gekommen sein, der Erfahrung einer ursprünglichen Willens-Gebrochenheit. Er gehört eben zu der Gattung jener Dichter, die wohl unter den Flügeln grösserer Meister ihr bescheidenes, wohlverdientes Plätzchen finden können, die aber nicht stark genug sind, für sich selber zu stehen. Er hat die Eigenschaften eines guten 160 Korporals, aber nicht die Fähigkeiten eines Feldmarschalls. – Schliesslich stellte er sich unter die Flügel eines Meisters, der durch ca. dreihundert Jahre und ebenso viele Meilen von ihm entfernt, und dessen Flug nicht mehr stark genug war, um ihn noch ganz mit fortreissen zu können. Dann war jener auch ein wenig zu schwerfällig. Und nun begab er sich zu drei Meistern zugleich in den Dienst. Aber man kann nicht zween Herren dienen, geschweige denn dreien; und so ist denn Alles brüchig verzerrt und gespreitzt bei ihm. Das was er jetzt schafft, sind nur noch die Scherben eines Dichters.

Das Problem Wildenbruch ist, meines Wissens, bisher nur ein einziges Mal ernst genommen worden; und das vom Schreiber dieser Blätter. Eine so tiefe Interpretation hat sein »Menonit«, sein »Christoph Marlowe« und vor Allem sein »Meister von Tanagra« bis dahin nicht erfahren. Es ist eben eine alte Erfahrung: Tiefe Aeusserungen kann man über einen Künstler nur bei seinen ehrlichen Gegnern finden! –

* * *

XIV.

Sind wirklich Poesie und Rhetorik ewige Gegensätze, wie behauptet wird? Muss Rhetorik stets künstlerisch sein? Ist nicht des Dichters Sprache auch Rede? Ist jede kunstmässige Rede nicht Rhetorik? Jede nicht rhetorische Rede ist Taubstummensprache, leise, zwecklose, stumpfsinnige Rede. Oder was ist das Pathos anders als verhaltene Rhetorik, eine Rhetorik, die zugleich auf die weitesten Distanzen und die geheimsten Kreise, Stimmungen und Verhältnisse berechnet ist! Rhetorik ist greifbar gewordenes, sozusagen praktisches Pathos. Jeder grosse Redner ist auch ein grosser Pathetiker (Demosthenes, Schiller, die Propheten) und jeder Pathetiker ist ein geborener Redner. Wir in Deutschland haben von 161 der künstlerischen Gewalt des Redners keine Vorstellung, weil wir eine sehr mangelhafte Rhetorik besitzen. Was als Rede nachwirkt und doch nicht pathetisch ist, das leitet sich aus ganz andern Regionen her; es ist Wissenschaft, es ist der Zauber deutscher Heimlichkeit, es ist die Macht des deutschen Küchenherdes.

Der dort redet, ist gar kein Redner, sondern jene moderne Abart eines Redners, ein Bankert der Rhetorik: der »Vortragende«, der statt zu bereden, fortzureissen, den Schulmeister spielt, belehren und unterhalten will und uns einspinnt in lauter Sophismen und Logismen, uns benimmt und schliesslich einlullt und einschläfert, unsere Instinkte bannt, statt sie zu wecken – kurz, das Gegenteil eines Rhetorikers.

Und der Dichter, in dem nicht auch ein Rhetoriker steckt, ist eigentlich schon halb und halb verloren. Der Mangel an Rhetorik ist halb und halb eine Krankheit, die namentlich in deutschen Dichter-Landen arg gewüstet hat. Dem Problem der verfehlten Genies und problematischen Naturen, an denen wir ja reicher sind als irgend eine andere Nation, sind wir durch Erkenntnis dieser Krankheit auf der Spur. Wie sehr diese Krankheit deutschen Poeten, auch den anscheinend gesunden und glücklichen, im Nacken sass, erkennt man schon daran, dass auch bei ihnen, wenigstens in der von ihnen geschaffenen Welt, in ihren Gestalten die Spuren ganz deutlich, bald als Probleme, Rätsel, Gefahren, als Zweifel bald und unter irgend welchen verschleierten Formen zu verfolgen sind. Und das ist Beweis genug, dass es sich nicht um ein Ohngefähr handelt, sondern dass da innere Notwendigkeit vorliegt. Denn jeder geschaffene Charakter steht für eine Legion wahrhafter Erscheinungen.

