Henry Benrath
Ball auf Schloß Kobolnow
Henry Benrath

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Etwa eine Stunde nach Yvonne Pavarts Entlarvung, als die laute Bewegung sich etwas gelegt hatte, als die vielen Fragen an mich endlich verstummt waren, gelang es mir, mich in eine verlassene Ecke des großen Wohnzimmers zu flüchten, dem man längst wieder sein eigentliches Aussehen gegeben hatte. Es hatte sich meiner jene quälende Gereiztheit bemächtigt, welche manchmal Herzschwächen vorauszugehen pflegt: jenes müde Überwachsein, das heiße Ohren und Augenlider macht – und ich konnte das Gefühl nicht los werden, daß sich ein Anfall heimlich vorbereitete. Ich mochte nicht rauchen und nicht trinken: Ich saß und starrte in den Kamin, wo ein paar Holzscheite verkohlten. Plötzlich stand der kleine Anton neben mir. Er schaute sich um, zog einen Umschlag aus der Tasche und gab ihn mir rasch.

– Von dem Grafen Solduan.

Ich sah den Jungen an . . .

– Was ist?

– Ich weiß es nicht, Herr Benrath. Ich spüre nur: es ist etwas.

– Wo hat Ihnen Graf Solduan diesen Brief gegeben?

– Im Arbeitszimmer des Barons von Lagosch.

– Hat es jemand gesehen?

– Nein. Er hat mir Schweigen geboten und gesagt, daß er spazieren geht. Er könne es hier unten nicht mehr aushalten.

– Haben Sie Baronesse von Berry gesehen? 246

– Ja.

– Wo?

– Sie hat sich eben zum Bridgespielen gesetzt.

– So . . . Spielt Baronin Lagosch auch Bridge?

– Ich habe sie bis jetzt nicht gesehen . . .

– Wo ist denn Graf Rizzoni?

– In der Halle, mit Graf Sennewitz, Herrn von Elten und einigen jungen Damen.

– Danke schön, Anton. Kommen Sie noch einmal in zehn Minuten hier vorbei. Ich brauche Sie vielleicht . . .

– Ich finde, daß Herr Benrath sehr blaß aussehen.

– Das mag sein. Ich fühle mich nicht sehr wohl . . .

– Darf ich Herrn Benrath irgend etwas bringen?

– Nein, danke. Nicht im Augenblick.

Anton verneigte sich, wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen:

– Ich bitte um Verzeihung, wenn ich noch einmal damit anfange: Herr Benrath wollen mir gar nicht gefallen, Herr Benrath sind sehr verändert . . .

– Machen Sie sich keine Sorgen, Anton. Sollte ich nicht in Ordnung sein, werde ich Sie rufen . . . Sie sollen sich dann um mich kümmern . . .

Anton ging.

Ich öffnete rasch den Brief. Solduan schrieb: »Ich komme nicht mehr herunter. Wenn man Sie nach mir fragt, sagen Sie bitte, ich sei spazierengegangen. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mich später in 247 Ihrem Zimmer finden. Ich nehme an, auch Sie werden nicht mehr allzulange unten bleiben. Auf bald. M. S.«

Ich schob den Brief in die Tasche, denn vom Speisesaal her kamen Augusta und Tosia in das Zimmer. Es war klar, daß sie jemand suchten. Als sie mich gewahrten, wollten sie wieder fortlaufen, aber ich kam ihnen zuvor:

– Na – warum so eilig? Warum auf der Flucht vor mir?

Sie wurden verlegen.

– Suchen Sie jemand?

– Ja, sagte Tosia. Wir suchen den Grafen Solduan. Es ist Damenwahl, und wir wollen mit ihm tanzen.

– Solduan ist spazierengegangen.

Die Mädchen sahen sich an.

– Aber sein Pelz hängt ja in seinem Zimmer, platzte Augusta heraus.

– Woher wissen Sie das?

– Weil wir eben oben waren. Wir wollten ihm einen kleinen Streich spielen, und sind in sein Zimmer gegangen.

– Welchen Streich?

– Wir wollten ihm –

– Ach was, unterbrach Augusta, du mußt auch unsere Witze nicht preisgeben, Tosia . . .

– Ich glaube nicht, daß Michael heute abend der Kopf nach Witzen steht, sagte ich.

Wieder sahen sich die Mädchen an. 248

– Wenn er spazierengegangen ist, müßte er den Mantel eines anderen Herrn angezogen haben, bemerkte Augusta.

– Das ist möglich. Er ist sicher draußen, denn er hat mir gesagt, daß er an die Luft geht. Wenn er zurückkommt, werde ich ihn zu Ihnen schicken.

– Ach ja, bitte, sagte Augusta.

Dann gingen beide durch das Speisezimmer davon. Ich wollte aufstehen und ebenfalls fortgehen, als Laura von ihrem Zimmer her in den leeren Raum trat. Sie sah mich zuerst nicht, blieb am Fenster stehen, schaute vor sich hin, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, und ging weiter.

– Ach Gott, Henry, rief sie, was habe ich mich erschreckt! Ich vermutete Sie nicht hier . . . Was machen Sie hier so ganz allein?

– Ich ruhe mich etwas aus.

– Das verstehe ich. Sie sind sehr müde? Ja? Sie wissen, daß Sie zu jeder Minute entschuldigt sind, wenn Sie lieber schlafen gehen wollen . . .

– Tausend Dank, liebe L,aura. Ich werde vielleicht von Ihrer Nachsicht Gebrauch machen . . .

– Haben Sie eine Ahnung, wo Michael steckt?

– Er ist hinausgegangen, wie er mir sagen ließ . . .

– So . . . aber warum ließ er mir das nicht auch sagen?

– Ich nehme an, er wollte sich französisch verabschieden. Sie wissen, daß er niemals lange auf einem Balle bleibt. 249

– Ich weiß gar nichts mehr, Henry. Ich weiß vor allem nicht mehr, wer mir die Wahrheit sagt und wer mir etwas vorlügt.

– Die Wahrheit nicht sagen, heißt ja noch nicht, Ihnen etwas vorlügen . . .

Sie ließ sich neben mich in den Diwan fallen.

– Ich habe mindestens dreimal versucht, mit Michael in ein Gespräch über ihn und mich zu kommen. Er weicht mir mit einer Hartnäckigkeit aus, die fast beleidigend ist.

– Liebe Laura, es ist doch nur Rücksicht auf Sie, wenn Michael heute, wo Sie die ganze Last der Hausfrauenpflichten auf sich haben, großen Auseinandersetzungen aus dem Weg geht . . .

– Was sagen Sie da: Rücksicht auf mich? Was soll er mir denn so Schreckliches zu sagen haben, wenn er mich heute – schonen muß?

– Wer spricht denn von schonen?

Langes, quälendes Schweigen . . .

– Haben Sie gemerkt, was sich da zwischen Gisela und Alexander von Renken anspinnt? fragte Laura unvermittelt.

– Ich glaube nicht, daß sich da etwas anspinnt. Ich glaube, daß da etwas ist.

– Was? Was ist da?

– Eine ausgesprochene und durchaus begreifliche Neigung.

– Eine ernsthafte Neigung, meinen Sie? 250

– Aber was denn sonst?

– Ja – aber was soll denn daraus werden?

– Irgend etwas von dem, was aus Neigungen zu werden pflegt . . . Muß man denn das alles schon im voraus wissen?

– Warum sind Sie denn so gereizt, Henry?

– Ich bin nicht gereizt. Sie sind es. Weil Sie in einer unfruchtbaren inneren Abwehrstellung gegen Selbstverständlichkeiten sind.

– Vielleicht haben Sie recht. Wahrscheinlich haben Sie wieder einmal die Formel gefunden . . . Gute Nacht, Henry, ich nehme nicht an, daß ich Sie heute noch sehe. Sie werden schlafen gehen. Sie sehen sehr, sehr müd aus. Ich werde noch Bridge spielen. Um halb drei wird Schluß gemacht. Wenigstens mit dem Tanzen. Sollten Sie zufällig Michael noch sehen, so sagen Sie ihm bitte, daß ich . . . ja, sagen Sie ruhig, daß ich mich – gewundert habe.

Sie ging. Aufrecht. Festen Schrittes. Wie eine Lagosch geht.

Auch ich verließ das Zimmer. Wie ich gerade die Diele durchquerte, um mich gegen die Treppe zu wenden, sah ich Augusta und Tosia in Begleitung von Scheer und Knippisch in den Park hinausgehen.

Das Treppensteigen machte mir große Beschwerden. Kleine, böse Stiche drängten gegen die Herzgrube.

Ich ging in mein Schlafzimmer, das in tiefem Dunkel lag. Nur in dem Verbindungsraum, der es von dem 251 Wohnzimmer trennte, brannte eine kleine Stehlampe, deren Licht durch ein über den Schutzschirm gelegtes Seidentuch zwiefach herabgedämpft war. Auf der Matratze, die man für Wladimir als Bett zurechtgemacht hatte, saß Graf Solduan, die Ellbogen auf die Knie und die Schläfen in die Hand gestützt. Er hatte mein Kommen überhört und fuhr in die Höhe, als er mich gewahrte.

– Habe ich Sie sehr erschreckt? fragte ich.

– Nein . . . Ich war nur so weit von hier fort . . . Wie sehen Sie denn aus, Henry?

– Mir ist es nicht gut. Machen wir kein Aufheben davon. Ich lege mich sogleich zu Bett – und Sie bleiben bei mir, solange Sie wollen – sofern ich nicht vor Ihren Augen einschlafe.

– Was ist Ihnen denn?

– Nichts. Eine kleine Übermüdung, die sich auf das Herz geschlagen hat . . . Sagen Sie mir lieber, was Ihnen ist . . .

– Wenn Sie liegen . . .

– Nein, ich möchte es gleich wissen.

– Haben Sie Augusta und Tosia gesehen?

– Ja. Sie sind eben in den Park gegangen . . .

– Um mich zu suchen . . .

– Möglich. Was wollen sie denn eigentlich von Ihnen?

– Ich weiß es nicht recht. Sie umlauern mich schon den ganzen Abend. Sie schnappen jedes Wort auf, das 252 ich sage, und sind mir immer auf den Fersen. Sie umlauern auch Blanche. Deshalb habe ich Blanche gebeten, bis zum Schluß des Festes bei Laura zu bleiben. Nun wissen Sie aber immer noch nicht, warum ich mir erlaubt habe, in Ihre Zimmer zu gehen – und ganz besonders in dieses . . .

