Henry Benrath
Ball auf Schloß Kobolnow
Henry Benrath

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ball auf Schloss Kobolnow

Auf Schloß Schönfeld wurde um acht zu Abend gespeist. Da die Baronin Laura von Lagosch-Kobolnow, die Kusine Friedrichs von Schönfeld, auf ihrer Durchreise von Berlin nach Augustenburg erst gegen dreiviertel acht eingetroffen war, wurde heute etwas später serviert.

– Also ich kann unbedingt auf Sie zählen, Henry? fragte sie mich, während wir aus der Diele in den Speisesaal hinübergingen.

– Unbedingt, antwortete ich. Ich werde am Mittwoch von hier abreisen und abends bei Ihnen sein. Wir haben dann drei Tage Zeit, um alle nötigen Vorbereitungen für Ihren Ball zu treffen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen wirklich so nützlich sein kann, wie Sie es sich vorstellen. Was ich tun kann, um dieses Fest lustig zu machen, soll geschehen. Der Rahmen ist ja nun einmal durch die östlichen Gebräuche gegeben. Es fragt sich nur, wie weit ich mit meiner westlichen und rheinländischen Durchdringung gehen darf.

– So weit Sie wollen, antwortete Laura. Man soll sagen, daß mein Ball sehr anders war als die üblichen Bälle auf den Nachbarschlössern.

– Wo Henry ist, ist es immer anders, bemerkte Friedrich von Schönfeld-Wöllendorf. Ich kann das bezeugen. Er ist jetzt fünf Wochen bei uns zu Gast. In diesen fünf Wochen war es immer anders. Dichter sind merkwürdige Leute. 46

– Eigentlich ist es ja nicht sehr nett von dir, meinte Mechthild, die Herrin des Hauses, daß du uns Henry entführst. Er wäre mir hier noch sehr nützlich gewesen, wenn am Donnerstag diese langweiligen Ehepaare kommen.

– Ach was, unterbrach Laura, die sollen sich ruhig weiter langweilen – und ihr auch. Dann habt ihr um so mehr Freude am Samstag, wenn ihr zu uns herüberkommt. Außerdem will ich Henry einmal ein paar Tage für mich haben. Ich habe einen Anspruch auf ihn. Wir kennen uns nun seit sieben Jahren, und er war noch nicht ein einziges Mal in meinem Haus . . . Ja, das war ein schöner Winter in Arosa, nicht wahr, Henry? Wir waren zwar beide nicht gerade in der besten Verfassung – – aber wenn ich heute zurückdenke, vergesse ich völlig, daß ich diesen Winter im Schnee zubrachte, weil ich krank war. Es scheint mir, ich war da oben, um mit Benrath Freundschaft zu schließen.

– Vielleicht seid ihr beide gesund geworden, weil ihr Freundschaft geschlossen habt, sagte Friedrich.

– Du triffst immer das Richtige, erwiderte Laura. Die Schärfe deines Geistes ist verblüffend. Ich sollte dich wirklich öfters um Rat angehen.

– Ich wüßte nicht, was mich glücklicher machen würde, liebe Laura. Ich würde dich mit besonderer Sorgfalt bedienen.

– Also ich werde dich beim Wort nehmen, Friedrich. Aber wehe dir, wenn du dann versagst. 47

– Wo ist denn Schwester Luise? fragte Mechthild Anton, den jungen Diener.

– Schwester Luise war eben noch hier, Frau Baronin. Aus einer tiefen Fensternische schob sich das kleine, runde Etwas in Schwarz mit weißer, anliegender Haube herbei, das Schwester Luise hieß, und sagte auf masurisch, während es mit seinem Ischiasbein ein wenig knickste:

– Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Frau Baronin, ich war nur eben noch einmal gegangen zu sehen, ob es immer noch schneit. Es schneit und schneit, als ob unser lieber Gott eine Mauer um Schloß Schönfeld bauen wollte.

– Das tut er bestimmt nicht, Schwester Luise, ehe Herr Benrath von uns gewichen ist, rief Friedrich. Erst muß das Haus den Antichrist los sein . . .

– Ach, Herr Benrath ist ja gar nicht so schlimm, Herr Baron. Er tut nur so.

– Da haben Sie's, Henry, sagte Mechthild. Sie sind durchschaut. Schwester Luise verteidigt Sie, trotz des denkwürdigen Tages, als uns die Fürstin Kaatzenstein besuchte.

– Das war ein schlimmer Tag, sagte Schwester Luise. Der Schrecken liegt mir heute noch in den Gliedern.

– In welchen?

– Pfui, Herr Benrath! Daß Sie immer solche . . .

– Was denn? 48

– Ach, ich antworte Ihnen gar nicht mehr. Ich kann nicht so mit Worten um mich werfen wie Sie. Da schweigt man lieber von vornherein – und denkt sich sein Teil. Darf ich das Tischgebet sprechen, Frau Baronin?

– Ja, bitte. Wir haben alle Hunger.

Schwester Luise betete hinter ihrem Stuhle, die Hände über die Rückenlehne faltend:

Das Brot, das Gottes Güte schenkt,
Zum Himmel unsre Herzen lenkt,
Wo Vater, Heiliger Geist und Sohn,
Herniederschaun vom Gnadenthron. Amen.

– Von wem ist die Strophe, Schwester Luise? fragte ich, während wir uns setzten.

– Das weiß ich nicht. Sie steht im Allgemeinen Evangelischen Gebetbuch unter den deutschen Tischgebeten am Abend. Wir beteten sie immer im märkischen Mutterhaus.

– Seit wann interessierst du dich denn für Tischgebete? fragte Friedrich.

– Seit ich jeden Tag ein anderes höre.

– Ich weiß für jeden Tag im Jahr ein anderes, sagte Schwester Luise. Man will jetzt wieder die ganz alten hervorholen, die aus dem Mittelalter, die aber doch eigentlich katholisch sind.

Mechthild brach das Gespräch ab, sich an Laura wendend: 49

– Hast du eigentlich viele Absagen bekommen?

– Stelle dir vor: nicht eine einzige!

– Donnerwetter, rief Friedrich, das nenne ich einen Erfolg! Also wieviele Mäuler hast du denn an diesem glorreichen Tage zu stopfen, und wieviele Bettücher müssen denn aus der Kommode geholt werden?

– Ohne mich auf deinen Ton einzulassen: ich habe sechsundsiebzig Gedecke aufzulegen und vierundzwanzig Betten zu richten, außerdem noch acht Betten für die Leihdiener.

Schwester Luise senkte die Augen auf ihren Kalbsbraten. Sie senkte immer beim Essen die Augen auf das Eßbare, wenn sie eigentlich etwas sagen wollte, das in ihr hochstieg. Durch diese Gegenbewegung wurde das Gleichgewicht im gefährlichen Augenblick wiederhergestellt.

– Und nun sage mir einmal, fragte Friedrich, warum du dir eigentlich diese ungeheure Geschichte auf den Buckel lädtst? Hast du denn selbst deine Freude daran?

– Aber selbstverständlich, lieber Friedrich. Gisela hat ihr Abiturientenexamen ausgezeichnet bestanden. Sie wird in München und später in Berlin Medizin studieren. Sie ist also für Kobolnow so gut wie verloren. Ihr Leben wird eine anstrengende Arbeit sein und das Gegenteil von dem, was früher das Leben junger Mädchen unserer Kreise war. Ich will wenigstens einmal für meine einzige Tochter ein Fest geben . . . Ein schönes, großzügiges, lustiges Fest . . . Ich will es auch 50 für mich, für die Mutter dieser einzigen Tochter geben. Ich bin achtunddreißig Jahre alt . . . Meine besten Jahre sind während des Krieges dahingegangen . . . Ich will einmal etwas wieder erleben, das mich an meine eigenen Mädchenjahre erinnert, die vor dem Kriege lagen . . . Warum soll ich mir nicht alle die Mühe machen, welche die Vorbereitung eines solchen Festes von mir verlangt? Könnt ihr das nicht verstehen? Können Sie das nicht verstehen, Henry?

– Ich kann es doppelt verstehen in diesen Zeiten, hinter denen die Ungewißheit lauert.

– Wer an Gott glaubt, sagte Schwester Luise, weiß nicht, was die Ungewißheit ist.