Keine Zuhörer haben! Das ist die Krankheit, an der schon viele Hunderte von Dichtern zu Grunde gegangen sind. Wäre das geschaffene Werk sich Selbstzweck, wie unsere Aesthetiker meinen, gäb's keine Tendenzen in der Kunst, dann gäb's auch keine derartige Krankheit. Alles Geschaffene muss wirken; und wehe dem Künstler, der 162 dahinter kommt, dass er toten Steinen gepredigt hat! Vielleicht ist es gerade seine Schuld, dass er nicht gehört wird! Vielleicht zwang ihn irgend eine Art von Stolz, in die Einsamkeit zu fliehen, vielleicht auch hinderte ihn eine Schamhaftigkeit, die Blicke der Welt auf sich zu lenken! Grenug, er predigt toten Steinen. Aber noch weiss er es nicht, noch ist er selbst berauscht von dem Klange seiner Rede und denkt nicht daran, dass er auch Zuhörer haben müsste! Da plötzlich hält er inne, er macht eine Pause und – nun verstummt er auf immer! Was war das nur? Was hat ihn so im Innersten erschreckt, dass von jetzt an jeder Laut auf seiner bleichen Lippe erstirbt? Wusste er das nicht, dass er allein war und mit sich selber sprach? Und doch hat es ihn so ergriffen? Was nur? Er hat sein eigenes Echo gehört! Das ist das Furchtbare, unkünstlerischen Naturen Unbeschreibliche! Wer das einmal erfahren, der verstummt leicht auf ewig, den graust's am Ende vor seiner eigenen Stimme. Und noch grauenvoller wird diese Wirkung, wenn Einem dies gar nicht einmal in der Einsamkeit geschieht! Vielleicht gar auf offenem Markte.

Sich nicht vernehmbar machen können, das ist das Schicksal vieler Poeten. Bei anderen Völkern, z. B. den romanischen, bei denen alles künstlerische Schaffen eine grössere Geschlossenheit hat, nicht so gefährlich, als ganz besonders bei uns, wo jeder Dichter mit doppelt starker Lunge begabt sein muss, wenn er »durchdringen«, wenn er gehört sein will!

Und oft genug will er nicht einmal gehört sein, weil ihn vor der Oeffentlichkeit graust oder ekelt. Es geht ihm wie dem geistig Kranken, der, plötzlich von irgend einem Ekel erfasst, keine Nahrung mehr zu sich nehmen will. Vielleicht, weil er durch ein Mikroskop geblickt! Er fürchtet jede Berührung mit der Aussenwelt wie eine Verunreinigung. Er fällt in den unseligen Wahn, er müsse nur noch für sich schaffen, »aus Lust am Schaffen«. Er isoliert sich immer mehr und bedenkt nicht, dass, was ihm die Reinheit seiner 163 Lebensflamme erhalten soll, die Abgeschiedenheit, sie auch jeder Nahrung beraubt und in sich selbst zusammensinken lässt. So erlöschen sie und so erlöschen ihre Werke am Ende an ihrer eigenen Tendenzlosigkeit. –

XV.

Man fordert mit Recht, dass in jedem Kunstwerk Form und Gehalt, Stoff und Idee miteinander harmonieren, sich decken sollen, vorausgesetzt, dass nicht das Höchste, ein völliges Ineinanderfallen und Ineinanderaufgehen möglich ist. Was folgte nun weiter? Jeder Gedanke, jede Absicht und jeder Zweck, der nicht im Ganzen aufging, ward als Tendenz verpönt.

Das Ganze? Was ist das Ganze? Das Werk von Anfang bis zu Ende? Von Oben bis Unten? Von Rechts nach Links? In seiner ganzen räumlichen und zeitlichen Ausdehnung? Vielleicht einigen wir uns darüber, für das Ganze ein anderes Wort, wenn es auch abermals ein unglückseliges Fremdwort ist, zu setzen: Totalität? Aber auch das genügt noch nicht, wo es auf künstlerische Wirkungen ankommt. Worte wie »das Ganze«, »die Totalität« sagen in jedem gegebenen Falle weit mehr oder weit weniger als damit gemeint sein kann.