– Doch, Michael. Ich weiß es: Sie wollen vor jeder Aufstöberung sicher sein. Sie wollen allein sein. Denn Sie haben Dinge durchzudenken, welche . . .

– Ja, Henry . . . Dinge, welche – um mich eines Wortes aus Ihren »Sonetten« zu bedienen – »in ihre Stunde eingetreten sind« . . . Sehen Sie: hier vermutet mich niemand. Auch Laura nicht. Dieses Zwischenzimmer hat keinen besonderen Ausgang nach dem Flur, also kann man kein Licht in den Türspalten erkennen. Wäre ich in meinem Zimmer geblieben, hätten mich diese kleinen Mädchen wahrscheinlich fortwährend gestört. Sie wissen, wie das ist. Sie sehen in mir noch den kleinen Leutnant, der vor drei Jahren mit ihnen auf allen Bällen der Provinz tanzte. Sprechen hätte ich da mit niemand können: denn man hört in dem anstoßenden Zimmer Augustas jedes Wort. Und ich habe noch zu sprechen heute nacht. Ich habe Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten. Fallen sie so aus, wie ich sie mir wünsche, so hat dieser Tag über viele Jahre meines Lebens entschieden. Fallen sie anders aus, so muß ich mich bescheiden. Sie verstehen, Henry, daß ich nicht unten bleiben konnte. 253

– Ja, ich verstehe Sie, Michael . . . Wenn uns diese Stunden rufen, in denen sich – unverhofft –der Sinn unseres Lebens zusammenballt, so haben wir ihnen zu gehorchen und alle – alle – Rücksichten schweigen zu lassen. Wir brauchen nicht zu verletzen: aber wir müssen unerbittlich dem Wesentlichen vor dem weniger Wesentlichen den Vorrang geben . . .

– Glauben Sie, daß Laura begreifen wird?

– Warum sollte sie es nicht begreifen?

– Weil sie nur wenig weiß von den Dingen des menschlichen Herzens. Sie hat den Graben noch nicht übersprungen. Sie denkt noch in Normen, die es nicht gibt. Sie weiß nichts von dem ewigen Fluß unseres inneren Lebens, von seinen Bezüglichkeiten und seinem Dunkel. Sie rechnet, wie unsere schlichten und bedürfnislosen Großeltern, noch mit ganzen Zahlen. Wir alle, wir von heute, rechnen mit Brüchen. Vielleicht werden die Nächstfolgenden wieder mit ganzen Zahlen rechnen.

– Haben Sie denn nie versucht, ihr diese Dinge verständlich zu machen?

– Damals, als es möglich gewesen wäre, waren mir alle diese Erkenntnisse noch nicht so vertraut, daß ich sie einem anderen menschlichen Wesen hätte übermitteln können. Nachdem ich aber einmal von ihrer unbedingten Gültigkeit für mich überzeugt war, erschien es mir unmöglich, sie weiterzugeben. Denn nur, wer sie aus sich selbst heraus besitzt, kann auch die Schlüsse verstehen, die ein anderer aus ihnen zieht. 254

– Ja, ja. Wenn etwas richtig ist, so ist es dieses . . . Und sehen Sie, Michael: hier ist wieder begründet die unerschütterliche Wahrheit, daß nur das Gleichgeartete sich zu schönem Leben verbinden kann . . .

– Sei es ganzer, oder sei es gebrochener Wert . . . Besser gesagt: möge man es als diesen oder als jenen empfinden . . .

– Ja . . . Zu schönem Leben, Michael. Aber auch zu schönem – Leid.

– Horch! sagte Michael, den Kopf reckend und lauschend . . . Hören Sie die Schritte auf dem Korridor? Ich wette, das sind wieder die Mädchen . . .

– Schließen Sie die Tür nach meinem Schlafzimmer. Ich werde in mein Arbeitszimmer gehen und nachsehen, was es gibt.

Als ich eben dort Licht gemacht hatte, wurde ganz leise die nach dem Korridor führende Tür geöffnet, hinter der ich mich verborgen hatte, und Augusta und Tosia schlichen herein . . .

– Kein Mensch, sagte Tosia. Aber warum brennt denn hier Licht? . . .

– Die Tür zum Nebenzimmer ist zu, sagte Augusta.

– Ach, das ist ja nur eine Art Ankleidezimmer. Da ist jetzt bestimmt niemand. Wenn er nicht hier oben bei Benrath ist, dann können wir uns jede weitere Mühe sparen . . . Eine tolle Geschichte, was?

– Allerdings, sagte ich. 255

Die Mädchen schrien auf . . . starrten sich vor Entsetzen an, und konnten sich nicht vom Platz bewegen.

– Suchen Sie immer noch den Grafen Solduan? fragte ich.

Keine Antwort.

Ich schloß leise die Tür.

– Wollen Sie sich nicht setzen?

Keine Bewegung . . . Keine Antwort.

Schließlich brachte Tosia hervor:

– Mein Gott, Herr Benrath, was mögen Sie von uns denken?

– Daß Sie sich die Freude an diesem schönen Fest verderben . . . Was kann uns allen daran liegen, wo Graf Solduan ist, da er jedenfalls doch keinen Wunsch verspürte, in unserer Gesellschaft zu sein?

– Ja gewiß . . . aber irgendwo muß er doch sein! sagte Augusta hastig.

– Sicherlich. Zu Luft kann er sich ja nicht verflüchtigt haben . . .

– Ich möchte aber aus einem ganz bestimmten Grunde wissen, wo er ist, trotzte Augusta.

– Das glaube ich Ihnen. Ich rate Ihnen aber, die Art Ihres Suchens zu ändern. Vor geschlossenen Zimmertüren würde ich an Ihrer Stelle haltmachen. Ich möchte jetzt schlafen gehen und bitte Sie, mich zu entschuldigen. Auch bitte ich Sie sehr, mich hier oben nicht mehr aufzuscheuchen. Ich bin sehr müde. 256

– Sie werden nichts verraten? bettelte Tosia. Bestimmt nicht?

– Ich verrate niemals Dritten, was ich Zweiten sagen konnte . . .

– Ich bekomme ja doch heraus, wo der Graf Solduan ist, rief Augusta im Weggehen.

– Viel Glück zur Forschungsreise – und gute Nacht! Ich schloß die Tür von innen ab, als die Mädchen fort waren, und ging zu Michael zurück.

– Es ist unfaßlich, sagte Michael.

– Es grenzt an Krankheit, ergänzte ich.

– Es ist im übrigen bezeichnend für Frauen, fuhr Michael fort, was diese beiden Kindsköpfe da tun. Es ist immer das gleiche. Sie vermuten eine Nebenbuhlerin im Spiel, die sie ausfindig machen wollen; gegen diese bis jetzt unbekannte Größe richtet sich ihre Wut. Nicht gegen den Mann, der ihre Neigung unerwidert läßt . . .

Ich hörte gerade noch die letzten Worte wie in einer Woge undeutlicher Geräusche verebben. Graue und milchige Schleier gingen vor meinen Augen nieder – ein quälender, malmender Schmerz griff um den Herzmuskel.

Michael fing mich auf.

– Niemand rufen, sagte ich im Auslöschen . . . niemand rufen. Ich habe alle Mittel bei mir.

Nach zwei Minuten war ich wieder zu mir gekommen. Michael hatte mich auf Wladimirs Bett niedergelegt, 257 Krawatte und Kragen fortgenommen und mir die Schläfen mit Eau de Cologne eingerieben.

– Soll ich Alexander von Renken heraufrufen? fragte er erregt.

– Um Gottes willen, nein! Das ganze Fest würde ja aufgestört werden. Die Hauptsache ist vorbei.

– Henry, Sie sind weiß wie ein Blatt Papier.

– Kein Wunder. Die Klaue in meiner Brust hatte auch nicht schlecht zugegriffen . . . Bitte, ziehen Sie mich hoch. So, danke. Ich werde jetzt in mein Bett gehen, mein Beruhigungsmittel nehmen und in wenigen Minuten eingeschlafen sein . . .

Ich ging in mein Schlafzimmer, auf den Arm Michaels gestützt, der immer noch ganz benommen war.

– Haben Sie diese Anfälle oft?

– Nein. Sie sind auch nicht schlimm. Sie sind sehr lästig und in ihren Nachwirkungen unangenehm. Man ist meistens am nächsten Tage noch erledigt.

– Soll ich Anton herbeischellen?

– Nein. Ich brauche nichts und niemanden.

– Sie werden doch nicht etwa annehmen, daß ich Sie heute nacht hier allein lasse . . .

– Halten Sie das wie Sie wollen, Michael. Ich weiß nicht, wann Wladimir heraufkommt. Wenn ich einmal schlafe, bin ich bis morgen früh versorgt . . .

– Und wenn die Sache wiederkommt?

– Das war noch nie der Fall. Aber es könnte ja natürlich einmal der Fall sein . . . 258

– Ich werde mir mein Pyjama herüberholen . . .

– Das werden Sie nicht tun. Sie müßten ja über den Korridor . . . Man kann nicht wissen, wo sich die törichten Mädchen herumtreiben. Nehmen Sie sich ein Pyjama aus meinem Schrank. Es ist ja nicht nötig, daß man weiß, wo Sie waren. Kissen und Decken gibt es genug auf dem Diwan hier . . . Und Wasser genug im Badezimmer . . .

Während ich mich entkleidete, kam Wladimir. Michael schloß hastig die Tür hinter ihm und legte den Finger auf den Mund. Dann zog er ihn fort in den Nebenraum . . .

Ich hatte mich etwas erfrischt, eine starke Dosis meines Mittels genommen und mich zu Bett gelegt.

Michael und Wladimir kamen zurück.

– Es sind zwei, die sich in die Wache für Sie teilen, sagte Wladimir.

– Es braucht niemand für mich zu wachen. Wenn Sie sehen, Michael, daß mein Schlaf dauert, denken Sie an den Ihren. Und wenn Sie in Ihr Zimmer zurückgehen, nehmen Sie den Weg durch mein Arbeitszimmer. Gehen Sie erst von dort aus auf den Korridor . . .

Michael lächelte:

– Wie Sie Kobolnow Rechnung tragen.

– Kobolnow? erwiderte ich. Nein . . . Nicht Kobolnow . . . sondern . . .

– Sondern? 259

– Geben Sie sich selbst die Antwort . . . Ich hoffe, Sie werden die richtige finden . . .