– Man kann keinen Glauben erzwingen. Schwester Luise, sagte Friedrich nicht ohne Schärfe. Die Gläubigen sollen demütig bleiben und die Sorgen anderer Menschen nicht vom Standpunkt ihres Glaubens aus beurteilen. Glaube, scheint mir, ist eine Gnade.

– Alles ist Gnade, Herr Baron.

– Eben. Wir sind also einig. Was mich nicht hindert, die Zeiten schwer und gefährlich zu finden.

– Hast du Berta Waldecken eingeladen? wandte sich Mechthild an Laura.

– Nein. Das kannst du mir nicht zumuten, nachdem sie mir jedes deutsche Gefühl abgesprochen hat, weil ich die Monate Februar und März gerne in Rom zubringe . . . Man könnte gerade so gut Henry beschimpfen, weil er in Paris wohnt. 51

– Was man ja auch reichlich tut; man vergißt, daß unter Umständen ein gebildeter Deutscher dort seinem Lande größere Dienste tun kann als zu Hause. In Deutschland wird man leicht Verräter genannt, wenn man seiner besseren politischen Einsicht zu folgen wagt . . .

– Die Franzosen – sagt der Pastor Piscatorius – sind ein sadistisches und unmoralisches Volk, warf Schwester Luise ein . . .

– Der schließt wohl von sich auf andere? Es gehen doch allerhand Gerüchte über sein Erziehungsheim.

– Ich flehe dich an, Henry, laß diese Frage aus dem Spiel. Ich habe die Ohren mehr als voll von den Dingen, die mir über diesen Piscatorius erzählt werden, wo ich mich nur blicken lasse . . .

– So . . . Und hättest du nicht Lust, einmal in dieses Wespennest zu stechen?

– Ich werde mich hüten! Das mögen Berufenere tun.

– Wen nennst du Berufenere?

– Gewisse Herren aus Berlin.

– Es ist unglaublich, sagte Mechthild, daß wir nicht fünf Minuten lang bei einem Thema bleiben können.

– Unsere Unterhaltung ist sehr zeitgemäß.

– Vielleicht, Henry, aber nicht eben angenehm. Ich hasse dieses Hin und Her.

– Dann sind Sie sehr altmodisch, Mechthild.

– Gott sei Dank . . . 52

Der Salat – eine schöne, blasse laitue romaine – wurde auf die kleinen Teller gelegt. Laura Lagosch stach mit der schmalen Gabel ein dünnes Blatt auf und führte es langsam zu ihrem Mund.

– Köstlich, sagte sie. Ihr tut etwas englischen Senf an den Salat. Ich werde mir das merken für nächsten Samstag. Nur darf man nicht sagen, daß der Senf aus England kommt. Ich lasse das Pulver in eine andere Dose füllen . . . Sie schauen mich ja mit offenem Munde an, Henry? Ja – solche Dinge müssen auch erwogen werden und gehören zu den Sorgen einer ostdeutschen Hausfrau. Zu ihren vielen kleinen und großen Sorgen . . .

– . . . vorausgesetzt, daß man euren Stil lebt, sagte Friedrich. Ich danke dem Herrgott, daß ich nicht fünf Schlösser habe wie ihr und außer dem Verkehr mit den Gutsnachbarn auch noch großen städtischen Verkehr pflegen muß. Ab und zu mal nach Augustenburg ins Theater oder in ein Konzert: gut. Aber mehr nicht! Und bei Gott nicht in diese sogenannten »Salons« . . .

– Friedrich, die gibt es ja gar nicht mehr! Wer hat denn noch Zeit und Lust, über Literatur und Politik geistreiches Zeug zu reden! Ein paar Juden – und damit basta! Alle anderen Menschen haben soviel mit wichtigeren Dingen zu tun, daß es ihnen ja nicht im Traum einfällt, ihre Kraft an solchen Trilliwips zu verschwenden! Das laß dir von mir, Laura Lagosch, gesagt sein! Deine Abneigung gegen die Stadt ist begreiflich. Aber du darfst das Kind nicht mit dem 53 Bad ausschütten! Es gibt recht viel reizende und tüchtige Menschen in Augustenburg, Menschen, die es sich entschieden zu sehen lohnt. Weit mehr – verzeihe mir meine Offenheit – als hier unter den Kraut- und Rübenjunkern eures Kreises! Man könnte bei deinen Äußerungen manchmal meinen, man höre Heinrich Mottau reden!

– Danke schön! rief Friedrich. Ich habe nichts gegen meinen Vetter Heinrich Mottau, der ein guter und anständiger Kerl ist: doch den Vergleich mit ihm muß ich ablehnen . . . Er ist übrigens, wie man mir gestern in Gnadenberg versichert hat, bei den Hakenkreuzlern gelandet und will aus seinem Schloß eine Art nationalsozialistischen Hauptquartiers für seinen Kreis machen . . .

– Die arme Elisabeth! sagte Laura . . . Das hat gerade noch gefehlt . . . Fünf Kinder in sechs Jahren, einen Mann, der aus Romantik und Fanatismus besteht . . . anscheinend den Karten mehr Platz einräumt, als gut ist . . . und sich nun noch lächerlich macht . . .

– Ich weiß durchaus nicht, Laura, ob sich Heinrich Mottau durch sein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus so lächerlich macht, erwiderte ich. Ich finde es jedenfalls schon bemerkenswert, daß er den Mut zu diesem Bekenntnis aufbringt. Er wird zwar sicher den Ton mehr auf das Nationale als auf das Sozialistische legen, aber er glaubt doch an eine 54 Wandlung, an ein Ziel: mag es noch so romantisch sein! Er sitzt doch nicht fest auf erstarrten Begriffen wie die meisten eures Standes, auf Überlieferungen, die euch jämmerlich im Stich lassen werden, wenn ihr die Zeichen der Zeit nicht verstehen lernt! Er gibt Ansprüche auf, um derentwillen andere lieber bei lebendigem Leibe vermodern . . . und sei es auch für ein Evangelium, das er selbst wohl nie erfunden haben würde.

– Die Nationalsozialisten wollen doch nur Gutes, warf Schwester Luise ein. Ihr kleiner, runder Kopf glühte.

– Ich habe nicht das Gegenteil behauptet, sagte Laura. Aber ein deutscher Edelmann macht keine gemeinsame Sache mit Radikalen, wo immer sie seien. Das sind Dinge, liebe Schwester Luise, die Sie vielleicht nicht verstehen und die Ihnen niemand wird erklären können. Ich habe das meinem Vetter Mottau schon ins Gesicht gesagt: sonst würde ich es nicht hinter seinem Rücken aussprechen.

– Ist nicht Heinrich von Mottaus Mutter eine Prinzessin Hohenfeld? fragte ich.

Laura warf mir einen bösen Blick zu:

– Es scheint mir, Henry, Sie wissen das so gut wie ich! Ich kenne Ihre infame Art, Fragen zu stellen! Halten Sie mich bitte nicht für dümmer als ich bin! Heinrichs Mutter ist genau so gut eine Hohenfeld wie die Friedrichs und die meine: ein Grund mehr für 55 mich zu wiederholen, daß, wer Hohenfeldsches Blut in den Adern hat, es nicht mit Radikalen hält, die Unvereinbares vereinen wollen.

– Sind Sie Nationalsozialistin? fragte ich Schwester Luise . . .

– Aber wie sollte ich denn, Herr Benrath! Mein Beruf verbietet mir jede Zugehörigkeit zu einer Partei. Ich bin dazu da, Kranke zu pflegen und vor allem die armen Kinder der Gemeinde Schönfeld zu betreuen. Ich sehe ja immer nur das Elend – und wo ich hinkomme, da sind ja heute nur noch Kommunisten: auch wenn es die Leute nicht offen zugeben wollen. Ich sehe viel Trauriges – und ich denke immer nur an unser armes Vaterland. Was ich da in den Blättern lese, die mir manchmal von den Nazis geschickt werden, das scheint mir doch sehr gut gemeint! Die Nazis wollen den Juden und den Ausbeutern auf den Leib – – und das ist doch gut so . . . Und auch den Vaterlandsverrätern, die uns an Frankreich verschachern . . .

– Wenn die Dinge so einfach wären, wie sie in diesen Blättern dargestellt werden und wie Sie sie also sehen, erwiderte Friedrich, dann wäre das Programm ja gar nicht so übel . . . Aber sie sind es eben leider nicht: und deswegen bedarf die Lösung der deutschen Frage auch einer etwas komplizierteren Methode als der nationalsozialistischen . . . Wenn wir allein sind, liebe Schwester, will ich Ihnen das 56 einmal auseinandersetzen, damit Sie nicht so im Dunkeln tappen . . .