Ob ein Teil zum Ganzen passt, ob Idee und Stoff harmonieren, das kann man nicht aus dem Ganzen ersehen, sondern kann sich immer nur darüber vergewissern, wenn man sich klar geworden ist, was die Hauptsache an dem Werke ist, wo sein Schwerpunkt liegt.

Aber was ist die Hauptsache? Wo liegt der Schwerpunkt? Das ist in jedem Fall die Frage! Hier ist ein Zwang für den Kunstkritiker, hier liegen Fussangeln für den Aesthetiker! Das ist die einzige Frage, über die er nicht hinweggehen darf, hier muss er den geheimsten Intentionen des Künstlers nachforschen, wenn er auch nur etwas halbwegs 164 Gescheidtes zu Tage fördern will, hier muss er Psycholog sein!

Wohin tendiert das Werk? Wo steckt die Tendenz des Werkes? Kardinalfrage jeder Kritik!

Und erst von hier aus lässt sich erfahren, wie sich Stoff und Idee, wie sich das Ganze und seine Teile zu einander verhalten. Denn was ist am Ende jede Frage nach der Harmonie der Teile und des Ganzen, der vollendeten Form anderes als ein Forschen über das Thema, ob sich der Künstler selber treu geblieben ist! Alles, was aus der Hauptsache, der Grundabsicht desselben folgt, Alles, was dahin drängt, wo der Schwerpunkt des Ganzen liegt, das mag, bei der ersten Betrachtung, noch so schief oder barock erscheinen, es kann so wenig ein Fehler der Formation sein, als irgend ein Körper, der auf Erden ruht oder wandelt, ein Ungehöriges, ein Missgriff oder ein Fehler sein kann. Erst wo die Disgregation der Atome beginnt, wo Alles auseinander stiebt, divergierenden Gesetzen gehorcht und verschiedenen Welten zufliegt, erst dort giebt es physische Ungehörigkeiten auf Erden, d. h. Dinge, die nicht mehr zu dieser oder auf diese Erde gehören!

Dieser Fall kommt weit häufiger vor, als unsere Aesthetik ahnen mag. Und, um gleich einen der berühmtesten Fälle zu nennen, Goethe's »Faust« und fast mehr sein »Wilhelm Meister« gehört hierher und fast alle Werke gehören hierher, die ihren Schöpfer allzulange beschäftigt haben, weil kein Mensch sich allezeit selbst treu sein kann.

Und jetzt eine neue Phase der Kritik, die Untersuchung, ob die neuen Gedanken und Gesichtspunkte über den ersten hinausgehen, oder hinter ihm zurückbleiben.

Wenn uns die Tendenz in so vielen Werten geniert und peinlich berührt, so ist neben der beleidigenden Absichtlichkeit, mit der sie vorgetragen sein kann, der Hauptgrund eben ihre Kleinlichkeit und Engherzigkeit, besonders, wenn in dem Stoff oder in der Grundlage ursprünglich weit mehr Grösse zu liegen scheinen. Und dann überhaupt, wenn sie 165 gerade uns zu klein, zu eng, zu beschränkt erscheint, wenn der Dichter geistig unter uns steht, und uns doch (besonders bei den politischen und religiösen Dichtern trifft das zu) ihre kleinen dummen Gedanken aufreden und uns mit Gewalt in ihre niedere Sphäre hinabziehen wollen. Und davor entsetzen wir uns mit Recht. Es ist ein Attentat auf die Freiheit geistiger Ueberlegenheit. Nicht aber, wie Schiller geglaubt hat, auf die Freiheit überhaupt.

Wir haben also hier mit Massen und Verhältnissen, nicht aber mit feststehenden ästhetischen Grössen zu rechnen. Wenn gar Vieles, das uns in jungen Jahren begeistert und hingerissen hat, später aber wegen seiner Tendenz entsetzt (also etwa die Poesie Theodor Körners), so ist das nicht eine Errungenschaft unserer ästhetischen Bildung, wie wir uns einreden, sondern der grösseren Reife des ganzen Menschen. Wir scheuen die Enge, wir können es gar nicht mehr frei und hell genug um uns bekommen. Aber schliesslich sind auch wir noch gebunden, schliesslich ist alle Freiheit ein schöner Traum, den man am liebsten in den Jahren zwischen der ersten Jugend und dem reifen Mannesalter träumt.