Gegen sieben Uhr morgens, nach fünf Stunden ruhigen Schlafes, wachte ich auf. Eine verhüllte Lampe brannte in goldbraunem Licht auf dem Toilettentisch. Ich konnte, unendlich schwach im Körper und etwas wirr in den Gedanken, nicht sogleich begreifen, wo ich war und was sich ereignet hatte. Dann entsann ich mich. Mein Blick fiel auf den Diwan. Er war leer. Die Tür zum Vorraum war weit geöffnet. Auch drüben brannte noch die gedämpfte Lampe. Ich stand auf, fuhr mir mit dem Schwamm über das Gesicht, kämmte mich, nahm etwas Eau de Cologne, und wollte eben in das Vorzimmer gehen, als Wladimir im Türrahmen erschien. Seine Augen waren übernächtig, übergroß . . . Er starrte mich an . . . Ich fühlte, daß die grauen Schleier wiederkamen und hielt mich am Geländer meines Bettes . . .

– Henry, rief Wladimir, Henry . . . geht es Ihnen wieder schlecht?

Und er war an meiner Seite.

– Nein, Wladimir. Ich bin nur sehr schwach. Aber es geht mir viel besser . . . Schlafen Sie denn nicht?

– Doch. Ich habe geschlafen. Mein Schlaf ist leise . . . Ich hörte, daß Sie sich regten . . .

– Wo ist denn Michael? 260

– In seinem Zimmer. Er ist kurz nach vier Uhr hinübergegangen.

Ich legte mich in die Kissen zurück. Wladimir setzte sich auf den Bettrand neben mich. Plötzlich hielt es ihn nicht mehr. Er ließ seinen Kopf gegen meine Schulter gleiten . . .

– Henry, Henry: ich habe wieder eine Heimat und eine Hoffnung: Michael hat mir einen Gutshof seines ungarischen Besitzes geschenkt . . .

– Es geschehen auch heute noch Wunder, Wladimir.

– Ja, sagte er leise, die tränengefüllten Augen gegen mein Gesicht hebend, es scheint, es geschehen auch heute noch Wunder.

 

Als ich wieder aufwachte, war es halb zwölf Uhr. Ich hatte abermals vier Stunden lang tief und traumlos geschlafen, aber die Natur hatte sich noch nicht in ihre gewohnten Geleise zurückgefunden. Mein Leben schien mir aus sich selber fortgerückt, schien, fern vom Schlage meines Herzens, hinter einer entfernten Nebelwand abzulaufen . . . Was war da nur alles gewesen? fragte sich mein mühsames Erinnern – – und die Augen schlossen sich wieder über den durcheinander taumelnden Bildern . . . So ging es mir mehrere Male. Aber mit jedem Male rückte das Verblaßte näher, nahm deutlichere Umrisse an – und wurde plötzlich wieder Wirklichkeit von fast unheimlicher Schärfe, als ich den 261 kleinen Diener Anton erkannte, welcher neben meinem Bette stand und auf mich niederschaute.

– Guten Morgen, sagte er. Jetzt haben Herr Benrath aber tüchtig geschlafen – und sehen wieder ganz anders aus als gestern abend.

– Guten Morgen, Anton . . . Wie kommen Sie denn hierher?

– Ich bin schon zwei Stunden hier. Frau Baronin hat mich von jedem anderen Dienst befreit und mir gesagt, ich solle mich nur zur Verfügung von Herrn Benrath halten . . .

– So . . . Also weiß man unten, was geschehen ist?

– Ja. Man weiß es seit heute morgen, denn der Graf Rizzoni hat es ganz im Vertrauen der Baronesse Berry und diese hat es der Frau Baronin erzählt. Frau Baronin ist furchtbar erschrocken und hat sogleich den Dr. von Renken heraufgeschickt. Aber da Herr Benrath in tiefem Schlaf lagen, hat Dr. von Renken gesagt, das ist das beste. Er hat nach dem Mittel geschaut, das Herr Benrath genommen haben, und gesagt: gut, gut . . . Als ich ihn fragte, was ich machen soll, wenn Herr Benrath aufwachen, hat er gesagt: einen milden Kaffee geben, etwas Weißbrot und Butter dazu, aber kein Ei und kein Fleisch. Und Herr Benrath soll zu Bett bleiben bis gegen Abend. Und wenn sich dann Herr Benrath immer noch so schwach fühlen, dann will Herr Dr. von Renken ihm eine Spritze geben.

– Wo ist denn Dr. von Renken jetzt? 262

– Ach, die Herrschaften sind doch alle schon auf das Jagdhaus von Herrn von Schwennemann gefahren! Zwölf Schlitten sind gekommen und haben alle abgeholt. Daß Herr Benrath das Schellengeläute nicht gehört haben, beweist, wie tief Herr Benrath geschlafen haben . . .

– Nein, ich habe nichts gehört . . . Was ist denn für Wetter draußen?

– Es schneit. Aber es sieht aus, als ob es sich wieder aufhellen wolle.

– Sind denn alle fortgefahren? Auch Graf Solduan, Baronesse Berry und Graf Rizzoni?

– Ja, alle sind fortgefahren. Graf Solduan und Baronesse Berry wollten zuerst nicht fahren, aber dann hat Frau Baronin gedrängt und gesagt, sie sollen doch mitfahren. Frau Baronin möchte nämlich gerne allein sein und sich ausruhen. Um halb sechs kommen einige der Herrschaften noch einmal zurück, dann soll noch etwas getanzt werden, um neun gibt es ein einfaches Abendbrot und um halb elf soll Schluß gemacht werden.

– Ja, wer ist denn da eigentlich noch hiergeblieben?

– Niemand. Graf und Gräfin Woltersthal sowie Baronesse Malwine und Baronesse Jolanthe sind zum Mittagessen bei Bekannten in Augustenburg.

– Ist denn Baron Eugo auch mitgefahren auf das Jagdhaus?

– Jawohl. Baron Eugo war ganz glücklich, weil ihm alle Leute große Komplimente über das Fest machten 263 und sagten, es sei das schönste gewesen, das man je im Lande gefeiert habe. Baron Eugo hatte nämlich Angst, man könne es etwas zu frei finden! Aber das ist gar nicht der Fall – und alle sagen, der Tag war über die Maßen schön und wird ihnen nie aus dem Gedächtnis kommen. Das war er aber auch!

– Also Sie sind auch zufrieden, Anton?

– Na und wie! So eine Abwechslung tut gut. Auf Schloß Schönfeld habe ich es ja sehr gut, aber es ist doch etwas eintönig, besonders jetzt, wo Herr Benrath abgereist sind . . .

– Machen Sie mir bitte jetzt etwas Kaffee, Anton. Und richten Sie mir ein laues Bad.

– Jawohl, Herr Benrath. Wird es denn aber auch gut sein? Kann es bestimmt nichts schaden?

– Nein . . .

– Ach Gott, daß ich es nicht vergesse: Frau Baronin hat mir ja einen Brief für Herrn Benrath gegeben . . .

Ich las, während Anton an seine Arbeit ging:

»Lieber Henry: Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt. Gott sei Dank sagt mir Renken, daß die Sache zwar für den von ihr Betroffenen sehr unangenehm, aber ohne jede Bedeutung ist. Ruhen Sie sich gut aus und lassen Sie mich durch Anton wissen, wann ich zu Ihnen kommen kann. Ich selbst habe mich ebenfalls hingelegt, bin aber von drei Uhr an zu Ihrer Verfügung, wenn Sie mich wollen und wenn Ihnen das Sprechen nicht zuviel Mühe macht . . . Ich halte Ihnen 264 den Daumen. Tun Sie mir das gleiche. Truly yours L. V« – –

– Erzählen Sie mir doch einmal, sagte ich zu Anton, während ich in das Badezimmer ging, wie der Ball endete . . . Ich weiß ja noch gar nichts.

– Um halb drei hörte die Musik auf zu spielen. Man saß dann noch bis gegen drei zusammen. Graf Sennewitz und Herr von Elten waren die ersten, welche aufbrachen. Nein: Leutnant Bormuth ging schon vorher. Er brachte Fräulein Äscherisch nach Hause. Lenchen Gericke hatte einen kleinen Schwips. Sie machte immerzu Bemerkungen und lachte wie eine Verrückte. Sie ist auf Fräulein Äscherisch eifersüchtig. Zu Herrn von Knippisch hat sie gesagt, die tanzt wie eine alte Kuh. Sonst hatte niemand einen Schwips. Herr von Mottau hat am Pokertisch immerzu von Politik reden wollen, aber Baron Schönfeld hat es immer verhindert. Herr von Meyenburg hat viel gewonnen von Herrn Bentok. Die Baronin Dorwall hat sich noch mit Baronesse Malwine wegen Schweinezucht gestritten. Baronesse Malwine ist sehr grob geworden und hat gesagt, so etwas lernt sich nicht, das muß man in den Fingerspitzen haben. Später hat dann Baron Elsenburg im Herrenzimmer diese Unterhaltung nachgemacht, und Herr von Bleßner hat gesagt, man müsse alle Schweinereien in den Fingerspitzen haben. Oder auch wo anders, hat Herr Bentok gesagt. Aber dann ist Baron Lagosch dazugekommen, und man hat sofort von den 265 nächsten Wahlen zum Landtag gesprochen. Der alte Baron Dorwall ist eingeschlafen im gelben Salon. Baronesse Berry hat immerzu mit Graf Sennewitz getanzt, und Frau von Elsenburg hat gemeint, da spinnt sich etwas an. Baronesse Berry, hat Bankier Wollenkamp gesagt, ist heute einer der besten Partien in Deutschland, aber man wird aus ihr nicht klug. Sie führt die Männer an der Nase herum. So habe sie es mit Baron Poppritz gemacht, mit einem Holländer namens Jjsselmans und mit einem deutschen Botschafter. Aber den Namen wolle er nicht nennen. Baronesse Tuch zur Tenne wollte Pfänderspiele machen, aber die Herren haben sie ausgelacht – und der junge Baron Dorwall hat sie gefragt, was sie denn zu verpfänden habe, ihr Klavierspiel oder etwas anderes . . . Da hat sie geantwortet, es könne doch keiner seine Herkunft verleugnen – und alle haben furchtbar gelacht. Mehr weiß ich nicht.

– Na, das genügt ja auch . . .

– Darf ich Herrn Benrath den Kaffee hinüberbringen?

– Ja, Anton, geben Sie mir gerade einen Schluck und einen Bissen Brot.

– Soll ich Herrn Benrath nachher rasieren?

– Das können Sie auch tun.

– Und wie wollen es Herr Benrath mit dem Mittagessen halten?