– Ach, Herr Baron, dann wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar! Wir armen Weibsbilder sind ja viel zu dumm, um all diese Sachen zu verstehen . . . Und wir glauben immer alles, was wir gedruckt lesen . . .

Wieder, nun zum dritten Male, suchte Mechthild das Gespräch auf den Ball in Kobolnow zurückzubiegen:

– Hast du Heinrich Mottau eigentlich eingeladen, Laura?

– Selbstverständlich. Er hat ein Faible für Gisela und wäre tödlich gekränkt, wenn ich ihn nicht zu uns gebeten hätte. Elisabeth kommt nicht mit. Sie ist wieder im dritten Monat und wenig wohl.

– Was? riefen Friedrich und Mechthild wie aus einem Munde. Was? Schon wieder?

– Ja. Schon wieder.

– Na, so eine Karnickelwirtschaft! schrie Friedrich. So eine Rücksichtslosigkeit gegen die arme, zarte Frau. So eine . . . ich hätte beinahe etwas gesagt!

– Aber was können sie denn dazu? sagte Schwester Luise.

Friedrich lachte laut auf.

– Verzeihen Sie, liebe Schwester, das kann ich Ihnen wirklich nicht erklären. Aber glauben Sie mir: sie können sehr viel dazu.

Schwester Luise senkte den Kopf nach dem 57 Reiskuchen mit Arrak. Sie schluckte aus trockener Kehle. Dann aß sie.

– Und Heinrich kommt also allein auf den Ball? fragte Mechthild.

– Ja, aber er will zwei seiner Freunde mitbringen, die gerade bei ihm zu Besuch sind.

– Um Gottes willen, wen denn? warf hastig Friedrich ein.

– Einen Augenblick, ich werde mich sofort der Namen entsinnen–ja, ich hab's: er will also mitbringen Henning von Meyenburg, den Verwalter der Fürstin Ponim, und den früheren Seeoffizier Bolko von Bleßner, einen Naziführer, der sehr interessant sein soll.

– So, sagte Friedrich. So. Die also will er mitbringen. Und warum eigentlich?

– Gott, weil sie gerade bei ihm sind.

– Und du hast ihm erlaubt, sie mitzubringen?

– Na selbstverständlich! Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht einfach nein sagen!

– Aber uneinfach. Auf Umwegen.

– Ja aber warum denn? Was ist denn gegen diese Leute einzuwenden? Wenn sie im Hause Elisabeths sind, können sie doch auch in meinem sein.

– Und was sagt denn dein Mann, was sagt denn Eugo, ja, was sagt denn der gute Eugo dazu?

– Nichts.

– Das glaube ich dir ohne weiteres. Aber das genügt mir. 58

– Ach, Friedrich, es ist ja lächerlich, eine solche Wirtschaft wegen dieser beiden Menschen zu machen.

– Sie sind die tollsten Zechkumpane und Kartendrescher der ganzen Provinz. Da sie nur selten eingeladen werden, haben sie allerhand Dinge verlernt. Jedenfalls werde ich mich ihrer ein wenig annehmen auf deinem Fest. Es wird sich empfehlen, ihnen so rasch wie möglich die Spieltische in einer abgelegenen Ecke aufstellen zu lassen.

– Ich danke dir für deinen Wink. Im übrigen wird mir Heinrich für sie haften.

– Solange er selbst nüchtern bleibt.

– Dafür werde ich sorgen! rief Mechthild. Ich mag Heinrich gern – und er mich. Er ist ein grundanständiger Kerl. Eng. Dazu kann er nichts. Aber so unerhört sauber. Nur wer seine Frau so liebt wie er, kann so eifersüchtig sein. Er hat alles Gute und alles Schlechte eines unausgeglichenen Kindes. Wenn ich ihm ein paar Krätzchen aus meiner rheinischen Heimat erzähle: ja wenn ich nur Köllsch mit ihm rede, kann ich ihn um den Finger wickeln! Der arme Kerl hat ja sein Leben lang nur das Vaterunser gehört – – und Elisabeth hat ihm zwar alle Hausfrauentugenden, aber doch weiß Gott keine Auffrischungen gebracht! Ich glaube gern, daß man bei sechs Kindern in sieben Jahren allmählich einen Heiligenschein ums Haupt bekommt. Aber für Heinrich wäre es besser gewesen, Elisabeth hätte sich nicht nur als das gottergebene 59 Werkzeug im Dienste der Dynastie Mottau empfunden, sondern sich etwas schönere Kleider machen lassen und auch dann und wann einmal ein Parfüm an ihre puritanische Haut getan. Sie haben sie ja im vorvergangenen Winter bei uns erlebt, Henry, und Sie haben sie – bei sichtlicher Distanzierung – die heilige Elisabeth genannt. Wie soll sich denn ein Mann an einer solchen Gottesmagd entfalten! Und zumal ein etwas zurückgebliebener!

– Mechthild, sagte ich, trinken wir auf Ihre schöne Irdischkeit, die sich mit zwei Kindern in sechs Ehejahren begnügt hat.

– Und auch in zwanzig mit zwei begnügen wird . . .

– Ich trinke auf Frau Baronin und ihre Kinder, ohne eine Zahl zu nennen, sagte Schwester Luise.

– Bravo! rief Friedrich. Schwester Luise wird Diplomatin! Wie wär's, wenn wir sie der Kollontai als Gehilfin schickten?

– Wer ist die Kollontai?

– Das wissen Sie nicht? Das ist die erste weibliche Botschafterin Sowjetrußlands, eine sehr schöne und elegante Frau.

– Der würde ich die Lichter schon aufstecken, sagte Schwester Luise, vom ungewohnten Burgunder ermutigt.

Ich stieß mit Schwester Luise an. Sie lachte mir mit ihren kleinen, lebendigen Kirschenaugen zu:

– Sie leichtsinniger Rheinländer! Sie haben immer 60 den Kopf voller Teufeleien. In der Dorfwirtschaft erzählen sich ja schon die Leute Ihre Witze.

– Das will ich hoffen! Ich bin ja auch schon zum vierten Male hier zu Besuch.

– Aber so viel Schnurren wie dieses Mal haben Sie noch nie gemacht. Und neulich das, als die Fürstin Kaatzenstein hier war . . .

– A propos – unterbrach Friedrich, während er seine Hand auf die Lauras legte – hast du denn die Kaatzenstein eingeladen?

– Aber selbstverständlich! Und ich freue mich wahnsinnig auf sie. Sie ist eine entzückende Frau, wenn sie gut aufgezogen ist.

– Die Aufgabe, sie zu montieren, kannst du getrost Henry überlassen.

– Ich denke ja nicht daran! Henry hat an meinem Abend ganz andere Aufgaben! Die Fürstin werde ich durch den Pastor Gericke aufdrehen lassen! Sie ist doch Anhängerin des Superintendenten Blasius, der im »Aufrechten« schreibt; also muß ihr der orthodoxe Gericke ja rotes Tuch sein! Das genügt, um sie in die richtige Laune zu bringen.

– Es scheint mir, sagte Friedrich, du hast für dein Fest einen höchst vollkommenen Manöverplan entworfen. Spiel und Gegenspiel scheinen mir recht genau abgewogen.

– Vielleicht, Friedrich. Du weißt, ich mache nicht gern halbe Arbeit. Wenn schon, denn schon. Ich will, 61 daß man noch nach ein paar Jahren sagt: Na, wißt ihr, Kinder, damals der Ball bei Laura Lagosch, der hatte sich gewaschen. Ich will, daß man diesen 20. Februar im Gedächtnis behält. Und man wird ihn im Gedächtnis behalten.

Der letzte Satz war in einem seltsam veränderten Ton gesprochen worden.

Mechthild, die gerade eine Birne schälte, hielt einen Augenblick inne, schaute nach Friedrich, welcher sich neuen Wein eingoß, schaute dann nach mir, der eine Orange zerteilte, und schließlich auf Laura, welche eine Sekunde lang die Augen geschlossen hatte.

– Was ist denn? fragte Laura.

– Nichts.

– Ja, warum schaut ihr mich denn alle so an?

– Haben wir dich so angeschaut? fragte Friedrich.

– Und wie! Was habe ich denn gesagt?

– Sie haben ein Geheimnis verraten, sagte ich.