Gut! lassen wir uns das Recht auf die Freiheit und Klarheit, auf die Grösse und Ueberlegenheit, die wir errungen haben, niemals rauben! Aber wir haben nicht ein gleiches Recht, auf unsere Freiheit zu pochen, sobald uns ein Grösseres entgegentritt!

Will man jede grössere Idee, jeden höheren Willen, jeden tieferen Zweck in der Kunst als Idee, hingegen jeden engeren Gedanken, kurz jede Beschränkung als Tendenz aufgefasst sehen, so könnte man an sich gegen diese Teilung nichts einwenden. Wenn man hierfür nur stets sichere Massstabe hätte! Wüsste man nur, wo sich hier im gegebenen Falle stets die Wege gerade scheiden!

Aber gegen welche Kunst erhebt man jedesmal die Anklage der Tendenz-Dichtung? Nicht gerade gegen die erste? Ernst von Wildenbruch ist kein Tendenz-Dichter, aber Henrik Ibsen! Gegen die Berechtigung Theodor Körners hat man 166 kaum jemals ernstlich Einwand erhoben, aber Heinrich von Kleist war Jahrzehnte lang einer der best verfehmten Dichter! Man verfolge das nur in der Geschichte!

Es ist also auch nicht die Tendenz, der Wille und die Absicht in jenen Dichtungen, gegen die man sich wehrt; es ist immer gegen die Grösse, oder, weil dies ketzerischer klingt, gegen den Willen zur Grösse. –

Man hat ferner auch zu unterscheiden zwischen der Tendenz des Ganzen und der Tendenz der einzelnen Teile. Soll das Ganze tendieren, dann muss es als möglichst volle und einige Realität erscheinen. Jedes Heraustreten der Teile, jedes Tendieren einzelner Scenen oder Töne hemmt die wichtigere Tendenz des ganzen Kunstwerks, geht ihr zuwider oder hebt sie völlig auf.

Zuweilen aber ist das gerade der eigentliche Reiz des Werks, es kann sogar sein eigentlicher Zweck sein, z. B. in Aristophanes' Parabasen, wo gerade die eigentliche Tendenz der Komödie, ihr Schwerpunkt liegt, verrät sich der geheimste Sinn der Dichtung. Es ist wie ein Lüften der Maske, das Beiseite-Schieben eines Vorhangs, das Preisgeben eines Dichter-Geheimnisses.

Anders, wenn der Dichter irgend eine Gelegenheit benutzt, womöglich sie erst gewaltsam an den Haaren herbeizieht, um seine Ansichten über dies und das zum Besten zu geben; wenn der Künstler mit dem Fusse dies, mit den Armen jenes, mit den Hüften wieder etwas Anderes hat sagen wollen, und dies und das und Jenes nicht auf eine gemeinsame Absicht wieder hinzielen, der auch die ganze Figur zustrebt –