– Gar nichts. Eine Tasse Fleischbrühe. Um eins. Ich 266 werde erst heute abend etwas essen. Wann reisen Sie denn eigentlich nach Schönfeld zurück?

– Soviel ich weiß, bleiben die Herrschaften noch ein paar Tage hier. Solange bleibe ich natürlich auch . . . Wenn Herr Benrath gerne von mir bedient sein wollen, dürfte ja wohl ein Wort an Baronin Lagosch genügen . . .

– Das will ich allerdings. Ihnen braucht man nie etwas zu erklären. Sie wissen immer von selbst, was Sie zu tun haben . . . So, jetzt will ich mich abtrocknen – und dann wollen wir rasieren . . .

– Soll ich nicht erst die Läden aufziehen?

– Nein. Das tun wir, wenn ich wieder im Bett bin. Dann können Sie richtig lüften und mir meine Sachen für heute abend herauslegen.

– Herr Benrath wollen aufstehen?

– Ja. So gegen sechs Uhr . . .

– Ich weiß auch noch etwas, sagte Anton, während er mich rasierte. Aber vielleicht sollte ich es Herrn Benrath doch lieber jetzt nicht sagen . . .

– Wenn Sie schon davon anfangen, müssen Sie es auch zu Ende sagen . . .

– Aber Herr Benrath versprechen mir, nicht zu verraten, daß es von mir kommt?

– Selbstverständlich . . . Also was ist es?

– Es hat heute morgen schon eine große Auseinandersetzung zwischen Baronin von Lagosch und Fräulein von Mackenthun gegeben. Frau Baronin hat Fräulein Augusta in ihr Boudoir kommen lassen. 267 Minna hat gerade nebenan im Schlafzimmer aufgeräumt und alles gehört. Baronin Lagosch ist furchtbar aufgeregt gewesen und hat ein paarmal geschrieen: Ich verbitte mir solche Dinge in meinem Haus . . .

– Ja, aber was denn? Was denn?

– Fräulein von Mackenthun hat heute morgen schon in der Küche, denken Sie! und unter den Gästen ausgesprengt, Graf Solduan sei die Nacht über gar nicht in seinem Zimmer gewesen, sie könne es beschwören. Sie habe ihm mit einigen anderen von den jungen Leuten einen Mummenschanz machen wollen – und um vier sei er noch nicht in seinem Zimmer gewesen, obwohl er den Ball schon um zwölf Uhr verlassen habe. Niemand wisse, wo er gewesen sei . . . Man wisse nur, daß er die Krawatte trage, welche Baronesse Berry gehäkelt habe. Und nun raten sie herum, und der eine sagt so, der andere so. Baron Lagosch ist das Geschwätz zu Ohren gekommen. Er war zuerst wütend, aber dann muß ihn wohl Frau Baronin beruhigt haben. Aber Graf Sennewitz hat sich halbtot gelacht, als er von der Sache hörte, und laut ausgerufen: »Ach, das finde ich ja köstlich! Das ist ja der reinste Gesellschaftsfilm! Ball auf Schloß Kobolnow – oder wo war Graf Michael heute nacht.« Aber Herr von Elten hat gesagt, er solle seinen Mund halten und nicht vergessen, daß wir auf Kobolnow und nicht in Paris sind,

– Und wie ist denn das mit der Baronin Lagosch und Fräulein von Mackenthun ausgegangen? 268

– Ach so: Fräulein von Mackenthun hat dann geweint, und Frau von Lagosch hat gesagt, sie könne gehen, und wehe, wenn das noch einmal vorkomme . . . Fräulein Augusta ist fortgegangen, und Frau Baronin ist mit einem hochroten Gesicht in ihr Schlafzimmer gekommen, wahrscheinlich, um sich zu kühlen und zu pudern. Da hat sie die Minna getroffen und ist sehr erschrocken. Was tun Sie denn hier? hat sie gefragt und ob die Minna die Unterhaltung gehört hat. Aber Minna hat gesagt, sie ist eben erst hereingekommen und hat überhaupt nichts gehört. Die Baronin hat sie von oben bis unten angeschaut und ist sogleich wieder in ihr Boudoir gegangen. Aber Minna hat es bestimmt nur mir erzählt, weil sie weiß, daß ich einmal ein Vierteljahr lang Diener bei Graf Michael war, damals, als er nach Polen übersiedelte und jemand brauchte, der etwas Polnisch sprach.

– Haben Sie auch etwas darüber gehört, wo der Graf Solduan gewesen sein soll?

– Nein.

– Ist das wahr?

– Ich schwöre es Herrn Benrath.

– Aber Sie haben mir doch gesagt, daß Vermutungen laut geworden sind?

– Ja. Ein Herr hat gesagt, er habe sich wohl in das Zimmer einer Nymphe geschlichen und sie dort erwartet . . .

– So. Na, anders könnte es ja wohl auch nicht gut gewesen sein. 269

Anton schwieg. Er seifte mich zum zweiten Male ein und rasierte zu Ende, ohne die Unterhaltung wieder aufgenommen zu haben. Während ich mich abtrocknete und puderte, platzte er heraus:

– Solchene Zicken macht Graf Solduan nicht. Graf Solduan weiß, was er will und was er tut.

– Das stimmt, Anton.

– Ich bin nicht vergebens drei Monate bei ihm in der Lehre gewesen. Ich habe in dieser Zeit mehr für mein ganzes Leben gelernt als bei allen Herrschaften, in deren Dienst ich jemals war.

– Auch das mag richtig sein.

Ich legte mich in mein Bett zurück.

Anton zog die Läden hoch, löschte das Licht und öffnete das Fenster. Das Bild verschneiter Tannenbäume trat in das silbergraue Rechteck. Eine wundervoll gelöste und lösende Luft drang in das Zimmer. Kein Ton ringsum. Manchmal das Aufschlagen kleiner Schneemassen, die vom Dach oder von den Ästen abrutschten. Ganz fern ein wenig Rauch über einem Giebel des Dorfes Kobolnow. Langsam fielen die Flocken, langsam und vereinzelt.

– Soll ich das Fenster offen lassen? fragte Anton.

– Ja. Geben Sie mir meine Wolljacke. Ich werde sie überziehen und mir einbilden, ich sei in Arosa . . .

Er half mir in die Jacke.

– Und wann darf ich die Fleischbrühe bringen? 270

– Das werde ich Ihnen sogleich sagen, Anton. Zunächst habe ich etwas ganz anderes auf dem Herzen. Ich möchte mich nämlich einmal mit Ihnen unterhalten.

Anton wurde rot.

– Mit mir?

– Ja, mit Ihnen. Wir haben ja schon manchmal auf Schloß Schönfeld miteinander geplaudert, doch immer nur sehr flüchtig und so nebenbei. Aber diesmal soll es eine richtige Unterhaltung werden.

Anton, den ich nie verlegen gesehen hatte, fand keine Antwort. Er sah mich auch nicht an. Er hatte seine Hände – trotz der vielen groben Arbeit sorgfältig gepflegte Hände – ineinandergeschlungen und den Kopf gegen das Fenster gewendet.

– Kommen Sie einmal hierher, Anton. Setzen Sie sich da auf den Stuhl neben meinem Bett und sprechen Sie nun einmal so offen mit mir, wie einer spricht, der nicht auf den Kopf gefallen ist. Lassen Sie auch die dritte Person beiseite, die bei dieser Unterhaltung gänzlich unangebracht ist, und reden Sie frisch von der Leber weg, wenn ich Ihnen allerhand Fragen stelle. Sie wissen, daß Sie bei mir genau das sagen können, was Sie denken. Sie wissen, daß Sie unbedingtes Vertrauen zu mir haben können.

– Das weiß ich, sagte Anton, während er näher kam.

– Also nun setzen Sie sich . . .

– Wenn aber jemand heraufkommt, Herr Benrath? 271

– So soll er kommen . . . Anton, ich hatte in Schönfeld reichlich Gelegenheit, Sie zu beobachten. Und eben deshalb ist der Wunsch in mir wachgeworden, einmal das Gespräch zu haben, zu dem sich heute die Gelegenheit bietet. Sie haben doch Zeit?

– Solange Sie wollen, Herr Benrath. Und je länger desto besser. Denn Sie werden sich doch denken können, daß ich mir selbst gar nichts Schöneres wünschen kann, als einmal mit Ihnen sprechen zu dürfen. Ich wollte Sie schon einmal darum bitten, aber ich habe nie den Mut gehabt.

– Den hätten Sie ruhig haben sollen. Es macht mir immer sehr viel Freude, wenn sich ein Mensch unmittelbar an mich wendet. Gerade weil ich ja nichts anderes bin als Künstler und es mir also immer nur auf das Menschliche ankommt, auf das Menschliche schlechthin . . . Verstehen Sie, was ich meine?

– Jawohl, Herr Benrath. Das verstehe ich ohne weiteres.

– Na, dann desto besser. Es gibt nichts um mich herum, das mich gleichgültig ließe. Jedes Ding, das ich gewahre, jeder Mensch, dem ich begegne, erweckt meine Neugierde. Ich glaube, daß jeder Künstler ungeheuer neugierig sein muß. Wir lernen niemals aus, Anton, und eigentlich müssen wir jeden Tag von vorne anfangen. Das ist nicht ganz bequem, aber es scheint mir unerläßlich. Bequeme Künstler sind heute mehr denn je belanglos. Denn die ganze Welt ist in Fluß 272 geraten, und die sogenannten Überlieferungen haben einen Schlag erhalten, von dem sie sich nicht mehr erholen werden. Wer das nicht einsieht, ist blind. Wohin der Strom treibt, an welchem Damm er sich vorläufig einmal stauen wird, wissen wir nicht. Wir spüren nur, daß er treibt. Ich beobachte dieses Treiben ab Mitgetriebener. Ich gebe mir Mühe, keinerlei Voreingenommenheiten oder Vorurteile zu haben. Ich weiß nicht, inwieweit mir das gelingt, denn wir können ja oft nicht feststellen, bis zu welchem Grade wir von Dingen abhängen, die heimlich in uns wirken, sich aber unserer Kenntnis entziehen.

– Meine Mutter nennt das Kupaistje.

– Was ist das?

– Meine Mutter sagt, in uns allen ist ein Kerl, der heißt Kupaistje. Und der ist schuld daran, daß wir es so machen und nicht anders. Sie sagt, der weiß alles über uns, viel mehr als wir selbst. Er kommt und geht, sagt sie, wie es ihm paßt. Auf einmal ist er da, wo wir ihn gar nicht erwarten – und genau so rasch ist er wieder fort. Sie sagt, er ist ein ganz gefährliches Aas, dem man scharf auf die Finger sehen muß.