– Ein Geheimnis verraten? Wieso?

– Ihre veränderte Stimme gab uns zu verstehen, daß Sie berechtigte Gründe haben, anzunehmen, Ihr Ball werde vielen im Gedächtnis bleiben. Diese berechtigten Gründe sind Ihr Geheimnis.

– Ja, sagte Laura mit einem leisen, mit einem glücklichen Lächeln, ich habe ein Geheimnis.

– Willst du Gisela verloben? fragte Friedrich.

Laura sah ihn lange an:

– Wie geschmacklos Männer sein können! 62

– Möglich, sagte Friedrich gelassen. Du weißt, ich war nie einer von den übertrieben Feinfühligen. Wozu die Zeitverschwendung? Da du uns schon sagst, daß du ein Geheimnis hast, warum sollten wir nicht versuchen, es zu erraten?

– Vielleicht hast du recht, Friedrich. Aber das meine könnt ihr nicht erraten.

– Willst du es uns nicht sagen? fragte Mechthild, spürbar ungeduldig.

– Ihr ahnt nicht, wer auf meinen Ball kommt.

Auf allen Gesichtern war die Spannung unverkennbar, fast komisch. Selbst Anton, der kleine Diener, der sich am Büfett etwas zu schaffen machte, drehte ein wenig – ein ganz klein wenig – den feinen, dunklen Kopf nach dem Tisch zurück. Schwester Luise, das neugierigste aller menschlichen Wesen, hielt sich kaum ruhig auf ihrem Stuhle. Ihre Blicke hingen an Lauras Mund. Sie lagen auf der Lauer nach dem enthüllenden Wort, wie der Jäger nach dem Wild.

– Du könntest mir eigentlich eine Zigarette geben, sagte Laura zu Friedrich.

Friedrich reichte ihr das große goldene Etui, ein Erbstück seines Großvaters. Sie nahm eine Zigarette, zündete sie an dem Streichholz an, das Anton reichte, blies den ersten Zug langsam und genießend in die Luft und lehnte sich dann in ihren Sessel zurück, den rechten Arm nach der Tischkante ausstreckend und 63 die vielen Armbänder fast bis an den Handrücken niedergleiten lassend . . .

– Sollen wir den Kaffee hier trinken? fragte Mechthild, mehr um das brennende Schweigen zu unterbrechen als um eine Antwort zu erhalten . . .

– Aber gerne, antwortete Laura. Es sitzt sich so schön um diesen runden Tisch. Auch liebe ich so sehr diesen Speisesaal mit seinen zwei flammenden Kaminen. Anton, drehen Sie doch die Wandlampen aus . . . So, das ist noch einmal so schön. Wie sich der Schein des Feuers im Parkett spiegelt . . . seht doch, dort, gegen die Dielentüre hin . . . Schneit es eigentlich immer noch?

– Jawohl, Frau Baronin, erwiderte Anton. Es schneit, was es nur schneien kann. Der Schnee reicht schon bis zum Geländer der Einfahrtsrampe . . .

– Bringen Sie auch die Liköre hierher, Anton, und die Zigarren.

Anton huschte zur Tür hinaus. Er flog fast. Sein Fortgehen verkündete die rasende Ungeduld, so rasch wie möglich zurück zu sein, damit ja das ersehnte Zauberwort in seiner Gegenwart falle.

– Ich überlege gerade, sagte Laura zu mir, ob Sie nicht schon am Dienstag zu mir kommen sollen. Es gibt doch vielleicht mehr zu besprechen, als man denkt.

– Ausgeschlossen, rief Friedrich. Am Dienstag abend kommt Helene Seydlitz zu uns. Henry hat uns 64 versprochen, die ersten Kapitel des Romans zu lesen, den er hier geschrieben hat.

– Kann denn Helene nicht am Montag kommen?

– Nein. Am Montag sind wir bei Georg Heroldingen eingeladen. Unmöglich abzusagen. Du weißt, wie empfindlich man da ist. Außerdem soll Henry doch den Prinzen Kulm kennenlernen, der ihn wegen des Verkaufs seiner Inkunabeln um Rat fragen will.

– Müssen denn die Kulms verkaufen?

– Aber wer muß denn nicht verkaufen heute, liebste Laura? Meinst du denn, ich könnte neben Schönfeld Klein-Menichenzell noch halten, wenn ich nicht durch Mechthilds Vater die guten belgischen Industriepapiere hätte?

– Die Satulins aus unserem Kreis verkaufen auch.

– Was? Doch nicht etwa Pratow?

– Doch.

– An wen?

– An einen Holländer.

– So. Wohl Mittelsmann für einen Polen?

– Ich weiß es nicht. Aber schon möglich. Jedenfalls sind die Dehors gewahrt.

– Schrecklich, sagte Schwester Luise.

– Ja, Sie haben recht, Schwester, bestätigte Laura. Es ist schlimm genug. Aber was sollen die Leute machen, wenn sie die Steuern nicht mehr aufbringen können?

– Wollen wir nicht das Thema fallen lassen? fragte Mechthild. Wir können nichts ändern an diesen trüben 65 Dingen, und es wird nichts besser, wenn wir uns auch noch so sehr den Kopf zerbrechen.

– Frau Baronin von Lagosch werden an den Fernsprecher gebeten, von Berlin aus, Hotel Bristol, meldete Joseph, der erste Diener.

– Willst du in meinem Arbeitszimmer sprechen? fragte Friedrich.

– Gerne.

– Stellen Sie um, Joseph, und führen Sie die Baronin.

Laura, einen Zug der Genugtuung auf den Lippen, folgte dem Diener. Wir blieben allein.

– Was kann denn da nur los sein? fragte Friedrich. Wer kann denn nur schon nach Kobolnow kommen, von dem man soviel Aufhebens macht?

– Es muß doch eine große Überraschung werden, meinte Schwester Luise, die mit Entsetzen die Uhrzeiger gegen die neunte Stunde vorrücken sah. Um neun Uhr mußte sie in ihre Kinderkrippe zurück, Abend für Abend. Und sie erschrak bei dem Gedanken, daß sie das Geheimnis nicht erfahren werde.

Anton brachte Kaffee, Zigarren und Liköre. Et stellte alles mit großer Umständlichkeit auf den Tisch und begann, mit herausfordernder Langsamkeit die Fingerschalen, Obstbestecke und Obstteller von der Anrichte fortzuräumen. Friedrich sah ihn an:

– Was ist denn mit Ihnen los? Sind Sie müde? Ihr habt wohl ziemlich lange Schnee geschaufelt? 66

– Jawohl, Herr Baron. Wir haben nach Süden hin schon alles fortgeschafft. Wenn es Tauwetter gibt, kann es leicht in den Holzkeller tröpfeln. Dann brennen die Scheite nicht. Ich wollte gerne noch Scheite in allen Räumen verteilen.

– Ja, das ist ganz vernünftig. Machen Sie das jetzt noch. Dann können Sie morgen eine Stunde länger schlafen. Verstanden?

– Jawohl, Herr Baron. Und gehorsamsten Dank.

Er verneigte sich, sah mich im Hinausgehen eine zehntel Sekunde lang an – erhaschte meine Bestätigung: »Fein gedeichselt« – und verschwand.

– Ob nicht doch Baronesse Gisela sich verlobt? fragte Schwester Luise. Ich wünschte ihr so rasch wie möglich einen recht netten und recht reichen Mann. Das ist mehr wert als das ganze Medizinstudium.

– Ich glaube, daß Gisela nicht Ihrer Ansicht ist, entgegnete Mechthild.

– Das täte mir leid! Welches reizende Mädchen! So rein, klug und zurückhaltend. So durch und durch vornehm. Nein, ich kann mir sie nicht im Anatomiesaal denken. Diese Hände an Leichen . . .

– Wen können Sie sich nicht im Anatomiesaal denken? fragte Laura, die eben wieder zurückkam.

– Baronesse Gisela, erwiderte Schwester Luise.

– Ja, Schwester, ich auch nicht recht. Aber was soll man da machen? Ich habe – und zumal in den heutigen Zeiten – kein Recht, meinem Kinde den Weg zu 67 versperren, den es sich gewählt hat. Mag es ihn gehen. Der Enderfolg wird entscheiden. Vorher gilt es, abzuwarten und wachsam zu sein. – Also, meine Herrschaften, ich soll euch samt und sonders grüßen, und zwar sehr herzlich, von Blanche.