* * *

In den so oft nachgeplapperten Sätzen, wie »Ibsen will das Wahre«, »Byron die Freiheit« u. s. w., betont man regelmässig falsch die Worte: »Wahre«, »Freiheit« u. s. w., man betone aber das »Will« und frage nach dem Warum des »Will«, und Alles, was vordem lächerlich und schief war (als ob z. B. Alles Andere im Gegensatz zu Ibsen unwahr, oder Alles, was und wie er es darstellt, wahr wäre!) – jetzt 167 erhält es einen ganz anderen, einen weit tieferen Sinn. »Ibsen will das Wahre«, Zola will desgleichen, Byron will die Freiheit u. s. w. Nun sage man aber nicht, ja, das haben doch alle anderen Dichter auch gewollt! Aber es war etwas wesentlich Anderes, was sie und wie sie es gewollt haben. Wollen, so direct wollen kann man es freilich nur, wenn man in einem Zeitalter conventioneller Cultur-Lügen lebt! Wenn man den Gegensatz zu diesem ganz bestimmten Wahren gefunden oder empfunden hat! In einem Zeitalter religiöser oder politischer Gebundenheit wird man die Freiheit wollen, (Byron, Schiller, Lessing), und in einem nüchternen Aufklärungs-Zeitalter wird man die Kunst schlechtweg als Kunst wollen (Goethe, die Romantiker). Diese Kunst-Tendenz, ist sie denn nicht auch Tendenz? Ist der Zweck aus der Kunst elidiert, weil man die Schönheit als Selbst-Zweck gesetzt? Ist denn nicht auch das noch ein Zweck? Ist nicht auch hier noch ein End-Zweck, eine Tendenz? Die Tendenz der Tendenzlosigkeit? Oder setzt nicht der Gott, den man glaubt, geradezu einen Polytheismus voraus? Brauchte man ihn sonst noch zu glauben, könnte man ihn überhaupt noch glauben? Ich glaube an einen Gott, heisst jedesmal: es giebt viele Götter, von denen ich aber nichts wissen will! Und ebenso umgekehrt: es sieht nur einen Zweck in der Kunst, den Selbst-Zweck des Schönen, was heisst das anders, als: ich glaube an viele Zwecke in der Kunst, die ich mir aber nicht zu deuten verstehe, weshalb ich sie alle auf den einen Selbst-Zweck des Schönen zurückgeführt habe. Oder: Ich liebe und glaube Vieles und vielerlei als schön; ich geniesse jede einzelne Schönheit für sich, sie ist sich Selbst-Zweck. Hat nicht aber jede einen andern, ihren eigenen? Und was heisst das wieder anders, als der Polytheismus in der Kunst ist postuliert, es giebt nicht nur viele, es giebt unendlich viele Zwecke!

Das ist die Don Juanerie in der modernen Aesthetik. Es giebt nur eine Liebe, deshalb geniesst man alle Schönen einzeln, in jeder Nacht eine andere! 168

XVI.

Was ist der Zweck der Dichtung? Und hat sie überhaupt einen Zweck? Oder – die Beantwortung dieser Frage würde in's Endlose führen – was haben die Dichter selbst von dem Zweck ihrer Dichtungen gehalten? Oder hatten sie gar keine Zwecke und bildeten sich nur ein, welche zu haben?

In unserem naturwissenschaftlichen Zeitalter und in unserem alexandrinischen Jahrhundert, in dem man die Poesie durchaus als Wissenschaft behandelt wissen will (erst als Geschichte und Philosophie, dann als Naturwissenschaft, als Psychologie und Physiologie), sind wir sehr geneigt, das Letztere anzunehmen. Wie der Gelehrte steht der Dichter über seinem Stoff, kalt und gefühllos, unbekümmert um die Resultate seines Ruhmes, nur schauend und immer schauend, trennend und wieder zusammenfügend, rechnend und das Gerechnete und Geschaute aufzeichnend.

Also: die Dichtkunst als Dienerin der Wissenschaft, mithin nicht mehr Selbst-Zweck! Denn welch ein Unterschied ist es, ob am Ende die Poesie Dienerin der Theologie oder abhängig von der Physiologie und Soziologie ist?

Die Kunst soll Wissenschaft werden! ruft Zola aus. Die hirnverbrannten Lügen lassen wir den alten Idealisten und Romantikern. Wir, die wir uns der wissenschaftlichen Hilfsmittel bedienen, sind allein im Besitz der Wahrheit, wir sind die eigentlich moralischen Dichter.

Bei uns die Wahrheit, bei uns die Moral! Klingt das wie Zwecklosigkeit? Was sagten denn ehedem die Poeten? Wir singen zu Gottes Lob und Ehr', sein Geist ist über uns! Oder die Schaubühne ist als moralische Anstalt zu betrachten u. s. w.

Was heisst das: Ihr sollt meine Poesie als Generalbeichte ansehen! (Goethe)? Was anders, als was Ibsen so ausdrückt:

