Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vorwort.

Ein Autor, der sein Buch abschliesst, das er nicht allein geschrieben, das er gelebt, erfahren, geschaffen hat, nimmt von einer Lebensperiode Abschied. Er hat sich neu gehäutet. Ein Stück Leben liegt hinter ihm. Alles erscheint ihm anders. Und merkwürdig, jetzt wird er zur Rechenschaft gezogen für Das, was er hinter sich hat. Jetzt wird er eingeschworen auf Etwas, das er abgeschworen hat, indem er es schuf. Hier liegt ein Problem, das bisher noch niemand erkannt hat. Ein Stoff für Tragiker: Ein Autor z. B., der Erfolg hat, und durch den Erfolg in Lebensphasen zurückgeworfen und wieder eingezwängt wird, die er gerade durch sein Werk hat überwinden zu können gehofft.

Ein Autor, der ehrlich ist, müsste seinem Buche einen Epilog nachschicken, in dem er ihm selbst widerspricht. Jedes Werk hat nur einen zuständigen Kritiker und gefährlichsten Feind: den Autor selbst.

Offen gestanden: Ich bin ganz froh, dass ich der Autor des vorliegenden Buches bin. Denn somit bin ich es wenigstens gewiss, dass ich es niemals werde kritisieren müssen. Und das ist immerhin schon ein Glück für mein Buch. Einen härteren und vielleicht grausameren Beurteiler wird es gewiss niemals finden. VI

Kann man bescheidener sein ? – Bescheiden freilich nicht in dem Sinne der Philister! – Kann man skeptischer sein? Und kann man ehrlicher sein?

Und wenn ich Alles in Allem sage: Ich halte mich ein wenig zu gut und ein wenig zu schlecht, und beides zu gleicher Zeit, um mich zum Propheten oder Führer aufzuspielen. Ich habe kein Talent zum Proselyten-Macher – insofern unterscheide ich von allen meinen »Genossen.« Ich kann mich nicht selbst zum Besten halten. Ich möchte gern mir und meinen Lesern ein klein wenig die Freiheit erhalten.

Kurz: ich behaupte nicht, den Stein der Weisen gefunden oder den Weg des Heils entdeckt zu haben. Die unanständige Manier vorlauter Programmredner und dummschlauer Pfiffikusse ist jedenfalls nicht die Tugend, die mich ziert.

* * *

Und jetzt mein Büchlein geh' deinen Weg und suche dir deine Leser; Leser, die geneigt sind, dich so zu lesen, wie du geschrieben bist, d. h. im Genuss. Nicht stumpfsinniges Lesevieh, das Buch auf Buch herunterwürgt, nicht Berufs- und Geschäftsleser, die nur jedes theoretische Buch sich daraufhin ansehen, wie sich sein Verfasser zu der und jener Frage stellt, wem er Recht giebt und sich anschliesst, wie College A und Freund B hier wegkommt, und was über den Roman X und das Drama Y gesagt ist.

O, die werden sich Alle getäuscht finden! Es ist kein System in diesem, Buch, so wenig System, als im Leben selber ist, auch im litterarischen und geistigen Leben nicht. Ich habe mich nicht verpflichtet gefühlt, der Reihe nach Alles durchzugehen und Alle, »die hier genannt sein wollen.« Es ist kein Buch der Propaganda, und ein VII Nicht-Genannt-Werden bedeutet hier kein Totgeschwiegen-werden-Sollen.

Vielleicht sind hier Wege gebahnt, Hypothesen gestellt, Probleme angedeutet und Brücken geschlagen, deren Ausbau noch einige Generationen wird zu beschäftigen haben. Es ist das Buch eines Menschen, dem plötzlich Alles zum Probleme geworden ist, der an jedem Werke gelernt hat, der mit jedem Tage neu sehen gelernt hat und in jedem neuen Sonnenlichte neu seine Hirngespinnste hat erschimmern lassen. Und wenn ihn etwas besonders beschäftigte, dann setzte er sich hin und zeichnete auf, was ihn bewegte; d. h. er versuchte es aufzuzeichnen; denn ich selbst bin noch der Letzte, den seine eigenen Sachen befriedigen sollen!

Vielleicht verfolge ich das noch Alles einmal in Ausführungen gründlicher, gelehrter, pedantischer. Vielleicht verarbeite ich noch einmal den ungeheuren Ballast des Materials, den ich in dicken Büchern und kleinen Heften, den ich mir in ausführlichen Analysen, Aphorismen und seitenlangen Zitaten aufgespeichert habe. Vielleicht werde auch ich noch einmal vernünftig!

Vielleicht?!

Doch was sollen alle diese Vielleichts! . . .

* * *

Es erübrigt nur noch, dass ich ein Wort über die Entstehungsgeschichte des Buches sage. Und ich thue auch dies nur, um mich vor gewissen Vorwürfen zu bewahren. Sein Geburtsjahr ist volle sechs Jahre zurückzudatieren; oder noch länger, ich weiss es nicht mehr. In den grösseren Teilen abgefasst wurde es im Sommer 1888. Einige Abschnitte sind älter, Vieles auch weit jünger. Es ist nie mehr als ein paar Seiten in einem Zuge geschrieben, und VIII zwischen zwei auf einander folgenden Abschnitten liegen meist Wochen, oft Monde und manches Mal Jahre, und in den seltensten Fällen sind sie in der Reihenfolge entstanden, in der sie hier im Druck vorliegen. In Folge des ist auch die Terminologie nicht immer ganz einheitlich. So habe ich z. B. die anfangs festgestellte Definition des Begriffes »Realismus« späterhin nicht immer eingehalten. Einige Kapitel sind sehr lückenhaft ausgefallen, wie ich selbst am besten weiss; vor allem bedaure ich es, dass die formale Seite des Naturalismus nicht ausführlicher ausgefallen ist, so wie ich diese Frage heute zu beschreiben im stande wäre. Doch beabsichtige ich, sie noch einmal in eigenen Schriften weiter auszuführen und die einzelnen Dichter und Gebiete besonders zu behandeln. – Allein ich gebe ja wie gesagt, gar keine geschlossenen Abhandlungen. Das sind hier nur aufgefangene Empfindungen nach der Lectüre, verkürzte Kritiken, durchkreuzte Theorien und plötzlich begriffene Zusammenhänge von Alt und Jung, ein bischen angewandte Seelen-Taucherkunst, unkeusche Aufdeckung von Dichter-Toiletten-Geheimkünsten und boshafter Verrat litterarischer Diplomaten-Kniffe, – für ein theoretisches Werk vielleicht ein wenig zu pikant. Vieles ersonnen auf einsamen Spaziergängen und zusammenertüftelt und niedergekrietzelt in flüchtigen Mussestunden und Zwischen-Stationen, wenn ich in den Mittagspausen oder in tiefer Nacht eingehüllt in der würzigen Wolke der Aegyptischen meinen verwegensten Träumen nachspintisierte. Kurz ein Werk des Nichts-Thuns, ein Kind der Liebe . . . Und deshalb gerade ein ernstes Geschöpf, und – wenn mich meine Vater- und Autoren-Eitelkeit nicht täuscht – auch ein lebensfähiges . . . .

Berlin, im Dezember 1891.

L. B.

 


 


 << zurück weiter >>