– Ach, von Blanche, rief Friedrich. Von Blanche! Sieh da. Blanche von Berry hat dich angerufen. Also wußte sie, daß du hier bist.

– Ja, das wußte sie. Denn sie kommt auch zu meinem Ball, war sich aber noch nicht über den Tag ihrer Ankunft klar. Nun sagt sie mir, daß sie morgen abend Berlin verläßt und also übermorgen früh, am Sonntag, bei mir sein wird. Meine Freude könnt ihr euch wohl vorstellen.

– Und meine wohl auch, ergänzte ich.

– Allerdings, sagte Laura. Nun kommen Sie vielleicht doch schon am Dienstag? Trotz Helene Seydlitz und Prinz Kulm?

– Nein. Ich komme am Mittwoch, wie es ausgemacht war.

– Prost! rief mir Friedrich zu, sein Cognacglas hebend.

– Prost, Friedrich, sagte ich. Wir verstehen uns.

– Wir haben uns immer verstanden, obwohl ich dir manchmal den Hintern versohlen möchte, wenn dir dein gottverdammtes rheinisches Maul durchgeht.

– Ich glaube eher, Friedrich, sagte Laura, daß unter dem Einfluß deines geliebten Volnay das deine im Begriffe ist, dir auf preußisch durchzugehen. 68

– Möglich, murmelte Friedrich. Aber ich möchte jetzt endlich einmal wissen, welche fabelhafte Nummer denn da eigentlich auf deinem Balle erscheint, damit ich mich schon jetzt gebührend auf sie vorbereiten kann.

Schwester Luise sah nach der Uhr. Es waren noch vier Minuten bis neun. Sie zitterte vor Erregung. Also doch noch. Doch noch.

Die Tür zur Diele wurde aufgemacht – Anton erschien, einen Weidenkorb voll riesiger Holzscheite auf dem Rücken. Schwester Luise hätte ihn am liebsten hinausgepustet – sie fürchtete eine neue Stockung oder Abbiegung des Gesprächs. Sie warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, schüttelte mit dem Kopf, hob die Augen gegen die Decke, ballte ihre kleine, feiste Hand zur Faust, entspannte sie wieder und verbot sich mit übermenschlicher Anstrengung die Frage, die auf ihren Lippen brannte. Anton schloß leise die Tür hinter sich, ging in großem Bogen um den Tisch nach dem ersten der beiden Kamine, nahm den Korb vom Rücken und verschnaufte.

– Sie sind wirklich ein rührender Junge, sagte Mechthild. Das hätten Sie doch auch noch morgen machen können.

– Was ich heute machen kann, tue ich lieber heute, Frau Baronin, sagte Anton. Morgen kann das Holz schon naß im Keller sein – und dann qualmen die Kamine. 69

Und er begann, niederkniend, mit übertriebener Sorgfalt die Scheite zu setzen. Aber er war nur Ohr, und seine Neugierde war wohl noch größer als die der Schwester Luise. Möglicherweise aus Gründen, die er bestimmt nie preisgeben würde: um so weniger, als sie vielleicht eine Berechtigung hatten.

Laura zündete eine neue Zigarette an, ließ sich einen Kirsch geben, setzte sich wieder in ihren Stuhl, nachdem sie – offenbar absichtlich – eine ganze Weile gestanden hatte, und sagte, ohne jeden Übergang, auch ohne jede Unterstreichung:

– Ich habe auf meinen Ball den Grafen Michael Solduan-Schömschö eingeladen. Er wird schon am Donnerstag zu uns kommen.

– Donnerkeil! platzte Friedrich heraus, das ist allerhand!

– Allmächtiger Gott und Jesus Christ! schrie Schwester Luise und hielt sich an der Lehne ihres Stuhles fest, aus dem sie hochgefahren war.

– Das nenne ich Zivilcourage, sagte Mechthild.

– Ich freue mich, Michael Solduan wiederzusehen, sagte ich.

Selbst Anton war vor dem Kamin emporgeschnellt. Eine unbändige, undeutbare Freude flog über sein Gesicht, losch in derselben Sekunde wieder hinter der Maske der Gleichgültigkeit, Unbeteiligtheit, aus – lebte aber fort in dem plötzlich beseelten und beschleunigten Rhythmus, mit dem nun die Scheite 70 auf den seitlichen Kaminfliesen zum Austrocknen aufgestaut wurden.

Schwester Luise war die erste, welche das Wort fand. Sie ging bis dicht vor Lauras Stuhl und jammerte, die ineinandergelegten Hände wie bittend erhoben:

– Frau Baronin wollen das wagen – nach allem, was sich ereignet hat? . . . Das ist doch nicht möglich . . .

– Ich glaube auch, sagte Friedrich, der mit großen Schritten vor dem Kamine hin und her ging . . . ich glaube auch, daß du dir viele Unannehmlichkeiten machen könntest . . .

– Ich habe keine Angst . . . Im übrigen kenne ich meine Pappenheimer. Es wird kein Mensch sich unterstehen, sich anders zu benehmen, als ich es von ihm erwarte.

– Bist du dessen so sicher? fragte Mechthild.

– Unbedingt.

– In deinem Hause wird nichts geschehen, sagte Friedrich. Aber die Folgen?

– Die Folgen?

– Man wird Frau Baronin Mangel an Rücksicht auf das treudeutsche Empfinden des Adels vorwerfen, wie es schon mehrere Male geschehen ist . . . Man wird sagen, daß Frau Baronin Vaterlandsverrätern ihr Haus öffnen, Leuten, die man in Ostdeutschland nicht mehr empfängt, sagte Schwester Luise mit einer Stimme, in der schon ein Weinen war . . . 71

– Wer empfängt wen nicht mehr? Wer hat Deutschland verraten?

– Aber der Graf Solduan-Schömschö! Er ist doch um des Mammons willen Pole geworden, weinte nun Schwester Luise heraus.

– Liebe Schwester Luise, sagte Laura mit jener Ruhe, welche uns nur äußerste Erregung zu geben vermag, Ihr deutsches Empfinden macht Ihnen alle Ehre: aber so, wie Sie die Dinge sehen und wie gewissenlose Schwätzer, denen der Neid das Wort eingibt, sie Ihnen darstellen, sind sie in Wirklichkeit ganz und gar nicht. Das lassen Sie sich gesagt sein von jemand, der in dieser Sache wirklich Bescheid weiß. Und morgen werde ich Ihnen einmal die Zusammenhänge erklären. Sie müssen jetzt zu Ihren Kindern, es hat schon vor zehn Minuten neun geschlagen . . . Sie können ruhig schlafen über den Aufregungen, die Ihnen meine Mitteilung gemacht hat: sie sind unbegründet. Ich will Ihnen gern ein Schlafpulver geben, wenn Sie es wünschen . . .

Schwester Luise trocknete ihre Tränen.

– Wollen Frau Baronin mir verzeihen . . . Ich habe es nur gut gemeint.

– Das weiß ich, sagte Laura und hielt der Schwester ihre Hand hin . . .

– Also auf morgen . . .

– Auf morgen, wiederholte Schwester Luise. Ich wünsche allerseits gute Nacht. 72

– Gute Nacht, Schwester Luise, tröstete Mechthild. Sie müssen sich nicht so unnötig aufregen.

Und sie klopfte der immer noch Weinenden auf die Schulter . . .

Ich brachte Schwester Luise bis zur Diele.

 

– Es ist unfaßlich, sagte Laura, als ich eben zurückkam . . .

Aber sie hielt plötzlich inne und machte Friedrich ein Zeichen gegen Anton hin, der immer noch Holz schichtete.

– Lassen Sie diese Arbeit jetzt, Anton, sagte Friedrich. Gehen Sie schlafen.

– Ich bin gerade zu Ende, Herr Baron. Ich werde die Scheite für den zweiten Kamin dann morgen vormittag setzen . . . Darf ich gehorsamst gute Nacht wünschen . . .

– Es ist unfaßlich, begann Laura wieder, als wir unter uns waren, daß ihr Schwester Luise in solchem Umfange an euren Unterhaltungen teilnehmen laßt. Ich verstehe das nicht.