»Dichten heisst Gerichtstag halten über sich selbst.«

Beichten? Wem? Gerichtstag halten? Vor welchem 169 obersten Tribunal? Sich selbst und vor sich selbst! Man scheidet sich in den handelnden und reflektierenden, in den irrenden und hinterdrein sich des rechten Weges wol bewussten, den sündigen und den verdammenden Menschen! Man erkennt, wenn schon sonst keins, so doch irgend ein Sittengesetz in sich an. Man beugt sich seinem Richter. Man befreit sich, indem man sich ihm beugt. Man ist auch selbst nie ohne Schuld, wie Ibsen sehr tief bemerkt, an den Sünden seiner Zeit. Man kann sich, ohne auch je nur einen Wurm getreten zu haben, gleichsam irgend von einer ungeheuren Schuld niedergedrückt fühlen, wie dies z. B. Dostojewsky geschah. Und diese Schuld sühnt man, indem man gegen sie schreibt (wohlverstanden: nicht mit Worten, sondern mit Thaten!), oder handelt. Man macht also Tendenz gegen sich oder irgend einen Teil in sich, mit welchem man mit seinem Zeitalter zusammenhängt. Der strafende, zürnende Richter ist niemals parteilos. –

Zwecklos sei die Dichtung, so wie die Natur, sagen wir heute; vor dreissig bis fünfzig Jahren sagten wir: sie sei es, wie die Geschichte.

Aber ist denn die Natur tendenzlos? Ist es die Geschichte? Für uns Menschen gewiss niemals! Für uns beginnt erst Natur und Geschichte dort, wo wir Zwecke sich realisieren sehen, wo wir eine Entwickelung erkennen. Was sich entwickelt, muss sich doch irgendwozu entwickeln! Auch sprechen wir von der Oekonomie in der Natur, vom Fortschritt in der Geschichte, von der Selbst-Kontrolle in der Natur, von Zwang und Gesetzen, von Kampf und Zuchtwahl und vielen anderen Dingen, die alle in Natur und Geschichte nicht nur ganz allgemein ein Vernunftprinzip, sondern ganz bestimmte Zwecke und Tendenzen voraussetzen. – 170

XVII.

Für wen und wozu schreibt der Dichter, schafft der Künstler? Um wessentwillen schafft er? Was ist der Hauptfaktor der Kunst? Ist es die Form, der Stoff, die Idee, das Publikum, das ganze Werk selbst, Gott, die Menschheit, oder was?

Man hat zu sehr verschiedenen Zeiten alle diese Dinge einzeln zur Hauptsache gestempelt. Gegenwärtig ist es wieder vorwiegend der Stoff. Denn der Realismus beugt sich dem Stoffe oder der Natur, dessen oder deren Treue ihm das Ideal ist, welches er zu erreichen trachtet. Er will die Realität noch einmal. Das Publikum will dasselbe, oder wenigstens doch die Realität zum ersten Male, in all' den Fällen, wo die Realität selbst noch ungekannt ist. Es will seine Neu-, im besseren Falle, auch seine Wiss-Begierde befriedigt sehen; deshalb verlangt es Romane aus der Grossstadt, historische Romane, auch Proletarier-Romane u. s. w. Alles soll möglichst wahr sein, damit der gute Leser sich nicht zuletzt betrogen sehe! Man geniesst die Dinge noch einmal, wenn man sie schon kennt, nur will man sie jetzt reiner geniessen; oder man geniesst sie, z. B. das Grossstadt-, Hof-, Demimonde-Leben, ehedem das Land-, Gebirgs-Indianer- und Seeräuberleben, weil man es in natura nicht geniessen kann oder wenigstens noch nicht genossen hat. –

Oder der Dichter schreibt und soll schreiben, um sein Volk zu bessern, um auf bessere Staatsformen hinzuwirken; d. h. er soll ideal sein, sich der Idee beugen. In beiden Fällen ist er passiv, ganz dem Eindruck der Ideen und Dinge dahingegeben, selbst Zweck des Publikums.

In Wahrheit aber dient dem Künstler Stoff und Idee nur zu Mitteln, das Publikum zu Zwecken. Er muss, je grösser er ist, und vor allem als tragischer Künstler, in fortgesetzter Activität sich bewegen.