– Mir scheint, Anton, Ihre Mutter ist eine sehr gescheite Frau.

– Ist sie auch, Herr Benrath. Mächtig gescheit. Die steckt uns alle in die Tasche. Den Vater, die Schwester und mich.

– Sie haben nur diese eine Schwester? 273

– Ja. Wir sind nur zwei Kinder. Gott sei Dank. Bei den Zeiten!

– Ist Ihre Schwester verheiratet?

– Ja, Herr Benrath. Sie hat einen Wirt geheiratet. Sie haben einen Ausschank am Alex. Wenn ich einmal nicht mehr Diener sein will, kann ich jeden Tag hin. Gutes Geschäft! Alle Chauffeure vom Platz. Wissen Sie, meine Schwester kocht fabelhaft! Sie hat so 'ne Art Stamm eingerichtet. Billig und tadellos. Großer Umsatz und kleiner Verdienst. Viele Wenig, sagt sie, machen auch ein Viel. Und eng muß es sein, sagt sie. Fort mit den großen Lokalen! Die Leute müssen sich drängeln. Das haben sie gerne. Wie eine Familie muß so'n Lokal sein.

– Mir scheint, Ihre Schwester ist auch eine sehr gescheite Frau.

– Ja. Gescheit ist sie bestimmt. Aber sie hat keinen Instinkt . . .

– Was hat sie nicht?

– Ach, Herr Benrath, ich drücke mich so dumm aus. Ich meine, sie will gar nicht weiter nach oben! Ihr Mann – und ihr Kind – und ihre Destille! Weiter will sie nichts. Vielleicht mal ins Kino . . . Das Anspruchslose hat sie von meinem Vater.

– Was ist denn Ihr Vater von Beruf?

– Maschinenschlosser. Bei Dengler und Axenstein. Schon vierundzwanzig Jahre lang. Nächstes Jahr feiern wir Jubiläum. 274

– Und wie steht er politisch?

– Sozialdemokrat. Aber mächtig links.

– Und Sie selbst?

– Gar nicht. Wie soll ich stehen? Ich bin Diener. Ohne Herrschaften gibt es keine Diener! Herr Benrath, ich bin jetzt dreiundzwanzig Jahre alt. Das ist heute schon allerhand. Ich müßte ja schon viel weiter sein. Und wenn die Zeiten nicht so schlecht wären, wäre ich auch schon weiter. Aber bei den Zuständen muß man froh sein, wenn man unter ist – und anständig unter . . . Lange werde ich ja trotzdem nicht mehr in Schönfeld bleiben, obwohl es meine beste Stelle ist.

– Warum nicht?

– Weil es mir zu einsam ist. Ich habe dort keinen Verkehr und keine Anregung. Was bleibt mir denn, wenn ich meinen Ausgang habe? Gnadenberg! Na, Gnadenberg! Was soll ich da tun? Ins Kino gehn – und dann die Fenster an den Häuserwänden zählen.

– Haben Sie denn keine netten Kameraden unter den Dienern der Umgegend?

– Ach, Herr Benrath, wenn Sie genau wüßten, wie es damit bestellt ist! Nein, mit diesen Kloben kann ich nicht verkehren! Das sind ja gar keine richtigen, gelernten Diener. Das sind ja alles nur Rekruten, die sich etwas darauf einbilden, wenn man ihnen Silberknöpfe an einen alten Kittel näht! Manchmal haben sie auch so 'ne Art Försteruniform an. Und immer stehen sie stramm. Meistens machen sie auch noch 275 Dienst im Stall oder in der Gärtnerei . . . Das sind ja gar keine Menschen. Was sie sind, wissen sie selbst nicht.

– Sehn Sie, Anton, nun bringen Sie mich ganz von selbst auf die Frage, die ich an Sie richten wollte. Ich möchte nämlich wissen, welche Vorstellung sich überhaupt ein Mensch Ihrer Art von der Umgebung macht, in der er sich bewegt.

– Ja, Herr Benrath, wenn ich das bloß so sagen könnte! Das ist gar nicht so einfach, wie es scheint! Ich denke natürlich dauernd über alles nach, was um mich herum vorgeht, aber eine ganz klare Stellung dazu habe ich noch nicht nehmen können. Manches gefällt mir, manches ist mir zuwider, aber das meiste ist – glatt heraus gesagt – furchtbar komisch.

– Wollen Sie mir nicht einmal ein paar Beispiele nennen?

– Aber selbstverständlich.

– Also was gefällt Ihnen?

– Schönfeld mag ich gerne. Da ist ein nettes, vernünftiges Leben, ein ausgezeichnetes Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienerschaft. Es wird um nichts ein Getu gemacht, vor allem nicht um die Jagd. Es wird nicht auf die Juden und die Sozzen geschimpft. Es wird überhaupt nicht schlecht von anderen Leuten gesprochen. Es gibt schöne Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, nicht nur das Gnadenberger Kreisblatt wie bei Herrn von Mottau. Und die Baronin spielt 276 wunderbar Klavier. Auch werden uns keine Stimmzettel in die Hand gedrückt. Bei dem alten Herrn soll es ja anders gewesen sein. Aber seit die junge Frau ins Haus kam, habe sich das Blatt gewendet. Was die will, setzt sie auch durch . . . Dann gefällt mir Woltersthal. Ah, Herr Benrath, ein Jammer, daß Sie da nie hingekommen sind. Das ist ein Haus! Keine Kinder. Das ganze Jahr Besuch. Und was für Leute! Die größten Künstler der Welt, vor allem Musiker. Die Gräfin Woltersthal ist Wienerin. Schon ein Trumpf. Wienerin! Und was die Leute für die Armen tun! Sehn Sie: das sind Herrschaften! Genau wie hier in Kobolnow. Die Baronin Lagosch ist eine großartige Frau! Na und er! Wissen Sie, Herr Benrath, er ist eigentlich so der richtige Edelmann, wie er in alten Romanen vorkommt. Natürlich: an der Marie fehlt es ja auch hier nicht. Und wer die hat, kann ja auch leicht vornehm sein, wo doch die entsprechende Erziehung schon da ist! Diese Gemäldesammlung! Diese Bibliothek, in der die Studenten von Augustenburg arbeiten dürfen, wenn sie nur wollen . . . Der Diener Johann hat mir erzählt, nach Kobolnow kommen mehr Gelehrte und Politiker als Adlige. Da werden Gespräche geführt, die so hoch sind, daß so'n simpler Landbaron gar nicht mitkann. Auch bei der Mutter des Grafen Carlo Sennewitz, auf Schloß Pachau, soll es hochgebildet hergehn, aber ganz katholisch. Da kommen oft Leute aus dem Vatikan. Und die Gräfin 277 fährt jedes Jahr nach Rom. Und Jagden gibt es da überhaupt nicht! Schon ein Grund, Sympathie zu haben! Gott, diese Jagden in unserem Kreis, Herr Benrath! Das ist auch so 'n Kapitel für sich. Vor dem Krieg soll es ja Jagdschriftsteller gegeben haben!

– Die gibt es auch heute noch.

– Tatsächlich? Heute noch? . . . Wenn mir bloß einmal einer klarmachen könnte, was an einer solchen Jägerei Schönes sein soll! Ich finde die Jäger vorsintflutlich . . .

– Ich auch. Wer ist denn der Hauptjäger in eurem Kreis?

– Das ist ein gewisser Herr von Koßbach auf Katzuweythen. Der hat mal 'nen Diener entlassen, der von den Ohren eines Hasen sprach statt von den Löffeln. Was soll nu schon so'n Berliner Junge aus Neukölln oder Rixdorf von so 'nem Jagdkram verstehn! Und es soll so'n braver Junge gewesen sein . . .

– Ja . . . Diese Leute glauben, wer ihr Kauderwelsch nicht versteht, habe keine Daseinsberechtigung.

– Herr Benrath: Einmal war ich ja mit in Katzuweythen drüben. Da hatte Herr von Koßbach gerade zwei Wildschweine geschossen. Die wurden breit vor die Schloßtreppe gelegt, das Blut rieselte nur so durch den Pelz auf die Steine. Dann mußten alle Schloßbewohner und Gäste herauskommen, die Harren nahmen den Hut ab, und es wurde auf Hörnern oder Trompeten, was weiß ich, etwas geblasen. Herr von 278 Koßbach stand zwischen den beiden Tieren, hielt sein grünes Hütchen zusammengeklappt in der Hand, und ließ sich von dem Hofphotographen Grenzewitt, der von Krumstadt herüberbestellt war, aufnehmen. Und am Abend wurde dann gezecht, was das Zeug hält . . . und die Autoreifen froren am Boden fest. Was so'n Leben für einen Sinn haben soll, das mag mir mal 'ne Lerche ins Ohr flüstern, wenn sie's kann. Aber das ist bei weitem noch nicht das Komischste . . .

– Was ist denn das Komischste?

– Der Aberglauben und die spiritistischen Sitzungen.

– Ist denn das wirklich so schlimm, wie man es mir schon geschildert hat?

– Herr Benrath: Sie können sich keine Vorstellung davon machen, was sich da im geheimen tut.

– Ich weiß nur, daß der Graf Rumpler ein großer Spiritist ist – und ich habe allerhand munkeln hören über die okkultistischen Abende der Gräfin Gehlen . . .

– Am tollsten wird es getrieben bei dem jungen Grafen Matauna. Bei Wazlaw Matauna auf Pschenje, der heute etwa achtundzwanzig Jahre alt ist. Davon haben Sie doch sicher schon gehört, Herr Benrath? Das pfeifen ja die Spatzen von den Dächern . . .

– Es dämmert mir so etwas, als ob Baronin Lagosch mir einmal eine Andeutung gemacht hätte . . .