– Da hast du's, sagte Friedrich, sich an Mechthild wendend. Ich bin geradezu erlöst, daß dies endlich einmal jemand offen ausspricht. Seit Jahr und Tag kämpfe ich mit Mechthild gegen diese westdeutsche Unsitte unnötiger Vertraulichkeit – aber ohne jeden Erfolg. Schwester Luise gehört zum Haus. Schwester 73 Luise ist die anständigste Person der Welt, die vertrauenswürdigste, verschwiegenste . . . Schwester Luise ist treu wie Gold – –

– Ist sie auch! Und nun Schluß mit diesem Quatsch! rief Mechthild, während sie aufstand und ihre Zigarette in das Kaminfeuer schleuderte. Ihr wißt ganz genau, daß ich mich euren feudalen Auffassungen gerade in diesem Punkte nie und nimmer füge! Machen wir doch gefälligst aus einer Maus keinen Elefanten – und führen wir keine Debatten über die Beschränktheit einer pflichttreuen kleinen Fürsorgeschwester.

– Darf ich meine Meinung sagen? fragte ich . . . Entweder ihr laßt Schwester Luise an eurem Tische essen: dann hat sie auch als gleichberechtigtes Glied der Tischgesellschaft das Recht, an euren Unterhaltungen teilzunehmen. Denn es gibt nichts Demokratischeres als die gemeinsame Tafelrunde. Wollt ihr aber nicht, daß sie hört, was ihr denkt: dann laßt ihr sie nicht mitessen oder redet belangloses Zeug.

– Echt Henry, sagte Laura. Aber die Sache ist ja noch viel einfacher! Ihr mögt mir nun glauben oder nicht. Es kommt – am Ende der Geschichte – aus solchen Vertraulichkeiten nichts Gutes heraus. Das ist meine rein menschliche Erfahrung, die mit Ost- oder Westdeutsch nicht das geringste zu tun hat. Man kann sich unbedingt nur auf dem gleichen Niveau richtig verstehen. Auf dem gleichen Niveau der 74 Auffassungsfähigkeit, meine ich. Allzudeutliche Niveauunterschiede bedingen immer Mißverständnisse.

– Man kann sich auch mit dem Herzen verstehen, liebe Laura.

– Zugegeben. Aber nicht in Dingen, wie sie eben zur Erörterung standen. Das beweist ja schon Friedrichs Haltung, der von meinem Entschluß mindestens ebenso betroffen war wie diese gute Schwester Luise.

– Friedrich ist immer geneigt, nachzureden, was man hier im Kreise redet . . .

– Pardon, liebe Mechthild! Niemals, wenn ich die Möglichkeit habe, eine Meinung auf ihre Berechtigung oder Nichtberechtigung zu prüfen. Wie sollte ich diese Möglichkeit im Falle Solduan-Schömschö haben?

– Indem du dich bei mir unterrichtest! rief Laura. Denn du weißt ja doch, daß ich mit Michael sehr eng befreundet war und bin . . .

– Ich bin ganz Ohr, sagte Friedrich. Ich bin immer ehrlich bereit, mich unterrichten zu lassen.

– Also gut. Setzen wir uns wieder und gehen wir dem »Fall« Solduan-Schömschö auf den Grund.

– Unterstützt von einem Cognac, ergänzte Friedrich. Ich stifte einen alten Armagnac, das Lieblingsgetränk der Fürstin Kaatzenstein. Du mußt sie gut unter Cognac halten, Laura, dann wird sie bezaubernd.

Laura ging auf die Anspielung nicht ein. Sie hatte die Stirn in Falten gezogen und starrte ins Feuer. Ihr 75 Gesicht war völlig verändert, verkümmert fast und verdüstert.

– Also ich werde euch den Fall auseinandersetzen. Bis vor drei Jahren war Michael Kavallerieoffizier in Augustenburg. Er war der Liebling der Garnison, der Stadt, des Kreises. Er war arm. Was er war, war er durch sich selbst. Man wußte, daß er vielleicht eines Tages über große Reichtümer verfügen würde. Falls sein durch die Friedensverträge polnisch gewordener Onkel Stasinsky – der einzige kinderlose Bruder seiner Mutter – ihn zum Erben einsetzen würde. Aber das war mehr als fraglich. Es war ja noch ein zweiter Anwärter da: der Neffe von Stasinskys Frau, der Balte, heute Lettländer, Bringk. Ziemlich sicher dagegen schien es, daß Michael seinen ungarischen Onkel Schömschö beerben würde, der eine Schwester seiner Mutter zur Frau hatte. Die beiden Söhne Schömschö waren sehr jung im Krieg gefallen. Doch war der Schömschösche Besitz belastet und nicht ein Viertel so viel wert wie der Stasinskysche. Kurz und gut: vor nunmehr drei Jahren trat der außergewöhnliche Fall ein, daß ein armer deutscher Kavallerieoffizier Erbe eines der größten und reichsten Rittergüter des polnischen Korridors wurde. Alleiniger, uneingeschränkter Erbe. Das Testament enthielt keinerlei Klauseln. Die Rechtslage war unzweideutig. Auch das, was Michael zu tun hatte. Quittierte er nicht den Dienst und entschloß er sich nicht, die polnische Staatsangehörigkeit 76 anzunehmen – wodurch er infolge seines großen Vermögens ein äußerst wichtiger Faktor der deutschen Minderheit wurde –, so lief er Gefahr, sein Erbe in Wirklichkeit nie antreten zu können. Man hätte ihn abgefunden – ihr wißt doch, daß solche Abfindungen immer weit unter dem wirklichen Wert des Besitztums geschehen – und das ungeheure Gut einem Polen in die Hände gespielt oder an Kleinbauern aufgeteilt. Michael hat also, indem er polnische Nationalität annahm, beträchtliche deutsche Interessen gewahrt. Um so mehr, als das Gut im nördlichen Korridor liegt, an dessen ewigen Verbleib bei Polen kein Mensch glaubt. So ist die wahre Lage. Und aus diesen Tatsachen, die man beliebig verfälscht und in unwahre Zusammenhänge gerückt hat, haben neidische und gehässige Menschen Michael einen Strick zu drehen versucht. Ihr wißt, was der Verleumder vermag, wenn er will. Und ihr wißt auch, daß, wenn es gilt, die vaterländische Gesinnung eines Menschen anzuschwärzen, die Niedrigkeit der Hetze oft in genau demselben Maße wächst, als die Hetzer den sogenannten »gehobenen« Schichten angehören. Bei Michael kam noch dazu, daß viele Herren unserer Kreise ihm schon zur Zeit, als er noch Offizier war, wegen seiner außergewöhnlichen Begabung und seiner großen Erfolge bei Frauen aufsässig waren. Man konnte ihm so gar nichts vormachen, man konnte ihn für so gar nichts gewinnen, was ihm nicht lag: und es lag ihm eben fast nichts 77 von alledem, was diese Herren liebten: weder die Karten, noch die Jagd, noch der Wein. Es lag ihm der Sport in seinen feineren Formen, das gute Buch, das gute Konzert und das lange stille Gespräch zu zweien. Es lag ihm das Automobil und die Wanderung zu Fuß durch schöne Landschaft. Er hat sich, seit seiner Übersiedlung nach Schloß Stasyn, wenig in Berlin und noch weniger hier in unserem Lande sehen lassen. Wenn behauptet wird, daß ihn manche Häuser nicht mehr empfangen haben, so ist das erlogen. Wo er selbst noch hingehen wollte, ist er wie je empfangen worden. Und wo er nicht mehr hinging, brauchte man ihm nicht das Tor zu verschließen. Im übrigen kann ich euch sagen, daß er zu lächeln versteht – und immer gegen Dummheit nachsichtiger war, als man eigentlich zu sein pflegt.

Nun, da ich ihm auf das engste befreundet bin, da Eugo dieselben Empfindungen gegen ihn hegt wie ich, da meine beiden Kinder ihn lieben: so habe ich ihn gebeten, zu diesem Ball zu kommen: dem letzten für lange Zeit, den Kobolnow sehen wird. Ich bürge ihm – durch mich allein – dafür, daß er nicht ein einziges häßliches Wort in meinem Hause zu hören bekommt. Ich bürge aber auch dafür, daß, wer sich das geringste zuschulden kommen läßt, mein Haus niemals mehr betreten wird. Bei mir herrsche ich – und nicht die öffentliche Meinung unserer Kreise, mit der ich es in jeder Minute aufnehme. Wer ich bin, weiß jeder. Ich 78 gehöre mit meinem ganzen Herzen der Deutschnationalen Partei an, ich bin durchaus monarchistisch gesinnt und offene Gegnerin dieser Republik – ohne sie dauernd zu beschimpfen –, ich bin überzeugte Protestantin. Das hindert mich nicht, mit ehrlichen Menschen anderer Richtung ehrlich befreundet zu sein. Henry ist katholisch, gehört zu gar keiner Partei und glaubt an die republikanische Staatsform. Trotzdem kommen wir vorzüglich miteinander aus. Solche Exempel müssen heute gerade in unserem Stande statuiert werden. Sonst verkommt dieser Stand in seinem Dünkel und in seiner Borniertheit. Fragen Sie, was Ihnen die Fürstin Kaatzenstein dazu zu sagen hat. Schade, daß man ihre Memoiren seit 1918 noch nicht lesen kann . . .