Der Künstler schafft nicht für das Publikum, und er 171 schafft nicht um des Stoffes willen; und deshalb kann ihm nicht Objektivität in diesem Sinn als die höchste Norm gelten. Aber er bedient sich des Stoffs, er wirkt auf das Publikum, und deshalb muss er die Eigenschaften beider kennen! Sie dürfen ihm unter Umständen Norm werden. Er ist jetzt objektiv, wenn das Geschaffene, Gesehene auch thatsächlich sein Objekt geworden ist; und dann ist die subjektivste Darstellung auch zugleich die objektivste. –

Eine grosse Reihe moderner Kunstforderungen und Kriterien leiten sich einzig und allein aus den erschlichenen Rechtsansprüchen des Publikums her; z. B. die Forderung der poetischen Gerechtigkeit, des versöhnenden Schlusses, der Lebenswahrheit, der Anschaulichkeit u. s. f. Als ob ein versöhnlicher Schluss nicht die erbärmlichste Lüge wäre, wenn der Künstler nicht selbst ein versöhntes und versöhnlich gestimmtes Gemüt hat. Aber kraft welchen Ausspruches muss er das? Wie? Wenn aus der Unversöhnlichkeit seine Kraft, sein Recht und seine Grösse herrührt?! Ein versöhnter Byron z. B.? Ist dies überhaupt noch ein Byron? Wir sind ein so liebreiches Volk, dass wir selbst dem Teufel noch genügend von dieser Liebe abgeben, ihn noch mit dem lieben Gotte versöhnen! –

Hinsichtlich des versöhnenden Schlusses und der poetischen Gerechtigkeit übersieht man gewöhnlich, dass in unendlich vielen Fällen der Künstler selbst ganz indifferent bleiben kann. Er empfand eine Ungerechtigkeit vielleicht gar nicht als Not. Ob es Shakespeare z. B. als »schreiende Ungerechtigkeit« empfunden hat, als er die schuldlose Cordelia elend zu Grunde gehen liess? Ob dergleichen Stimmungen und Gedanken nicht oft auch im Sturm der Leidenschaften verklingen oder an dem ehernen Fels eines starken Charakters zerschellen? Ob der Sturm, vor dem das Vögelchen ängstlich einherflattert, die Not der von ihm aufgestörten Vogel-Existenz empfindet? Man müsste selbst solch ein Vögelchen sein, um die ganze Ungerechtigkeit dieses Vorgangs zu empfinden und dementsprechend die Möglichkeit einer Versöhnung zu ahnen 172 und anzudeuten. Weshalb muss das Vögelchen leiden? Man könnte sich z. B. mit der ewigen Gerechtigkeit also versöhnen: sein Loos würde einmal einem müssigen deutschen Schriftsteller zum Gleichnisse dienen, um das Problem der Gerechtigkeit selber tiefsinnig zu beleuchten! Das wäre zum Ueberfluss noch eine idealistische Betrachtung der Sache, nämlich unter dem Gesichtspunkte einer Idee! Ueberhaupt weshalb leiden die Menschen? Damit die Philosophen tiefsinnige Gedanken über dieses Leiden auf den Markt bringen können! Auch darin liegt Versöhnung. Doch will ich nicht sagen, dass damit die Sache völlig »ausgeschöpft« sei: Ich muss doch eine Gouvernante um Rat fragen! Alsdann werd' ich schon noch einmal auf die ganze Angelegenheit zurückkommen! –

Jetzt aber will ich wieder einlenken in das Thema, das uns beschäftigt: weshalb und wozu schaffen die Künstler?

Auch um des Werkes willen arbeiten sie nicht. Das ist ihnen keineswegs Selbstzweck. Wo's das wird, da wird der Künstler zu Schanden. Er verarmt sich zu Gunsten seines Werks, wie dies zweimal, von einem deutschen und einem französischen Romancier ergreifend dargestellt ist (von Zola in »L'Oeuvre« und von Gottfried Keller im »Grünen Heinrich«).

Der Künstler befreit sich von dem Werke oder dem Objekt, indem er jenes schafft, dieses darstellt, nicht, wie man sich heut einbildet, das Werk oder die Realität von sich, von seiner Subjektivität. Weil er sich hindurchringt durch die Natur, weil er der verwirrenden Fülle, des Chaos Herr werden will, weil er all das Erdrückende seiner Empfindungen los werden muss, oder weil er »erschaffend nur genesen« kann, weil er Alles hinwegthut, was das Schiff seines Geistes allzusehr beschwert und niederdrücken möchte, kurz weil er allzusehr »belastet« ist und unterzugehen fürchtet, deshalb eben schafft er. Wer weiss, ob nicht erbliche Belastung das Hauptmotiv zum künstlerischen Schaffen ist! Wenigstens steht es mit dieser Hypothese nicht in Widerspruch, dass die sogenannten »Blüteperioden« der Kunst 173 überall dann erscheinen, wenn sich in einem Volke zu grosse Massen von Bildungsstoffen, zu viel Leidenschaften, innere und äussere Gefahren angestaut haben.