– Baron und Baronin von Schönfeld sind auch einmal dort gewesen, um sich den Rummel anzusehen. Da Eugen, der Chauffeur, gerade krank war, mußte ich 279 fahren. Bis morgens um zwei hat der Klamauk gedauert. Sie hatten sich den berühmten Hellseher aus Berlin kommen lassen, den Leo Schabratzky. Der hatte noch ein Medium mitgebracht, die Helene Matz aus Eberswalde. Jeder Teilnehmer mußte fünfzig Mark zahlen. Es waren mindestens vierzig Leute da. Sie können sich vorstellen, Herr Benrath, was der Gauner für Geschäfte gemacht hat. Und was er noch für Sonderkonsultationen einstrich! Es war der reinste Karneval! Die ältesten Großmütter aus dem Kreis Gnadenberg waren da – und viele waren von weither zugereist. Die Sitzung wurde im sogenannten Kreuzrittersaal abgehalten. Das ist ein Saal im ersten Stockwerk, wo lauter eiserne Rüstungen die Wand lang stehn. Wenn man bei Mondschein ohne Licht hineinkommt, kann einem gruselig werden. In diesem Saal ist auch ein Harmonium. Darauf hat der gerufene Geist damals durch das Medium einen Walzer gespielt. Es sollte aber ein Choral sein, ein ganz alter, den die Ritter in Palästina sangen, ehe sie zur Schlacht gegen die Heiden auszogen. Es gab einen furchtbaren Krach, als es immer wieder der Walzer aus der »Lustigen Witwe« wurde, der doch wie ein Choral anfängt . . . Wir saßen gerade unten in dem Küchenzimmer und hatten ein Grammophon losgelassen, weil es uns zu langweilig wurde. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, der Baron Rabenhorn raste wie wahnsinnig herein und brüllte uns an: »Wollt ihr Teufelsbrut wohl sofort 280 die Musikdose abstellen! Man hört ja das Jazzgequäke bis oben! Die ganze Sitzung wird gestört! Kein Wunder, daß die Geister irr werden, wenn das Gedudel hier sie auf die falsche Fährte lockt!« Bautz die Tür zu – und fort war er! Wir glaubten zuerst, auch uns wäre ein Geist erschienen – aber schließlich steckten wir einfach eine leise Nadel ein und tanzten weiter – bis dann das andere passierte . . .

– Was passierte denn noch?

– Vielleicht zwei Stunden, nachdem Baron Rabenhorn bei uns gewesen war, hörten wir plötzlich Türen schlagen und einen furchtbaren Schrei auf dem oberen Vorplatz. Einen solchen Schrei, Herr Benrath, daß einem das Blut in den Adern erstarrte. Wir rannten alle auf den Flur hinaus bis zum Aufgang der großen Treppe, die gerade auf die Saaltür mündet. Da sahen wir, wie ein paar Herren die alte Gräfin Wernefeld an den Armen festhielten. Aber sie bäumte sich, machte sich frei und rannte ein paar Stufen die Treppe hinunter. »Ich hab's gesehen«, schrie sie, »ich hab's gesehen! Es kam ihr weiß aus dem Munde, es kam ihr weiß aus dem Munde – und dann wurde es meine Tochter Gutberga, die im Weiher ertrank.« Und dann japste sie »Luft, Luft!« und raste die Treppe hinab gegen die Haustür. Ihre Frisur war aufgegangen, ein Zopf hing ihr über die Schulter, und ihr Gesicht war wie Asche. Sie rüttelte an dem schweren Schloß und schlug mit den Fäusten drauf. Auf einmal fiel sie 281 zusammen. Wir waren alle so entsetzt, daß wir gar nicht wagten, sie aufzuheben. Da kam von oben die Stimme des Schabratzky: »Nicht öffnen, nicht öffnen! Ich komme selbst!« Gleich darauf sprang er die Stufen abwärts, immer zwei auf einmal. Er war in Hemdsärmeln und hatte ganz verdrehte Augen. Hinter ihm kamen Baron Rabenhorn, Graf Matauna und Frau von Sarnow, die Tochter der Gräfin Wernefeld. »Neugierige Rattenbande«, schrie der Baron Rabenhorn, »wollt ihr wohl machen, daß ihr in die Küche kommt! Wer hat euch denn geheißen, hier herumzuspionieren!« Aber der Graf Matauna sagte: »Helft mal die Gräfin Wernefeld aufheben, und einer soll gleich nach Gnadenberg anrufen und ein Zimmer im Krankenhaus bestellen. Aber wehe dem, der aus der Schule plaudert!« Ich ging hinzu und half die Gräfin aufheben. Sie war schrecklich schwer und starr wie Blei. Und sie hatte einen grauenhaften Geruch an sich. Wir trugen die arme Frau in die Anrichte. Von dort aus wurde sie dann nach Gnadenberg gefahren. Es war nicht weiter schlimm, sie hatte eben nur vor Aufregung einen Anfall bekommen – und am nächsten Tage war sie wieder in Ordnung.

– Und was geschah mit der Sitzung?

– Die Sitzung wurde aufgehoben. Der Schabratzky sagte, es seien Gegengeister im Saale gewesen, und wahrscheinlich ein heimliches Medium, das der Helene Matz feindlich gesinnt sei. 282 – Was machte die denn?

– Ach, die war kreuzfidel. Die bekam zu essen und zu trinken und sagte, von dem Grammophon hätte sie überhaupt nichts gemerkt.

– Finden denn solche Sitzungen in eurem Kreise öfters statt?

– Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ja. Baron und Baronin Schönfeld hatten jedenfalls von dieser einen genug. Sie haben sich auf der Heimfahrt halb totgelacht. Die Baronin hat gesagt: »Schade um die fünfzig Mark. Dafür hätte ich mir auch eine Flasche Mitsouko kaufen können!« – »Für den Schrecken, den du ausgestanden hast«, hat der Baron erwidert, »bekommst du zwei!«

– Sagen Sie einmal, Anton, ist Ihnen bekannt, ob die Leute auch zu Wahrsagerinnen und Kartenschlägerinnen laufen?

– Gerade wollte ich Ihnen das noch erzählen, Herr Benrath. Denn das ist auch so ein Punkt, über den einem die Spucke wegbleibt. Der ganze Adel unseres Kreises läuft zu einer Person nach Augustenburg, die sich Wanda Malecky nennt. Die liest aus dem Augapfel und aus der Hand. Sie sagt den Leuten die Krankheiten und das Schicksal. Denken Sie aber ja nicht, daß nur die Frauen dahin gehen! Ich glaube, die Männer sind noch häufiger vertreten. Der junge Baron Röderberg ist jede Woche dort und unternimmt nicht die kleinste Reise, ehe er sie um Rat 283 gefragt hat. Aber es gibt noch eine andere, in Gnadenberg, eine Hebamme, die aus Kaffeesatz und Hirsebrei weissagt. Sie hat prophezeit, daß Preußen im Jahre 1933 wieder Königreich wird und sich mit Polen unter einem gemeinsamen Herrscher namens Fridericus Boguslaw vereint . . . Hat Ihnen Baron Schönfeld das noch nicht erzählt? Das ganze Land ist doch voll davon . . .

– Nein, das habe ich noch nicht gehört. Man hat offenbar vorausgesetzt, daß ich es schon weiß.

– Ich habe beobachtet, Herr Benrath, daß von den Herrschaften selbst über diese Dinge nie ein Wort verloren wird.

– Na und was sagen Sie selbst denn zu diesem ganzen Spuk, Anton? Wir kommen hier auf den Ausgangspunkt Ihrer Erzählungen zurück.

– Ich schüttle den Kopf, Herr Benrath. Ich kann nicht einmal sagen, daß ich es bis zum Lachen bringe.

– Ich finde, daß das eine sehr deutliche Stellungnahme ist.

– Diesen Narrheiten gegenüber ja. Aber erstens wird genau der gleiche Blödsinn auch in anderen Schichten begangen und zweitens kann man einen ganzen Stand nicht für das verantwortlich machen, was ein paar Phantasten tun.

– Anton, Sie sind ein kleiner Gentleman! Es ist wirklich eine große Freude, mit Ihnen zu sprechen . . . 284

– Ich meine, Herr Benrath, es ist heute sehr schwer, etwas zu verallgemeinern. Die ganze Welt ist Mampe.

– Was ist die ganze Welt?

– Mampe! Sie wissen doch: halb und halb.

– Stimmt. Aber versuchen wir einmal von einer ganz anderen Seite an die Sache heranzukommen. Wenn Sie nun Ihr Gefühl fragen, Ihren Instinkt, meine ich: sagt Ihnen der nicht klipp und klar, ob Sie sich in dem feudalen Milieu zu Hause fühlen oder nicht?

– Wenn Sie mich so fragen, kann ich Ihnen eine glatte Antwort geben: Mein Instinkt sagt mir, daß ich in dieser feudalen Umgebung nicht mehr allzulange bleiben soll.

– Und warum nicht?

– Weil . . .

– Sie brauchen nicht zu stocken. Sie brauchen doch vor mir keine falschen Hemmungen zu haben . . .

– Gott, Herr Benrath, es kommt mir fast schlecht vor, was ich sagen wollte. Schließlich verdiene ich hier mein Brot, werde sehr gut behandelt, bekomme oft schöne Geschenke . . .

– Aber Anton! Wir sprechen doch nicht von Schloß Schönfeld und seinen Bewohnern, die zu meinen besten Freunden gehören. Das steht ja gar nicht auf der Tagesordnung. Sehen Sie einmal von allem Persönlichen ab. Auch von Ihrem besonderen Fall. Daß man Sie so gut behandelt, daran sind Sie selbst schuld! Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es 285 zurück. Sie sind ein williger, fleißiger und gewitzigter Junge. Sie haben gute Manieren und schmeißen sich nicht an. Die Dinge, Anton, von denen wir beide hier sprechen, stehen völlig jenseits des Privaten. Wir wollen ja keinen Klatsch machen, wir wollen nicht schandmaulen, auch niemand etwas am Zeug flicken. Wir wollen uns noch viel weniger aufs hohe Roß setzen, wozu wir nicht die geringste Veranlassung haben: sondern wir wollen versuchen, zu einer Erkenntnis zu gelangen, die sich aus dem Aufeinandertreffen ganz verschiedener Welten ergibt. Ist Ihnen klar, worauf es mir ankommt?

– O ja, Herr Benrath.

– Dann sagen Sie mir bitte, warum Sie meinen, Sie müßten bald aus diesem Milieu fortgehen . . .

– Weil ich fühle, daß ich hier, so gut es mir auch äußerlich geht, nicht vorankomme.

– Können Sie dieses Gefühl wenigstens ungefähr begründen?

– Herr Benrath, ich glaube, man kann ein Gefühl niemals erklären . . .

– Ganz gewiß nicht. Aber man hat doch eine Art – wie soll ich sagen – eine Art Witterung dafür, wo seine Wurzeln liegen . . .