– Bravo, Laura, bravo! schrie Friedrich, hingerissen von der Leidenschaft, mit der Laura Lagosch gesprochen hatte. Darauf wird Sekt getrunken . . .

– Mein Gott, sagte Laura, darauf Sekt! Auf lauter Binsenwahrheiten Sekt! Soweit sind wir gekommen, daß man den selbstverständlichsten Gemeinplatz mit Sekt begießt . . .

– Liebe Laura, sagte Friedrich, schon an der Tür, denn er wollte den Champagner selbst im Keller holen, liebe Laura: heute ist gar nichts mehr selbstverständlich. Am wenigsten, daß einer eine Meinung hat, für die er einsteht . . . Du brauchst mich gar nicht so frech anzusehen, Henry. Ich weiß schon, wo du hinauswillst. 79

– Was ist denn los? fragte Laura.

– Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, sagte ich. Friedrich hat sich neulich als ein wahrer Held der Fürstin Kaatzenstein gegenüber erwiesen. Er hat den Untertan markiert, wie er im Buch steht.

– Sie haben manchmal unangenehm proletarische Instinkte, sagte Laura.

– Sie wissen ja, liebste Laura, que les extrêmes se touchent! Gerade deswegen haben Sie mich doch in Arosa Ihrer Freundschaft würdig befunden. Blaues Blut will immer an die Wurzeln der Natur . . .

 

– Sie haben noch einen Augenblick für mich Zeit? fragte mich Laura Lagosch, als wir gegen halb elf in unsere Zimmer hinaufstiegen, die auf demselben Flur lagen.

– Aber selbstverständlich. Wir werden noch einen Whisky trinken, den ich immer bei mir habe, wie Sie wissen.

– Ach ja . . . ich entsinne mich jetzt . . . Die Zeiten ändern sich – unsere Erlebnisse wechseln – aber diese kleinen Gewohnheiten bleiben.

Wir traten in mein Arbeitszimmer, auf dessen Tisch schon die Lampe brannte: eine tägliche Aufmerksamkeit des kleinen Anton.

– Gott, sagte Laura, Sie haben ja noch dasselbe 80 Eau de Cologne wie damals . . . Es riecht hier genau wie in Ihrem Zimmer in Arosa.

– Und wenn Sie in das verschneite Land hinausschauen, könnten Sie denken . . .

– O nein, Henry. O nein. Die Gegenwart ist stärker. Es ist zuviel geschehen in diesen sieben Jahren.

– Ja, Laura. Es ist allerdings viel geschehen. Und wir sind nicht viel jünger geworden.

– Finden Sie mich älter geworden, Henry? Sehr viel älter?

– Sehr viel älter? Nein. Aber älter. Herber.

– Sehen Sie, Henry, das ist wieder diese einfache Offenheit, mit der Sie mich damals eroberten. Warum, sagen Sie mir nur, warum in aller Welt müssen sich die Menschen immer etwas vorlügen?

– Weil sie schwach sind. Die Männer oft noch viel schwächer als die Frauen – und noch viel eitler, da geistig eitel. Wo wollen wir uns hinsetzen?

– Hier, auf das Ecksofa. Schalten Sie das Oberlicht aus. Kommen Sie zu mir, Henry. Denken wir, es sei noch alles wie damals.

– Was ist mit Ihnen?

– Ich bin nicht glücklich, Henry. Ich bin in einem schlimmen Übergang. Es geht in mir etwas zu Ende, von dem ich lange gelebt habe und das nun schon seit drei Jahren abstirbt.

– Ein Mensch?

– Nicht einmal. Eine Liebe. Das ist nicht das gleiche. 81

– Gewiß nicht.

– Ich könnte auch sagen: ein Trost.

– Wollen Sie nicht zu mir sprechen?

– Doch. Das will ich. Und ich will Ihnen auch ganz offen sagen: ich habe eigentlich nur Ihretwegen den Umweg über Schönfeld gemacht. Denn zu meinem Ball hätte ich Sie ja auch mit ein paar Zeilen einladen können. Ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich wollte wissen, ob in Ihnen von jenem Winter noch etwas für mich übriggeblieben ist.

– Ich hoffe, Sie haben sich schon die Antwort selbst gegeben?

– Ja, das habe ich.

– Dann bin ich zufrieden.

– Sie könnten nicht ein wenig bei uns bleiben, wenn der Ball vorüber ist?

– Es wäre Ende Februar unmöglich. Ich habe in einigen westdeutschen Städten zu sprechen. Die Termine sind nicht abzuändern. Aber ich kann im Juni ein paar Tage kommen, wenn ich aus Griechenland zurück bin. Oder wir treffen uns irgendwo im Süden.

– Das wäre ein Gedanke. Wir wollen sehen, ob es die Umstände erlauben. Vielleicht in Venedig?

– Warum nicht?

– Es würde mir gut tun. Es wäre mir sogar sehr nötig. Sagen Sie: Haben Sie Michael Solduan eigentlich näher gekannt? 82

– Nein. Nicht, was wir »näher« nennen. Aber immerhin nahe genug, um mir ein Bild von ihm machen zu können.

– Und wie ist dieses Bild?

– Günstig. Freundlich. Sehr liebenswert.

– Nicht mehr? Nicht in irgendeinem Zug bedeutsam?

– Nein. Dazu ist Michael viel zu sehr fin de race.

– Ist er das wirklich?

– Zweifeln Sie daran?

– Heute vielleicht nicht mehr, und erst recht nicht mehr, wenn Sie mir bestätigen, was ich selbst von Jahr zu Jahr immer deutlicher empfand. Halten Sie ihn für das, was man einen Charakter nennt? Für einen Menschen, der einsteht für das, was in ihm ist?

– Darauf kann ich erst antworten, nachdem ich ihn wieder gesehen habe. Ich weiß nicht, ob er etwas in sich hat, für das es sich lohnte, einzustehen.

– Dann kennen Sie ihn doch nur sehr oberflächlich. Dieser Mensch trägt eine ganze Welt in sich, die er vor allen anderen verschlossen hält. Er lügt nicht. Aber er kennt keine Offenheit.

– Ich nehme an, dann darf er nicht offen sein?

– Warum nicht? Warum nicht einmal gegen diejenigen, welche ihn lieben?

– Man gibt sich nur da, wo man selbst liebt.

– Ein Mann gibt sich nicht. Er nimmt.

– Oh. Ein Mann, der liebt, gibt sich grenzenlos.

Laura stand auf und ging gegen das Erkerfenster, 83 an das die Schneeflocken anwirbelten. Sie sah lange in die Nacht hinaus. Dann wandte sie sich zurück und setzte sich auf die Seitenlehne des Sofas, etwas entfernter von mir.

– Vor fünf Jahren fing es an, Henry. Damals war er noch Leutnant im Kavallerieregiment in Augustenburg. Mein Haus und ich selbst wurden ihm Zuflucht.

– Zuflucht. Ja. Das glaube ich.

– Zwei Jahre lang war ich sehr glücklich. Es war ein Duft da. Ein Heimliches. Dann kam die Erbschaft und die Veränderung. Die langen Trennungen, die seltener werdenden Briefe, die wenigen Begegnungen in Berlin. Heute weiß ich, daß die Spule abgelaufen ist. Vielleicht auch in mir.

– Aber warum haben Sie ihn denn eingeladen?