Aus dem Schutte veralteter Culturen springen dann die Fontänen der Kunst, und zwar analog dem physischen Gesetz, um so höher und prachtvoller, je tiefer die Quellen verschüttet gewesen sind; und je tiefer die Sonne noch im Osten steht, und je häufiger die Morgenröte die Strahlen des Springquells mit ihrem glutroten Schein durchbricht, um so farbenprächtiger und ergreifender wird das Schauspiel.

Hieraus leitet sich denn – das eine Quelle für die Tendenz in der Kunst – die Vorliebe der ernstesten unter den Dichtern für die analytische Compositionsweise her. Was Wunder auch! Der belastete Dichter sucht sich zu entlasten. Er ist immer der Schuldige und Held seiner Schöpfungen zugleich. Wenn schon keine andere, die Tendenz der Rechtfertigung spricht aus jedem tragischen Kunstwerk.

Alle tragische Kunst ist im letzten Grunde nichts als ein Versuch, sich zu rechtfertigen, dass man überhaupt geboren ist! Und gewöhnlich noch überdiess das Unvermögen dazu.

So ist es auch bei den Modernen, nur bei diesen passiver und negativer. Ihre Helden sind negative Helden, aber deshalb nicht weniger Helden; denn jene wissen noch eigentlich mehr, besser und genauer, was sie nicht wollen. Es sind Helden der Komödie. Die Tartüffe und Hjalmars sind beides Ideale von Charakteren, die der Dichter ganz besonders mit seiner Liebe und Hochachtung bedacht hat. –

Hat ein Volk erst seine grössten politischen Thaten gethan, dann rafft es sich noch einmal, aber nur zu einer Reflex-That zusammen, und schafft sich nun zu einem Volk von Künstlern. Hat es diese That vollbracht, dann bringt es dasselbe nur noch zu einem Reflex der Reflexe, d. h. zu einer Wissenschaft von sich.

Das Kunstwerk ist also keineswegs der Zweck des 174 Kunstschaffens. Es ist nicht einmal das Beste am Künstler. Es ist das, was er von sich stösst, der Ballast seines Geistes, seine Seelen-Sekremente, oder wenn dies schöner klingt: die Flamme, die entsteht, wenn der Exclusiv-Stoff in ihm sich entzündet hat. Dass diese Flamme nun wieder Leuchte einem kommenden Geschlechte wird, ist aber erst die Folge und nicht die Ursache des Kunst-Schaffens. Seinem eigenen Zeitalter wenigstens gereicht der Künstler nicht zur Freude. Der tragische Künstler bedeutet jedenfalls immer die grosse Not und Gefahr seines Volkes; – und von dem tragischen Künstler rede ich in diesem Buche, wenn auch nicht allein, so doch in erster Linie. Er ist jedesmal der Ausgangspunkt der Kunst und deshalb für die theoretische Betrachtungsweise der wichtigste.

Kurz, um dies Alles in ein Wort zusammen zu ziehen: Die Kunst ist die Flamme, in der sich ein Volk oder ein Zeitalter selbst verbrennt; die Wissenschaft die Totenfakel, die zur feierlichen Bestattung der letzten Aschenreste angezündet ist.

Und ist dem so, was ist denn aber das Geschaffene? Was schafft der Künstler, wenn sein Werk nur ein Effekt seines Schaffens ist? Er schafft sich selbst, aus sich einen neuen Menschen, und mit sich sein Volk und mit seinem Volke seine Zeit –, d. h. eine neue Zeit. Das Schauspiel des Vogel Phönix.

Zweck und Absicht ist weder das Werk noch die Form, noch der Stoff und die Idee. Zweck und Absicht ist der Mensch selber, er ist die geheimste, die eigentliche Hinter-Absicht.

Die neue Aesthetik wird sich daran gewöhnen müssen, den Künstler auf diese seine Hinter-Absicht hin sich anzusehen; d. h. die nette Aesthetik wird Psychologie. 175

 


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