Anton zögerte einen Augenblick . . . überlegte . . . und sagte schließlich leise:

– Ich kann mich irren in dem, was ich nun ausspreche. Aber ich glaube nicht, daß ich mich irre . . . 286 Ich spüre, daß die Welt, in der ich mich hier bewege, zu Ende geht . . .

– Ja, Anton. Diese Welt geht zu Ende. Das glaube ich auch. Aber nicht nur sie: alles Bevorrechtete geht zu Ende . . .

Anton hatte den Kopf in seine Hand gestützt und starrte vor sich hin. Dann nahm er langsam das Gespräch wieder auf:

– Sehen Sie, Herr Benrath: diese Leute wissen natürlich genau so gut wie Sie und ich, daß seit 1918 allerhand geschehen ist. Und sie spüren ja auch den Umschwung hart genug am eigenen Leibe. Aber viele tun so, als ob nichts geschehen sei – oder als ob das Gewesene wiederkommen könne. Viele leben nur von dieser Hoffnung! Welche seltsamen Sachen habe ich oft bei Tischgesprächen gehört, wenn wir Gäste hatten . . .

– Das glaube ich Ihnen gerne. Es wird in diesen Kreisen noch immer am häufigsten und leidenschaftlichsten vom Gestern und vom Morgen gesprochen. Ein Heute scheint es nicht zu geben . . . Und doch ist es eben dieses Heute, auf das es ankommt. Und doch ist es gerade dieses Heute, das die meisten Opfer fordert. Es gehen viele gute Werte zugrunde – aber das ist immer so in Zeiten der Umschichtung. Und kein »Bevorzugter«, sei er, wer er sei, dürfte sich wundern, wenn einmal die Reihe auch an ihn käme . . . 287

Aber sagen Sie, Anton, wenn Sie nun eines Tages hier kündigen, wissen Sie denn schon ungefähr, wo Sie hin wollen?

– Ich kann in jedem Augenblick zu einem Dolmetscher nach London kommen. Ich brauche nur ein Wort zu sagen.

– Und meinen Sie, daß Sie dann zufriedener wären?

– Ganz bestimmt. Denn ich würde zum mindesten schon den Vorteil haben, eine fremde Sprache zu lernen. Es würde also bei dieser Stelle etwas für mich herausspringen, das mir persönlich zugute käme. Auch wäre ich dort selbständig und außerdem viel unterwegs, denn der betreffende Herr muß zu allen Sitzungen des Völkerbundes nach Genf reisen.

– Wenn ich Sie recht verstehe, Anton, möchten Sie in eine Stellung, in der Sie sich menschlich entfalten können?

– Aber natürlich, Herr Benrath! Das ist genau, was ich meine! Ich möchte mir soviel Kenntnisse erwerben, daß ich einmal der Sekretär eines solchen Herrn werden – oder in irgendeine Vertrauensstellung kommen kann. Ich lerne leicht, ich bin auch anstellig. Ich lese gern, ich erfasse im Handumdrehen das Wesentliche. Wissen Sie, Herr Benrath, ich möchte spüren, daß ich in meiner Zeit mitlebe, ich möchte da sein, wo etwas vorgeht. Ich möchte nicht so auf dem Trockenen sitzen, abseits. Ich möchte mitschwimmen 288 im Strom . . . Das Leben, das richtige Leben, muß doch oft sehr schön sein . . .

Anton hatte den Kopf gesenkt. Ich sah ihn an und gewahrte, daß seine Augen feucht waren.

– Was ist denn los, Anton?

Er putzte sich die Nase . . .

– Entschuldigen Sie, Herr Benrath, daß ich mich so dusselig benehme. Aber mir ist ganz anders zumute, als Sie vielleicht denken . . . Wann kann denn unsereins sich einmal aussprechen? Wer hört uns denn an? Wer versteht uns denn? Wem liegt denn etwas an uns?

– Mir liegt etwas an Ihnen.

– Herr Benrath: ist das wirklich wahr?

– Ja, Anton. Das ist wirklich wahr.

Anton sprang von seinem Stuhle auf . . .

– Mein Gott – Herr Benrath – wie soll ich Ihnen denn eigentlich danken für soviel Freundlichkeit?

– Es handelt sich nicht um eine Freundlichkeit, Anton. Es handelt sich um eine ehrliche Anteilnahme an Ihrem jungen Leben. Haben Sie etwas Geduld und seien Sie sicher, daß ich versuchen werde, Ihnen wirklich nützlich zu sein. Also danken Sie mir, indem Sie das tun, was heute jeder tun muß: arbeiten Sie mit allen Kräften auf das hin, was Sie zu erreichen wünschen. Wir sind heute alle nur noch Arbeiter, Anton. Und ein Künstler wie ich ist sein eigener Arbeitgeber 289 und Arbeitnehmer. Wehe, wenn der eine oder der andere versagt! – So, jetzt geben Sie mir Ihre Hand, versprechen Sie mir unbedingtes Schweigen über alles, was wir hier gesprochen haben, und holen Sie mir meine Suppe herauf. Ich werde, solange Sie unten sind, ein paar Worte an die Baronin Lagosch schreiben, die Sie um drei Uhr abgeben können.

Anton zog langsam seine Hand aus der meinen. Er blieb neben mir stehen und sah mich aus großen, glänzenden Augen an.

– Herr Benrath, sagte er – und über seinen Mund ging ein feines Lächeln – ich werde jetzt wieder in der dritten Person sprechen. Haben Herr Benrath noch Wünsche?

– Noch einen, Anton: Machen Sie den Namen der Hebamme in Gnadenberg ausfindig. Ich möchte mir auch einmal weissagen lassen . . .

 

Um vier Uhr kam Laura Lagosch.

– Wie geht es? fragte sie, mir beide Hände hinstreckend.

– Danke. Viel besser. Und wie geht es Ihnen?

– Es ist etwas kühl hier, wich sie aus. Wird es nicht besser sein, das Fenster jetzt zu schließen? Es scheint wieder kälter zu werden heute nacht.

Sie legte die breiten Flügel bei und zog den dichten Tüllvorhang zu. 290

– Wie abendblau schon die Luft ist, sagte sie . . . Und plötzlich, sich herumwendend und an das Fußende meines Bettes tretend:

– Sie sind nicht zu müde zu einem Gespräch?

– Im Gegenteil.

– Dann sagen Sie mir bitte eines, sofern Sie es wissen: Wo war Michael heute nacht?

Da war, unversehens, die Aufgabe, von der Blanche gesagt hatte, daß sie mir vielleicht noch erwachsen würde. Da war – abermals ein – »Ding in seine Stunde eingetreten«. Meine Entscheidung war gefällt – ich wußte, daß sie ein Übergriff war; aber ich wußte auch, daß von ihrer Durchführung der Frieden dieses Tages abhing. Also folgte ich dem inneren Wegweiser.

– Michael war bei mir, da er mich in meinem Zustand nicht allein lassen wollte.

– Weiter, sagte Laura, fast hart, fast herrisch.

– Weiter? Was soll das heißen?

– Ich meine: wo er sonst noch war . . .

– Nirgends.

– Wie? Er war nicht bei . . .

– Bei wem?

– Mein Gott – ich wage das Wort nicht über die Lippen zu bringen.

– Laura, wenn wir schon sprechen, hat es keinen Sinn, sich noch vor seinen eigenen Vermutungen zu fürchten . . . Also bei wem? 291

– Bei . . . Blanche? sagte Laura mit fast erstickter Stimme, während sie ihr Taschentuch in den Händen zerdrückte und den Kopf zur Seite wandte.

– Nein.

– Nein? Nein, Henry? Das sagen Sie mit solcher Bestimmtheit?

– Mit der unbedingtesten, die möglich ist.

Laura atmete tief, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und nieder und ließ sich dann in den Sessel neben meinem Bette gleiten.

– So haben wir oft in Arosa gesessen, sagte ich. Einmal Sie an meinem Bett, einmal ich an dem Ihren.

– Ich glaube, Henry, Sie sollten heute eher an dem meinen sitzen. Ich bin kränker als Sie. Viel, viel kränker.

– Das ist richtig. Aber Sie werden noch heute gesund werden. Sie sind mitten in der Krisis – und ich bin Ihr Arzt wider Willen.

– Wie wollen Sie mir beweisen, daß Michael nicht bei Blanche war?

– Ich denke ja nicht daran, es Ihnen zu beweisen. Aber ich will Ihnen die Unmöglichkeit Ihrer Frage vor Augen führen. Was ginge es Sie übrigens an, wenn er bei ihr gewesen wäre?

– Es wäre mir unerträglich, von Menschen, die mir nahestehen wie Blanche und Michael, in solchem Maße über den wahren Charakter ihrer Beziehung getäuscht zu werden. Wollen Sie vielleicht gegen diese 292 natürlichste aller Empfindungen ein Argument vorbringen?

– Nicht nur eines, sondern mehrere. Erstens: was nennen Sie den wahren Charakter einer Beziehung? Verwechseln Sie Grundstoff und Art seiner Äußerung? Derselbe Grundstoff kann sich verschieden äußern, und wir sind durchaus nicht darüber Herr, wie er sich heute und wie er sich morgen äußert. Es gibt unerwartete Steigerungen, völlig unberechenbare – und ebensolche Abschwächungen. Also: wenn Michael und Blanche es für gut befunden hätten, sich heute nacht in einem sehr gesteigerten Grad zu begegnen: was würde das an dem Verhältnis beider zu Laura Lagosch ändern? Zweitens: wollen Sie sich irgendein Recht zuerkennen, eine Beziehung, die Sie mit einem menschlichen Wesen haben, als Richtlinie aufzustellen für die Beziehungen, die dieses gleiche Wesen mit dritten hat? Sodann: nennen Sie »Getäuschtwerden« ein Verschweigen von Dingen, die man in unserer Welt zwar recht häufig zu tun, aber doch nicht gerade auszusprechen pflegt? Müßten Sie sich nicht sagen lassen, daß Sie Grundfragen der menschlichen Natur nach einem überlebten, innerlich unwahren Kanon bemessen, solange Sie die von mir vorgebrachten Argumente nicht als selbstverständlich anerkennen? Im übrigen aber: Was berechtigt Sie denn zu der Annahme, Michael sei die Nacht über bei Blanche gewesen? 293

– Ich fühle, ich weiß, daß da etwas ist, das die beiden mir verschweigen.

– Jetzt haben Sie sich ausgedrückt wie irgendein kleines, eifersüchtiges, beleidigtes Mädchen.

– Wieso eifersüchtig? Wieso beleidigt?