– Einmal aus den Gründen, die ich Ihnen vorhin gesagt habe. Ich will mich zu ihm bekennen gegen die sinnlosen Verleumdungen, denen er ausgesetzt ist. Ich will ihm die Wege wieder öffnen in diesem Land, mit dem er verwachsen ist. Aber ich will ihn auch wiedersehen. In meinem Haus. In der Luft, die mich umgibt. Ich will mit ihm sprechen. Ich will ihn selbst zum Sprechen zwingen. Ich will eine neue Form für diese Freundschaft finden. Es sind da Dinge, die ich nicht durchschaue. Ich will Klarheit darüber, wer und was dieser Mann ist. Und ich glaube, Henry, er will dieselbe Klarheit. Sie sollen lesen, was er mir schrieb auf meine Einladung hin. So schreibt man nicht, 84 wenn man nicht gerne kommt, ja wenn man nicht wie aus innerem Drange kommt. Aber es ist noch ein dritter Grund, der mich bestimmt hat. Lachen Sie nicht. Schelten Sie mich nicht: ich will, daß er Gisela sieht. Er hat sie oft im Scherz seine kleine Schwester genannt. Ich will, daß er sie sieht, so wie sie heute ist.

– Wie stand denn Gisela mit ihm?

– Sie war ja noch ein Kind in den Jahren, als er zu uns nach Kobolnow kam; aber sie liebte ihn damals sehr.

– Und heute?

– Das weiß ich nicht. Sie ist ein sehr verschlossenes Geschöpf, jedem Flirt abgeneigt und ganz an ihre Arbeit hingegeben. Dabei ist sie so schön, daß die Leute auf der Straße stehen bleiben, wenn sie vorübergeht.

– Wann kommt denn Michael in Kobolnow an? Vor mir oder nach mir?

– Einen Tag nach Ihnen, am Donnerstag abend. Aus Warschau.

– Und wann kommt Blanche von Berry?

Laura starrte mich an. Der Ausdruck ihrer Augen war so sehr der eines jähen Erschreckens, daß ich selbst fast erschrak.

– Wie kommen Sie gerade jetzt auf diese Frage?

– Aber auf die natürlichste Weise der Welt! Sie sagten uns doch vorhin, daß Blanche Sie von Berlin aus angerufen habe. Da ich Blanche sehr gut kenne, 85 da wir beide ja Rheinländer sind und ich mich außerordentlich freue, sie so unerwartet wiederzusehen, hat doch meine Frage nichts Verwunderliches! Wenn man von der Ankunft des einen spricht, kann man doch nach der Ankunft des anderen fragen.

– Sie haben ganz recht, Henry. Ich bin überreizt heute abend. Ich sehe Dinge, die nicht sind. Ich fange an, mich vor mir selbst lächerlich zu machen.

– Was für Dinge sehen Sie?

– Fragen Sie mich bitte nicht. Ich würde Ihnen die Antwort verweigern müssen. Wann haben Sie denn Blanche zuletzt gesehen?

– In Paris, im Dezember. Als sie von Buenos Aires kam, wo sie ihr großmütterliches Erbteil abgeholt hatte.

– Ach damals! Ja, auch sie hat geerbt. Und wie! Sie ist sehr reich. Ich gönne es ihr.

– Sie ist ein ganz reizender Mensch.

– Sieh da! Es ist recht selten, daß man Henry Benrath in so gehobenen Tönen reden hört.

– Wieso? Ich habe immer ein ganz besonderes Faible für Blanche gehabt.

– Ich auch!

– Desto besser! Dann begegnen wir uns ja in dieser gemeinsamen Zuneigung, außer in unserer eigenen.

– Ach Henry, Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin, mit Ihnen sprechen zu können! Und wie ich mich auf Ihr Kommen freue. Blanche kommt schon am 86 Sonntag vormittag nach Kobolnow. Sie muß mir sehr behilflich sein in meinen Vorbereitungen. Sie versteht so etwas ausgezeichnet. Eigentlich ein Jammer, daß sie noch immer nicht den rechten Mann gefunden hat.

– Sie können manchmal schreckliche Dinge sagen, Laura.

– Wieso?

– Aber ist es denn das einzige Glück auf Gottes großer und schöner Erde, einen Mann zu finden? Und zumal für ein Geschöpf wie Blanche?

– Das einzige? Nein. Aber immerhin: schon ein Glück! Sagen Sie mir etwas über Blanche. Wie fanden Sie sie? In guter Verfassung? Lustig? Zufrieden? Frisch? Müd? Unternehmungslustig?

– Ich fand sie in denkbar guter Verfassung. Wir haben einmal zusammen in der Belle Aurore gegessen und einen schönen Spaziergang im Park von St. Germain gemacht.

– Sonst haben Sie sie nicht gesehen?

– Nein. Sie schien sehr in Anspruch genommen. Sie schien ein Geheimnis zu haben.

– So. Aber Sie ahnen nicht, welches?

– Ganz und gar nicht.

– Blanche versteht es meisterhaft, ihr Dasein in einen wahren Nebel von Geheimnissen zu spannen.

– Sie wird wissen, warum.

– Was soll das heißen? 87

– Nichts Besonderes. Alle klugen Leute tun das gleiche.

– Nach außen hin. Vor der Welt, meinen Sie?

– Natürlich. Die Neugierde dritter ist immer sehr zeitraubend. Wer unbemerkt bleibt, spart viel Kraft. Und wer, wie Blanche, mutterseelenallein in der Welt steht, hat doppelt viele unerwünschte Bevormundungen über sich ergehen zu lassen. Wie alt ist eigentlich Blanche?

– Sechsundzwanzig.

– Ist immer noch dieser Poppritz hinter ihr her?

– Um Gottes willen! Henry! Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!

– Also nein?

– Soweit ich unterrichtet bin, ist diese unglückliche Angelegenheit endgültig begraben. Blanche ist natürlich nicht von aller Schuld freizusprechen. Aber sie hat die große Torheit, sich mit diesem Raubtier eingelassen zu haben, mehr als bitter gebüßt.

– Was macht denn Poppritz heute? Ist er immer noch im Land?

– Ja. Sie werden ihn auf meinem Ball sehen. Ich mußte ihn einladen. Ich wollte nicht. Aber Eugo bestand darauf. Er sagte, man könne ihm nichts nachweisen von all den üblen Dingen, die ihm nachgesagt werden.

– Was wird ihm denn nachgesagt?

– Gott – Sie wissen doch, Henry, daß sich solche 88 Gerede immer nur um zwei Punkte drehen: um Frauen und Geld. Er soll Heiratsversprechungen gemacht haben, um pumpen zu können . . . Er soll auch Heeresgut verschoben haben . . . Da die Großmutter Poppritz eine Lagosch war, muß der Schein gewahrt werden. Eugo nennt ihn ein Opfer der Zeit. Durch den Krieg entwurzelt, als Offizier bei Auflösung seines Regiments gewissermaßen auf die Straße gesetzt, von einer verliebten Mutter irrsinnig verwöhnt, allem und jedem bösen Einfluß preisgegeben, dazu schön wie ein Gott und von den Frauen verhimmelt. Man müsse solchen Naturen nicht allen Halt nehmen, indem man ihnen die Türe zuschließt.

– Sehr schön und sehr menschlich von Eugo, aber ich glaube, der Fall des hochedlen Freiherm Sebastian von Poppritz auf Muschelsdorf liegt doch etwas anders.

– Wie anders?

– Ich möchte mich nicht aussprechen. Später einmal. Warten wir den Ball ab. Weiß denn Blanche, daß er kommt?

– Ja.

– Und?

– Es scheint ihr vollkommen gleichgültig zu sein.

– Na, dann ist es ja gut.

Wir schwiegen. Die Schloßuhr meldete die elfte Stunde. Laura hatte den Kopf in die Hand gestützt. Auf ihrem Gesicht lagerten wieder die traurigen Schatten, die Arbeit unfroher Gedanken verratend. 89

– Habe ich Ihnen eigentlich gesagt, begann sie nach langer Versunkenheit, daß Michael seit Anfang Januar auch Herr des ungarischen Besitzes von Sagosz-Töröszy geworden ist?

– Nein. Aber das gibt ihm doch vielleicht die Möglichkeit, die ungarische Staatsangehörigkeit zu erwerben, ohne daß er dadurch für seinen polnischen Besitz fürchten müßte?

– Das meint Eugo auch.

Wieder sank das Schweigen über uns.

Ich leerte mein Whiskyglas.

– Ich bin gespannt, was Blanche mir von ihrem geheimnisvollen Aufenthalt in Paris erzählen wird, sagte Laura schließlich, während sie sich zum Aufbruch erhob. Es erscheint mir doch sehr seltsam, daß sie Ihnen nur einen einzigen Abend geben konnte. 90

 

 


 << zurück weiter >>