– Eifersüchtig: weil Sie es nicht ertragen, daß zwei Ihnen befreundete Menschen sich untereinander vielleicht mehr lieben, als jeder einzelne Sie selbst liebt. Beleidigt: weil man Sie in einem Ihnen wesentlich erscheinenden Punkte nicht ins Vertrauen zieht. Laura! Nennen wir die Dinge doch bei ihrem rechten Namen: Sie sind tief enttäuscht. Enttäuscht von Michael, schon seit Jahren . . . Enttäuscht nun auch von Blanche, die Sie seit einem Jahre nicht mehr gesehen haben. Und warum sind Sie enttäuscht?

Laura starrte auf ihre Hände, ohne zu antworten. Ich fuhr fort, leiser, eindringlicher:

– Sie haben mich neulich auf Schloß Schönfeld in Ihr Vertrauen gezogen . . . Ohne Ihr Bekenntnis wäre es mir weniger leicht gefallen, bis auf den Grund der Dinge zu schauen . . . Ich weiß, daß es für Sie qualvoll ist, zu sprechen. Überlassen Sie also mir die Arbeit. Irre ich, so entgegnen Sie! Habe ich recht: nun, so begeben Sie sich in meinen Schutz, dessen Sie vielleicht bedürfen . . .

Laura war wieder aufgestanden. Sie ging vom Fenster zum Fußende des Bettes und von da wieder zum Fenster. Mehrere Male. Dann sagte sie: 294

– Wird Sie dieses Sprechen auch nicht ermüden?

– Laura, Ihre Frage ist die Abwehr einer Erkenntnis, die Sie längst in sich haben . . . die Sie aber nicht in Worte gekleidet sehen wollen!

– Vielleicht . . .

– Wir sind aber in Wirklichkeit schon viel weiter. Wir sind schon mitten in Ereignissen, die wir als vollzogene Tatsachen in Rechnung stellen müssen. Wir können gar nicht mehr zurück bis zu dem Punkt, hinter dem Sie sich noch einmal verschanzen wollen.

– Ich weiß jetzt nicht, was Sie meinen.

– Ich meine das, was zwischen Blanche und Michael mittlerweile geschehen ist . . .

– Also doch! . . .

– Nein! Nicht »also doch«, so wie Sie es jetzt schon wieder meinen! Viel mehr! Viel Wichtigeres!

– Dann ist ja der Betrug noch größer!

– Lassen Sie doch dieses unmögliche Wort beiseite! Was heißt denn »Betrug«?

– Also Sie wissen – und ich weiß nicht! Und warum werde ich übergangen – warum wird mir nicht die volle Wahrheit gesagt?

– Weil jede Wahrheit ihre besondere Stunde hat. Weil sie nicht für verschiedene Menschen zu gleicher Stunde spruchreif ist.

– Für Sie aber war sie spruchreif? Für mich dagegen noch nicht? 295

– Es ist, wie Sie sagen. Michael und Blanche konnten noch nicht zu Ihnen sprechen, weil Entscheidungen zwischen ihnen ausstanden, die erst gestern, ja heute nacht erst gefällt worden sind. Wäre diese Sache mit Poppritz nicht gekommen, wäre ich selbst nicht in sie hineingezogen worden, so hätte sich der Gang der Dinge wohl beträchtlich verzögert. Ich bin – ich weiß kaum, wie – durch die Ereignisse zu Blanches und Michaels notwendigem Vertrauten geworden. Die Reihe ist nun an Ihnen. Hätten Sie die beiden nicht zur Teilnahme an der Schlittenfahrt gedrängt, wäre längst gesprochen worden. Daß ich es tue, ohne dazu ermächtigt zu sein, ist ein unerhörter Übergriff, eine unerhörte Vorausnahme. Aber ich nehme die volle Verantwortung auf mich. Die unfruchtbaren und sinnlosen Traurigkeiten müssen erstickt werden. Frieden muß sein. Und Klarheit.

Laura blieb am Fenster stehen, den Rücken gegen die wachsende Dämmerung gekehrt, und spreizte die Arme gegen das Fensterbrett:

– Welche Klarheit?

– Michael und Blanche werden sich heiraten.

Laura stand regungslos. Keine Fiber ihres Gesichtes verriet eine innere Bewegung.

Sie kam langsam zu dem Sessel an meinem Bett zurück und ließ sich nieder . . . Dann griff sie nach meinem Etui, das auf dem Nachttisch lag, zündete sich eine Zigarette an und sagte: 296

– Sie wollten mir vorhin erklären, wieso ich durch Blanche und Michael enttäuscht wurde?

– Ja. Durch Michael, weil Sie sehr bald fühlten, daß er sich weniger tief, sagen wir, in Ihre Obhut begeben hatte, als Sie selbst es wünschten und auch glaubten. Durch Blanche, weil diese mehr von Ihnen verlangte, als Ihnen zu geben möglich war. Bei Michael stießen Sie auf Grenzen, die Sie nicht vermutet hatten. Bei Blanche fanden Sie einen Strom des Fühlens, der Ihre eigenen Grenzen dauernd überschlug. Bei Michael haben Sie vor sich selbst die Tiefe Ihrer anfänglichen Neigung verhehlt und sich mit dem Ersatz begnügt, den Sie »Zuflucht« bei sich nannten, bei Blanche haben Sie – Ersatz gegeben. Hier und da waren Sie in Not. Michael kann nicht verantwortlich gemacht werden für Grenzen, die ihm die Natur gezogen hat, Blanche nicht für Übersteigerung des Gefühles, die sie ebenfalls schon von ihrem Blute mitbekam.

– Und ich?

– Sie können nicht verantwortlich gemacht werden für eine Sehnsucht, der Sie innerlich nicht gewachsen waren. Die wirkliche Probe Ihrer Kräfte liegt noch vor Ihnen. Bis jetzt haben Sie nur Lehrgeld gezahlt. Sie sind in dem Alter, wo das große Erleben der Frau erst beginnt, der unentäußerten Frau, meine ich. Sie sind – seit gestern und heute – in die Erkenntnis eines inneren Alleinseins getreten, welches der Anfang alles wahren Erlebens ist. Es gibt da keine unklaren 297 Werte mehr. Es gibt nur noch den Mut zu sich selbst. Sie haben – in bitterer Deutlichkeit – begreifen gelernt, daß die Tochter nicht der Mutter, der heimlich Geliebte nicht der ihn Liebenden, die Freundin nicht der Freundin gehört. Sie haben gelernt, daß Menschen voneinander nichts fordern, sondern nur das beiden Gemeinsame so weit austauschen können, als ein Bedürfnis nach Austausch vorhanden ist. Anderes gibt es nicht. Wer das Gegenteil behauptet, kann keinen Anspruch darauf erheben, sich in den Grundwassern der menschlichen Seele gespiegelt zu haben . . .

Laura schlang die Arme um den Messingpfosten der Bettstelle und legte die Stirn auf die gekreuzten Hände.

So blieb sie lange.

Draußen sank langsam die Nacht. Ohne Abendrot, ohne Stern sank sie weich und glockenblumenblau aus tiefen Schneewolken.

– Und diese Ehe zwischen Blanche und Michael? fragte Laura, als sie endlich wieder den Kopf hob.

– Diese Ehe ist die Bestätigung dessen, was ich Ihnen sagte. Sie ist, weil ihr dazu alle Voraussetzungen fehlen, weder ein »Erlebnis«, noch eine Ehe im üblichen Sinn. Sie ist eine freundliche Abmachung, eine bewußte Vereinigung von Menschen, welche ihre Grenzen kennen, eben auf der Grundlage dieser Grenzen. Sie ist völlig ehrlich: denn sie bezieht weder Möglichkeiten noch Hoffnungen ein, die nicht in ihr liegen noch aus ihr erwachsen können. Was sich innerhalb 298 der bewußt eingehaltenen Grenzen im Laufe der Jahre aus dem freien Spiel der sich kreuzenden Kräfte entfalten wird, das ist unberechenbar. Das Leben ist keine mathematische Gleichung: es ähnelt ihr manchmal. Diese Ehe ist das genaue Gegenteil dessen, was – bis zum heutigen Tage – Ihre Beziehungen zu Blanche und zu Michael waren. Sie ist ohne Opfer und ohne Verzicht . . . ohne einen einzigen falschen Ton. Da sind die Güter in Polen, da sind die Güter in Ungarn. Da sind die äußeren Mittel Blanches. Da sind die gleichen Herkünfte, die gleichen Erziehungen, die gleichen Gepflogenheiten. Da sind die gleichen Wunden und die gleichen Fragezeichen. Diese Ehe, Laura, ist freie Wahl und Findung einer Heimat. Sonst nichts. Einer Heimat, welche nicht nur den beiden Wählenden zugute kommt, sondern noch einem Dritten – und außerdem uns beiden, die wir Blanche und Michael befreundet sind.

– Einem Dritten, sagen Sie?

– Ja. Einem Dritten, durch Anlage, Schicksal und Begrenzung Wahlverwandten: Wladimir.


Als ich um sieben Uhr in das untere Stockwerk des Schlosses hinabging, empfing mich vom Tanzsaal her eine weiche, langsame Melodie. Die Eichenscheite flammten in dem breiten Kamin der Halle. Einige Paare der Zurückgekehrten glitten in einem englischen Walzer. Die anderen hatten im Musiksaal Platz 299 genommen. Laura saß neben Blanche. Tosia und Maud legten mit Scheer und Sennewitz eine Patience. Michael und Wladimir betrachteten an einem Acajoutisch eine Mappe mit Radierungen, die ein Künstler zur Ansicht geschickt hatte, Gisela und Renken plauderten auf einem Sofa, das schräg gegen das Feuer gestellt war. Eugo las in dem Memoirenbuche Paléologues.

Ich setzte mich zwischen die beiden Frauen.

Als der Tanz zu Ende war, ging Blanche an den Flügel und schlug die »Chromatische Phantasie« an.

Alle drängten in den Musiksaal herüber.

Michael hatte sich zu Laura gesetzt. Wladimir lehnte am Ende des Flügels, das dunkle Gesicht auf die Spielende gerichtet.

Plötzlich fingen sich, mitten im Gang der Akkorde, fünf Blicke. Fünf Wissende hatten eine Sekunde lang zusammen gesprochen. Niemand hatte es gehört, gefühlt, gewittert.

Jahre – in dieser einen Sekunde zusammengedrängt – waren durch den klanggefüllten Raum gegangen und an dem Tore zerschellt, das aus Kobolnow unter andere Sterne führte.

 


 


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